Wie weiter im Kampf für mehr Personal im Krankenhaus- und Gesundheitsbereich?

von Helga Müller, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Nachdem innerhalb eines Jahres – 2021 in Berlin bei Charité und Vivantes und 2022 bei den 6 Unikliniken in NRW – Tarifverträge für Entlastung durch wochenlange Durchsetzungsstreiks erreicht werden konnten, ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen und sich Gedanken zu machen, wie der Kampf für mehr Personal bundesweit erfolgreich weitergeführt werden kann. Auch wenn beide Kämpfe zu einem erfolgreichen Abschluss kamen mit der Durchsetzung von Tarifverträgen für Entlastung – in NRW ein gemeinsamer Tarifvertrag für alle 6 Unikliniken –, sind weder an diesen Krankenhäusern bereits die Stellen besetzt noch die fehlenden bundesweit im Pflegebereich und den übrigen Abteilungen durchgesetzt.

Die Errungenschaften der beiden Krankenhausbewegungen

1. Erfolgreiche Mobilisierungen der Belegschaften und Einbeziehung dieser in die Entscheidungen über ihre Forderungen:

Die Kolleg:innen der verschiedenen Abteilungen wurden aktiv in die Aufstellung der Forderungen pro Abteilung und Schicht einbezogen, sie haben selbst darüber diskutiert und entschieden, mit Hilfe von Teamdelegierten. Damit verbunden war eine aktive und erfolgreiche Mitgliederwerbung, was zu einen höheren Organisationsgrad führte. Dadurch wurden wochenlange Durchsetzungsstreik möglich.

2. Einbeziehung aller Kolleg:innen aller Abteilungen in den Kampf und die Aufstellung der Forderungen:

Vor allem in NRW wurden auch die Bereiche außerhalb der Pflege – wie Krankentransport, IT, Rettungssanitäter:innen etc. – in die Aufstellung der Forderungen und den Kampf dafür einbezogen.

3. Ansätze einer demokratischen Streikführung:

Vor allem in der Krankenhausbewegung Berlinhaben die Aktivist:innen dafür gesorgt, dass aktive Kolleg:innen aus den Abteilungen in die Tarifkommission entsandt wurden und jeder Schritt mit den Teamdelegierten besprochen wurde. In NRW wurde das Ergebnis auf Streikversammlungen in den 6 Unikliniken zur Diskussion gestellt und abgestimmt. Es wurde, außer in Düsseldorf, mehrheitlich angenommen. Zum anderen hatte sich die Tarifkommission – freiwillig – dazu bereit erklärt, erst zuzustimmen, wenn bei der Urabstimmung über das Ergebnis auch die Mehrheit einwilligt. Die magere Zustimmung von 73,58 % in NRW im Vergleich zu über 96 % in Berlin zeigt, dass die Kolleg:innen sich selbst Gedanken über das Ergebnis gemacht haben und sich nicht allein auf die Zustimmung der Tarifkommission verließen.

Dies alles wurde von den Kolleg:innen selbst durchgesetzt. Weder von den Organizer:innen noch von den ver.di-Verantwortlichen war vorgesehen, die Teamdelegierten oder den Delegiertenrat der 200 der 6 Unikliniken in NRW als Kontroll- und Entscheidungsorgane über den Streikverlauf und die Tarifkommission einzusetzen. Letzten Endes lag die Entscheidung über die Fortführung des Kampfes und über die Annahme des Abschlusses  – zumindest in Berlin – bei der Tarifkommission und den ver.di-Verantwortlichen.

4. Solidaritätsaktionen durch die arbeitende Bevölkerung und öffentliche Kundgebungen der Streikenden:

In beiden Krankenhausbewegungen wurden Treffen mit Initiativen und Kolleg:innen aus Betrieben or-ganisiert. Am weitestgehenden waren die gemeinsamen Solidaritätsaktionen in Berlin: Dort wurden vor allem gemeinsame Aktionen mit der Kampagne „Deutsche Wohnen enteignen“ organisiert, aber auch mit den im Streik befindlichen Kurier:innen von Gorillas. Teilweise kam es auch zu gemeinsamen Soliaktionen mit Kolleg:innen aus einzelnen Betrieben. Aber weder vom DGB noch von anderen DGB-Gewerkschaften gab es den Willen, gemeinsame Soliaktionen zu organisieren. In Berlin und NRW organisierten die Kolleg:innen große und machtvolle Kundgebungen und Demos.

5. Nachhaltigkeit: von den Teamdelegierten zum Aufbau fester Strukturen und Organe:

Zumindest in Berlin gab es die Aussage, von Aktivist:innen aus den Teamdelegiertenstrukturen auch systematische und kontinuierliche Gremien wie ver.di-Betriebsgruppen und Vertrauensleutekörper aufzubauen. Das wäre ein Fortschritt, da damit nicht immer wieder zu Beginn eines Arbeitskampfes neue Strukturen zur Mobilisierungen geschaffen werden müssten.

Doch was hat gefehlt? Was sind die Konsequenzen für die Fortführung eines erfolgreichen Kampfes für mehr Personal daraus?

Was hat gefehlt?

1. Fehlende Kontrolle über den Kampfverlauf und über die Abstimmung des Ergebnisses:

Es gab zwar Fortschritte bzgl. der Transparenz über die Verhandlungen (s. Punkt 3 oben), aber letzten Endes hatten immer noch die ver.di-Verantwortlichen die Kontrolle über Streikverlauf und das Ergebnis. Deswegen braucht es klare Strukturen/Organe, die den Kolleg:innen gegenüber rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar sein müssen.

Dafür würde sich ein Streikkomitee, wie es an der Uniklinik Essen im Kampf um den TVE aufgebaut wurde, anbieten. Dieses wurde aus von den Kolleg:innen gewählten Delegierten aus den verschiedenen Abteilungen gebildet. Die Delegierten waren direkt den Kolleg:innen gegenüber rechenschaftspflichtig und konnten jederzeit neu gewählt werden. Dieses Komitee hatte sich zur Aufgabe gestellt, den Diskussionsprozess unter den Kolleg:innen über die Zwischenverhandlungsergebnisse und den Fortgang des Kampfes zu organisieren. Dafür wurden Streikversammlungen einberufen, auf denen die Kolleg:innen über den Zwischenstand der Verhandlungen der Tarifkommission (TK) informiert wurden und sie auch darüber entschieden, ob diese zu akzeptieren sind oder der Streik weitergeführt werden muss. In dieser Phase hatten sie tatsächlich die Entscheidung über ihren Kampf um mehr Personal unter ihrer Kontrolle. Und im Voraus wurde mit der TK vereinbart – wohlgemerkt, eine freiwillige Vereinbarung der TK mit dem Streikkomitee (!) –, keine Entscheidung ohne Diskussion unter den Kolleg:innen zu fällen. Auch die gewählten Teamdelegierten würden sich dafür anbieten, ein solches Streikkomitee zu bilden, aber die oben aufgeführten Bedingungen müssten auch hier konsequent angewendet werden. Aber von Seiten des ver.di-Apparates waren die Teamdelegierten nie als Organ oder Struktur vorgesehen gewesen, damit die Kolleg:innen wirklich über ihren Kampf selber entscheiden können, sondern eher als Element, sie überhaupt mobilisieren zu können, durchaus, indem sie über ihre Forderungen selber diskutieren und entscheiden konnten. Auch die Organizer:innen haben dem politisch nichts entgegengesetzt. Diese Teamdelegierten sind sicherlich ein demokratisches Element, was auch gezeigt hat, dass die Kolleg:innen selbst am besten wissen, welcher Personalschlüssel und welche anderen Bedingungen nötig sind, um eine gute Gesundheitsversorgung zu realisieren. Das war durchaus ein demokratisches Element, mit dessen Hilfe sie auch tatsächlich für mehrwöchige Durchsetzungsstreiks mobilisiert werden konnten. Diese Errungenschaften wären auch Vorbild für permanente Vertrauensleutestrukturen, die auch nach dem Streik weiter existieren und sich die Aufgabe stellen, mit den Kolleg:innen in Diskussion zu bleiben und im Falle eines Streiks wieder dafür zu sorgen, dass sie nicht nur über die Forderungen, sondern auch über den Kampf diskutieren und entscheiden können.

2. Kontrolle über die Sanktionen bei Nichteinhaltung der Regelungen aus dem TVE:

Beide TVE enthalten die Regelung, Punkte zu sammeln, wenn Schichten unterbesetzt arbeiten. Ab einer bestimmten Punktezahl (gestaffelt) soll ein Freizeitausgleich erfolgen. Die Hoffnung dabei: dadurch würde ökonomischer Druck auf die Klinikleitungen ausgeübt, um neue Kolleg:innen einzustellen. Doch zum einen zögern diese – wie bei Vivantes in Berlin, in NRW erhalten sie 1 ½ Jahre Zeit, um eine entsprechende Software einzuführen – die Umsetzung dieses Punktesystems hinaus. Zum anderen kann diese Verfahrensweise auch dazu führen, dass es zum Aufbau von Langzeitarbeitszeitkonten missbraucht wird, ohne dass es zu einem sofortigen Freizeitausgleich kommt. Damit verpufft die Wirkung. Die Kolleg:innen selbst – dafür würden sich die Teamdelegierten bzw. der Delegiertenrat anbieten – müssen über die Sanktionen entscheiden können, wenn die Regelungen nicht eingehalten werden: wie Bettensperrungen, Nichteinbestellung von Patient:innen, Verschiebung von nicht sofort notwendigen OPs etc. Diese hatten schon während der Streikphase – sofern keine Notdienstvereinbarungen zustande kamen – selbst entschieden, wann wie viele Betten gesperrt oder Patient:innen einbestellt werden.

Vor Einführung der Punkteregelung in den TVE waren u. a. solche Maßregeln vorgesehen. Die Entscheidung darüber lag aber bei den Pflegedienstleitungen, die letzten Endes der Klinikleitung gegenüber rechenschaftspflichtig sind und nicht den Kolleg:innen. Aber es sind Letztere selbst, die ein ernsthaftes Interesse daran haben, dass sich die Arbeitsbedingungen ändern müssen. Deswegen müssen sie die Entscheidungen über Sanktionen in den Händen halten.

3. Bundesweiter Kampf aller Kliniken für mehr Personal statt Häuserkampf:

Der TVE in NRW wurde in einem 79-tägigen Durchsetzungsstreik aller 6 Unikliniken durchgesetzt. Das ist der richtige Weg, um mehr Schlagkraft gegenüber den Klinikleitungen zu entwickeln. Alle Kliniken – egal ob privatwirtschaftlich organisiert oder noch unter kommunaler oder Landesverwaltung stehend – müssen von ver.di gemeinsam in den Kampf für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen geführt werden. Dafür würde sich die Tarifrunde im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen anbieten: Alle Kolleg:innen aus den kommunalen Krankenhäusern sind zu Streiks aufgerufen zusammen mit denen aus dem Erziehungsbereich, die auch seit Jahren unter Personalmangel leiden. Die Aktivist:innen aus den beiden Krankenhausbewegungen, die Veranstaltungen organisieren und ein persönliches Netzwerk aufbauen, könnten zu einer bundesweiten Konferenz aller Kolleg:innen aus dem Gesundheitsbereich aufrufen und dort über weitere Schritte für einen erfolgreichen Kampf für mehr Personal bundesweit diskutieren und entscheiden.

4. Notwendigkeit eines gesamtgesellschaftlichen Kampfes gegen Privatisierung und DRGs – bis hin zum politischen Streik:

Alle Erfahrungen aus den bisherigen Kämpfen für Entlastung zeigen: Das Hauptproblem liegt in der Finanzierung des Gesundheitssystems. Solange die DRGs, die nicht die Gesamtkosten einer Behandlung refinanzieren, existieren, solange im Gesundheitssektor – durch die Privatisierungen – das oberste Gebot die Profitlogik ist, wird sich an der Pflegemisere und Stellensituation in den Krankenhäusern nichts ändern!

Deswegen:

  • Abschaffung der Fallpauschalen!
  • Für eine Refinanzierung, die die gesamten Behandlungskosten umfasst.!
  • Rekommunalisierung und Verstaatlichung aller privatisierten Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und Patient:innen, die ein Interesse an guten Arbeitsbedingungen und guten Gesundheitsversorgung haben.

Dafür braucht es eine gesellschaftliche Kraft: das Personal aus den Krankenhäusern zusammen mit dem in den Betrieben, die ein Interesses an einer guten, flächendeckenden Gesundheitsversorgung haben, gemeinsam für die Abschaffung der DRGs, Wiederverstaatlichung privatisierter Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und der Patient:innen kämpfen. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die sich die DGB-Gewerkschaften gemeinsam auf die Fahne schreiben und dafür mobilisieren müssen bis hin zum politischen Streik!

  • Tarifrunde öffentlicher Dienst – Bund/Kommunen nutzen, um Strukturen aufzubauen, mit denen für ausreichend Personal und gute Arbeitsbedingungen gekämpft werden kann!

Leider hat ver.di davor zurückgeschreckt, diese Tarifrunde auch für den Kampf für mehr Personal zu nutzen. Dabei hätte man eine Verbindung über den Gesundheitsbereich hinaus organisieren können, denn die GEW-Kolleg:innen aus Berlin streiken bereits seit mehreren Wochen für einen Gesundheits-Tarifvertrag mit der Hauptforderung nach kleineren Klassen, weil auch hier der Personalnotstand eklatant ist. Die Bedingungen dafür wären gut: zum einen hatten die Beschäftigten aus den Unikliniken in NRW es allen praktisch vor Augen geführt, dass ein konsequenter gemeinsamer Kampf für mehr Personal erfolgreich in einem Tarifvertrag enden kann. Zum anderen sind gerade in dieser Tarifrunde alle Kolleg:innen aus den kommunalen Krankenhäusern zu Arbeitskampfmaßnahmen aufgerufen. Diese könnten zusammen mit Erzieher:innen und Lehrer:innen für insgesamt mehr Personal streiken verbunden mit einer Bezahlung, die auch tatsächlich die Preissteigerungen auffängt! Das erweitert die Durchsetzungskraft und wäre sicherlich für viele Kolleg:innen noch ein zusätzlicher Motivationsfaktor gewesen, sich in dieser Tarifrunde an Arbeitskampfmaßnahmen zu beteiligen. Es ist jetzt nötig, dass die Kolleg:innen in den verschiedenen gewerkschaftlichen Strukturen, seien es Vertrauensleute, Betriebsgruppen oder neu aufzubauende gewerkschaftliche Organe oder auch in lokalen Gremien, von den ver.di-Verantwortlichen verlangen, auch die Frage des Personalnotstandes bundesweit anzugehen! Dafür sind bundesweite Streiks für einen Flächentarifvertrag Entlastung und eine Kampagne gegen Privatisierung, Abschaffung der Profitlogik in der öffentlichen Daseinsvorsorge, wozu ja der ganze Gesundheitsbereich gehört, und für ein Ende des gesamten Fallpauschalensystems und für die Refinanzierung der realen Behandlungskosten nötig. Dies brauchen wir mehr denn je, da  durch die Pandemie und der dadurch angefallenen Versorgung vieler Schwerkranker auf Intensivstationen viele kommunale Krankenhäuser in eine finanzielle Schieflache gebracht wurden. Doch ändert auch die Lauterbach’sche „Revolution“ nichts am Fallpauschalensystem. Im Gegenteil! Die angestrebte verstärkte Ambulantisierung der Gesundheitsversorgung wird unwillkürlich zu einem weiteren Krankenhaussterben beitragen. Das Mindeste, was in dieser Tarifrunde passieren muss, und das ist nicht allein die Verantwortung der gewerkschaftlich Aktiven im Betrieb oder auf lokaler Ebene, sondern eben auch aller Gewerkschaftssekretär:innen, ist, dafür zu sorgen, dass funktionierende gewerkschaftliche Basisorgane in den Betrieben entstehen, die die Kolleg:innen nicht als Manövriermasse verstehen, sondern als aktive Kämpfer:innen für bessere Arbeitsbedingungen und die tatsächlich Änderungen durchsetzen können.

Damit dies wirklich umgesetzt wird, ist es nötig, eine politische Kraft in ver.di, aber auch allen anderen Gewerkschaften zu organisieren. Diese muss sich bewusst gegen den Anpassungskurs der Gewerkschaftsführungen an die Interessen des Kapitals und der Regierenden stellen und sich zum Ziel setzen, die Gewerkschaften wieder zu handelnden Verteidigungsinstrumenten der gesamten Klasse umzukrempeln. Unserer Meinung nach sind die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und ihre lokalen Strukturen im Moment das beste Mittel dazu, um darüber zu diskutieren und Konsequenzen fürs Handeln daraus zu ziehen (siehe auch unter: www.vernetzung.org).




Britannien: Klassenkampf gegen die Krise des Gesundheitswesens

von Andy Yorke, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Der Winter ist da und mit ihm die bisher schwerste Krise des Gesundheitssystems. Trotz der Atempause nach der Covidpandemie im Jahr 2022 erreichten die Wartelisten im Dezember einen neuen Rekord von 7,2 Millionen, mit bis zu 500 zusätzlichen Todesfällen pro Woche als Folge von Verzögerungen.

Eine Rekordzahl von Patient:innen wartete über 12 Stunden auf eine Behandlung in der Notaufnahme. Daher herrschte weithin Ungläubigkeit, als der Sprecher der konservativen Sunak-Regierung bestritt, dass es sich bei dieser „beispiellosen Herausforderung“ um eine Krise handele, und behauptete: „Wir sind zuversichtlich, dass wir den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) mit den erforderlichen Mitteln ausstatten“. So versuchte er, die Krise auf die Pandemie zu schieben.

Doch diese begann lange davor. Das jährliche Wachstum der Ausgaben von 6 % im Gesundheitswesen unter der letzten Labour-Regierung wurde durch die Sparmaßnahmen auf weniger als 1,8 % gesenkt. Das Vereinigte Königreich liegt bei der Bettenzahl pro Kopf weit unter dem internationalen Durchschnitt, selbst im Vergleich zu ärmeren Ländern, und weist seit 2010 eine dauerhaft zu niedrige Zahl freier Betten auf. Das Ziel, die durchschnittliche Belegung auf 18 Patient:innen pro Woche und Bett zu erhöhen, wurde seit 2016 nicht mehr erreicht.

In der Winterkrise 2017 war der NHS gezwungen, Zehntausende von Operationen abzusagen. Im Jahr 2022 lag die Zahl bei 350.000, also fast tausend pro Tag! Schon vor der Pandemie warteten 8.270 Patient:innen in der Notaufnahme im Jahr 2019 mehr als 12 Stunden auf eine Behandlung (ein Sechsfaches gegenüber 2015). Die Krise des Gesundheitssystems wird durch die des unterfinanzierten, überwiegend privaten Sozialfürsorgesektors noch verschärft.

Das Scheitern des NHS

Der Schlüssel zum Verständnis der Krise sind unzureichende Finanzierung und Personalmangel. Die Zahl der unbesetzten Stellen für medizinisches Personal und die Wartelisten sind parallel angestiegen. Jede Regierung der britischen Konservativen (Tories) führt eine weitere schmerzhafte Umstrukturierung durch, doch trotz der Forderungen der Gewerkschaften und der Britischen Medizinischen Vereinigung nach transparenten Personalbewertungen hat keine Regierung seit 2003 eine nationale Personalstrategie für den Gesundheitssektor vorgelegt. Stattdessen verlassen sich die Tories auf „Lückenbüßer:innen“, d. h. den privaten Sektor, Leiharbeitsagenturen mit Aushilfskräften für die Krankenhäuser.

46.000 unbesetzte Stellen für Krankenschwestern und -pfleger (11,7 % der Belegschaft) zeigen den Zusammenhang zwischen der Unterfinanzierung von Seiten der Tories und Privatisierung. In einem Teufelskreis verlassen nun tausende Pflegekräfte den NHS aufgrund von Überlastung, Stress und sinkender Bezahlung. Ihr Streik setzt einen ersten Schritt, um diese von den Konservativen verursachte Katastrophe rückgängig zu machen.

Die Regierung Sunak nutzt die Krise wie alle ihre Tory-Vorgänger:innen, um die Privatisierung weiter voranzutreiben. Sie umgeht Gespräche mit den Gewerkschaften und setzt die Covidpolitik fort, private Krankenhäuser und Pflegeheime für Betten zu bezahlen, was den öffentlichen Gesundheitsdienst bis zu eine Milliarde Pfund kostet.

Für die Tories blockieren Krankenhäuser weitere Privatisierungen. Deshalb sind die Pläne, 150 psychiatrische Behandlungszentren zu bauen und Patient:innen von den Notaufnahmen fernzuhalten, Teil des Vorhabens, die Gesundheitsversorgung in die Wohnviertel zu verlegen und den NHS zu zerschlagen.

Die Tories wollen nicht mehr Krankenpfleger:innen finanzieren, sind aber sehr darum besorgt, den NHS immer wieder umzustrukturieren, um mehr Profit herauszuholen. Bei der jüngsten Umstrukturierung wurden 42 integrierte Pflegegremien für den NHS England eingerichtet. Diese sind Teil des Ansatzes der Tories, den NHS zu fragmentieren und den Zugang für private Unternehmen auf jeder Ebene, einschließlich der Auftragsvergabe und Planung, zu verbessern.

In der Zwischenzeit schloss eine halbe Million Menschen im Jahr 2022 eine private Krankenversicherung ab, und viele weitere bezahlten für eine private Behandlung, mit der sie die Warteschlange des staatlichen Gesundheitsdienstes praktisch überspringen konnten und eine Untersuchung oder Operation beim selben Arzt/bei derselben Ärztin im gleichen Krankenhaus erhielten, von der ihnen gesagt worden war, dass sie erst in einigen Monaten verfügbar wäre!

Wird Labour das Gesundheitswesen retten?

