5 Gründe, warum wir als Marxist_Innen gegen das nordische Modell sind

Von Leonie Schmidt, Juni 2023, zuerst veröffentlicht in der Neue Internationale 274 der Gruppe Arbeiter:innemacht

Nach wie vor ist es eine relevante Diskussion in der feministischen und linken Bubble, wie zum Sexkauf und zu Sexarbeit gestanden wird und welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Dominierend sind hierbei einerseits ein Spektrum, was Sexarbeit als Arbeit wie jede andere hinstellt und von selbstbestimmten Dienstleister_Innen ausgeht, welche größtenteils keine Gewalterfahrungen während ihrer Tätigkeit erleben, wohingegen auf der anderen Seite Stimmen laut werden, die alle Sexarbeiter_Innen zu Opfern stigmatisieren, die wenn sie nicht direkt oder indirekt (bspw. durch Armut oder Drogensucht) gezwungen sein sollten, lediglich versuchen würden, ihre Traumata zu verarbeiten. Diese Argumentation basiert u. a. auf diversen Studien von Melissa Farley, welche den Anschein haben, dass alle Personen in der Prostitution Gewalterfahrungen sowie psychische Probleme erleben. Jedoch ist die Stichprobe von Farley höchst umstritten, da sie ihre Interviewpartner_Innen teilweise aus Aussteigerprogrammen bezieht (u. a. Farley 2004). Dass die Personen, die sowieso aufhören wollen, von den schrecklichen Zuständen berichten, die ihnen wiederfahren sind, ist logisch, lässt aber keinen Allgemeinschluss zu. Die Personen, die dennoch Farleys Argumentation folgen, repräsentieren oft radikalfeministische und bzw. oder kleinbürgerliche Tendenzen und fordern auch in Deutschland eine Regelung nach dem „nordischen Modell“.

Einige grundlegende Annahmen

Bevor wir uns dies näher anschauen, wollen wir einige Sachen kurz darstellen, die für die Auseinandersetzung mit diesem relevant sind. Wir wollen in diesem Text differenzieren zwischen Prostitution und Zwangsprostitution, da das für uns nicht dasselbe ist. Prostitution verstehen wir als den einvernehmlichen Verkauf direkter, zwischenmenschlicher sexueller Dienstleistungen, während das für Zwangsprostitution nicht gilt, denn diese ist nicht einvernehmlich. Diese klare Trennung kann aber nicht in jedem Fall getroffen werden, da Zwangsverhältnisse nicht nur durch physischen Zwang, sondern auch durch ökonomische Abhängigkeiten und Armut entstehen können.

Demnach verstehen wir Sexarbeit in einem ökonomischen Sinne jedoch als Arbeit, in jenem Sinne, dass nicht der Körper, sondern eine Ware in Form einer Dienstleistung „produziert“ wird, wofür die Ware Arbeitskraft notwendig ist, wenn die Dienstleistung in einem Lohnarbeitsverhältnis stattfindet. Dies passiert in einem abgesteckten Rahmen, in welchem eine zeitliche Begrenzung und eine der Praktiken festgelegt wird. Voraussetzung dafür, dass eine sexuelle Dienstleistung verkauft wird, ist also Konsens, mit anderen Worten: Konsens kann nicht gekauft werden. Wenngleich die Optik der Sexarbeiter_Innen eine Rolle in ihrer Tätigkeit spielt, so gilt das ebenso für andere Dienstleistungsberufe wie bpsw. Models oder Schauspieler_Innen, doch auch diese verkaufen nicht ihren Körper, wenngleich dieser ein Teil der Produktion der Dienstleistung ist. Sind die Sexarbeitenden angestellt oder scheinselbstständig, streicht sich ein/e Kapitalist_In bspw. als Bordellbetreiber_In oder Zuhälter den Mehrwert ihrer Arbeit ein, besitzt die Produktionsmittel (bspw. Räumlichkeiten, Verhütungsmittel etc.) und bestimmt die Arbeitsbedingungen. Insofern kann Sexarbeit als Lohnarbeit angesehen werden. Das soll nicht verharmlosen, dass es während dieser Tätigkeiten nicht selten zu Gewalt und Übergriffen kommt und das auch in einer patriarchalen Klassengesellschaft keine Seltenheit ist, sondern betonen, dass Konsens lediglich die Möglichkeit eröffnet, dass Sexarbeitende selbstbestimmt für ihre Arbeitsrechte eintreten können, insofern sie sich in keinem Zwangsverhältnis befinden und sich genau gegen diese Gewalt und schlechten Arbeitsbedingungen organisieren können. Das bedeutet außerdem, dass Sexarbeit nicht der Grund für die Unterdrückung von Frauen und queeren Personen ist, sondern die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Produktion und Reproduktion im Kapitalismus sowie das daraus resultierende Ideal der bürgerlichen Familie und der damit einhergehenden Geschlechterrollen.