Viele setzten ihre Hoffnungen auf Labour. Doch die New-Labour-Regierung verband die Aufstockung der Mittel mit Kürzungen bei Betten und Personal und einer weiteren Öffnung des staatlichen Gesundheitsdienstes für die Privatisierung. Labour-Vorsitzender Keir Starmer verspricht, dass seine Regierung die Mittel aufstocken wird, aber „Investitionen allein nicht ausreichen“. Das bedeutet noch mehr Umstrukturierungen und eine größere Rolle für den privaten Sektor.

In Wirklichkeit wird die Wiedereinführung des Spitzensteuersatzes von 45 Prozent nicht annähernd ausreichen, um das schwarze Loch in der Finanzierung des staatlichen Gesundheitsdiensts zu stopfen, und es gibt keinen Plan, um die Schäden von vier Jahrzehnten Marktwirtschaft und Privatisierung rückgängig zu machen. Schlimmer noch, die Lösung des Schattengesundheitsministers besteht darin, den privaten Sektor zu nutzen, um die Wartelisten zu verkürzen.

Ein siegreicher Streik der Krankenschwestern und -pfleger erfordert nicht nur das Festhalten an einer voll finanzierten realen Gehaltserhöhung, sondern hängt von der Gründung einer Massenbewegung zur Verteidigung des staatlichen Gesundheitswesens und dem Kampf für den Ausbau des öffentlichen Dienstes ab, der durch die Besteuerung der Reichen finanziert wird. Dies ist der erfolgversprechendste Weg, um sicherzustellen, dass die Beschäftigten und Nutzer:innen des NHS in der Lage sind, Labour dazu zu bringen, ihn wirklich zu verteidigen.

Streikwelle geht weiter

In einer historischen Premiere haben sich die Krankenschwestern und -pfleger der Gewerkschaft RCN (Royal College of Nursing; Britanniens größte Gewerkschaft und Berufskörperschaft für Pflegende), die bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben wurden, der Streikwelle gegen die Lebenshaltungskostenkrise angeschlossen. Und trotz der Versuche der Medien, die öffentliche Missbilligung auszutesten, erhalten sie massive Unterstützung. Eine Million Mal werden Patient:innen alle 36 Stunden im öffentlichen Gesundheitsdienst behandelt, und sie sind dem hart arbeitenden Personal in überwältigender Weise dankbar und unterstützen es.

Jahrelang sinkende Reallöhne (um mehr als 20 % seit 2010), unterbesetzte und chaotische Stationen, die nur mit Überstunden arbeiten, und der unerbittliche Druck der Covid- und Grippewinterepidemien haben viele Krankenpflegekräfte veranlasst, trotz der Ängste um ihre Patient:innen zu streiken. Weit davon entfernt, den Patient:innen zu schaden, wie in den Medien behauptet wird, scheint ein Arbeitskampf für viele die einzige Möglichkeit zu sein, nicht nur die Löhne zu erhöhen, sondern auch mehr Personal anzuwerben und das staatliche Gesundheitssystem zu retten. Es gibt über 132.000 unbesetzte Stellen.

Erstmals schließen sich auch die Krankenwagenfahrer:innen der Gewerkschaften GMB (National Union of General and Municipal Workers) sowie Unison und Unite (zwei weitere Gewerkschaften im öffentlichen und privaten Dienstleistungssektor) und außerdem Physiotherapeut:innen, Hebammen und Röntgenassistent:innen dem Kampf gegen die sinkenden Löhne an. Bei der Urabstimmung der gewerkschaftlichen medizinischen Vereinigung BMA von 45.000 Ärzt:innen in der Ausbildung über eine beleidigende Gehaltserhöhung von 2 % in diesem Jahr wird wahrscheinlich mit „Ja“ für eine Aktion gestimmt werden. Mit einer für März geplanten 72-stündigen Arbeitsniederlegung werden sich noch mehr Ärzt:innen dem Kampf für Gehalt und Finanzierung anschließen. Am 6. Februar fand der bisher größte Streik im Gesundheitswesen statt, bei dem Krankenschwestern und -pfleger, Sanitäter:innen und andere Beschäftigte die Arbeit niederlegten.

Organisiert die Basis!

Die Beschäftigten müssen Einigkeit, Koordinierung und eskalierende Maßnahmen fordern. GMB- und Unison-Ambulanzbeschäftigte streiken bisher zumeist getrennt. Das RCN lässt verschiedene Sektionen von Krankenpersonal an unterschiedlichen Tagen streiken. In Schottland und Wales haben die Gewerkschaften ihre Streiks für Gespräche mit den (dezentralen) Regionalregierungen ausgesetzt.

Belegschaftsversammlungen zur Bildung von Delegiertenausschüssen in und zwischen Krankenhäusern und weiteren Einrichtungen (z. B. ausgelagerten, privatisierten Abteilungen) sind der Schlüssel zum Erfolg der Streiks. Diese können die Entschlossenheit stärken, diejenigen unterstützen, die noch an der Urabstimmung teilnehmen, und auf weitere Maßnahmen drängen, um den Konflikt zu kontrollieren.




TVöD: der 8. März als Streiktag?

von Anne Moll/Resa Ludivien, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Abgesehen von Berlin ist in keinem anderen Bundesland der Frauenkampftag ein Feiertag. Und zu feiern gibt’s auch nicht viel, schaut man sich die derzeitige TVöD-Runde an. Ein prädestinierter Streiktag also?

Was aus Clara Zetkins Frauentag wurde

Historisch gesehen ging es beim Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen zuerst um das Wahlrecht, um das gleiche Recht, sich zu organisieren und Gewerkschafts- wie Parteimitglied zu werden, um Zugang zur Universität, Gesundheitsschutz der arbeitenden Frauen und um das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen. Doch der Versuch seiner Vereinnahmung und Entpolitisierung ist auch nichts Neues. Immer wieder wird deutlich, dass die bürgerlichen Frauen, aber auch die Gewerkschaftsführung andere Forderungen im Sinn haben als Frauen aus der Arbeiter:innenklasse.

So versuchten 1994 Frauen in Stuttgart, den DGB von einem Frauenstreiktag zu überzeugen, bei dem auf die ungleiche Bezahlung und Doppelbelastung aufmerksam gemacht werden sollte. Trotz der Versuche des Vorstandes, die Aktionen als „Streittag“ zu verharmlosen, kam es zur Besetzung einer Kreuzung sowie zum Teil einer Teilnahme während der Arbeitszeit, sprich zu einem Streik. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, wie viel Mitverantwortung die Entschlossenheit der Basis trägt. Auch 29 Jahre später hat sich an der Situation von Frauen nur wenig geändert.

TVöD-Runde Bund und Kommunen: Wer streikt und was ist bis jetzt passiert?

Der 8. März 2023 fällt in Deutschland in eine spannende Zeit: Tarifauseinandersetzungen bei öffentlichen Betrieben, der Post, kommunalen Busunternehmen, im öffentlichen Dienst (TVöD-Runde), Streiks bei den Lehrer:innen in Berlin sind einige Beispiele dafür. Wir leben in Zeiten der Inflation. Sollten die geforderten 10,5 % durchgesetzt werden können, dann würden sie die aktuelle Preissteigerung wenigstens ausgleichen. Mindestens 500 Euro würden, vor allem für die Niedriglohngruppen, tatsächlich eine große Änderung bewirken und eine wichtige Signalwirkung ausstrahlen.

Das betrifft 1,6 Millionen Menschen, die nach TVöD bezahlt werden, d. h. diejenigen, die im öffentlichen Dienst bei Bund und Gemeinden tätig sind. Das sind beispielsweise Arbeiter:innen in kommunalen Kitas, in Altenpflegeeinrichtungen oder Krankenhäusern. Es gab viel Applaus, dass sie während der Pandemie weitergearbeitet haben, viele schöne Worte von Politiker:innen, dass sich die Arbeitssituation für Pflege- und Erziehungsberufe verbessern muss. Passiert ist bisher wenig. Gleichzeitig existiert ein Vorbild, wie erfolgreiche Streiks aussehen können: 2021 und 2022 erkämpfte die nordrhein-westfälische Krankenhausbewegung in wochenlangen Streiks den Tarifvertrag Entlastung.

Federführend für die derzeitige Verhandlungsrunde innerhalb des DGB ist ver.di. Die Mobilisierung läuft bereits seit letztem Jahr in Form von Mitgliederversammlungen und Vorbereitungen in den Betrieben. In Gewerkschaftskreisen hatte man zeitweise den 8. März ins Auge gefasst, um zu streiken. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass es sich um Bereiche handelt, in denen sehr viele Frauen arbeiten. Neben einer dauerhaften Überlastung und Unterfinanzierung dieser Sektoren sind Frauen und Migrant:innen strukturell schlechter bezahlt oder gar ohne Tarifverträge outgesourct – in Zeiten der Inflation ein tägliches Spiel mit dem Feuer.

Schaut man sich die Bereiche, zu denen auch Reinigung oder Behörden zählen, nochmal genauer an, so verwundert es nicht, dass zu den ursprünglichen Forderungen der Beschäftigten auch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen gehörte. Dazu zählen „utopische“ Wünsche wie Arbeitszeitverkürzung oder mehr Urlaub bei Dauerschichtdienst. Doch das war den Gewerkschaften zu heiß. Der 8. März als Streiktag ist auch weg vom Fenster und man konnte sich im Oktober lediglich auf einen versöhnlichen Forderungskatalog einigen, welcher sich lediglich auf die Löhne bezieht. Ebenso offensichtlich ist die gezielte Schwächung des Streikes durch eine Teilmobilisierung. Warum alle zusammen mobilisieren, wenn man auch nur einzelne Sektoren wie die BSR (Stadtreinigung) in Berlin aufrufen kann? Und das mit dem Wissen, dass die Kolleg:innen am Limit sind, alles immer teurer wird, sodass sogar Butter, geschweige denn Gas- oder Mietpreise ein Luxusprodukt darstellen. Und das, nachdem nach Corona vor allem im Krankenhaus viele mit dem Gedanken spielen, ganz auszusteigen, und die Arbeit„geber“:innenseite auch diese niedlichen Forderungen noch herunterhandeln wird. Das ist Politik gegen die Arbeiter:innenklasse!

Frage dich mal, was deine Gewerkschaft für dich tun kann

Am 24.01.2023 fand die erste Verhandlungsrunde zum TVöD statt. Eine der Teilnehmer:innen aufseiten der Arbeit„geber“:innen war Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Diese hat wieder einmal gezeigt, dass diese sich zwar auf ihre „guten alten Zeiten“ als Arbeiter:innenpartei stützt, aber keineswegs Politik für die Arbeiter:innenklasse betreibt. Ergebnis: nächste Runde, denn es gab nichts zu „verhandeln“. Dafür hätten die Gemeinden und Kommunen ein Angebot unterbreiten müssen. Besonders interessant ist, dass die minimalen Forderungen der Gewerkschaften zu hoch und unrealistisch angesichts leerer Kassen ausfallen sollen. Doch wo bleiben dann Forderungen nach einem höheren Spitzensteuersatz, sodass endlich mal die Reichen für die Krise bezahlen?

Diese Argumentation hat nicht nur etwas mit der aktuellen Situation zu tun: Sie hat System. Es gibt nur eine Möglichkeit, diesem zu entrinnen, nämlich, indem die Warn- in unbefristete Erzwingungsstreiks überführt werden. Daneben müssen Demonstrationen organisiert und Solidaritätsbündnisse geschlossen werden. Unsere Aufgabe als klassenkämpferische Gewerkschafter:innen und Revolutionär:innen liegt darin, dies voranzutreiben, Druck auf die Gewerkschaftsführung auszuüben, die Kämpfe zusammenzuführen und unter Kontrolle demokratisch gewählter, den Mitgliedern verantwortlicher Streikkomitees zu stellen.

Frauenkampftag, Streiktag – gemeinsam auf die Straße!

Es wird knapp in der Kasse. Schon allein, wenn wir nach dem Einkauf in unser Portemonnaie sehen. Die nächste Gasrechnung bereitet uns schlaflose Nächte. Wir sind es leid, dass alle die Krisen von Corona über Klima- und Energiekrise auf unseren Rücken ausgetragen werden! Lasst uns unseren Anteil zur Tilgung der Kosten und Ermöglichung eines anständigen Lebens erstreiken! Der Internationale Frauentag ist dafür wie geschaffen und ursprünglich als Kampftag gedacht. Diese Bedeutung müssen wir ihm zurückgeben. Bremen geht hier mit gutem Beispiel voran: Hier ist der Streik durch die ver.di-Mitglieder beschlossene Sache.

Dass er in Berlin zu einem Feiertag geriet, kann nur unter Berücksichtigung der wenigen Feiertage dort allgemein positiv bewertet werden. Es trägt parallel zur Entpolitisierung des Tages bei und das ist gewollt. Man mag es als Form der Transformation sehen, wenn sich die Regierenden eine zunächst kämpferische Thematik zu eigen machen und nach ihrem Gusto interpretieren. Dass es gerade von einer rot-rot-grünen Politik befürwortet wird, zeigt die tief verwurzelte Sozialpartnerschaft, die kein Interesse aufkommen lässt, tatsächlich an diesem Tag die Belange von Frauen wie schlechte Bezahlung, Sexismus am Arbeitsplatz oder geringere Aufstiegschancen zu thematisieren. Der Frauenkampftag ist kein Feiertag, kein Streittag, sondern Streiktag!

Es ist daher Aufgabe der Basis, die Gewerkschaftsführungen daran zu erinnern, wessen Interessen sie ursprünglich vertreten sollten, und dies zu erzwingen. Doch ein Streiktag reicht nicht. Die nordrhein-westfälische Krankenhausbewegung hat es vorgemacht. Es darf nicht nur um Geld, sondern muss auch um Entlastung und bessere Arbeitsbedingungen gehen. Dafür brauchen wir Streikkomitees in allen Betrieben.

  • Hinaus zum Frauenkampftag! Frauenkampftag ist Frauenstreiktag!
  • Regelmäßige Vollversammlungen, Wahl und Abwählbarkeit der Streikkomitees!
  • Volle Kampfkraft für 10,5 % jetzt und mindestens 500 Euro für alle!
  • Früheren Renteneintritt ermöglichen, Altersteilzeitregelung verlängern! Mehr Urlaub bei Dauerschichtdienst!
  • Für eine Arbeitszeitverkürzung mit paralleler Einstellungsoffensive unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Finanzierung der Maßnahmen durch massive Besteuerung der Unternehmensgewinne und Vermögen!



Grundlagen: Schafft Reproduktionsarbeit Mehrwert?

Clay Ikarus, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Zur Reproduktionsarbeit gehört alle Arbeit, die dazu da ist, die Arbeitskraft wiederherzustellen. Dabei geht es nicht nur um die tägliche Erneuerung der gegenwärtigen Arbeitskraft, für die man einkaufen, kochen, putzen sowie sich um bedürftige Angehörige kümmern muss. Es geht dabei auch um die Arbeitskraft der nächsten Generation. Also gehören auch Bildung, Kindererziehung und der Gesundheitssektor im Allgemeinen dazu.

Ein großer Teil der Reproduktionsarbeit findet im Haushalt statt und wird, zumindest in Europa, auch heute noch zum großen Teil von Frauen übernommen. Eine beispielhafte Zahl: Laut Eurostat liegt der Anteil der Frauen, die täglich Hausarbeit verrichten, bei 79 %, bei Männern bei 34 %. Die Reproduktionsarbeit im Privaten ist dabei unbezahlt und taucht dementsprechend auch in keiner kapitalistischen Buchführung auf. Sie wird deshalb als „unsichtbare Arbeit“ bezeichnet: Mehrwert wird innerhalb der Reproduktionssphäre nicht produziert. Es gibt keinen Gewinn, auch wenn die Arbeit existenziell für alle Menschen ist. Der Lohn wird verwendet, die Mittel zur Befriedung der Bedürfnisse der Lohnabhängigen zu kaufen, sodass man essen und sich kleiden kann sowie weitere Bedürfnisse erfüllt werden können, um die Arbeitskraft zu reproduzieren, zu leben. Doch am Ende wird der Wert der Arbeitskraft nur wiederhergestellt.

Es gibt jedoch auch öffentliche Sektoren, in denen Reproduktionsarbeit stattfindet: Kindererziehung in Schulen und Kindergärten, um neue Arbeiter:innen auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Pflegekräfte versorgen im größeren Umfang bedürftige Menschen in Krankenhäusern, Altersheimen oder Jugendeinrichtungen. Doch nicht umsonst sind diese öffentlichen Sektoren meist staatlich finanziert, denn auch wenn die Kapitalist:innen auf gesunde und ausgebildete Arbeitskräfte angewiesen sind, wollen sie ungern selber dafür aufkommen. Meist arbeiten in diesen Careberufen Frauen in Positionen, die schlecht bezahlt sind. Doch was ist mit privaten Kliniken und Schulen? Hier wird Kapital investiert und keine Steuergelder und das, um Mehrwert zu erzielen. Doch das ist trotz der hohen Gelder, die verlangt werden, und der zusätzlichen staatlichen Unterstützung nicht so einfach, da die Möglichkeiten, den Mehrwert zu steigern, schnell an ihre Grenzen kommen.

Nicht umsonst zerbrechen Gesundheits- und Bildungssektor an der Privatisierung, denn die Gewinne gehen aus und es wurde sich verzockt auf Kosten der Kranken und Kinder. Es handelt sich also gleichzeitig um Produktion (Kapitalvermehrung) und Reproduktion (der Arbeitskraft). An diesem Beispiel sieht man gut, dass es nicht um die Arbeitstätigkeiten selbst geht, sondern ob sie dem Ziel dienen, Kapital zu vermehren oder nicht, wenn man der Frage auf die Spur kommen will, ob etwas Mehrwert produziert.

Was ist überhaupt Mehrwert und wieso spielt dieser eine Rolle?

Man spricht von Mehrwert, wenn das Kapital durch die Produktion wächst, vermehrt wird, wenn es also „mehr wert“ ist, als es vorher war. Ein Verständnis dessen ist unerlässlich, denn das Kapital strebt einzig und allein danach, den eigenen Wert zu vergrößern. Alles andere ist zweitrangig.

Nach Marx bilden die menschliche Arbeit und die Natur die beiden Quellen jeden Reichtums. Aber nicht jede Arbeit schafft Wert oder Mehrwert. Mehrwertproduktion findet nur unter bestimmten, genauer unter kapitalistischen Verhältnissen statt.

Die Arbeitskraft wird durch die Einführung der Lohnarbeit im Kapitalismus zu einer Ware gemacht. Der Wert einer Ware entspricht dem Arbeitsaufwand, der zu ihrer Produktion notwendig ist. Auf dem Markt kauft das Kapital jedoch nicht die Arbeit, sondern die Arbeitskraft, das Arbeitsvermögen der Lohnabhängigen. Der Wert diese Ware wird, wie der Wert jeder anderen, durch ihre Reproduktionskosten bestimmt – also die Summe aller Waren, die zu ihrer Bildung, ihrem Erhalt und ihrer Reproduktion nötig sind.

Wurde die Arbeitskraft einmal gekauft, so gehört sie für die Zeit der Produktion dem Kapital, gerät zu seinem Bestandteil. Das Produkt gehört dem/r Kapitalist:in.

Im Produktionsprozess sind die Lohnabhängigen jedoch dazu in der Lage, mehr durch ihre Arbeit zu schaffen, als dem Wert der Ware Arbeitskraft entspricht. Der Wert, der zusätzlich geschaffen wird, ist der Mehrwert. Seine Aneignung durch das Kapital bezeichnet man im marxistischen Sinne als Ausbeutung.

Wenn jetzt in der gleichen Arbeitszeit noch mehr produziert werden soll oder der Lohn gekürzt wird, kann der Mehrwert sogar noch gesteigert werden. Als Marxist:innen ist es wichtig, uns die Verhältnisse der Menschen in der Produktion der Klassengesellschaft anzuschauen, um die materielle Grundlage von Ausbeutung und Unterdrückung zu erkennen und bekämpfen. Viele feministische Strömungen lassen dies außen vor und sehen den Kampf für die Befreiung der Frau unabhängig vom Klassenkampf.

Doch wozu sind diese Erkenntnisse und Einteilungen nun wichtig?

Die Reproduktions- ist mit der Produktionssphäre untrennbar verbunden, da sie die nötige Arbeitskraft aufrechterhält. Doch die Reproduktion schafft unmittelbar keinen Mehrwert. Das kapitalistische System baut aber auf der Mehrwertproduktion auf. Die Mehrwertproduktion ist das Ziel jeder Produktion und die Quelle des Reichtums für die Kapitalist:innen sowie der Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter:innenklasse.

Ein Streik bei der Hausarbeit hat daher nicht den gleichen Effekt wie einer in der Produktionssphäre. Es wird dabei nicht zuerst das System, sondern werden die Arbeiter:innen selbst getroffen. Ein Streik in der Produktionssphäre hält die Mehrwertproduktion dagegen sofort an und trifft unmittelbar, sofort die Kapitalist:innen. Für die Befreiung der Frau benötigt es eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit und eine Produktion, die nicht länger auf eine Mehrwertsteigerung ausgerichtet ist, sondern auf die Bedürfnisse von Mensch und Natur.




Zur politischen Ökonomie der Reproduktionsarbeit

von Aventina Holzer/Martin Suchanek, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Die gegenwärtige Krise ist auch eine der sozialen Reproduktion. Die Angriffe auf das Gesundheitswesen, Erziehung, Bildung und Altersvorsorge und die damit verbundene Ausdehnung privater, nach wie vor allem von Frauen geleisteter privater Hausarbeit rücken auch ins Zentrum des Klassenkampfes. Beschäftige in den Krankenhäusern, Erzieher:innen und Lehrer:innen streiken, spielen eine größere, mitunter sogar eine Vorreiter:innenrolle im Klassenkampf. Millionen gehen gegen Angriffe auf die Renten auf die Straße. Die Frauen*streiks der letzten Jahre thematisieren die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Kein Wunder also, dass die Frage nach dem Verhältnis von Produktion und Reproduktion, von kapitalistischer Mehrwertproduktion und Reproduktionsarbeit auch wieder ins Zentrum theoretischer Diskussion und Theoriebildung gerückt ist. Im Folgenden wollen wir grundlegende Momente einer marxistischen Analyse darlegen.

Das Verhältnis von Produktion und Reproduktion wird vom radikalen wie auch sozialistischen Feminismus als wunder Punkt der Marx’schen Theorie angesehen. Marx und Engels hätten dazu allenfalls Ansätze geliefert, wären aber letztlich blind für die  Unterdrückung der Frauen sowie andere Unterdrückungsverhältnisse gewesen. Seit der zweiten Welle des Feminismus beschäftigen sich verschiedene Theoretiker:innen mit der Reproduktionssphäre und sie versuchen dabei, Alternativen aufzuzeigen, die Marx vernachlässigt hätte.

Feministische Kritiken

So bestimmen Mariarosa Dalla Costa und Selma James das Verhältnis der proletarischen Frau zum proletarischen Mann als Ausbeutungsverhältnis. Die unbezahlte Arbeit im Haushalt betrachten sie als produktive Arbeit, als Produktion von Mehrwert, womit sie auch ihre Forderung nach Lohn für Hausarbeit begründen.

An Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie anknüpfend, betrachteten die Autorinnen der Bielefelder Schule (Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof) Haus- und Subsistenzarbeit als fortdauerndes Äußeres der kapitalistischen Produktionsweise. Die Ausbeutung der Hausfrauen und Bäuerinnen wird für sie zur Voraussetzung für die Kapitalakkumulation selbst. Daher erscheinen nicht die Lohnarbeiter:innen, sondern die in diesen „Produktionsweisen“ Tätigen, die Opfer einer permanenten ursprünglichen Akkumulation, als das revolutionäre Subjekt. Bis heute fließt diese Vorstellung in die feministische Diskussion ein, z. B. bei Silvia Federici, die einen Teil ihrer theoretischen Grundlagen aus dieser Tradition, vor allem von Maria Mies, übernimmt.

Diese Konzeptionen blieben innerhalb der marxistisch orientierten Frauenforschung und selbst im sozialistischen Feminismus keineswegs unwidersprochen. So weisen z. B. Ursula Beer in „Geschlecht, Struktur, Geschichte“ oder Lise Vogel in „Marxismus und Frauenunterdrückung“ nach, dass viele der radikal- und sozialistisch feministischen Kritiken den Marx’schen Kategorien einen anderen Sinn unterschieben – und diesen dann kritisieren – oder überhaupt nicht erst versuchen, an der Kritik der politischen Ökonomie begrifflich anzuknüpfen.

Autor:innen wie Lise Vogel versuchen hingegen, eine „einheitliche Theorie“ der Produktion und Reproduktion zu entwickeln. Sie gehen dabei mit Marx davon aus, dass in der kapitalistischen Produktionsweise geschichtlich wie logisch die Produktion die Reproduktion bestimmen muss. Ihre Theorie scheitert dabei nicht am Bezug auf Marx, wohl aber an ihrer strukturalistischen Lesart des Marxismus und damit einhergehend an Zugeständnissen an die Vorstellung einer klassenübergreifenden Bewegung aller Frauen, der proletarischen, kleinbürgerlichen und auch bürgerlichen.

Die von Vogel mitbegründete Social Reproduction Theory (Theorie der sozialen Reproduktion) stellt heute einen wichtigen Begründungszusammenhang für den linken Flügel des Feminismus dar, wie z. B. die Autorinnen von „Feminismus der 99 %“ (Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser). Im Vergleich zu Vogel leisten sie auf theoretischem Gebiet allerdings Rückschrittliches. Wie frühere Autor:innen werfen sie dem Marxismus vor, die Bedeutung der Reproduktion zu unterschätzen.

Ihm wird ein angeblich verkürzter Klassenbegriff unterschoben. Zugleich wird die Sphäre der Reproduktion (im Gegensatz zu Vogel) faktisch als eigene Produktionsweise begriffen, die als gleichwertig oder sogar übergeordnet zum Verhältnis Kapital – Arbeit aufgefasst wird. Wie schon bei früheren feministischen Kritiken fällt diese begrifflich oft sehr unpräzise und moralisierend aus (z. B. wenn es um die Bestimmung von notwendiger und Mehrarbeit oder produktiver und unproduktiver Arbeit geht).

In früheren Beiträgen in der Zeitschrift Fight und im Revolutionären Marxismus haben wir uns mit oben genanten Theorien beschäftigt. Im Folgenden wollen wir, an Marx anknüpfend, das Verhältnis von Produktion und Reproduktion analysieren, seine historische Entwicklung nachzeichnen und auf die aktuellen krisenhaften Tendenzen der Reproduktion eingehen.

1. Wert- und gebrauchswertseitige Vermittlung der Reproduktionsarbeit

Insbesondere in den Kapiteln über den Akkumulationsprozess im Kapital Band I verweist Marx darauf, dass in jeder Gesellschaftsformation Produktion und Reproduktion eng verzahnt sind, sie im Gesamtzusammenhang betrachtet werden müssen.

„Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion. Keine Gesellschaft kann fortwährend produzieren, d. h. reproduzieren, ohne fortwährend einen Teil ihrer Produkte in Produktionsmittel oder Elemente der Neuproduktion rückzuverwandeln. Unter sonst gleichbleibenden Umständen kann sie ihren Reichtum nur auf derselben Stufenleiter reproduzieren oder erhalten, indem sie die, während des Jahres z. B., verbrauchten Produktionsmittel, d. h. Arbeitsmittel, Rohmateriale und Hilfsstoffe, in natura durch ein gleiches Quantum neuer Exemplare ersetzt, welches von der jährlichen Produktenmasse abgeschieden und von neuem dem Produktionsprozeß einverleibt wird.“ (Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 591)

Marx bestimmt hier einerseits grundlegende Bedingungen der Reproduktion, die für alle Gesellschaftsformationen gelten, nämlich dass Arbeit verrichtet werden muss, um Produktionsmittel (PM) zu erneuern und die Arbeitskraft (AK) wiederherzustellen. Wollen wir jedoch die jeweiligen Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion verstehen, reicht es nicht, bei dieser abstrakten, allgemeinen Vorstellung zu verbleiben, sondern es muss das Verhältnis betrachtet werden, das diese beiden Sphären in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen annehmen. Marx betrachtet Reproduktion dabei von zwei Seiten:

a) Reproduktion des Kapitals (Kapitalkreislauf)

Alle Bedingungen der Produktion (PM und AK) müssen als Waren gekauft werden.

Im Produktionsprozess P werden sie genutzt, um neue Ware (W‘) herzustellen. Dabei übertragen die PM einen Wertanteil an das Produkt, die Arbeitskraft konsumiert die PM, indem es sie in Bewegung setzt und umformt. Sie verrichtet Arbeit und überträgt dabei nicht nur Neuwert auf das Produkt, das dem Wert der Ware AK entspricht, sondern zusätzlichen Wert – Mehrwert –, den sich der/die Kapitalist:in aneignet. Die AK produziert und reproduziert also im Akkumulationsprozesses das Kapital.

In der von Marx zuerst betrachteten einfachen Reproduktion eignet sich der/die Kapitalist:in den Mehrwert zur Gänze an und verausgabt ihn für seine/ihre eigenen Bedürfnisse, also unproduktiv, weil er nicht zur Vermehrung das Kapitals verwendet wird.

Der eigentlich typische Fall für den kapitalistischen Produktionsprozess ist natürlich, dass möglichst viel Mehrwert angeeignet wird, um als zusätzliches Kapital verwertet zu werden, die sog. erweiterte Reproduktion. Dieser Prozess kann als Kreislauf des Kapitals dargestellt werden, als dessen Produktions- und Reproduktionsprozess, weil am Ende das in Geldform G in den Prozess eingetretene Kapital diesen erneut und auf erweiterter Stufenleiter, als G’, durchlaufen kann:

G – W (PM/AK) – P – W‘ – G‘

Arbeit, die in einem solchen Prozess verwertet wird, also einen Mehrwert fürs Kapital schafft, nennt Marx produktive Arbeit (im Gegensatz zur unproduktiven). Sie ist produktiv, weil sie nicht nur bestehenden Wert ersetzt, sondern Mehrwert für ein Kapital schafft, also zu einer erweiterten Reproduktion beiträgt.

b) Doppelte Art der Konsumtion der Arbeitskraft

Marx verdeutlicht, dass das Kapital im Produktionsprozess die Arbeitskraft konsumiert. Dabei wird das Kapital beständig reproduziert als Produkt der entfremdeten, vom Kapitalist angeeigneten Arbeit. Zugleich wird so beständig auch die Arbeitskraft produziert.

„Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter.“ (MEW 23, S. 596)

Mit anderen Worten: Sobald sich die kapitalistische Produktionsweise durchgesetzt hat, müssen die Lohnarbeiter:innen ihre Arbeitskraft verkaufen, um überhaupt die Mittel für ihre Reproduktion kaufen zu können. Geschichtlich geht dem ein gewaltsamer, blutiger Prozess der ursprünglichen Akkumulation voraus, indem Verhältnisse durchgesetzt werden, die den Lohnsklav:innen jede andere Form der Sicherung ihrer Existenz verunmöglichen. Doch einmal etabliert, bringt das Kapitalverhältnis auch die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse hervor, während Männer wie Frauen der herrschenden Klasse von der Ausbeutung der Arbeit anderer leben. Daher unterscheidet sich auch ihre Reproduktion grundlegend von der der lohnabhängigen Klasse. Die Reproduktionsarbeit für die herrschende Klasse muss nicht von den Frauen dieser Klasse erledigt werden, sondern wird von Frauen (oder auch Männern) aus der Arbeiter:innenklasse verrichtet.

Jedenfalls ist die Konsumtion des/der Lohnarbeiter:in doppelter Art:

1. Produktive Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert im Produktionsprozess Produktionsmittel und produziert so Mehrwert, vermehrt das Kapital.

2. Individuelle Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert Lebensmittel, die mit dem Arbeitslohn gekauft werden.

In der Analyse betont Marx zuerst die Verschiedenheit der beiden Prozesse. Betrachten wir nämlich die beiden Formen der Konsumtion als individuelle Verhältnisse zwischen Arbeiter:in und Kapitalist:in, so scheint es sich um sehr verschiedene, voneinander getrennte Bereiche zu handeln:

„In der ersten handelt er (der Arbeiter; Anm. der Redaktion) als bewegende Kraft des Kapitals und gehört dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet Lebensfunktionen außerhalb des Produktionsprozesses. Das Resultat der einen ist das Leben des Kapitalisten, das der andern ist das Leben des Arbeiters selbst.“ (MEW 23, S. 596 f.)

Marx geht aber weiter. Die Sache sieht sehr viel anders aus, wenn wir nicht einzelne Kapitalist:innen – Arbeiter:innen, sondern das Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit betrachten.

Betrachten wir die individuelle Konsumtion vom Standpunkt Einzelner, so erscheint diese als gänzlich verschieden von der produktiven Konsumtion. In der Produktion muss die Arbeitskraft für andere schuften, im privaten Bereich, der individuellen Konsumtion, kann sie frei über ihr Geld verfügen, scheinbar kaufen, was sie will. Es herrscht Freiheit. Dies wird durch die Geldform des Arbeitslohns, im Grunde durch den Geldfetisch, noch zusätzlich verstärkt, weil es so scheint, als ob’s eine beliebige, freie Entscheidung des einzelnen Arbeiter/der einzelnen Arbeiterin wäre, ob er/sie dies oder jenes für sein/ihr Entgelt kauft.

Betrachten wir jedoch den Gesamtprozesse, so erweist sich dies als Ideologie, als Fiktion, wenn auch eine sehr wirkmächtige Apologie der verallgemeinerten Warenproduktion.

In Wirklichkeit reproduziert jene Freiheit selbst noch das Kapitalverhältnis. Betrachten wir nämlich die individuelle Konsumtion in ihrer Gesamtheit, also als Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit, so erweist sich die Reproduktion der Arbeitskraft als sich ständig reproduzierender Teil des Gesamtprozesses der Produktion und Reproduktion des Kapitals.

Dies ist unvermeidlich, weil Letztere immer über den Kauf/Verkauf von Waren vermittelt und so an den Akkumulationsprozess des Kapitals gebunden und diesem untergeordnet bleiben muss.

„Innerhalb der Grenzen des absolut Notwendigen ist daher die individuelle Konsumtion der Arbeiterklasse Rückverwandlung der vom Kapital gegen Arbeitskraft veräußerten Lebensmittel in vom Kapital neu exploitierbare Arbeitskraft. Sie ist Produktion und Reproduktion des dem Kapitalisten unentbehrlichsten Produktionsmittels, des Arbeiters selbst. Die individuelle Konsumtion des Arbeiters bleibt also ein Moment der Produktion und Reproduktion des Kapitals, ob sie innerhalb oder außerhalb der Werkstatt, Fabrik usw., innerhalb oder außerhalb des Arbeitsprozesses vorgeht, ganz wie die Reinigung der Maschine, ob sie während des Arbeitsprozesses oder bestimmter Pausen desselben geschieht.“ (MEW 23, S. 597)

Ferner: „Die beständige Erhaltung und Reproduktion der Arbeiterklasse bleibt beständige Bedingung für die Reproduktion des Kapitals. Der Kapitalist kann ihre Erfüllung getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen.“ (MEW 23, S. 597 f.)

An dieser Stelle setzt die feministische Kritik ein, weil Marx diesen Aspekt nicht weiter ausgeführt hätte. Das stimmt zwar zu einem gewissen Grad. Die Kritik verkennt jedoch, dass Marx hier nicht etwas abbricht, sondern vielmehr zu einer Schlussfolgerung kommt, die sich aus dem Obigen und den Reproduktionsbedingungen der Ware Arbeitskraft ableitet.

Die Arbeiter:innen sind zur eigenen Reproduktion gezwungen, weil sie selbst Lohnarbeiter:innen sind, ihre Arbeitskraft aus „Selbsterhaltungstrieb“ verkaufen müssen. Das Kapital kann daher getrost die Sorge um die Reproduktion der Arbeitskraft externalisieren.

Die Reproduktion kann als „frei“ erscheinen, was durch die „freie“ Arbeit, Arbeitskontrakt usw. bestärkt wird. In Wirklichkeit ist diese Freiheit jedoch gesellschaftlicher Schein, Ideologie. Oder in Marx’ Worten:

„Von gesellschaftlichem Standpunkt ist also die Arbeiterklasse, auch außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses, ebenso Zubehör des Kapitals als das tote Arbeitsinstrument.“ (MEW 23, S. 598)

Es ist also ein Fehler, dabei stehen zu bleiben, die produktive und individuelle Konsumption nur aus individueller und nicht aus gesellschaftlicher Sicht zu betrachten. Das führt nämlich unweigerlich zu einer mechanischen, unvermittelten Aufspaltung zwischen produktiver und reproduktiver Sphäre, die so nicht existiert.

c) Produktions- und Reproduktionskreislauf

Die Unterordnung von Konsum/Reproduktionskreislauf der Arbeitskraft unter den des Kapitals wird auch deutlich, wenn wir diese einander gegenüberstellen. Erinnern wir uns zuerst an den Produktionskreislauf des Kapitals:

G – W (PM, AK) – P – W‘ – G‘

Dieser stellt das Wesen, weil Zweck der Produktion im Kapitalismus dar. Es findet also Anhäufung von Kapital, von kapitalistischem Reichtum statt; der Zweck der Produktion besteht in der Produktion von Mehrwert.

Die Reproduktion der Arbeitskraft lässt sich knapp so darstellen:

G (Arbeitslohn in Geldform) – W (Konsumgüter) – Reproduktion – W’ (AK) – G

Der Arbeitslohn, den die Arbeitskraft als Geld erhält, muss in Waren W (Konsumgüter, Mittel zum Lebensunterhalt ausgegeben werden). Es wird sodann konsumiert, verzehrt (inkl. stofflicher Umwandlung durch Hausarbeit wie Kochen, … ). Am Ende wird die Ware W’ (Arbeitskraft) reproduziert, die wieder zu ihrem Wert/Preis verkauft wird.

Es entsteht hier kein zusätzlicher Wert, sondern es werden nur Wertbestandteile reproduziert. Die Arbeitskraft geht durch den Reproduktionsprozess und verlässt ihn so, wie sie in ihn hineintritt, um wieder ihre Haut zu Markte tragen zu können, um also erneut die Summe G, die ihren Reproduktionskosten entspricht, erhalten zu können. Die Reproduktionsarbeit (ob nun private Hausarbeit oder öffentliche Arbeit wie an Schulen) erhält nur die Arbeitskraft, sie schafft aber unter diesen Bedingungen keinen Mehrwert.

Das trifft auch auf die Arbeiter:innenklasse insgesamt zu, denn der gesamte Lohnfonds (Gesamtsumme aller Löhne wie auch aller staatlichen oder sozialversicherungsrechtlichen Lohnersatzleistungen, des „Soziallohns“, usw.) entspricht im Grunde nur den Reproduktionskosten der Gesamtklasse, also aller ihrer Mitglieder (lohnarbeitende Männer und Frauen, Teilbeschäftigte, im Haushalt Tätige, Kinder, Rentner:innen, Kranke, … ).

Bei der Bestimmung des Werts der Ware Arbeitskraft betrachtet Marx auch alle diese Personen als Teil der Gesamtklasse. Allein das zeigt, wie albern die Kritik an ihm ist, dass er nur die produktiven Arbeiter:innen in der Fabrik betrachten würde. Der gesamte Lohnfonds inkludiert wie die Preisbestimmung der Ware Arbeitskraft selbst (im Unterschied zu anderen Waren) auch eine historische, „moralische“ Komponente, die selbst vom Klassenkampf modifiziert wird.

Wichtig ist aber, dass der größte Teil der Reproduktionsarbeit/-kosten dazu da ist, die Arbeitskraft zu erhalten (gesamtes Gesundheitswesen, Kosten, Wohnung, Heizung, … ). Während diese relativ konstant bleiben, so erhöhen sich mit Entwicklung des Kapitalismus die Bildungskosten, also Kosten zur Erhöhung des Arbeitsvermögens der Arbeitskraft, so dass diese statt Träger einfacher gesellschaftlicher Arbeit zu sein, auch solche zusammengesetzter, komplizierter wird.

Arbeiten im öffentlichen Reproduktionsbereich gehen natürlich in den Durchschnittswert der Ware Arbeitskraft ein. Die Kosten für Gebäude, Arbeitsmittel usw. sowie für die Bezahlung der Arbeitskräfte in diesem Bereich führen zu einer Erhöhung oder Senkung des Durchschnittswerts der Ware Arbeitskraft (z. B. wenn die Kosten für Erziehung, Bildung, Lebensmittel usw.) steigen oder fallen. Aber im staatlich/öffentlich organisierten Reproduktionssektor wird keine Mehrarbeit verrichtet, die sich das Kapital in Form von Mehrwert aneignet. Erst recht findet das nicht in der privaten Hausarbeit statt.

Anders verhält es sich, wenn Teile des Reproduktionsprozesses privatkapitalistisch organisiert werden, beispielsweise wenn Krankenhäuser oder Schulen privatisiert und zum Zweck der Profitmaximierung, als stinknormales Geschäft betrieben werden. Lassen wir einmal die Probleme beiseite, den Wert der Waren genau zu bestimmen, festzulegen, wie verschiedene „Produkte“ im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor vergleichbar und bepreist werden können, so besteht nun der entscheidende Zweck der Reproduktionsarbeit für den/die Kapitalist;in darin, Profit zu erwirtschaften, was, wie wir alle aus Erfahrung wissen, bis zu einem gewissen Grad im Widerspruch zur Reproduktion der Arbeitkraft (z. B. von Patient:innen) steht.

Doch zurück zur Wertbildung der Arbeitskraft und zu deren Reproduktion.

Jede Arbeitskraft, die im privaten Haushalt oder im staatlichen Caresektor reproduktiv tätig wird, muss ihrerseits reproduziert, erhalten werden. Das heißt, diese Kosten gehen wie die zur Herstellung jeder anderen Arbeit in den Wert der Arbeitskraft ein.

D. h., auf die private Hausarbeit bezogen, geht diese im gesellschaftlichen Durchschnitt in den Wert der Ware Arbeitskraft ein (resp. auch in den Wert zukünftiger Arbeitskraft und die Reproduktion des gesamten Haushaltes).

Die Erhaltungskosten zur Reproduktion gehen ebenso in die Reproduktionskosten der Arbeitskraft ein wie die Kosten der Lebensmittel, der Haushaltsgeräte usw. Das heißt umgekehrt auch, die Reproduktionskosten für die Hausarbeit (ob nun mehr oder minder gerecht verteilt oder auf die Frau abgewälzt) müssen bestritten werden. Ebenso trifft das auch auf die (noch) nicht arbeitenden Familienmitglieder zu.

Der entscheidende Unterschied zum Kapitalkreislauf besteht darin, dass hier kein Mehrprodukt, damit auch kein Mehrwert geschaffen wird, den sich jemand außerhalb der Familie aneignen würde.

Im Grunde trifft das auch zu, wenn größer werdende Teile der Reproduktionsarbeit staatlich oder gesellschaftlich organisiert werden („Soziallohn“), also für staatliche Schulen, Kitas, Unis, Krankenhäuser, Altersheime. Solange die für diese Tätigkeiten aufgewandten Mittel nicht als Kapital fungieren, also nicht investiert werden, um Profit abzuschöpfen, sondern als staatlicher/sozialer Dienst, werden sie aus Lohnbestandteilen (z. B. Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung) oder über Steuern (mit historisch wechselnden Anteilen verschiedener Klassen), also staatlich finanziert.