Natürlich dürfen nicht die Augen davor verschlossen werden, dass es auch bessergestellte Sexarbeitende gibt, welche ohne Zuhälter_In selbstständig agieren und mehr Freiheiten bzgl. der Arbeitsbedingungen und Gestaltung der Dienstleistung genießen. Diese sind auch oft im öffentlichen Diskurs zu finden und propagieren Sexarbeit als etwas per se Ermächtigendes. Sie machen allerdings nur einen sehr geringen Teil der Sexarbeitenden aus und somit kann man von deren Sichtweisen und Erfahrungen nicht auf die Gesamtheit schließen.

Genauso gibt es auch Personen, die sich in Zwangsverhältnissen befinden. Wie stark sie vertreten sind, ist schwer auszumachen, denn sie befinden sich unter dem Radar. Zwangsprostitution und Menschenhandel stellen klar Verbrechen und Vergewaltigungen dar und sind oft mit Sklaverei vergleichbar. Zwangsprostitution ist grundsätzlich abzulehnen und zu bekämpfen, dies steht nicht zur Diskussion. Aber nur weil imperialistische Mächte bis ins 19. Jahrhundert Sklav_Innen auf Baumwollplantagen quälten, ist es keine logische Schlussfolgerung, die Forderung nach einem Verbot der Arbeit auf Baumwollplantagen aufzustellen.

Was ist überhaupt das „nordische Modell“?

Das „nordische Modell“ wurde erstmals in Schweden in den 1990er Jahren eingeführt und besteht grob gesagt aus 3 Säulen, welche aber von Land zu Land variieren können: Entkriminalisierung der Sexarbeitenden, Kriminalisierung der Sexkäufer und Zuhälter, Förderung und Finanzierung von Ausstiegshilfen. Aktiv sind verschiedene Formen des „nordischen Modells“ neben Schweden unter anderem auch in Norwegen, Frankreich, Irland, Island, Israel und Kanada. Eingeführt werden diese Gesetze auf Basis einer feministisch-humanistischen Grundlage, die davon ausgeht, dass die Nachfrage sinken wird, sobald der Sexkauf selbst unter Strafe steht, und somit die Sexarbeiter_Innen von alleine nach anderen Berufen suchen, dass das gesellschaftliche Stigma rund um Sexkauf förderlich ist, um Freier abzuschrecken und Männer umzuerziehen, und Sexkauf in jedem Fall Gewalt bzw. eine Vergewaltigung darstellt. Außerdem soll so Menschenhandel in den Griff bekommen werden. Dadurch, dass das „nordische Modell“ bereits in Kraft getreten ist, gibt es eine Datengrundlage, um dieses auszuwerten. Allerdings lassen diese Daten viel Raum für Interpretation und werden ganz unterschiedlich ausgelegt, von Befürworter_Innen des „nordischen Modells“ anders als von Leuten, die dieses ablehnen.