Dem Kapital erscheint daher diese gesellschaftlich notwendige Arbeit immer als faux frais, als überschüssige Kosten der Produktion, als Abzug vom Gesamtprofit. Sie können nie knapp genug bemessen sein. Genau genommen ist dies der Standpunkt des konkurrierenden Einzelkapitals.

Vom Standpunkt der Gesamtkapitals und seiner Reproduktionsbedingungen sind sie keineswegs unnütz, ja essentiell. Das wissen auch einzelne Kapitalist:innen, wenn ausnahmsweise die Arbeiter:innen in einer günstigen Position sind oder wenn Mangel an Arbeitskraft droht. Dann wird nach Maßnahmen zur Überwindung solcher Arbeitsmarktkrisen gerufen.

In jedem Fall sind die Reproduktionskosten der Gesamtklasse bei einem bestimmten Entwicklungsstadium des Kapitalismus für ein bestimmtes gesellschaftliches Gesamtkapital mehr oder weniger gegeben.

d) Erweiterte Reproduktion

Ihre Entwicklung ist grundsätzlich bestimmt von der Akkumulationsbewegung des Kapitals.

Diese beinhaltet aber nicht nur eine Bestimmung für eine Phase der Entwicklung, sondern auch ein dynamisches Element.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals bedeutet schließlich nicht einfach eine quantitative Erweiterung, sondern geht, vermittelt über die Konkurrenz, mit einer stetigen Erneuerung des Produktionsapparates, eine Revolutionierung der technischen Basis der Produktion einher. Diese führt nicht nur zu einer wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und zu einem tendenziellen Fall der Profitrate.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals wirkt auch auf die Reproduktion der Arbeitskraft zurück, sobald und sofern der Wert der Konsumgüter der Arbeiter:innenklasse infolge von Produktivitätssteigerungen sinkt. Die Industrialisierung der Landwirtschaft, die industrielle Massenproduktion von Lebensmitteln oder Haushaltsgeräten und anderen Gegenständen des täglichen Bedarfs (Elektronik), die Verringerung von Transportkosten oder Massenverkehrsmitteln führen zur Reduktion des Werts der Ware Arbeitskraft. Infolge von Wertsenkungen der Konsumgüter ermöglichen sie in bestimmten Perioden der kapitalistischen Entwicklung (z. B. im sog. langen Boom), dass die Menge der Gebrauchswerte/Güter, die die Arbeiter:innen konsumieren können, konstant bleibt oder sogar zunimmt, obwohl der Wert der Ware Arbeitskraft sinkt.

Diese Form der Erhöhung des (relativen) Mehrwerts und ihre Verstrickung mit den Reproduktionskosten verdeutlichen, dass die Bestimmung der Reproduktion durch die Produktion nicht nur ein grundlegendes Merkmal des Kapitalismus darstellt, sondern diese im Zuge der kapitalistischen Entwicklung auch immer mehr um sich greift, immer totaler wird.

Zugleich führt diese Verbindung dazu, dass, historisch betrachtet, auch die Reproduktionsarbeit immer mehr vergesellschaftet wird, wenn auch für private, bornierte Zwecke. In Krisen gestaltet sich dieser Prozess insofern prekärer, als erreichte Stadien von Vergesellschaftung selbst in Frage gestellt werden, also sich eine Tendenz zur Regression manifestiert.

e) Reproduktion und geschlechtliche Ungleichheit

Die geschlechtlich ungleiche Verteilung der Reproduktionsarbeit kann dabei nicht nur aus biologischen Faktoren erklärt werden. Sie muss grundsätzlich aus der historischen Entwicklung begriffen werden, wo die kapitalistische Produktion ihr vorausgehende Formen der Unterdrückung der Frau aufgreift und funktional, dem Wertgesetz unterworfen, umformt.

Dabei ist die Entstehung der Frauenunterdrückung natürlich mit der Gebärfähigkeit der Frauen verbunden, also dem biologischen Fakt, dass nur sie Kinder auf die Welt bringen können. Damit entsteht auf der einen Seite eine Form der Reproduktionsarbeit, die nicht auslagerbar oder auf Männer übertragbar ist, andererseits schafft es auch einen Widerspruch. Schwanger sein ist notwendig für die Reproduktion der Menschheit, hat aber auch den Nachteil, dass die Arbeitsfähigkeit für andere Tätigkeiten phasenweise eingeschränkt wird. Speziell im Kapitalismus mit seinem Fokus auf Profitmaximierung mündet das in sehr bestimmten Arten der Organisierung von reproduktiver Arbeit und reproduziert diese.

Für die kapitalistische Produktionsweise folgt grundsätzlich die Scheidung von produktiver Konsumtion und individueller Konsumtion der Arbeiter:innenklasse aus der Scheidung von Arbeitsprodukt und Arbeitenden, der Trennung von Arbeitskraft und Produktionsmitteln (Eigentumsmonopol des Kapitals). Das Verhältnis von Produktion und (privater) Reproduktion nimmt eine neue, historisch spezifische Form an. Hier sieht man auch den Unterschied zur feudalen Ausbeutung, die Marx hervorhebt, in der Produktion und Reproduktion wesentlich weniger getrennt waren. Es gab zu dieser Zeit eine viel stärkere Einheit im bäuerlichen Haushalt, wo Produktion und Reproduktion zugleich stattfanden und die Familie genauso Produktions- wie Lebenseinheit war.

Die vorgefundene Unterdrückung der Frau führt zur Herausbildung und Durchsetzung einer geschlechtlichen Arbeitsteilung, in der der Mann als „Oberhaupt“ und Ernährer tätig, die Frau für die Hausarbeit zuständig ist (sofern sich ein proletarischer Haushalt überhaupt herausbilden kann).

Im Lohn der männlichen Arbeitskraft werden daher die Reproduktionskosten des Haushalts mit gesetzt, daher die höhere  Bezahlung der männlichen Arbeitskraft (es gibt daraus resultierend auch eine historisch-moralische Einwirkung auf den Arbeitslohn).

Im privaten Haushalt wird dadurch eine vorgefundene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung reproduziert und produziert. Die historisch moralischen Einwirkungen sind unter anderem struktureller Sexismus, der abseits von dieser besseren Entlohnung für Männer auch ideologisiert, dass die Arbeit von Frauen generell weniger wert ist als die von Männern.

Die bürgerliche Familie entspricht diesem Reproduktionszusammenhang, sie erscheint als Reich der „Freiheit“, des Rückzugs, des privaten Glücks und der Selbstbestimmung gegenüber der Fabrik, der Ausbeutung der Arbeitskraft unter der Despotie des Kapitals.

Individuell betrachtet, scheint sich der Mensch in der Privatsphäre zu verwirklichen, auch wenn diese, wie Marx zeigt, letztlich vom Kapital bestimmt ist. Aber der/die Warenbesitzer:in der AK scheint hier wirklich sich zu gehören (resp. auch seine/ihre Familie).

Die Familie, Partnerschaft (selbst in ihrer patriarchalen Form) scheint daher ein Rückzugsraum, eine sicherer Hafen vor der Unbill der Arbeit in der Fabrik, im Produktionsprozess. Aber dies ist weitgehend Fiktion, wie Marx hervorhebt:

„Hat die Produktion kapitalistische Form, so die Reproduktion. Wie in der kapitalistischen Produktionsweise der Arbeitsprozeß nur als ein Mittel für den Verwertungsprozeß erscheint, so die Reproduktion nur als ein Mittel, den vorgeschoßnen Wert als Kapital zu reproduzieren, d. h. als sich verwertenden Wert.“ (MEW 23, S. 591)

2. Historische Entwicklungsdynamik der Reproduktionsarbeit

Nachdem wir Grundzüge des Verhältnisses von Produktion und Reproduktion umrissen haben, wollen wir uns dessen historischer Entwicklung zuwenden. So wie das Lohnarbeitsverhältnis keineswegs „rein“ hervortritt, sondern geschichtliche Modifikationen durchläuft wie auch aufgrund der imperialistischen Weltordnung sehr verschieden in imperialistischen und halbkolonialen oder kolonialen Ländern in Erscheinung tritt, so durchläuft auch die kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeitskraft Entwicklungsstufen. Diese dürfen dabei keineswegs als strenge Abfolge betrachtet werden, die für alle Länder gleichermaßen gelten würde. Vielmehr gilt auch dafür das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung, wo im Rahmen einer reaktionären imperialistischen Ordnung relativ weit vergesellschaftete Formen der Produktion und Reproduktion gleichzeitig und verwoben mit extrem rückständigen auftreten, ja diese im Rahmen eines globalen Ausbeutungsverhältnisses sogar immer wieder hervorbringen.

Im Folgenden wollen wir grob einige Entwicklungsphasen skizzieren – und wir sehen dabei auch, dass Formen, die zuerst im Frühkapitalismus entstehen, heute noch in extrem ausgebeuteten Ökonomien weit verbreitet, ja prägend sein können.

a) Übergang, Entstehung des Kapitalismus

Die Fesselung der Frau an den Haushalt hat der Kapitalismus nicht erfunden, wohl aber die Trennung von Produktion und Reproduktion. Um kapitalistische Verhältnisse auch in der Reproduktion zu erzwingen, muss also einerseits die Fesselung an den Haushalt aufrechterhalten, andererseits dieser als Produktionseinheit (die die Güter ihrer eigenen Reproduktion ganz oder in wesentlichen Teilen herstellt) zerschlagen werden.

D. h. die Arbeiter:innenklasse muss gezwungen werden, ihre Lebensmittel als Waren bei Dritten (kapitalistischen Produzent:innen oder Händler:innen) gegen Geld (Arbeitslohn) zu kaufen.

Dies ist funktional wichtig und muss gewaltsam hergestellt werden, weil, ansonsten die Arbeitskraft selbst nicht in vollem Maß zum Verkauf als Ware gezwungen wäre.

Hier zeigt sich zugleich, dass es – trotz einiger Gemeinsamkeiten mit der Subsistenz- und der kleinen Warenproduktion – im Grunde irreführend ist, die private Hausarbeit als eine eigene Produktionsweise zu bestimmen. Dies verschleiert vielmehr den spezifisch kapitalistischen Charakter der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse. Wir haben es bei der (privaten) Reproduktion im Haushalt nicht mit einer oder gar mehreren Produktionsweisen außerhalb des Kapitals zu tun, sondern mit einer – so unsere These – spezifisch kapitalistischen Form der Reproduktion im Kapitalismus.

Gerade in ihrer Bestimmtheit durch die Produktion liegt ihr Wesenskern. Dass dies leicht anders erscheinen mag, hängt mit verschiedenen Faktoren, die zu einer ideologischen Fetischisierung führen, zusammen.

  1. Erscheint der Haushalt, die Privatsphäre als Gegenteil der betrieblichen, sachlichen Despotie (selbst die Despotie des Haustyrannen ist unterschieden, weil wesentlich persönlich, patriarchal, Herrschaft des Vaters, im engen Wortsinn).
  2. Kapitalistische Reproduktion existiert nicht rein, sondern in mehr oder weniger krassen Hybridformen.

Davon einige wichtige:

  • Die Haushaltsformen des Kleinbürgertums (z. B. der Bauern-/Bäuerinnenschaft) setzen die Einheit von Produktion und Reproduktion fort.
  • In den halbkolonialen Ländern dauert der Prozess der ursprünglichen Akkumulation an. Dies führt zur Bildung von wichtigen, prekären Formen der Reproduktion für beachtliche Teile der Bevölkerung des globalen Südens.
  • Für die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse ist, global betrachtet, bis heute eine „normale“ Reproduktion in der Familie nicht oder nur bedingt möglich. Die Ausweitung der Teile der Klasse, die unter ihren Reproduktionskosten Lohnarbeit verrichten müssen, bedeutet auch, dass der proletarische Haushalt seine Reproduktionsfunktion nicht oder jedenfalls nicht voll erfüllen kann.
  • Umgekehrt wird aber der „Rückzug“ zu einer vorkapitalistisch funktionierenden Form der Reproduktion verunmöglicht.
  • Umso stärker wird die Tendenz zur Barbarisierung der Verhältnisse im Haushalt (Hunger, Armut, Aufteilung des Mangels, aber auch Gewalt gegen Frauen und Kinder).

Für die frühe kapitalistische Entwicklung wie auch für bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse stellt die Familie keineswegs eine historische Selbstverständlichkeit dar. Im Gegenteil! Die Überausbeutung verunmöglichte diese weitgehend für die neue entstehende Klasse (siehe auch urspr. Akkumulation, Ausdehnung des Arbeitstages, Sklaverei, … ).

Für deren unterste Schichten nimmt soziale Vorsorge – sofern vorhanden – die Form des Armenhauses, von Waisenhäusern samt despotischem Regime an. Die Kriminalisierung anderer Einkommensarten (Betteln, Verbot des Zugriffs auf vormaliges Gemeineigentum) stellen unerlässliche Mittel dar, den Zwang zur Lohnarbeit durchzusetzen. Dieses Regime muss gewährleisten, dass die „Armenversorgung“ unter dem Niveau des extrem geringen Arbeitslohns liegt. Daher auch die fast ungebrochene Tendenz zur absoluten Verelendung im Frühkapitalismus – eine Tendenz, die wir in der halbkolonialen Welt, teilweise sogar unter den marginalisierten (oftmals zugleich migrantischen und/oder rassistisch unterdrückten) Schichten der Klasse auch in den imperialistischen Zentren vorfinden.

b) Entstehung und Durchsetzung der proletarischen Familie

Die „klassische“ bürgerliche Familie (Vater als Ernährer, Frau als Hausfrau, Kinder) ist in der Arbeiter:innenklasse auch immer ein zwiespältiges historisches Produkt. Ihre Verwirklichung ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Der Arbeitslohn des Mannes muss die Reproduktionskosten der gesamten Familie real abdecken können (Frau, Kinder, Alte), damit die Frau Hausfrau sein kann, die Kinder nicht gegen Lohn arbeiten müssen und die Alten versorgt werden können. Daher müssen auch der Ausbeutung gewisse Schranken gesetzt werden, also Grenzen der absoluten Mehrwertabpressung durchgesetzt werden. Um diese Reproduktionsfähigkeit der Familien überhaupt herzustellen, müssen die Löhne dem Wert der Arbeitskraft (A) entsprechen, muss der Arbeitstag begrenzt werden, müssen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Beschränkungen der Kinder- und Frauenarbeit und staatliche Sozialleistungen durchgesetzt werden.

Dies ist nur möglich auf Basis von gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen, die reale Errungenschaften durchsetzen (z. B. den 10-Stundentag). Diese werden oft auch begünstigt dadurch, dass ein Teil der herrschenden Klasse (bzw. deren politischen Personals) erkennt, dass eine gewisse Grenze der Ausbeutung notwendig ist, um die Reproduktion des Ausbeutungsmaterials zu sichern (ob dies aus Einsicht oder Furcht vor Radikalisierung der Arbeiter:innenklasse erfolgt, ist hier zweitrangig).

Die Bildung der proletarischen Familie setzt also eine gewisse materielle Besserstellung der Klasse voraus. Wenigstens signifikante Teile müssen in der Lage sein, den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu oder über ihren Reproduktionskosten durchzusetzen.

Dies stellt gegenüber dem Frühkapitalismus oder extremen Formen der Ausbeutung eine Errungenschaft der gesamten Klasse, von Mann und Frau dar. Aber sie geht zugleich einher mit einer Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Arbeiter:innenklasse. Die Frau kann jetzt auch „nur“ Hausfrau, der Mann kann real alleiniger „Ernährer“ der Familie sein. Für die Frau bedeutet dies aber zugleich eine Fessel, eine Befestigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, den Zwang, die Hausarbeit zu leisten, die keinen Mehrwert generiert, die Festigung der Abhängigkeit vom Mann (als Einkommensquelle) und ihrer Vereinzelung und Unterdrückung. Damit einher geht auch die Entstehung des proletarischen Haushaltes (eigene, kleine Mietwohnung, eigener Herd, … ).

Die Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verstärkt darüber hinaus durch rechtliche Ungleichheit und reaktionäre Ideologien und Chauvinismus in der Arbeiter:innenklasse die soziale Unterdrückung.

Ökonomisch wird diese zusätzlich befestigt, indem der Lohn des Mannes als Familienlohn gesetzt ist. Der Wert der Arbeitskraft ist wesentlich der der männlichen. Der Wert der weiblichen Arbeitskraft wird so auf einen Bruchteil der männlichen fixiert, da ihre Reproduktionskosten in diesem System geringer sind, weil das Lohneinkommen der Familienmitglieder vom Mann, nicht der Frau bestritten werden soll/muss.

Wir haben es hier also mit einer systematischen Ungleichheit des Werts der Arbeitskraft zu tun, die das spezifisch kapitalistische System der Reproduktion schafft bzw. von diesem geschaffen wird.

Dies drückt sich einerseits in der Last der Hausarbeit aus, die den Frauen aufgebürdet wird. Zweitens aber auch in einer beruflichen Arbeitsteilung. Frauen werden aus industriellen Branchen verdrängt (oder erst gar nicht reingelassen), auf zeitweilige, schlechter bezahlte Tätigkeiten verwiesen.

Dieses „Modell“ wird zum vorherrschenden in den kapitalistischen Zentren mit Expansion des Kapitalismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und der imperialistischen Epoche bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wird auch auf Halbkolonien mit der Expansion des Kapitalverhältnisses und der Entstehung einer, wenn auch kleineren Arbeiter:innenaristokratie ausgeweitet, aber verbleibt dort bis heute eine Form, die nie die gesamte Klasse umfasst.

Nicht minder wichtig ist, dass dieses Modell bis heute, wenn auch modifiziert und, was die Frage der Lohndifferenzen betrifft, etwas gerechter die vorherrschende ideologischen Form darstellt.

Bei den erzreaktionären bürgerlichen Kräften tritt das ganz klar und unverhüllt hervor. Aber auch dem Liberalismus, dem Mainstreamfeminismus und dem Reformismus liegt dieses Modell zugrunde. Es wird jedoch seiner „unschönen“ Seiten bereinigt. Die gleiche Verteilung der Hausarbeit und gleiche Löhne/Einkommen werden propagiert. Ein mehr oder weniger großer privater, quasi familiär organisierter Teil der Reproduktionsarbeit wird aber als erstrebenswert oder unverzichtbar und eigentlich menschlich betrachtet. (Dies kann natürlich auch auf gleichgeschlechtliche oder Transpartner:innenschaften erweitert werden, gewissermaßen als flexiblere, anpassungsfähigere Formen der bürgerlichen Familie).

Die zunehmende Vergesellschaftung der Produktion gerät aber mit dieser engen Form der kapitalistischen Reproduktionsarbeit in Widerspruch bzw. Letztere stellt auch eine Schranke für die Expansion des Kapitals ab einer bestimmten Stufe dar.

c) Ausdehnung der Lohnarbeit der proletarischen Frauen

Das zeigte sich zuerst im Ersten Weltkrieg. Aber die Ausdehnung der Frauenarbeit in der Produktion für diesen Krieg war nur vorübergehend, nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Verwerfungen in der Zwischenkriegszeit, der Zerrüttung des Weltmarktes, der Massenarbeitslosigkeit und der ungelösten Probleme der globalen Vorherrschaft unter den imperialistischen Mächten.

Anders im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frauen kehren nicht in den Haushalt zurück. Dies hat zwar auch historisch spezifische Gründe in manchen Ländern (Mangel an männlicher Arbeitskraft wegen Kriegsgefangenschaft und toter Soldaten). Vor allem aber erfordern die veränderten, günstigen Akkumulationsbedingungen (Zerstörung und Ersetzung von Kapital, massive Ausdehnung der Produktion und hohe Profitraten, Ablösung des Kolonialsystems und Ausdehnung des Weltmarktes, USA als Demiurgin des Weltmarktes, Dollar als Weltgeld, Erhöhung des relativen Mehrwerts erlaubt hohe Profite und gleichzeitige Ausdehnung des Konsumfonds der Arbeiter:innenklasse) auch eine massive Expansion der weiblichen Lohnarbeit.

Proletarische Frauen (wie die gesamte Klasse) werden als Konsumentinnen wie als Lohnarbeiterinnen wichtiger. Die Expansion weiblicher Lohnarbeit wird außerdem am Beginn durch Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern begünstigt. Frauen werden als billigere, oft nur „vorübergehende“ Arbeitskraft in bestimmen Sektoren massenhaft beschäftigt. Männer gelten am Beginn weiter als Vollzeitarbeiter. Dies entspricht einem geschlechtlich extrem segregierten Arbeitsmarkt, auf dem in der ersten Phase der Nachkriegsperiode Männer- und Frauenberufe klar getrennt sind.

In dieser ersten Phase der Expansion geht diese noch ohne große Erschütterung der proletarischen Familien wie des Oberhaupts der Familienform mit ihrer ideologisierten Selbstverständlichkeit einher. Diese wird am Beginn sogar eher stabilisiert, auch weil das Proletariat ab Mitte der 1950er Jahre stetige ökonomische Verbesserungen verspüren kann. Politisch-ideologisch sind die 1950er und frühen 1960er Jahre restaurativ, extrem miefig, reaktionär. Es ist daher auch kein Wunder, dass von einer rechtlichen Gleichstellung der Frauen in den meisten Ländern nicht die Rede sein kann.

Zugleich entwickeln sich jedoch die inneren und gesellschaftlichen Widersprüche.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit, die Ausdehnung des Bedarfs an qualifizierter Arbeitskraft und höhere Lebenserwartung erfordern auch eine Ausdehnung der Reproduktion, die gesellschaftlich geleistet wird und nicht privat. Das wiederum bedarf eines Ausbaus des Bildungswesens und sozialstaatlicher Leistungen (Gesundheitssystem, Altersvorsorge) sowie von Einrichtungen, die Frauen Vollzeitarbeit ermöglichen (Kitas, Ganztagsschulen, Pflegeheime).