1. Das Sexkaufverbot reduziert nicht die Anzahl der Sexarbeiter_Innen

Ein erklärtes Ziel durch die Kriminalisierung der Sexkäufer ist, durch eine gesunkenen Nachfrage auch das Angebot zu senken. Und so scheint es auch in mehren Fällen zu funktionieren: In Schweden und Nordirland sank die Anzahl der Straßenprostituierten nach der Einführung eines Sexkaufverbots. Allerdings sank nicht die Gesamtanzahl der Prostituierten, sondern es gab eher eine Verschiebung: in Nordirland bspw. in den Onlinebereich (Ellison et al. 2019) und in Schweden kam es nach einem kurzen Abfall auch wieder zu einem Anstieg in der Straßenprostitution und diese dürfte mindestens wieder auf demselben Niveau erfolgen wie vor der Installation des Gesetzes (Global Network of Sex Work Projects 2015). Zudem macht in Schweden die Straßenprostitution sowieso nur einen sehr geringen Teil der Branche aus (ebenda).

Die Idee, Dinge würden durch Verbote verschwinden, ist aber so oder so von vorne bis hinten ein Fehlschluss, wie man bspw. auch beim Verbot von Drogen oder Alkohol sehen kann, denn konsumiert wird trotzdem, nur eben viel unsicherer als vorher. Denn durch ein Sexkaufverbot werden eben nicht die Strukturen, die zur Prostitution führen, ausgehebelt. Das sind zum einen die ökonomischen Verhältnisse des Kapitalismus, die dafür sorgen, dass ein Lebensunterhalt erworben werden muss, und zum anderen das Patriachat, welches überhaupt erst für die gesellschaftliche Nachfrage nach Prostitution sorgt, verankern. Schon Friedrich Engels bezog die Prostitution in seine Betrachtungen der Entwicklung des Patriachats mit ein. Hier wird klar, dass dieses genau wie die bürgerliche Familie untrennbar mit dem Kapitalismus verwoben ist und sich über alle Klassengesellschaften hin zur heutigen Form entwickelt hat. Laut Engels bilden bürgerliche Familie und Prostitution zwei Seiten der gleichen Medaille, da es bei Ersterer v. a. um unbezahlte Reproduktionsarbeit bzw. Vererbung der Produktionsmittel, bei Zweiterer um sexuelle Befriedigung der Freier geht. Diese Teilung zwischen klassengesellschaftlichem Nutzen und sexueller Befriedigung existierte schon in vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Bspw. im antiken Griechenland wurde es besonders deutlich mit der Dreiteilung zwischen Ehefrau, welche für Geburten und Familie zuständig war und das Haus quasi nicht verlassen durfte, der Hetäre für die sexuelle Befriedigung und der Geliebten, die die Romantik ins Spiel brachte.

Diese Teilung sehen wir auch im Kapitalismus, jedoch ist es eben nur noch eine zweifache. Die weiterhin auferlegte Monogamie, insbesondere für die Frau, trägt also auch ihren Teil dazu bei, dass gesellschaftliche Nachfrage nach Prostitution besteht. Das manifestiert sich auch in der widersprüchlichen bürgerlichen Sexualmoral und dem Madonna-Whore-Komplex, in welchem eine reine Ehefrau für das öffentliche Ansehen  einer perversen und zügellosen Prostituierten für das Ausleben der gesellschaftlich geächteten Fantasie gegenüberstehen. Solange also Kapitalismus und Patriachat bestehen bleiben, wird es auch eine Nachfrage nach Sexkauf geben.

2. Das Sexkaufverbot ist nicht hilfreich gegen Zwangsprostitution und Menschenhandel

Eigentlich soll das Sexkaufverbot gegen Zwang, Gewalt und Menschenhandel vorgehen, aber wie die Beispiele Irland und Island zeigen, könnte eher das Gegenteil der Fall sein. Irland war vor der Einführung des Sexkaufverbots auf der bestmöglichen Stufe hinsichtlich Bekämpfung gegen Menschenhandel nach Einordnung des US-Außenministeriums, fiel aber um zwei Stufen zurück ebenso wie Island nach der Einführung des Sexkaufverbots (United States Department of State 2017 und United States Department of State 2020). Eigentlich liegt es auf der Hand: durch die Kriminalisierung wird Sexarbeit in den Untergrund gedrängt, wo zwielichtige Gestalten das Sagen haben und Zwangsverhältnisse an der Tagesordnung sind, was ebenso Menschenhandel fördern dürfte.

Wenn wir uns die Praxis anschauen, ist noch deutlicher, wie wenig hilfreich das „nordische Modell“ beim Kampf gegen Menschenhandel ist. Natürlich sind so die Hürden für Sexkäufer größer, Missstände zu melden, da sie eine Bestrafung fürchten (Global Network of Sex Work Projects 2015), wohingegen in einem entkriminalisierten oder legalisierten Rahmen wie in Italien auch Freier vermutete Zwangsprostitution melden (Krause-Schöne 2014). Interessanterweise wird in Italien auch aus allen politischen Richtungen gefordert, das Verbot von Bordellen wieder aufzuheben, um gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution besser vorgehen zu können (Migge 2018).

Auch die Polizei selber sagt, dass ihre Ressourcen so unnötig gebunden werden, denn wenn es keinen Fokus auf Zwangsprostituierte gibt, werden alle überprüft und es ist eben nicht so leicht nachzuvollziehen, wer das auf Basis von Konsens tut und wer nicht (Krause-Schöne 2014).

An dieser Stelle wollen wir uns natürlich nicht auf die Argumentation der Polizei verlassen genauso wenig, wie wir uns im Kampf gegen sexuelle Gewalt auf sie verlassen können. Denn die Zahlen sprechen Bände: Selbst in den für viele alltäglichen sexistischen gesellschaftlichen Verhältnissen führen Anzeigen sexueller und im allgemeinen patriarchaler Gewalt nicht zu sonderlich hohen Verurteilungen, im Gegenteil: Die Verturteilungsraten in Deutschland sinken sogar (Schwarz 2020). Das mag an der Definition davon liegen, wo diese Strafttatbestände beginnen, aber es liegt ebenso an den Beamt_Innen, die die Ermittlungen schleifen lassen oder Betroffene retraumatisieren. Weswegen also sollten wir uns nun drauf verlassen, dass die Polizei auf einmal ihre vermeintliche Rolle als Freund und Helfer ernst nehmen sollte?! Aus unserer Sicht besteht ihre Rolle in bürgerlichen Demokratien darin, die herrschenden Verhältnisse zu schützen. Dazu zählen die kapitalistischen Besitzverhältnisse genauso wie das Patriachat und die Ausbeutung von Arbeiter_Innen. Es gibt also keinen Grund zur Annahme, dass sie in dieser Hinsicht einmal auf der richtigen Seite stehen könnte.

3. Das Sexkaufverbot schützt Sexarbeiter_Innen nicht gegen Gewalt durch Polizei und Freier und verschlechtert die Arbeitsbedingungen

Polizeigewalt gegen Prostituierte ist somit auch in Ländern, wo Sexkauf verboten ist, keine Seltenheit. Vorkommen können bspw. sexualisierte oder physische Gewalt, willkürliche Arreste, Bestechung, Abnahme von Kondomen, keine Hilfe bei Anzeigenaufnahme, nicht konsensuelle HIV-Tests (Platt et al. 2018). Das führt dazu, dass die Arbeitsumgebung der Sexarbeitenden massiv unsicher wird und sie isoliert werden, weil gemeinschaftliche Unterstützung und Sicherheitsmaßnahmen durch andere Sexarbeitende (das gemeinsame Anmieten einer Wohnung zum Beispiel) oder sogar romantische Beziehungen als Zuhälterei gewertet werden könnten. Des Weiteren gaben 70 % der befragten Sexarbeiter_Innen in einer Studie in Frankreich, wo auch ein Sexkaufverbot gilt, an, dass sich ihr Verhältnis zur Polizei entweder verschlechtert habe oder es keine Verbesserung zu vorher gab (Le Bail et al. 2019). Ebenso können 38 % der Sexarbeitenden die Verwendung von Kondomen schlechter durchsetzen (ebenda), was zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, sich HIV oder andere sexuell übertragbare Krankheiten einzufangen, führen kann (Platt et al. 2018).