Mit der Expansion geht außerdem auch eine Ausdehnung weiblicher Lohnarbeit im Bereich Bildung und Gesundheit einher.

Die Expansion macht aber auch die fest etablierte Ungleichheit, die patriarchalen Verhältnisse in Ehe und Familie immer fragwürdiger, ja unhaltbarer. Ihre gesellschaftliche Legitimation erodiert zusehends.

All das legt auch die Grundlage für die 2. Welle der Frauenbewegung der 1960er/1970er Jahre. Das Auftreten des radikalen und sozialistischen Feminismus führt dazu, dass Forderungen der Bewegung von der Gesellschaft insgesamt aufgegriffen oder jedenfalls zu einem Kampffeld für Millionen Menschen werden.

Es ist auch kein Zufall, dass die Frage der Hausarbeit/Reproduktion und der politischen Ökonomie mehr Beachtung findet in dieser Zeit und zu einem wichtigen Gegenstand der Diskussion in der Linken und Frauenbewegung gerät.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit ist in praktisch allen Ländern enorm, v. a. in imperialistischen Staaten, oft noch mehr in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten, aber auch in vielen Halbkolonien.

Mit der Ausdehnung einer gesellschaftlich organisierter Reproduktionssphäre, die über Steuern, Sozialabgaben, also über Lohnbestandteile oder die Revenue des Kapitals finanziert wird, verringert sich tendenziell das reale Lohndifferential zwischen Männern und Frauen, zwischen besser und schlechter bezahlten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Ein größerer Bestandteil des Lohnfonds insgesamt wird über staatliche Leistungen oder Sozialversicherungen umverteilt und kommt so als Anspruch auch weniger hohe Steuern oder Beiträge zahlenden Lohnabhängigen zugute.

Das Lohndifferential (Gender Pay Gap) sowie die geschlechtsspezifische Struktur der Arbeitswelt verlieren ihre offizielle gesellschaftliche Legimitation, werden ihres scheinbar natürlichen Charakters entkleidet.

Dennoch wirken sie massiv fort, ebenso die ungleiche Verteilung der privaten Hausarbeit und der überproportionale Anteil von Frauen an der Reproduktionsarbeit.

Die Ausdehnung des Soziallohns sowie der Druck der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung wirken bei aller Zähigkeit auf eine Angleichung der Löhne/Entgelte von männlicher und weiblicher Lohnarbeit.

Die Ausdehnung der weiblichen Lohnarbeit, also direkte Beteiligung der Frau an wenn auch indirekter, „blinder“ vergesellschafteter Produktion drängt auch auf eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit.

Dieser Prozess stößt aber im Kapitalismus an innere Grenzen wegen des Warencharakter der Arbeitskraft, der inneren Anarchie der Produktionsweise und der bornierten, kapitalistischen Zwecke der Produktion. Zugleich bleibt die Familie weiter ein wichtiges bürgerliches Integrations- und Herrschaftsinstrument, so dass sie aus gutem Grund von konservativer und reaktionärer Seite auch dann besonders eifrig verteidigt wird, wenn sie eigentlich gesellschaftlich ersetzbar wäre. Hinzu kommt, dass sie gerade während und wegen ökonomischer Krisen weiter eine wichtige Rolle spielt: Denn gesellschaftliche Reproduktion ist wesentlich unproduktive Arbeit fürs Einzelkapital, daher Abzug von seinem Profit, tritt als unnötige Kosten in Erscheinung, die möglichst reduziert werden müssen.

3. Krise, Klassenkampf, Vergesellschaftung

Mit dem Ende des langen Booms und Einsetzen der chronischen Überakkumulation des Kapitals, die die Weltwirtschaft in verschiedenen Formen seit den 1970er Jahren mit prägt, wird auch diese Widersprüchlichkeit deutlicher. Die Sphäre der Reproduktion stürzt selbst in eine tiefe Krise.

Deren Hintergrund und Ursache bildet die strukturelle Überakkumulation. Das Kapital stößt zunehmend auf Schwierigkeiten, eine ausreichend hohe Profitrate aufrechtzuerhalten, weil die organische Zusammensetzung des Kapitals steigt und der Mehrwert schaffende Teil des Kapitals (also das variable Kapital im Verhältnis zum konstanten) immer kleiner wird. Es gibt also nicht nur einen Drang dazu, sich andere Anlagesphären (und -gebiete) zu suchen, sondern auch, die Ausbeutungsrate zu erhöhen (also die Kosten fürs variable Kapital zu senken). Das bedeutet auf der einen Seite, dass es zu mehr Privatisierungen des Caresektors kommt, um neue Bereiche zu erschließen. Es heißt aber auf der anderen auch, dass Menschen (vor allem Frauen), die stark in die Reproduktionsarbeit eingebunden sind, zusätzlich auch wieder stärker in die Lohnarbeit gedrängt werden, ohne sie von der Zusatzarbeit zuhause zu entlasten.

Vor allem in imperialistischen Ländern ist viel Reproduktionsarbeit staatlich geregelt. Sie stellt zwar einen essenziellen Beitrag zum Erhalt des Systems dar, wird aber aufgrund ihrer nicht Mehrwert schaffenden Rolle immer stärker eingespart. Viele der Probleme in unseren jetzigen Gesundheitssystemen ergeben sich aus Rentabilitätskalkülen. Nachdem ein System niedergespart wurde, kommt oft ein guter Moment für Privatisierungswellen. Die organische Zusammensetzung in diesen Bereichen liegt oft unter dem Durchschnitt und es gibt einen leichten Eintritt in den Markt, wenn die Leistungen des öffentlichen Sektors nicht mehr mithalten können (solange staatlich keine Regelungen dagegen getroffen werden). Damit wird also die vorher „nichtproduktive“ (nicht Mehrwert schaffende) zu profitmaximierender Arbeit oder zumindest darauf vorbereitet.

Je teurer dann aber wiederum privatisierte Institutionen werden und je mehr an Löhnen in krisenhaften Situationen gespart wird, umso mehr werden Leistungen der Reproduktionsarbeit (Kindergarten, Krankenhäuser usw.) unbezahlbar für die Arbeiter:innenklasse oder jedenfalls für die schlechter entlohnten Teile. Das wiederum drängt Leute wieder zurück in die Familie, um reproduktive Aufgaben vermehrt selbst zu übernehmen. Dieses Phänomen gibt es natürlich nicht nur bei Privatisierungen, sondern auch staatlichen Angeboten, die nicht kostenlos oder an viele Bedingungen geknüpft sind (z. B. Staatsbürger:innenschaft) oder eine bestimmte Familienkonstellation). Es nimmt aber nicht dasselbe Ausmaß an. Speziell trifft diese Dynamik auf Halbkolonien zu.

Kürzungen beim Soziallohn, also dem Anteil an Sozialabgaben und damit der Finanzierung von reproduktiven Leistungen, bedeuten auch einen Rückgang im gesamten Lohnfonds. Diese Unterfinanzierung steht für mehr soziale Ungleichheit und führt damit zu immer reaktionäreren Tendenzen. Mit zusammenbrechenden Sozialsystemen, verschärfter Ungleichheit und einem Zurückdrängen von reproduktiven Arbeiten in Familie und Haushalt erfolgt eigentlich ein gesellschaftlicher Rückschritt. Obwohl die technischen und organisatorischen Möglichkeiten da wären und auch das Kapital davon profitiert, über Arbeiter:innen zu verfügen, die voll ausbeutbar sind, führen inhärente Tendenzen des Kapitalismus zu einer barbarischen Situation. Diese zementieren auch die bürgerliche Kleinfamilie und ketten sowohl Frauen als auch Kinder und alte Menschen noch heftiger an sie als ohnehin schon.

Doch diese Entwicklungen passieren nicht ohne Widersprüche. Streiks in Bereichen, wo vor allem Frauen beschäftigt sind (Pflege, Kindergarten, etc.), handeln immer wieder neu aus, wie die Reproduktionsarbeit organisiert wird, und in vielen Ländern bilden sich dabei auch neue kämpferische Sektoren der Arbeiter:innenklasse.

Die krisenhaften Entwicklungen im Reproduktionsbereich dürfen jedoch nicht damit verwechselt werden, dass es nur eine Tendenz weg von der wenn auch naturwüchsigen Vergesellschaftung hin zur privaten Hausarbeit gebe.

Im Gegenteil, für bedeutende Sektoren der lohnabhängigen Mittelschichten wie auch der Arbeiter:innenklasse können wir ein Fortschreiten einer wenn auch privatkapitalistisch organisierten Vergesellschaftung der Hausarbeit konstatieren.

Wir wollen das am Beispiel der sog. Plattformökonomie verdeutlichen. In den letzten Jahren erleben wir eine große Ausbreitung von Dienstleistungen, die über solche Onlinedienste Teile von Reproduktionstätigkeiten anbieten. Das umfasst Lieferdienste für Essen und Nahrungsmittel, die mittlerweile von fast allen Schichten der Arbeiter:innenklasse zumindest gelegentlich genutzt werden.

Für größere Teile der Lohnabhängigen werden diese zum Standard für ihre Reproduktion. Der entscheidende Grund dafür besteht darin, dass die ständige Intensivierung der Arbeit, deren Verdichtung, die durch Homeoffice oft noch einen neuen Schub erhält, die Menschen während der Arbeit so sehr auslaugt, dass sie kaum noch die Kraft haben, für sich selbst zu kochen oder zu putzen.

Daher bietet die Plattformökonomie längst mehr als Mahlzeiten oder Fertiggerichte. Darüber werden auch Reinigungskräfte, Pfleger:innen oder Kinderbetreuung vermittelt.

Diese Inanspruchnahme von privat angebotenen und über größere Kapitale organisierten Diensten, die nun auch Teil der produktiven, Mehrwert schaffenden Arbeit werden, ist natürlich nicht für die gesamte Arbeiter:innenklasse möglich und erfordert, um unter den gegenwärtigen Konkurrenzbedingungen profitabel funktionieren zu können, dass die Beschäftigten der über die Plattformökonomie organisierten Lieferdienst oder Caresektoren selbst für geringe, unterdurchschnittliche Löhne und unter ungesicherten Arbeitsbedingungen tätig sind. Pointiert könnte man sagen, dass bei diesen Unternehmen vor allem jene Arbeiter:innen angestellt werden, die sich diese Dienste nicht oder nur gelegentlich leisten können. Hinzu kommt, dass, solange diese Dienste vergleichsweise billig angeboten werden, sie auch zu einer Erhöhung des relativen Mehrwerts führen.

Natürlich gibt es ähnliche Phänomene auch im bislang ganz oder halbstaatlich organisierten Reproduktionsbereich – bei Krankenhäusern, Schulen, Kitas, … Diese sind bereits, wenn auch zum Zweck der Reproduktion des Gesamtkapitals, vergesellschaftet. Nun werden bereits gesellschaftlich organisierte Bereiche der Reproduktion zerlegt, privatisiert oder im ersten Schritt einer privaten, profitorientierten Kostenrechnung und Kalkulation unterworfen.

Neben Tendenzen zur Privatisierung finden wir also auch in der aktuellen Krise solche zur Vergesellschaftung. Doch diese folgen keinem bewussten gesamtgesellschaftlichen Plan, sondern finden auf privater Basis oder durch den Staat statt. Das Zurückdrängen der Hausarbeit in die Familien und Abwälzen auf die Frauen bildet also nur eine Tendenz in der aktuellen Krisenperiode. Diese wird durch eine andere, nämlich die Ausdehnung privat organisierter Reproduktionstätigkeit ergänzt.

Während in der Phase der Ausdehnung des Reproduktionssektors in den 1960er und 1970er Jahren diese mit einem weitgehend allgemeinen Zugang zu Grundleistungen einherging, so geht die aktuelle Kommodifizierung der Reproduktionsarbeit damit einher, dass verschiedene Schichten der Arbeiter:innenklasse weit unterschiedlicheren Zugang zu diesen haben als bisher.

So wie die inneren Differenzen der Klasse in einem Land und erst recht international zunehmen, wie die Unterschiede in Einkommens- und Lebensverhältnissen zwischen Arbeiter:innenaristokratie, der Masse der Klasse und der wachsenden Schicht der prekär Beschäftigten größer werden – und dies noch viel mehr auf globaler Ebene – , so werden auch die Reproduktionsbedingungen unterschiedlicher, vergrößert sich die Kluft innerhalb der Arbeiter:innenklasse.

Ein zentraler Aspekt ist dabei, dass diese Tendenzen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertiefen, so dass Frauen von der Krise des Reproduktionssektors besonders stark betroffen sind.

Wir können aus all diesen Gründen ihre „Lösung“ nicht dem bürgerlichen Staat oder dem Markt überlassen. Der Kampf um die Verteidigung bestehender Errungenschaften um die Reorganisation der Reproduktionsarbeit bildet zugleich ein zentrales Feld des Klassenkampfes in der gegenwärtigen Periode. Die widersprüchlichen Tendenzen zur Vergesellschaftung, zur Privatisierung und zur Ausdehnung der privaten Hausarbeit sind im Kapitalismus letztlich unlösbar, zumal die Erhöhung der Mehrwertrate ein zentrales Element der Krisenbewältigungsstrategien der herrschenden Klasse bildet, ja bilden muss.

Im Sinne eines Programms von Übergangsforderungen gilt es, an bestehenden Kämpfen anzusetzen und diese mit dem für eine planmäßige Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle zu verbinden:

  • Ausbau und Einführung von Großkantinen und Restaurants unter Arbeiter:innenkontrolle als Alternative zu isolierter Hausarbeit. Entschädigungslose Enteignung der großen Handelsketten und Lieferdienste unter Arbeiter:innenkontrolle.
  • Kommunalisierung aller Kindergärten und Schulen. Diese müssen kostenlos und für alle zugänglich sein. Für ein massives Investitionsprogramm zur Erneuerung und zum Ausbau und zur Einstellung fehlender Erzieher:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und anderer Beschäftigter zu vollen tariflichen Löhnen. Kontrolle über die Einrichtungen durch Ausschüsse von Beschäftigten, Schüler:innen und Eltern!
  • Enteignung von Wohnungskonzernen und von Grund und Boden. Kontrolle der Mieten durch Ausschüsse der Mieter:innen und Gewerkschaften.
  • Verstaatlichung und Ausbau des gesamten Caresektors unter Kontrolle der Beschäftigten, Patient:innen, und Gewerkschaften, finanziert durch die Besteuerung des Kapitals und der Reichen!
  • Kampf für Reduzierung der Arbeitszeit für die gesamte Arbeiter:innenklasse auf 30 Stunden pro Arbeitswoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, damit die Reproduktionsarbeit auf beide Geschlechter verteilt werden kann und den Frauen die Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben erleichtert wird!
  • Für die Vergesellschaftung der Haus- und Reproduktionsarbeit. Gleichmäßige Aufteilung der übrig bleibenden privaten Tätigkeiten unter Männern und Frauen!

Die Vergesellschaftung der Hausarbeit kann im Kapitalismus nie vollständig erreicht werden, ganz so, wie die planmäßige und bewusste Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit nicht durchgeführt werden kann, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln die Gesellschaft prägt. Daher ist der Kampf um sie mit dem für die Enteignung des Kapitals, mit der sozialistischen Revolution untrennbar verbunden.




„Die Pflege muss enteignet werden!“

Interview mit einem Pflegeazubi aus Leipzig, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Das Wort Pflegenotstand ist in aller Munde: Überall fehlt es an Pflegekräften und Fachpersonal, Löhne sind viel zu niedrig. Die Politik hat nichts weiter übrig als vermeintlich wertschätzende Worte, aber es brennt an allen Enden und Ecken. Aber nicht nur die festangestellten Pflegekräfte bekommen etwas von den Problemen mit, auch die Azubis spüren es am eigenen Leib. Daher habe ich mich mit D., 19 Jahre, aus Leipzig getroffen, welcher eine Ausbildung zur Pflegefachkraft in einem privaten Altenpflegedienst in Leipzig absolviert. Das Interview führte Leonie Schmidt.

Hallo D., warum hast du dich für die Ausbildung zur Pflegefachkraft entschieden und was sind deren Inhalte?

Ich habe mich dafür entschieden, weil ich Menschen helfen will und ich auch so sozialisiert wurde. Meine Eltern waren auch schon Pfleger:innen.

Die Ausbildung zur Pflegefachkraft dauert 3 Jahre. Da ist alles drin von der Grundpflege, wie man einen Menschen richtig pflegt, wie man mit ihm kommuniziert, wie man psychischen Support leistet. Dann geht es weiter zu den Medikamenten, zum Aufbau des menschlichen Körpers. Durch die Zusammenführung der Ausbildung ist es so, dass man echt viel Medizin, darunter Anatomie lernen muss. Und das ist natürlich auch ein riesiger Stress, der auf die Azubis zukommt. Von dir als Azubi wird verlangt, dass du 8 Stunden in der Schule sitzt und dann 8 Stunden zu Hause nochmal lernst bzw. dich auf der Arbeitsstelle nochmal hinsetzt und am besten noch Hausaufgaben machst, was einfach nicht möglich ist in den meisten Fällen. Und am Ende der Ausbildung bist du dann eine Pflegefachkraft, die Allrounderin ist und überall eingesetzt werden kann– und auch wird. Also man hat diesbezüglich keine Probleme später, wenn man nach einer Arbeitsstelle sucht.

Das klingt auf jeden Fall ziemlich interessant, aber auch anspruchsvoll. Es gibt ja sowieso schon aktuelle Probleme in der Pflege. Wie schlägt sich denn der Pflegenotstand auf deine Ausbildung nieder?

Es ist definitiv der Personalmangel, der sich hier zeigt, also dass die Fach- und Führungskräfte total überlastet sind, Dienstpläne nicht geschlossen werden können. Wenn sich jemand krankmeldet, dann wird Druck gemacht. Jemand muss aus dem Urlaub oder freien Tag geholt werden. Und das sind dann meistens wir Azubis, zumindest war es bei mir so. Du wirst für die „Drecksarbeit“ eingesetzt, der Klassiker. Du lernst in den meisten Fällen nicht mal wirklich was bei den Aufgaben. Entweder hast du im betreuten Wohnen gar nichts zu tun oder im Krankenhaus richtig viel Stress, wo du den ganzen Tag rumläufst, Betten beziehst, Medikamente verteilst und so weiter. Auch Sachen, die du eigentlich noch gar nicht machen darfst wie Spritzen oder Infusionen vorbereiten und anhängen sind dann alles Aufgaben, die auf dich abgewälzt werden, weil die Fachkräfte das zeitlich nicht schaffen. Natürlich ist es auch ein großes Problem, dass du dauerhaft am Arbeiten bist. Du hast keine Freizeit. Du bist am Wochenende arbeiten, wenn deine Freunde feiern gehen. Du bist abends arbeiten, wenn deine Freunde zuhause sitzen und Serien schauen. Du hast nie Zeit, was einen natürlich auch psychisch total fertigmacht – vor allem in so einem jungen Alter. Dann hat man einfach keine Jugend, weil man die ganze Zeit nur auf der Arbeit ist oder lernt.

Die Azubis werden also wie überall als volle Arbeitskraft eingesetzt, aber weder ordentlich entlohnt noch ordentlich ausgebildet, was gerade in Kombination mit dem Pflegenotstand besonders heftig ist. Das ist natürlich ein Sache, die man ganz klar angehen muss. Und was gibt es für Probleme speziell an deinem Arbeitsplatz?

Ein ganz großes Problem bei dem privaten Pflegedienst, wo ich meine Ausbildung mache, ist, dass es keine Kommunikation im Team gibt. Man bekommt erst Sachen mit, wenn es wirklich zu spät ist, bspw. bei einer Abmahnung. Es gibt keinen mentalen Support. Niemand fragt zum Beispiel, warum du zu spät gekommen bist, es dir schlecht geht oder du keine Motivation zeigst. Und das zweite sehr große Problem ist, dass es ein privater Pflegedienst ist, und das führt dazu, dass der Mensch dort eine Ressource ist, egal ob Arbeit„nehmer“:in oder Patient:in.  Beide Gruppen werden extrem ausge-beutet und nur der Profit steht im Vordergrund.

Gibt es bei deiner Ausbildungsstelle auch Fälle von Rassismus oder Sexismus?

Bei meiner Stelle, am Randgebiet von Leipzig, gibt es auch sehr viel alltäglichen Rassismus. Wir haben zum Beispiel einen Pflegeazubi, der ist super lieb, 27 Jahre alt und wohnt seit 7 Jahren in Deutschland. Er spricht perfekt Deutsch, hat vorher auch eine Sozialassistentenausbildung gemacht und danach eine zum Krankenpflegehelfer. Jetzt macht er gerade eine Ausbildung zur Pflegefachkraft und studiert nebenbei. Er hat so viele Jahre fürs Gesundheitssystem in Deutschland gearbeitet und immer noch keinen deutschen Pass. Von Patient:innen und auch von den Mitarbeiter:innen kommen oft dumme rassistische Kommentare, wenn er nicht da ist.

Und der alltägliche Sexismus von der älteren Generation, was man nun mal leider kennt, kommt auf jeden Fall auch vor. Es gibt hier viele kleinbürgerliche Rechte mit Freiwildtattoo und „Böhse Onkelz“-Sticker am Auto. Mehr habe ich so konkret nicht mitbekommen, aber man merkt diese Stimmung immer, wenn es um solche Themen geht.

Das klingt nach einer Situation und Arbeitsbedingungen, die so nicht hinnehmbar sind. Was denkst du, wo müssten wir im Arbeitskampf im Pflegebereich ansetzen?