Des Weiteren wird das Screening der potentiellen Sexkäufer durch das „nordische Modell“ massiv erschwert (Global Networkt of Sex Work Projects 2015), was dazu führt, dass zwielichtige Kunden nicht einfach so aussortiert werden können. Gleichfalls sanken die Preise und Sexarbeitende sehen sich gezwungen, Kunden zu bedienen, die sie unangenehm finden, und Praktiken außerhalb ihrer Grenzen durchzuführen aufgrund der erhöhten Konkurrenzsituation (ebenda). Wir können also sehen: Selbst wenn offiziell die Sexarbeitenden nicht Opfer des „nordischen Modells“ sein sollen, so sind sie es doch am Ende, auf deren Rücken bürgerliche Moralvorstellungen verhandelt werden und deren Leben zusätzlich erschwert wird. Deswegen setzen wir uns für eine gewerkschaftliche Organisierung der Sexarbeiter_Innen ein, wie es auch mancherorts in der Gewerkschaft ver.di der Fall ist. So kann ein selbstbestimmter Kampf für bessere Arbeitsbedingungen (gegen Lohndumping durch festgeschriebene, angemessene Entlohnung der Arbeit, bestimmt durch die Arbeiter_Innen selbst) inklusive Schutzmaßnahmen (bspw. in Form von Selbstverteidigungskomitees) geführt werden.

4. Die Ausstiegsangebote richten sich nicht nach den realen Bedürfnissen der Sexarbeiter_Innen

Eine Sache, die immer wieder von Befürworter_Innen betont wird, ist, wie toll doch die Ausstiegsangebote als eine der Säulen des „nordischen Modells“ sind. Doch schaut man sich diese genauer an, wird man schnell feststellen, dass diese alles andere als wirksam sind. So sind Zugänge zu den Angeboten in Schweden einerseits dadurch erschwert, dass an ihnen nur teilnehmen kann, wer sofort mit der Prostitution aufhört. Das ist offensichtlich unrealistisch, weil es für viele aus finanziellen Gründen nicht unmittelbar möglich ist. Außerdem gilt die Möglichkeit in Schweden lediglich nur für Staatsbürger_Innen, wohingegen Personen mit Migrationshintergrund statt Hilfsangeboten eben mal die Abschiebung droht (Vuolajärvi 2019). Das führt sogar zu einer Praxis, in welcher Polizeibeamt_Innen mit Absicht nach nicht-schwedischen Personen suchen, um diese leichter abschieben zu können (ebenda). Das „nordische Modell“ wird an dieser Stelle also völlig zweckentfremdet und offenbart auch hier wieder die eigentlichen Interessen von Polizei und herrschender Klasse. Auch in Frankreich sind die Ausstiegsangebote alles andere als beliebt: Teilweise nahmen weniger als 100 Personen an den Programmen teil (Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen 2021).