Definitiv Pflege enteignen! Pflege darf nicht, egal in welchem System, privat sein. Es kann nicht sein, dass Menschen so ausgebeutet werden, dass ihre Gesundheit als Ressource angesehen wird. Ich denke, das wird es wahrscheinlich in jedem Bereich des Kapitalismus geben. Aber in der Pflege ist es natürlich nochmal was ganz anderes, wenn wirklich spezifisch damit Geld gemacht wird, dass Menschen auf dich angewiesen sind. Und das sollte es nicht geben. Es sollte also alles unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse verstaatlicht werden, höhere Einheitslöhne und bessere Arbeitsbedingungen geben. Gerade die Ausbildung sollte attraktiver gemacht werden, besonders für junge Menschen. Und es sollte einfach viel mehr Support von der breiten Masse für diese Ausbildung geben, zum Beispiel Boni. Das Schulsystem sollte angepasst werden, dass man auch einfach mal Jugendliche/r sein kann während der Ausbildung. Wenn man zum Beispiel neben der Berufsschule arbeitet, sollte es angepasst werden, dass man nicht 12 – 13 Tage durcharbeiten darf. Gewerkschaftliche Arbeit, auch im Azubibereich, ist ein wichtiger Ansatz, um das zu erreichen.

Das klingt nach einer sehr sinnvollen Perspektive. Viel Kraft für den gemeinsamen Kampf und vielen Dank für das Gespräch!




Ukraine: Nationale Frage und die Frauen

von Susanne Kühn / Oda Lux, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist allgegenwärtig: in den Medien und im Alltag. Man sieht vor allem Bilder von kämpfenden Männern, geflüchteten Frauen oder von Daheimgebliebenen in zerstörten Häusern. Das erfasst die Lebensrealität und die Lage der Frauen in der Ukraine nur zum Teil. Denn obwohl unter anderem aufgrund des Kriegsrechtes, welches ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 die Ausreise verbietet, ein sehr großer Teil der Menschen, die Westeuropa erreichen, Frauen sind, wird die Frage, wie es eigentlich um ihre Situation in diesem Konflikt und der Ukraine generell steht, verhältnismäßig wenig gestellt.

Um deren Lage – wie die Situation in der Ukraine – selbst zu verstehen, ist es jedoch auch erforderlich, kurz auf die nationale Unterdrückung seit dem Zarismus einzugehen.

Wir halten dies allerdings für dringend notwendig, weil bei aller berechtigten und notwendigen Kritik am ukrainischen Nationalismus Ingoranz gegenüber der nationalen Frage in der Ukraine vorherrscht – nicht nur in der bürgerlichen Öffentlichkeit oder bei unverbesserlichen Putinist:innen, sondern auch in weiten Teilen der „radikalen“ Linken.

Dies ist umso wichtiger, weil der reaktionäre und barbarisch geführte Krieg Russlands nicht nur abertausenden ukrainischen Zivilist:innen das Leben gekostet, hunderttausende obdachlos gemacht und verarmt, sondern Millionen – vor allem Frauen – zur Flucht gezwungen hat. Er hat auch einem reaktionären und historisch eher schwachbrüstigen bürgerlichen Nationalismus massiven Zulauf verschafft. Und es ist klar, dass dieser ohne Lösung der ukrainischen nationalen Frage nicht entkräftet werden kann.

Genau darin, in der Anerkennung der Bedeutung der nationalen Unterdrückung als einer Schlüsselfrage in der Ukraine bestand die historische Errungenschaft Lenins – eine Errungenschaft, die allerdings auch schon zu seinen Lebzeiten in der Bolschewistischen Partei umstritten war. Unter dem Stalinismus wurde letztlich die nationale Unterdrückung nur in anderer Form reproduziert.

Ukraine und ihre nationale Unterdrückung

Im 19. Jahrhundert, in der Phase der Herausbildung der Nation, waren die Ukrainer:innen in ihrer großen Mehrheit Bewohner:innen des zaristischen Russland, Gefangene eines Völkergefängnisses (ein bedeutender Teil der Westukraine gehörte zur Habsburger Monarchie).

Die Existenz der ukrainischen Nation wurde vom Zarismus bestritten, ja bekämpft. Sie wurden ganz im Sinne des großrussischen Chauvinismus als „Kleinruss:innen“ bezeichnet. Im Zuge der Russifizierungspolitik wurden ukrainische Literatur und Zeitungen ab 1870 verboten, um so diese Kultur zwangsweise zu assimilieren. Die Revolution von 1905 erzwang zwar die Aufhebung dieser Gesetze bis 1914, aber im Ersten Weltkrieg wurde das Verbot der ukrainischen Sprache wieder eingeführt. Erst die Revolution 1917 hob diese wieder auf.

Die entstehende ukrainische Nation setzte sich in ihrer übergroßen Mehrheit aus Bauern/Bäuerinnen zusammen, die eine gemeinsame Sprache und auch ein Nationalbewusstsein pflegten. Die herrschenden Klasse und die kleinbürgerlichen städtischen Schichten setzten sich aber vorwiegend aus Nichtukrainer:innen zusammen – westlich des Dnepr waren es vor allem polnische Grundbesitzer:innen, östlich des Dnepr russische. Die städtischen Händler:innen waren vor allem Juden/Jüdinnen.

Die Industrialisierung der Ukraine setzte Ende des 19. Jahrhunderts mit der Erschließung des Donbass (Donezbeckens) ein. Die Arbeiter:innen in den Bergwerken wie auch die Kapitalist:innen waren zum größten Teil großrussische Migrant:innen.

Ende des 19. Jahrhunderts sah die nationale Zusammensetzung der ukrainischen Gouvernements im zaristischen Reich wie folgt aus: 76,4 % Ukrainer:innen, 10,5 % Großruss:innen, 7,5 % Juden/Jüdinnen, 2,2 % Deutsche, 1,3 % Pol:innen und 2,1 % andere. Auf dem Land bildeten die Ukrainer:innen mit 82,9 % die überwältigende Mehrheit, in den Städten machten sie aber lediglich 32,2 % der Bevölkerung aus.

Die nationale Frage in der Ukraine war also eng mit der Agrarfrage verbunden und nahm auch die Form eines Stadt-Land-Gegensatzes an. Zweitens war und wurde die Ukraine im Krieg auch Kampfplatz zwischen Großmächten, die ihre wirtschaftliche und geostrategische Konkurrenz auf ihrem Gebiet austrugen.

Ukrainischer Nationalismus

Der ukrainische bürgerliche Nationalismus entwickelte sich erst spät, in der zweiten Hälfte in den Städten des zaristischen Russland oder im Habsburger Reich, wo die ukrainische Kultur und Sprache weniger extrem unterdrückt wurden. Von Beginn an stützte er sich auf eine relativ schwache ukrainische Bourgeoisie und Intelligenz. Im zaristischen Russland war er außerdem von Beginn an – auch aufgrund der Rolle der orthodoxen Kirche und einer Teile-und-herrsche-Politik des Zarismus – stark antipolnisch und auch antisemitisch geprägt. Zugleich offenbarte er schon früh eine Bereitschaft, sich politisch verschiedenen Mächten unterordnen, was sich im Ersten Weltkrieg, im Bürger:innenkrieg und in extremster Form in der Kollaboration ukrainischer Nationalist:innen (insb. von Banderas OUN; Organisation Ukrainischer Nationalist:innen) mit den Nazis ausdrückte.

Es wäre aber falsch, ihn als rein reaktionäre Strömung zu betrachten. Neben einem von Beginn an überaus zweifelhaften bürgerlichen Nationalismus bildeten sich auch linkere, oft sozialrevolutionäre, populistische Strömungen heraus, die eine reale Basis unter der Bauern-/Bäuerinnenschaft besaßen (darunter auch Sozialrevolutionär:innen, später auch halbanarchistische Strömungen, deren bekannteste die Machnobewegung war). Die fortschrittlichste Kraft stellten sicher die Borot’bist:innen dar (linke Nationalist:innen, die sich dem Kommunismus zuwandten und schließlich mit der KP der Ukraine verschmolzen; Borot’ba = dt.: Kampf).

Arbeiter:innenbewegung und Bolschewismus

Die Arbeiter:innenbewegung konnte vor der Oktoberrevolution in der ukrainischen Bevölkerung – das heißt unter der Bauern-/Bäuerinnenschaft – faktisch keinen Fuß fassen (und sie hat das auch kaum versucht). Nach der Revolution trat Lenin – auch gegen massive Widerstände unter den Bolschewiki – entschieden für das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine ein (einschließlich des Rechts auf Eigenstaatlichkeit). Zweifellos stellte dies einen Schlüssel für die Normalisierung des Verhältnisses zur Bauern-/Bäuerinnenschaft zu Beginn der 1920er Jahre dar. Die bolschewistische Politik in der Ukraine und im Bürgerkrieg war jedoch schon in dieser Periode keineswegs frei von großrussisch-chauvinistischen Zügen, die jedoch innerparteilich vor allem von Lenin bekämpft wurden.

Dass die Bolschewiki schließlich die Ukraine gegen verschiedene konterrevolutionäre und imperialistische Kräfte gewinnen konnten, lag, wie E. H. Carr in „The Bolshevik Revolution“ treffend zusammenfasst, daran, dass sie den Bauern/Bäuerinnen als das „kleinste Übel“ verglichen mit den Regimen aller anderen Kräfte erschienen, die ihr Land ausgeblutet hatten.

In jedem Fall versuchten die Bolschewiki teilweise schon während, vor allem aber nach dem Bürger:innenkrieg, das Verhältnis zur ukrainischen Bevölkerung zu verbessern und sie so praktisch  davon zu überzeugen, dass sie deren nationale Selbstbestimmung anerkannten und den großrussischen Chauvinismus nicht in einer „roten“ Spielart reproduzieren wollten.

Dazu sollten vor allem zwei Mittel dienen:

a) Die Korenisazija (dt.: Einwurzelung), eine Politik, die darauf abzielte, die Kultur und Sprache der unterdrückten Nationen, ihren Zusammenschluss in eigenen Republiken oder autonomen Gebieten zu fördern und Angehörige der unterdrückten Nationen entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung in den Staatsapparat und die Partei zu integrieren. Außerdem sollte so auch die Herausbildung oder Vergrößerung des Proletariats unter den unterdrückten Nationen gefördert werden.

b) Die Neue Ökonomische Politik (NEP). Dieser zeitweilige Rückzug auf dem Gebiet der ökonomischen Transformation auf dem Land sollte einerseits die Versorgung der Städte bessern und die Produktivität der Landwirtschaft steigern, andererseits aber auch das Bündnis der Arbeiter:innenklasse mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft stabilisieren, das im Bürger:innenkrieg durch das System der Zwangsrequirierung landwirtschaftlicher Produkte und Not im Dorf extrem angespannt war.

Zwangskollektivierung und großrussischer Nationalismus der Bürokratie

Der entstehenden und schließlich siegreichen Bürokratie Stalins waren jede reale Autonomie und Selbstbestimmung der Nationen in der Sowjetunion ein Dorn im Auge. Die Politik der Zwangskollektivierung, selbst eine bürokratisch-administrative Reaktion auf ihre vorhergegangenen Fehler, kostete Millionen Bauern/Bäuerinnen in der Sowjetunion das Leben. In der Ukraine nahm diese Politik besonders brutale Formen an. Hilfslieferungen an die hungernden und verhungernden Landbewohner:innen wurden verweigert, Flüchtenden wurde das Verlassen der Ukraine verwehrt.

Damit sollten auch die Reste ukrainischen Widerstandes gebrochen werden. Die Politik der Zwangskollektivierung wird von einer im Kern großrussisch-chauvinistischen Kampagne gegen den „ukrainischen Nationalismus“ und mit der Abschaffung der Korenisazija verbunden.

Der barbarische Hungertod von Millionen Ukrainer:innen erklärt auch die Entfremdung der Massen vom Sowjetregime und warum ein extrem reaktionärer Nationalismus unter diesen in den 1930er Jahren Fuß fassen konnte. Ohne eine schonungslose revolutionären Kritik, ohne einen klaren politischen und programmatischen Bruch mit dem Stalinismus und ohne ein Anknüpfen am revolutionären Erbe der Lenin’schen Politik wird es unmöglich sein, die ukrainischen Massen vom ukrainischen Nationalismus zu brechen.

Frauenpolitik und Stalinismus

Der reaktionäre Charakter der Politik des Stalinismus zeigte sich in den 1930er Jahren auf allen Ebenen, insbesondere auch bei der Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts. Mit dem Sieg der Bürokratie wird die „sozialistische Familie“ zum Leitbild ihrer Frauenpolitik. In der Sowjetunion (und auch in der Ukraine) wird eine Hausfrauenbewegung gefördert. Auch die werktätige Frau ist zugleich und vor allem glückliche Hausfrau und Mutter.

Mit der Industrialisierung, aber auch im Zweiten Weltkrieg werden Frauen zu Millionen in die Produktion eingezogen, zu Arbeiterinnen. Zugleich werden während des Krieges reaktionäre Geschlechterrollen zementiert und verstärkt. So wird die Koedukation von Jungen und Mädchen in der Sowjetunion 1943 abgeschafft, Scheidungen werden fast unmöglich und unehelich Geborene werden rechtlich schlechter gestellt.

Obwohl Frauen einen relativ hohen Anteil in einzelnen Abteilungen der Roten Armee stellten, tauchen sie in der offiziellen Darstellung kaum auf. Der Faschismus wird, offiziellen Darstellungen zufolge, von den männlichen Helden vertrieben und geschlagen, denen die Frauen in der Heimat, im Betrieb und in der Hausarbeit den Rücken frei halten.

Im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg wird das reaktionäre Frauenbild weiter ideologisch aufrechterhalten. Trotz einer weitgehenden Einbeziehung der Frauen in die Arbeitswelt wurde die Mutterschaft als Hauptaufgabe der Frau betont, gesellschaftlich gefördert und belohnt. So wurden Prämien und Orden für Mütter, die 5 oder mehr Kinder zur Welt brachten, eingeführt. Alleinlebende oder auch kleinere Familien wurden zur Zahlung eine Spezialsteuer verdonnert.

Nach Stalins Tod tritt unter Chruschtschow eine gewisse Liberalisierung ein. So wird die Abtreibung wieder legalisiert. Darüber hinaus gibt es einige Verbesserungen für die Frauen.

Diese zeigen sich vor allem auf dem Gebiet der Bildung. So steigt der Anteil der Absolventinnen von Fachhochschulen bis in die 1970er Jahre auf rund 50 % – ein Anteil, der zu diesem Zeitpunkt von keinem westlichen Staat erreicht wurde. Außerdem wurden eine Reihe von staatlichen Einrichtungen auf dem Gebiet der Kinderbetreuung oder auch ein flächendeckendes System leicht zugänglicher (wenn auch oft nicht besonders guter) Kantinen oder Speisehallen geschaffen.

Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Unterdrückung der Frau bleiben jedoch bestehen. Frauen leisten weiter den größten Teil der privaten Hausarbeit. Im Berufsleben waren sie bis auf weniger Ausnahmen weiter auf typische „Frauenberufe“ oder schlechter bezahlte Tätigkeiten (Bildungswesen, Gesundheit, Ärzt:innen, Putz- und Hilfspersonal, Handel, Nahrungsmittelindustrie, Textil, auch generell Fließbandarbeiter:innen) konzentriert. Der Zutritt zu vielen von insgesamt über 450 „Männerberufen“ wurde ihnen verwehrt (darunter z. B. Lokführerin oder Fahrerin von großen LKWs). Der Durchschnittslohn lag in den 1970er und 1980er Jahren immer noch bei nur 65 – 75 % der Männer.

Restauration des Kapitalismus

Die Krise der Sowjetwirtschaft in den 1980er Jahren und die schockartige Restauration des Kapitalismus trafen die Arbeiter:innenklasse, vor allem aber die proletarischen Frauen mit extremer Härte auf mehreren Ebenen:

a) Massive Entlassungen und Schließungen treffen vor allem Frauen in den schlechter bezahlten Tätigkeiten, insbesondere wenn ganze Industrien bankrott gehen.

b) Die Verschuldung und Währungskrisen führen zu massiven Kürzungen im öffentlichen Sektor (Privatisierungen und Schließungen) und daher auch Massenentlassungen in Bereichen wie Gesundheit oder Bildung.

c) Zugleich werden soziale Leistungen massiv gekürzt, Kitas und Kantinen geschlossen (insbes. die betrieblichen). Die Preise steigen massiv für Wohnungen und Lebensmittel.

d) Zugleich werden ein reaktionäres Frauenbild und reaktionäre Geschlechterrollen ideologisch verfestigt und „neu“ eingekleidet. Sexismus, reaktionäre Familienideologie und Homophobie müssen nicht erfunden werden, sondern greifen Elemente des Stalinismus auf und kombinieren sie mit tradierten bürgerlichen Vorstellungen.

e) Der Anteil an Frauen unter den Beschäftigten sinkt in der Ukraine (wie überhaupt die Beschäftigung sinkt). Zugleich werden mehr Frauen in die Prostitution gezwungen oder verschleppt – sei es aus ökonomischer Not, sei es direkt gewaltsam in illegalen Frauenhandel.

Mit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetstaaten und der Entstehung der Ukraine als unabhängiger Staat veränderte sich also auch das gesellschaftliche Gefüge. Eine Spaltung der Gesellschaft verlief zwischen der prorussischer und proeuropäischer Seite. Die alten KP-Strukturen wurden durch neue ersetzt. Ebenso wie in anderen ehemaligen sowjetischen Staaten setzten sich Oligarch:innen, vor allem Männer, an die Macht und blieben an ihr kleben. Bezeichnend ist, dass es bis heute keine Präsidentin gab und auch nur eine weibliche Premierministerin, Julija Tymoschenko (2005; 2007 – 2010). Die sog. orangene Revolution von 2004 – 2005, die auch mit Generalstreiks einherging, verhalf ihr an die Macht. Allerdings kann sie nicht als eine progressive Führungsfigur eingeschätzt werden, die sich an die Spitze einer Bewegung für mehr weibliche Partizipation hätte setzen können. Auch die Maidanbewegung 2013/14 vermochte es nicht, den Einfluss von Frauen großartig zu steigern.

Was sie allerdings geschafft hat, ist, die Annäherung an den Westen weiter voranzutreiben. Dies umfasst Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Einerseits wäre da die Annäherung an die EU, welche zwar Privatisierungen, massive Militärausgaben, Sozialkürzungen und viele weitere Angriffe, welche auch Frauen treffen, zur Folge hatte, aber eben als Nebeneffekt auch politische Reformen voranbrachte, welche aufgrund ihrer Stoßrichtung zur „liberalen“ bürgerlichen Demokratie bessere Bedingungen für einen Kampf zur Frauenbefreiung schaffen. So wurde beispielsweise eine Frauenquote von 30 % bei lokalen Wahlen beschlossen, welche nicht umgesetzt wird, aber trotzdem eine Verbesserung darstellt. Auch die Reformen im Bereich von Justiz und Strafverfolgung sowie Korruptionsbekämpfung kommen vor allem Frauen zugute, da diese am wenigsten von den „Vorteilen“ profitieren und am meisten unter den Nachteilen leiden. Parallel dazu begann 2014 auch ein faktischer Bürger:innenkrieg in der Ukraine, der zur Gründung der Donbassrepubliken und zur Annexion der Krim durch Russland führte.

In der Zwischenzeit ist die starke Abhängigkeit des ukrainischen Staatshaushaltes vom Westen noch gestiegen. Zusammen mit den bereits vorher stattgefundenen Maßnahmen an Sozialkürzungen und Privatisierungen führte dies dazu, dass noch mehr Menschen in Armut stürzen (rund 50 % der Bevölkerung). Die Arbeitslosigkeit liegt aktuell bei knapp einem Drittel und es ist über den weiteren Winter mit vielen Stromausfällen und Heizungsengpässen zu rechnen, da knapp zwei Drittel der Energieinfrastruktur zerstört sind. All das trifft Frauen, die in der Ukraine knapp 10 % weniger Beschäftigungsanteil haben als Männer, stärker. Die Abhängigkeit von der bürgerlichen Familie fällt besonders schwer ins Gewicht, wenn der Alleinverdiener stirbt und die nun Alleinerziehende weniger Aussichten hat, einen Job zu bekommen, in dem sie dann auch noch geringer bezahlt wird.

Die Ukraine: nicht nur blau und gelb, sondern auch „rein weiß“?

Die heutige Ukraine ist auch ein Vielvölkerstaat mit diversen Ethnien, Sprachen und Religionen. Neben Ukrainer:innen und Russ:innen umfasst sie mehr als 130 ethnische Gruppen und viele Minderheitensprachgruppen, von denen die größte Gruppe Roma/Romnja sind. Etwa 400.000 leben im Land. Dies ist wichtig zu wissen, da sie nur selten erwähnt werden und historisch überall, wo sie sich aufhielten, diskriminiert und schlimmstenfalls systematisch verfolgt wurden. In den letzten 10 Jahren gab es in der Ukraine mehrere Pogrome gegen Sinti/Sintizze und Roma/Romnja bei denen Menschen getötet und vertrieben wurden. Besonders rechtsextreme Gruppen hatten es auf sie abgesehen, aber vom Staat gestützt wurden sie dennoch nicht. Auch auf der Flucht sind sie dem Antiziganismus in Osteuropa sowie in Ländern wie Deutschland ausgesetzt. Zum Teil wurden sie an der Ausreise gehindert und es gab sogar Bilder von massakrierten sowie zur Schau gestellten Personen. Schafften sie es doch bis nach Deutschland, so war es für sie schwierig, staatliche Hilfe zu erlangen. Einerseits weil es ein generelles rassistisch motiviertes Misstrauen gegenüber Sinti/Sintizze und Roma/Romnja gibt, andererseits besitzen viele keine Pässe und konnten daher ihre Ansprüche nicht beweisen.

Eine weitere Gruppe, die zeigt, dass die Ukraine nicht so weiß ist, wie auch in den deutschen Medien gerne suggeriert, ist die Gruppe der Migrant:innen aus aller Herren Länder, die zum Arbeiten oder Studieren ins Land gekommen waren. Auch die Ukraine ist und war eine heterogene Gesellschaft. Dies wirkt sich auch auf die Lage der Frau sehr unterschiedlich aus – ein starkes Stadt-Land- wie auch Ost-Westgefälle sind hier zu sehen. Zu oft vergessen wird allerdings, dass auch die Gesellschaft ethnisch und sprachlich vielfältiger ist, als es häufig dargestellt wird, weswegen neben sexistischer Diskriminierung und auf Geschlecht basierender Vulnerabilität noch rassistische Diskriminierung hinzukommt. Egal ob noch im Land selbst oder auf der Flucht, befinden sich diese Personen noch mal in einer besonders prekären Situation.

Der Einmarsch des russischen Imperialismus hat die Lage der Frauen und der Minderheiten noch einmal dramatisch verschlechtert. In der Ukraine überzieht der russische Imperialismus das Land mit einem reaktionären Eroberungskrieg. Zugleich findet der Kampf zwischen dem russischen Imperialismus und den westlichen Mächten statt, nimmt der Krieg wichtige Aspekte eines Stellervertreter:innenkrieges an.

Nichtsdestotrotz haben die Ukrainer:innen natürlich das Recht, sich gegen die Invasion zur Wehr zu setzen, sich selbst zu verteidigen. Die historische Entwicklung und der Krieg zeigen jedoch auch, wie untrennbar der Kampf um Selbstbestimmung, gegen die Unterdrückung der Frauen und Minderheiten mit dem gegen westliches Großkapital, russische Oligarchie und die „eigene“ herrschende Klasse verbunden ist.




Antikriegsbewegung in Russland

von Jaqueline Katherina Singh, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Ein Jahr seit Beginn des Angriffskrieges – und das Regime Putins scheint nicht zu bröckeln, ja nicht mal kleine Risse zu bekommen. Doch die Fassade täuscht, denn der Druck, den Krieg gewinnen zu müssen, wächst stetig für die russische Regierung. Zwar wurde am Jahresanfang seitens Putins, aber auch der internationalen Gemeinschaft festgestellt, dass die Sanktionen die Nation nicht so stark treffen, wie es sich manch eine/r erhofft hat.

Dennoch ist das Loch im russischen Haushalt nicht besonders klein. Russland verkauft bereits Devisen im Wert von 8,9 Milliarden Rubel (gut 112 Millionen Euro) pro Tag, um das Defizit zu decken. Auch Goldreserven werden veräußert. Die Zentralbank hat zuletzt davor gewarnt, dass ein hohes Defizit die Inflation anheizen könnte. Sie wäre dadurch zu Zinserhöhungen gezwungen, die wiederum die Konjunktur belasten würden. Es kann also nicht ewig so bleiben. Doch wie kann der Krieg beendet werden? Und welchen Widerstand gibt es überhaupt?

Ein grober Überblick

Die Kritiker:innen des Krieges kommen aus allen politischen Spektren in Russland, denn nur die wenigsten profitieren von der sogenannten „Spezialoperation“. So gab es unmittelbar nach dem Einmarsch Petitionen und Positionierungen von bekannten Personen der russischen Öffentlichkeit gegen den Krieg. Aber auch aus der breiteren Bevölkerung kamen offene Briefe wie beispielsweise einer aus der IT-Branche, der von rund 30.000 Beschäftigten unterzeichnet wurde.

Es folgten Aktionen von Künstler:innen wie des Kollektivs Nevoina aus Samara oder die anonyme Bewegung „Krankschreibung gegen den Krieg“. Die größten koordinierten Aktivitäten stellten die Aktionstage am 6. und 13. März 2022 sowie im September dar. Trotz dieser Unternehmungen ist es jedoch bisher nicht gelungen, eine breite Antikriegsbewegung aufzubauen. Die Gründe dafür sind zahlreich.

Die Aktivist:innen selber erleiden seit dem ersten Tag des Krieges eine massive Repression seitens des russischen Staates. Das Versammlungsrecht war bereits vor dem Krieg drastisch eingeschränkt worden. Neben massiver Polizeigewalt gab es bis zum 13. März 14.000 Festnahmen. Diese Ordnungsverwahrungen endeten zwar häufig nach 10 – 15 Tagen, jedoch wurde auch vereinzelt von Fällen berichtet, bei denen Festgenommene gefoltert wurden. Das Ziel seitens des russischen Staatsapparates war von Beginn an, die Proteste im Keim zu ersticken.

So gab es für das gesamte Jahr 2022 laut OVD-Info mehr als 21.000 Festnahmen sowie mindestens 370 Angeklagte in Strafverfahren wegen Antikriegsäußerungen und -reden. Mehr als 200.000 Internetressourcen wurden gesperrt und 11 Urteile wegen Staatsverrats verhängt. Darüber hinaus haben Behörden bestätigt, dass bisher 141 Personen wegen Teilnahme an Antikriegsprotesten mittels Gesichtserkennungssystemen (z. B. in der Moskauer U-Bahn) ermittelt wurden.

Chronik der Repression

Mit der massiven Repression hatte das Putinregime bisher Erfolg. Die Proteste wurden klein gehalten, große Teile der Bevölkerung eingeschüchtert und wichtige Aktivist:innen für den Widerstand haben mit Repression zu kämpfen oder mussten fliehen. Die Oppositionsgruppen haben in dieser Situation Aufrufe zu öffentlichen Kundgebungen eingestellt, weil sie beim aktuellen Kräfteverhältnis nur zum Verheizen der Aktivist:innen führen würden.

Weitere Gründe für diese Schwäche

Doch nicht nur die Repression alleine erschwert den Aufbau einer Antikriegsbewegung. Hinzu kommen zwei weitere Gründe, die wir nur kurz anreißen können:

a) Fehlende Programmatik und Klarheit

Die eher autonom geprägte Gruppe „Alt-Left“ ging in ihrer Auswertung des Aktionstags am 13. März 2022 davon aus, dass die Führung der Bewegung eine liberale Prägung habe und es in der Bevölkerung eine mehrheitliche Unterstützung für die „Spezialoperation“ und eine starke Zunahme des Nationalismus gebe. Das ist natürlich ein Ergebnis von Putins Propagandahoheit, aber auch der Tiefe der historischen Niederlage, die mit der Restauration des Kapitalismus einherging, und einer Linken, die an sich selbst den Zusammenbruch des Stalinismus erfuhr und sich und die Arbeiter:innenklasse bisher nicht so reorganisieren konnte, dass sie einen alternativen gesellschaftlichen Pol gegen Putin darstellen. Teile der „linken“ Kräfte – insbesondere die Spitzen der KPR und der offiziellen Gewerkschaften – unterstützen Putins Krieg. Andere nehmen keine klare Position ein, erkennen das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine grundsätzlich nicht an oder betrachten Russland nicht als imperialistische Kraft. All das hat verhindert, dass sich ein klarer antikapitalistischer und antiimperialistischer Pol in der Bewegung bildete.

b) Mangelnde Verankerung

Weiterhin fehlt eine Verankerung der radikalen, gegen das Regime gerichteten Linken innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Letztere ist massenhaft vor allem in der staatstragenden Gewerkschaftsföderation organisiert und durch diese kontrolliert. Die aktuellen Proteste können sich somit richtigerweise gegen den Krieg Russlands richten, aber darüber hinaus können sie in ihrem aktuellen Ausmaß nur die Keimform einer breiten Antikriegsbewegung darstellen. Davon, den Krieg stoppen zu können, sind sie weit entfernt. Die Linke ist marginalisiert, die Arbeiter:innenklasse tritt nicht als eigenständige Kraft auf.

Rolle von Frauen

Doch nicht alles ist aussichtslos. Von Anfang an bildeten Frauen eine treibende Kraft der Antikriegsbewegung. OVD-Info verzeichnete, dass zwischen dem 24. Februar und 12. Dezember mindestens 8.500 Administrativverhaftungen von Frauen wegen Äußerungen von Antikriegspositionen in verschiedenen Formen stattfanden, was etwa 45 % aller bekannten Inhaftierten entspricht.

In den letzten Jahren ist der Anteil der bei Kundgebungen festgenommenen Frauen deutlich gestiegen: 2021 betrug er bei solchen zur Unterstützung von Alexei Nawalny 25 – 31 % und 2022 dort nach Ankündigung der Mobilisierung am 21. und 24. September 51 % bzw. 71 %. Der Autor und Herausgeber Ewgeniy Kasakow kommt im Buch „Spezialoperation und Frieden – Die russische Linke gegen den Krieg“ zur Schlussfolgerung, dass das feministische Spektrum das bestorganisierte in der aktuellen Situation sei. Das liegt seiner Einschätzung nach daran, dass es im Gegensatz zur restlichen Linken am wenigsten gespalten in der Frage der Ukraine gewesen sei. Zum anderen schaffte es am schnellsten, „horizontale Strukturen“ auszubilden, und war somit in der Lage, zu unterschiedlichen Fragen Agitationsmaterialien zu erstellen und Solidaritätskampagnen zu organisieren. Die größte nachvollziehbare Kraft stellt dabei das Netzwerk Feministischer Antikriegswiderstand dar, das aktuell auch die stärkste im Kampf gegen Krieg auszumachen scheint.

Das Feministische Antikriegswiderstand (FAS)

So gab es am 8. März 2022 in über 90 Städten stille Proteste, bei denen Blumen vor Denkmäler gelegt wurden wie beispielsweise einem Wandgemälde in der Kiewer U-Bahnstation in Moskau, das für die russisch-ukrainische Freundschaft steht. Was sich nach einer Kleinigkeit anhört, führte jedoch allein in Moskau zur Verhaftung von 90 Personen und zeigt, wie gering der Spielraum für Proteste ist.

Um so positiver ist es, die Aktivitäten der FAS über die letzten Monate zu verfolgen: Neben der Sammlung von Spenden für ukrainische Geflüchtete, der Unterstützung von nach Russland Abgeschobenen hat sie mehr als 10 Ausgaben der Printzeitung Zhenskaya Pravda (Frauenwahrheit) herausgegeben, mit der sie vom Staat unabhängige Informationen über den Krieg gewährleistet.

Ebenso finden sich Artikel wieder, die thematisieren, wie Söhne vor der Armee geschützt werden können oder sich der Krieg auf das Familienbudget und die Wirtschaft Russlands auswirkt. Auf Teletype veröffentlicht sie regelmäßig Zwischenberichte ihrer Arbeit sowie Reden von einzelnen Koordinator:innen des Netzwerks. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag in der Agitation gegen den Krieg und beweist flexibles Nutzen von Onlineaktivismus und illegaler Arbeit, die nicht nur auf Onlinemedien basieren kann.

Positionen

Klar sollte sein, dass das Netzwerk keine total homogene Struktur verkörpert, die auf Basis eines tiefer gehendenen einheitlichen Programms agiert. Es dient als Sammelbecken für linke wie auch liberale Aktivist:innen in Russland und international, die auch unterschiedliche Einschätzungen bezüglich des Charakters Russlands im Weltgefüge vertreten. Dennoch hat es am 25. Februar ein Manifest veröffentlicht, das mittlerweile in über 20 Sprachen verfügbar ist. Dort bezieht es klar Stellung zum Krieg und schreibt: „Russland hat seinem Nachbarn den Krieg erklärt. Es hat der Ukraine weder das Recht auf Selbstbestimmung noch irgendeine Hoffnung auf ein friedliches Leben zugestanden. Wir erklären – und das nicht zum ersten Mal –, dass der Krieg in den letzten acht Jahren auf Initiative der russischen Regierung geführt wurde. Der Krieg im Donbas ist eine Folge der illegalen Annexion der Krim. Wir glauben, dass Russland und sein Präsident sich nicht um das Schicksal der Menschen in Luhansk und Donezk kümmern und gekümmert haben und dass die Anerkennung der Republiken nach acht Jahren nur ein Vorwand für den Einmarsch in die Ukraine unter dem Deckmantel der Befreiung war.“

Angesichts des russischen Angriffskrieges ist die klare Positionierung der FAS essentiell und unterstützenswert. Im Späteren wurde ergänzt, wem die FAS hilft, wie Unterstützung aussehen kann. Ferner wurden 9 konkretere Forderungen zum Krieg verabschiedet. Auch hier halten wir den Großteil für sinnvoll wie die Ablehnung des bloßen Pazifismus, die Amtsenthebung Putins und aller beteiligten Beamt:innen. Doch sehen wir auch Sachen anders wie beispielsweise in der ersten Forderung: „Für den vollständigen Abzug der russischen Truppen aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine und die Rückgabe aller besetzten Gebiete an die Ukraine (Wiederherstellung innerhalb der Grenzen bis 2014)“.

Wir unterstützen den sofortigen Abzug russischer Truppen, treten jedoch dafür ein, dass die Bevölkerung der Krim sowie der Volksrepubliken unabhängig vom russischen wie vom ukrainischen Staat selbst Referenden organisiert, welchem Gebiet sie sich anschließen will – mit dem Recht, egal wie die Entscheidung ausfällt, Sprache etc. der jeweiligen Minderheit zu schützen.

Veränderung ist möglich

In einem Blogbeitrag beschreibt die FAS die unterschiedlichen Stadien von Antikriegskampagnen und wirft dabei die Frage auf: „In welcher Phase befinden wir uns Ihrer Meinung nach? Wie kann man den Beginn der dritten, vierten und fünften Stufe beschleunigen?“ Besagte Stadien stellen dabei 3. die „Wachstumsphase der Unterstützung“, bei der die Unterstützung über den Kern der aktiven Gruppen hinaus zunimmt und sich das 4. „Stadium der Meinungsbildung“ entwickelt, bei dem die Antikriegsposition in breiten Teilen der Bevölkerung diskutiert wird, hin zum 5. „Stadium der politischen Stärke“, wo beispielsweise der Beginn oder die aktive Wiederaufnahme von Verhandlungen anstehen sowie kleine Zugeständnisse an die Antikriegsbewegung erfolgen.

Manche Lesende werden jetzt vielleicht stutzig werden, da sie sich unter „politischer Stärke“ wahrscheinlich etwas anderes vorgestellt haben. Dem liegt folgende Aussage zugrunde: „Fast alle Forscher sind sich einig, dass die Antikriegskampagne selbst den Krieg nicht beendet: Kriege enden aus anderen Gründen, zu denen neben wirtschaftlicher Erschöpfung auch die Unbeliebtheit und Nichtunterstützung des Krieges in der Gesellschaft gehören. Es sind Kampagnen, die den Grad dieser Unterstützung verändern können, indem sie die Basis von Kriegsgegnern ständig erweitern und neue Menschen in die Bewegung einbeziehen.“

Richtig mag sein, dass Kampagnen nicht Kriege beenden. Dennoch können aus ihnen politische Kräfte entstehen, die sich als Organisationen oder Parteien formen, die eben dies tun. Denn vor allem, wenn das Ziel unter anderem auch die Amtsenthebung Putins sein soll, braucht es eine Kraft, die klar als Alternative auftreten kann.

Doch kommen wir zurück zur eigentlichen Frage: Wie kann die Antikriegskampagne ausgeweitet werden? Diese ist eng verknüpft damit, wen man als Subjekt der Veränderung betrachtet. Dabei glauben wir, dass der Begriff der „Zivilgesellschaft“ nicht hilft, da er das Bild zeichnet, dass zum einen viele Teile der Bevölkerung gleichgestellt sind, zum anderen keine wirkliche Unterscheidung zwischen NGOs, Initiativen und Individuen getroffen wird. Die „Zivilgesellschaft“ in ihrer Gesamtheit besteht aus Schichten, die letztlich entgegengesetzt Klasseninteressen haben können – was es schwierig macht, klare Forderungen zu entwickeln, und den gemeinsamen Kampf notwendigerweise auf eine Reform des bürgerlichen Systems beschränken muss.

Als Marxist:innen gehen wir davon aus, dass die Arbeiter:innenklasse das zentrale Subjekt der Veränderung darstellt. Dabei gehen wir davon aus, dass das Bild der Arbeiter:innenbewegung als Darstellung weißer Männer in Blaumännern der Realität nicht gerecht wird. Schauen wir uns die Arbeiter:innenklasse international an, dann ist sie multiethnisch und divers in ihren Geschlechtsidentitäten. Es geht also nicht um die Frage, Unterdrückung zu verleugnen, sondern die Kämpfe miteinander zu verbinden.

Die Arbeiter:innenklasse als solche ist aufgrund ihrer Rolle im Produktionsprozess relevant. Durch die Fähigkeit zu streiken, also die Produktion lahmzulegen, sitzt sie an einem effektiven Hebel, dem Krieg sowohl den Geldhahn als auch praktisch die Mittel abzudrehen. Ein Blick zurück in die russische Geschichte zeigt, welche Schlüsselrolle die Arbeiter:innenklasse – und insbesondere Frauen – einnehmen können, um Kriege zu beenden. Die Antwort auf die Frage, wie die Antikriegskampagne ausgeweitet werden kann, lautet für uns also: Wie können die Arbeiter:innen für eine Antikriegspolitik gewonnen werden? Und welche politischen Ziele sind damit verknüpft? Soll nämlich der Kampf gegen den Krieg zum Sturz des russischen Imperialismus auswachsen, so muss er für die Errichtung einer revolutionären Arbeiter:innenregierung geführt werden.

Wie kann es weitergehen?

Die FAS vertritt eine solche Perspektive nicht. Unsere Kritik bedeutet natürlich nicht, dass wir sie im Kampf gegen die Kriegspolitik nicht unterstützen würden. Im Gegenteil, wir suchen diese Diskussion mit den Aktivist:innen und Genoss:innen.

Darüber hinaus ist auch hervorzuheben, dass die FAS auch wichtige klassenpolitische Forderungen erhebt. So heißt es:

„Wir kämpfen für menschenwürdige Arbeitsbedingungen für alle und für die Einhaltung der Arbeitsrechte der Bürgerinnen und Bürger. Mit Beginn des Krieges steigt die Zahl der Entlassenen und Arbeitslosen. Die Arbeitgeber nutzen ihre Macht und ihren Druck, um Arbeitnehmer für ihre Antikriegshaltung zu bestrafen. Die ersten Leidtragenden der Kürzungen im Arbeitsrecht sind die Frauen!* und die sogenannten nationalen Minderheiten, Migranten. Wir unterstützen die Arbeit unabhängiger Gewerkschaften und Streiks.“

Wir halten diese Positionierung für sinnvoll, da der Krieg, wie die FAS feststellt, für eine Verschlechterung der Lebensbedingungen vieler sorgt. Um mehr Elemente für eine Antikriegsposition zu gewinnen, müssen aktuelle Probleme wie Lohnkürzungen sowie ausbleibende Lohnzahlungen und steigende Lebensunterhaltungskosten direkt angesprochen und mit Forderungen für konkrete Verbesserungen verbunden werden.

Dabei ist es sinnvoll, selbst die regimetreuen Gewerkschaften aufzufordern, um diese Fragen aktiv zu werden, statt stumme Burgfriedenspolitik zu betreiben. Dies dient vor allem dazu, diejenigen, die zum einen Illusionen frönen, dass ihre Gewerkschaft etwas für sie tut, wegzubrechen, zum anderen jenen, die sie als bloße Kulturinstitution verstehen, aufzuzeigen, dass sie ein Ort des gemeinsamen Kampfes sein muss.

Dies sollte kombiniert werden mit kleineren Aktivitäten in Betrieben, wo über die Aufforderungen diskutiert werden kann. Die aktuelle Repression erschwert es, dies offen und öffentlich mit der Frage des Krieges zu verbinden oder schnell in Mobilisierungen umzuwandeln. Jedoch muss es Ziel sein, die Unzufriedenheit zu schüren, um sie schließlich produktiv zu nutzen.

Perspektivisch könnte das Ziel darin bestehen, einen gemeinsamen, branchenübergreifenden Aktionstag beispielsweise unter dem Motto „Gegen die Krise!“ für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne zu organisieren, der a) als Überprüfung dienen kann, wie viele bereit sind, auf die Straße zu gehen, und b) genutzt werden kann, Kämpfe miteinander zu verbinden.

Denn man sollte sich bewusst sein: Chauvinismus gegenüber Ukrainer:innen, Sexismus und LGBTIA+-Diskriminierung werden in der breiten Bevölkerung nicht einfach so verschwinden, nur weil die Situation durch den Krieg schlechter wird. Unmittelbar droht sogar eine Zunahme. Der Schlüssel liegt jedoch weder darin, dies zu ignorieren, noch eine vollkommende Solidarität zur Vorbedingung eines gemeinsamen Kampfes zu machen.

Vielmehr muss im Rahmen von Kämpfen für Verbesserungen gezeigt werden, dass man gemeinsame Interessen hat, während gleichzeitig in den Strukturen Schutzräume für gesellschaftlich Unterdrückte wie Caucuses geschaffen werden sollten. Ebenso wird die Arbeit zurzeit dadurch erschwert, dass die Gewerkschaften dem Krieg recht passiv gegenüberstehen. Aber gerade deswegen ist es wichtig, sie herauszufordern, was nicht gegen die bereits existierende Arbeit gestellt werden sollte, die die FAS betreibt, da diese auch die Grundlage schafft, Gehör zu finden.

Internationale Solidarität statt Isolation

Die Aktivist:innen der russischen Antikriegsbewegung spielen eine Schlüsselrolle bei der Beendigung des Krieges. Hierzulande sollten wir uns dafür einsetzen, dass a) die eigene Kriegstreiberei nicht das Bild einer russischen Bevölkerung zeichnet, die komplett Putin unterstützt. Wer das so sieht, leugnet nicht nur die Realität und unterstützt weitere mögliche Kriegstreiberei, sondern verpasst die Chance, den Widerstand zu stärken. Wir sollten b) fortschrittliche Kräfte wie die FAS in ihrer Oppositionsarbeit unterstützen, c) gegen die Sanktionen gegenüber der russischen Bevölkerung auf die Straße gehen, da diese vor allem ihre Lebensbedingungen verschlechtern, während wir gleichzeitig das Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer:innen anerkennen.

Darüber hinaus bedarf es einer Strategiedebatte, die international geführt werden muss. Dies bedeutet zum einen, von Aktivist:innen aus Russland zu lernen, insbesondere wie politische Arbeit in der aktuellen Situation möglich ist. Auf der anderen Seite bedarf es auch inhaltlicher Debatten über die Fragen des Charakters des russischen Regimes im imperialistischen Weltsystem, des Krieges und der Strategie, wie er beendet werden kann.




Gute Fragen, gute Antworten: 5 Fragen zu Frauen, Patriarchat und Krieg

von Aventina Holzer / Jaqueline Katherina Singh, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

1. Patriarchat schafft Krieg?

„Kriege werden von Männern ausgelöst“, „Mächtige Männer setzen ihre Interessen über die Köpfe der anderen durch“ und „Krieg ist männlich“ sind Aussagen, die einem häufig über den Weg laufen. Wenn man sich die Realität anschaut, könnte man dem auf den ersten Blick zustimmen. Die überwiegende Mehrheit der Regierungschef:innen sind Männer und auch fernab von Amtsträger:innen hat Gewalt überwiegend ein männliches Gesicht.

Das Problem an diesen Sätzen ist jedoch, dass man eine falsche Systematik oder gesellschaftliche Problematik herausarbeitet. Es scheint so, dass Kriege entstehen, da oftmals Männer Entscheidungsträger sind. Dies ist ein Ergebnis des Patriarchats, welches sich durchgesetzt und reproduziert hat durch männliche Gewalt. Damit wird einem unterschwellig suggeriert, dass es „in der Natur“ von Männern liege, gewalttätig zu sein.

Doch Kriege entstehen nicht einfach durch individuelle Willkür. Sie sind selbst ein Produkt von Klassengesellschaften. Im Kapitalismus sind sie oft Ergebnis ökonomischer Konkurrenz mit dem Ziel jeweiliger Nationen bzw. Kapitalfraktionen, sich eigene Einflusssphären zu sichern – auf Kosten anderer. Krieg scheint männlich, da eben viele Männer für die Kriegsführung und -erklärung verantwortlich sind. Das suggeriert sehr stark, dass es anders wäre, wenn Frauen in diesen Positionen sind. Annalena Baerbock oder Hillary Clinton und ihre „feministische Außenpolitik“ lassen grüßen. In der Realität schicken diese aber ebenso Waffen, um die Interessen ihrer jeweiligen herrschenden Klasse zu vertreten. Sie sind nicht freundlicher oder rationaler, nur weil sie Frauen sind. Davon auszugehen, verschleiert die tatsächlichen Verhältnisse und den realen patriarchalen Aspekt von Kriegen enorm, während man gleichzeitig tradierte Rollenbilder reproduziert.

Ähnliches gilt für männliche Gewalt an sich. Gewalt ist nicht nur eine Frage von individueller Mentalität, Erziehung oder Tendenz. Es ist nichts, was „natürlich“ in Männern existiert, sondern Ergebnis historischer Unterdrückung – von Frauen, aber auch und vor allem von Klassen oder im Kapitalismus von Kolonialvölkern und Nationen.

Somit ist die Aussage „Patriarchat schafft Krieg“ nicht nur eine sehr, sehr vereinfachte Analyse von Patriarchat als „männlicher Dominanz“ und ein Abschieben der Schuld auf „die“ Männer. Darüber hinaus vermittelt es zwei weitere problematische Ideen. Zum einen entsteht eine Diskussionsverschiebung. Es wird sich darauf konzentriert, welches Geschlecht  den Krieg führt und verwaltet. Doch eigentlich geht es dabei um die Durchsetzung von Klasseninteressen, um geopolitische und strategische Machtverschiebungen. Diese haben zwar massive negative Auswirkungen auf FLINTA-Personen, aber auch auf die männliche Arbeiter:innenklasse, die als Kanonenfutter für die herrschende Klasse eingesetzt wird.

Das zweite Problem mit der Aussage „Patriarchat schafft Krieg“ besteht darin, dass alle Kriege als reaktionär erscheinen. Das ist grundfalsch. Antikoloniale und antiimperialisische Befreiungskriege, Bürger:innenkriege oder Kriege zur Verteidigung einer sozialen Revolution tragen einen fortschrittlichen Charakter. Die Abschaffung des Kapitalismus und der Frauenunterdrückung sind letztlich ohne sozialistische Revolution, d. h. ohne gewaltsame Erhebung der Unterdrückten unmöglich. Abstrakte, ahistorische Phrasen, die den Unterdrückten einen allgemeinen Gewaltverzicht nahelegen, entwaffnen sie letztlich nur. Sie tragen ungewollt dazu bei, jene Verhältnisse – kapitalistische Ausbeutung und Frauenunterdrückung – zu verewigen, die sie zu bekämpfen vorgeben.

2. Warum gibt es Krieg im Kapitalismus?

Wer effektiv gegen Krieg kämpfen will, muss auch verstehen, was dessen Wurzel ist. Spoiler: es sind nicht einzelne, verwirrte Staatsoberhäupter oder die grundlegende „Natur“ des Menschen. Die Erklärung ist eine andere. Dabei ist wichtig anzuerkennen, dass das grundsätzliche Verhältnis zwischen den Akteur:innen im Kapitalismus die Konkurrenz ist. Jede/r muss für sich selber schauen, wo er/sie bleibt, und darum kämpfen, dass er/sie nicht von anderen Kapitalist:innen abgehängt wird oder am besten sogar schneller als Elon Musk zum Mars fliegt. Dieser Konkurrenzkampf durchzieht die gesamte Gesellschaft. Somit stehen auch die Besitzer:innen der Fabriken und des Kapitals, also die Kapitalist:innen, miteinander in stetigem Kampf darum, wer die meisten Profite bekommt, um mit diesen neue Investitionen zu tätigen und somit zu wachsen und immer größere Teile der Wirtschaft in der eigenen Hand zu vereinen. Doch Profite zu machen, ist nicht so einfach in der heutigen Welt.

Unsere aktuelle Epoche zeichnet sich dadurch aus, dass jeder Winkel der Welt unter die konkurrierenden Kapitale aufgeteilt ist. Beispielsweise in Deutschland wird beinahe alles bewirtschaftet und der Bedarf an den meisten Sachen ist befriedigt. Also muss man raus aus Deutschland und in anderen Teilen der Welt investieren, wo noch was zu holen ist. Und da sich alle Imperialist:innen unter Konkurrenzdruck befinden, hat man unter Umständen auch gar keine andere Wahl, als diese Kriege um Wirtschaftswege (westafrikanische Küste), Wirtschaftsräume (Mali) oder geostrategische Einflusssphären (Ukraine, Syrien, Afghanistan) zu führen, da man ansonsten von den Kapitalist:innen in anderen Ländern bedroht wird oder vielleicht sogar abgehängt. Im Prinzip ist also Politik die zugespitzte Form der ökonomischen Konkurrenz (wie beispielsweise durch Handelsabkommen oder Troikapolitik gezeigt) und Krieg die Fortführung dieser mit anderen Mitteln.

Als revolutionäre Marxist:innen erkennen wir auch an, dass Kriege einen unterschiedlichen Charakter tragen, je nach dem der Kriegsziele der beteiligten Kräfte und Klassen. So besitzen beispielsweise solche zwischen imperialistischen Mächten einen reaktionären Charakter, während wir die unterdrückter Nationen und halbkolonialer Länder gegen imperialistische Staaten als berechtigt und unterstützenswert betrachten.

So weit eine knappe Antwort auf eine komplexe Frage.

3. Treffen Kriege Frauen stärker?

Die Antwort ist: jein. Kriege versetzen die gesamte Bevölkerung in einen Ausnahmezustand. Die Zunahme von Nationalismus, Zerstörung der Infrastruktur oder Mobilmachung haben Auswirkungen auf alle. Frauen sind dabei teilweise stärker oder spezifisch betroffen. Dies liegt darin begründet, dass der Krieg bereits vorhandene Frauenunterdrückung massiv verstärkt oder jedenfalls es tun kann. Er muss es aber nicht, wenn Frauen selbst eine aktive, ja führende Rolle in Befreiungs- oder Bürger:innenkrieg für die fortschrittliche Seite spielen.

Die Auswirkungen lassen sich dabei grob in direkte sowie indirekte einteilen. Beispielsweise fördert der Zusammenbruch der medizinischen Infrastruktur eine höhere Sterblichkeit von Geburten und die kriegsbedingte Zunahme an Frühwitwen führt meist zu schlimmerer Altersarmut von Frauen, die noch jahrelang anhält. Ein spezifisches Merkmal von Kriegen ist der Anstieg von Gewalt gegen Frauen. Herauszustellen hierbei ist, dass diese nur teilweise zunehmen, weil die Lebensbedingungen schlechter werden.

Vielmehr muss Gewalt gegen Frauen – hierbei vor allem Vergewaltigung – auch als gezielte Waffe verstanden werden zur ethnischen Säuberung und Demoralisierung. Beispielsweise wurde im Jahr 1994 Ruanda von einem Völkermord heimgesucht. Man schätzt, dass in etwas mehr als hundert Tagen fast eine Million Menschen getötet wurden. Im gleichen Zeitraum wurden schätzungsweise 250.000 bis 500.000 Tutsifrauen vergewaltigt. Insbesondere in diesem Jahrhundert gibt es zahlreiche Belege für massive Vergewaltigungen als Kriegsphänomen. Ein weiteres Beispiel finden wir 1937, wo in einem Monat 20.000 Frauen von Japanern in Nanjing (früher: Nanking; China) vergewaltigt wurden.

Auffällig ist, dass die Täter nur selten strafrechtlich verfolgt werden. In der Machel-Studie wird darauf hingewiesen, dass beispielsweise nur 8 Täter angeklagt wurden, obwohl die Zahl der Vergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien auf 20.000 geschätzt wird. Ziel der systematisch betriebenen Übergriffe ist es, der Gesamtbevölkerung der Gegenseite zu schaden – auch langfristig, weil die Reproduktionsfähigkeit beschädigt wird, etwa wenn in bestimmten Kulturen die Frau als Heiratspartnerin nach einer Vergewaltigung nicht mehr infrage kommt. Es wird also nicht nur der einzelnen Frau mit diesem Kriegsverbrechen geschadet, sondern der ganzen Gruppe.

4. Was ist mit der Carearbeit?

Dadurch, dass größtenteils Männer eingezogen werden sowie Haushaltseinkommen schrumpfen, gibt es starke Veränderungen in der Verteilung der Hausarbeit sowie auf dem Arbeitsmarkt. Kurzum: Frauen agieren hierbei als flexible Reservearmee von Arbeitskräften, die je nach Situation aktiv einbezogen oder isoliert werden. Der Grund dafür ist vor allem die Organisierung der Reproduktionsarbeit. Diese ändert sich ebenfalls im Rahmen des Krieges. Denn in einem Land, was angegriffen wird, wird massiv Infrastruktur zerstört. Alle Bereiche der Pflege und Kindererziehung fallen somit meist auf Frauen zurück – und das findet unter schlechteren Verhältnissen statt. Nach dem Krieg ändert sich das nicht unmittelbar, da die Zahl von Verletzten auch gestiegen ist.

Kurzum: die Doppelbelastung von Frauen, die ohnedies existiert, wird massiv verstärkt. Doch nicht nur in angegriffenen Ländern verändert sich die Situation. So hatten bspw. die USA im Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit, um die Waffenproduktion am Laufen zu halten, Teile der Carearbeit zeitweise zu „sozialisieren“. Dies fand beispielsweise 1942  im Rahmen des Community Facilities Act (auch Lanham Act genannt) statt. Im Rahmen dieses Gesetzes hatten alle Familien (unabhängig vom Einkommen) Anspruch auf Kinderbetreuung, teilweise bis zu sechs Tage in der Woche, einschließlich der Sommermonate und der Ferien. So wurden die ersten Kinderbetreuungseinrichtungen der US-Regierung und sieben Einrichtungen für 105.000 Kinder gebaut. Dies scheint nach heutigen Maßstäben recht wenig zu sein, ist aber ein Ausdruck, was möglich ist: Statt die Reproduktionsarbeit ins Private zu verlagern, wurden Teilbereiche öffentlich organisiert – also verstaatlicht („vergesellschaftet“), da Frauen als Arbeitskräfte benötigt wurden. Dieses Angebot blieb natürlich nicht ewig bestehen. Nach Ende des Krieges und der Rückkehr der Männer von der Front wurden die Angebote wieder gestrichen, um Kosten zu sparen.

5. Trifft Krieg alle gleich?

Insgesamt ist es wichtig anzuerkennen, dass wie bei Gewalt die Auswirkungen von Krieg alle Frauen treffen. Aber eben nicht gleich. Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, alle mit niedrigen Einkommen, sind den Folgen wesentlich stärker ausgesetzt, da sie keinen finanziellen Spielraum haben, Preissteigerungen auszugleichen oder zu fliehen. Dementsprechend kann auch nicht in der „Einheit“ aller Frauen die Antwort auf den Kampf gegen den Krieg bestehen. Vor allem nicht mit der Argumentation, dass Frauen friedliebender als Männer sind. Dies ist nur eine Fortführung von tradierten Rollenbildern, die auf die Müllhalde der Geschichte gehören. Wie am Anfang schon gesagt: Krieg wird nicht durch toxische Männlichkeit oder „verrückte Diktatoren“ vom Zaun gebrochen und geführt. Um Krieg effektiv zu bekämpfen, ist es aber zentral, ihn als Ergebnis von Klassengegensätzen und der internationalen Konkurrenz unterschiedlicher, nationaler Kapitalfraktionen zu verstehen. Wenn Frauen dann einfach nur dieses System mit verwalten oder glauben, dass Krieg vermeidbar sei, wenn man mehr miteinander redet, dann bietet das keine Lösung für irgendein Problem – weder zur Bekämpfung von Krieg noch dessen Auswirkungen auf die Frauenunterdrückung. Effektiver Widerstand muss aktuelle Probleme aufgreifen und deren Bekämpfung mit der Beseitigung ihrer Ursache – des Kapitalismus – verbinden, um erfolgreich zu sein.




Historische Kämpfe gegen den Krieg

von Romina Summ, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Vietnamkrieg

Beginnend mit dem offiziellen Eintritt der USA in den Vietnamkrieg im August 1964 kam es international zu breiten Protesten, auch in Deutschland. Entstanden war die Bewegung zunächst durch Student:innenorganisationen. Die bekannteste war sicherlich die SDS (Students for a Democratic Society), welche sich aus radikalen pazifistischen Gruppen der Antiatombewaffnungsbewegung heraus entwickelte. Angeschlossen hatten sich neben Hippies, liberalen Bürgerrechtler:innen, Akademiker:innen auch Kunstschaffende. Wesentlich beteiligt und um einiges militanter als die „Make Love Not War“-Bewegung waren Frauenorganisationen wie die „Women Strike for Peace (WSP)“, welche sich zunächst erfolgreich gegen Atombombentests einsetzte. Gegründet wurde diese nach einem am 1. November 1961 stattgefundenen eintägigen Streik unter dem Slogan „End The Arms Race Not The Human Race“, an dem schätzungsweise 50.000 Frauen in 60 US-Städten teilgenommen hatten. Der Streik verlief sehr erfolgreich und löste in weiterer Folge eine große Dynamik aus. Die WSP wurde ins Leben gerufen und zog noch mehr Frauen in den Kampf gegen die Bedrohung durch Atomkriege und zur sofortigen Beendigung von Atomtests. Als die WSP bereits nach knapp zwei Jahren mit dem Inkrafttreten des Vertrags über das begrenzte Verbot von Atomtests einen bedeutenden Sieg verbuchen konnte, wurde der Vietnamkrieg zum Hauptanliegen der Bewegung. Initiativen wie „The Jeannette Rankin Brigade“ (1968) brachten Aktivisten:innen zusammen, die sich für Frauenbefreiung, Antirassismus, Armutsbekämpfung und Antikriegspolitik einsetzten. Einige Mitglieder der WSP nahmen sogar an Treffen mit dem Vietkong (Nationale Front für die Befreiung Südvietnams; NFB) in Nordvietnam teil. Sie trugen durch die Organisation dieser Proteste und der daraus entstandenen gesellschaftlichen Ablehnung entscheidend dazu bei, dass die US-Regierung in Nordvietnam keine Atomwaffen einsetzte und sich das Kräfteverhältnis zu Gunsten der Vietkong verschob.

Innerhalb der Antikriegsbewegung gab es allerdings eine große Zersplitterung und keine gemeinsame Dachorganisation. So hatte man zwar ein gemeinsames Ziel, es wurde aber heftig über die anzuwendenden Mittel diskutiert. Die Bewegung, welche von bürgerlichen Kräften dominiert war, konnte jedoch durch den breiten gesellschaftlichen Protest enormen innenpolitischen Druck auf die damalige US-Regierung aufbauen. Diese sah sich 1969 gezwungen, die Zahl ihrer Bodentruppen in Nordvietnam zu minimieren, von rund 480.000 auf 335.000, bis sie 1973 nach dem Abschluss eines Waffenstillstandes (Pariser Abkommen) mit Nordvietnam komplett abgezogen wurden. Zusätzlich wurden eine Reform des Einzugsverfahrens ins Militär durchgesetzt sowie die Wehrpflicht aufgehoben. Dies alles führte zu einer der verheerendsten Niederlagen des US-Imperialismus und einem Sieg der vietnamesischen Befreiungsarmee.

Irakkrieg

Bald 20 Jahre ist es her, als die bis dahin größte Antikriegsbewegung ihren Höhepunkt erreichte. Am 15. Februar 2003 gingen in mindestens 650 Städten weltweit zwischen 25 und 30 Millionen Menschen auf die Straße, um gegen den durch die USA geführten Irakkrieg zu protestieren. Diese Bewegung zeichnete sich besonders durch das Ausmaß der Beteiligung in den westlichen Staaten aus, wo Regierungen den Krieg entweder duldeten oder die USA sogar direkt unterstützten. Getragen wurde die Bewegung von Friedensgruppen, Kirchen, NGOs und Gewerkschaften. Ebenso gab es an Schulen zahlreiche Streiks gegen den Krieg. Auch innerhalb dieser Antikriegsbewegung spielten Frauen wieder eine zentrale Rolle. So hatten beispielsweise am 8. März 2003, dem Internationalen Frauentag, tausende in verschiedenen US-Städten gegen den Irakkrieg demonstriert. Aufgerufen hatte die Organisation „Code Pink: Women for Peace“.

Die Bewegung versuchte, in den einzelnen Ländern durch Proteste und zivilen Ungehorsam (wie Sitzblockaden auf dem Stützpunkt der US-Airbase in Frankfurt) innenpolitischen Druck auf die nationalen Regierungen auszuüben, um damit eine Kriegsbeteiligung zu verhindern. Die Bewegung erreichte, dass sich viele Länder nicht aktiv am Krieg beteiligten, da sie den Widerstand innerhalb der Gesellschaft gegen den Krieg kannten und weitere Proteste befürchteten. Auch verfolgte die Europäische Union unter Führung von Deutschland und Frankreich andere geopolitische Interessen. Dennoch wollte sie keine Eskalation mit den USA riskieren. So gewährleistete Deutschland beispielsweise Transporte und den Schutz von US-Militär. Auch genehmigte sie der NATO sogenannte Überflugrechte über dem Bundesgebiet.

Erster Weltkrieg und Beginn der Februarrevolution

Nachdem in Russland viele Männer für den ersten Weltkrieg von 1914 – 1917 eingezogen wurden, waren Frauen gezwungen, in den Fabriken zu arbeiten, um fehlende Arbeitskräfte zu ersetzen. Gleichzeitig wurden die Arbeitsbedingungen schlechter. Die Preise stiegen und es herrschte ein Mangel an Waren. Am internationalen Frauentag, dem 23. Februar/8. März 1917 organisierten Arbeiterinnen einen großen Streik mit rund 90.000 Teilnehmer:innen in den Fabriken von St. Petersburg, um gegen den imperialistischen Krieg und seine verheerenden Folgen zu protestieren. Obwohl Streiks verboten waren und die Arbeiter:innenbewegung starker Repression ausgesetzt war, organisierten Arbeiterinnen aus dem Wyborger Bezirk in den dort ansässigen Textilfabriken illegale Treffen unter den Thema „Krieg, hohe Preise und die Situation der Arbeiterin“. Sie entschieden sich zu streiken, zogen zu tausenden auf die Straßen und forderten unter den Slogans „Brot, Land, Frieden“ sowie „Gebt uns unsere Männer zurück“ weitere Arbeiterinnen und Männer in nahegelegenen Fabriken zur Teilnahme auf. Diese Aktion war äußerst erfolgreich. Bereits um 10 Uhr waren rund 27.000 Arbeiter:innen am Streik beteiligt. Diese Zahl stieg im Verlauf des Tages auf über 50.000 Menschen an. In den darauffolgenden Tagen umfasste die Streikwelle gar 240.000 Arbeiter:innen. Die Februarrevolution war ausgebrochen.

Dabei spielte die SDAPR-Frauenzeitung „Rabotniza“ und deren Redaktion, welche aus den Organisatorinnen des Streiks bestand, eine wesentliche Rolle. Unter ihnen die Revolutionärin Alexandra Kollontai, die deutlich machte, dass der Krieg, welcher auf dem Rücken der Arbeiter:innen geführt wird, mit Mitteln des Klassenkampfes bekämpft werden muss und es dafür eine Partei der Arbeiter:innenklasse mit einem Kampfprogramm gegen den Kapitalismus braucht. Entsprechend traten sie für Forderungen ein, die sich nicht auf nationale Interessen beschränkten, sondern im Interesse der Klasse waren, wie der 8-Stunden-Tag, die Vergesellschaftung der Wäschereien und höhere Löhne.