5. Das Sexkaufverbot verschiebt das Problem

Wie bereits dargestellt, verschiebt das Sexkaufverbot die Tätigkeit in die Illegalität und liefert somit die Sexarbeitenden dubiosen Freiern und Zuhältern schutzlos aus und erschwert den Zusammenschluss von Sexarbeitenden, um kollektiv für ihre Rechte einzutreten, massiv. Aber das Problem wird nicht nur innerhalb der Länder verschoben, sondern das „nordische Modell“ fördert auch Sextourismus in zumeist halbkoloniale Länder, wo die Arbeitsbedingungen viel eher sklavenartig sind und es fast ausschließlich Zwangsprostitution gibt. Denn die Freier verlieren nicht auf einmal ihre Nachfrage nach gekauftem Sex, nur weil er auf einmal verboten ist, und fahren lieber in den Urlaub, um dort ihren Bedürfnissen nachzugehen.

Das „nordische Modell“ ist letztlich ein Weg in die Sackgasse, weil es die Verhältnisse, die es zu bekämpfen vorgibt, nur illegalisiert und verlagert. Es stellt ironischer Weise an ein patriarchales System die Aufgabe, eine Tätigkeit abzuschaffen, von welcher es insbesondere auch profitiert. Außerdem ist es realitätsfern zu glauben, dass der bürgerliche Staat wirklich das Interesse verfolgt, Sexarbeit abzuschaffen, ohne Sexarbeitende zu kriminalisieren, und es überhaupt möglich ist, diese Arbeit, genauso wie ganz grundsätzlich die Lohnarbeit, innerhalb des Kapitalismus abzuschaffen.

Fazit: Vier Ansatzpunkte

Was aber ist nun die Lösung? Grundsätzlich müssen wir als Marxist_Innen an vier Punkten ansetzen. Erstens müssen wir Seite an Seite mit Sexarbeiter_Innen für die komplette Entkriminalisierung und gegen jegliche Repression von staatlicher Seite kämpfen sowie für bessere Arbeitsbedingungen und Selbstorganisierung (natürlich auch in Form von Selbstverteidigungsstrukturen) eintreten, denn nur wenn die Sexarbeit ohne Zuhälterei und Kriminalisierung organisiert ist, kann überhaupt erst eine Kontrolle über die Verkaufs- und Arbeitsbedingungen durch die Sexarbeiter_Innen selbst durchgesetzt werden. Das inkludiert natürlich nicht nur die Selbstorganisierung am Arbeitsplatz, sondern schließt auch eine gewerkschaftliche Organisierung mit ein (wie es sie zeitweise bei ver.di in Hamburg gab), um größeren Druck im Kampf gegen Diskriminierung und für Arbeiter_Innenrechte auszuüben, der Vereinzelung der Sexarbeitenden und der Stigmatisierung entgegenzuwirken.

Auf der anderen Seite ist es aber natürlich auch notwendig, den Personen, welche unter dem ökonomischen Zwang und den teilweise sehr schlechten Arbeitsbedingungen leiden, eine Möglichkeit zu bieten, ohne größere Probleme auszusteigen. Dahingehend müssen wir uns für kostenfreie und seriöse Beratungsstellen und bezahlte Umschulungen, Aus- und Weiterbildungen für berufliche Alternativen einsetzen. Nur wenn der ökonomische Zwang und die Illegalisierung entfallen, können Ausstieg und Umschulung eine attraktive reale Option werden. Ansonsten bleiben sie eine schöne, aber letztlich leere Versprechung.

Egal, wofür sich die individuelle Person entscheidet, es gilt das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und sie sollte in ihrer Entscheidung unterstützt werden, natürlich ohne einerseits die Sexarbeit zu stigmatisieren oder andererseits sie zu romantisieren.

Um Zwangsprostitution insbesondere in Kombination mit Menschenhandel entgegenzuwirken, müssen wir uns neben ihrem Verbot auch für offenen Grenzen und Staatsbürger_Innenrechte für alle einsetzen, denn nur so kann den Versprechungen eines besseren Lebens in einem fremden Land unter Kontrolle von Mafiastrukturen entgegengewirkt werden.

Langfristig muss das Ziel von Marxist_Innen darin bestehen, die materielle gesellschaftliche Basis umzugestalten und somit die ökonomischen Zwänge zu zerstören, die Menschen dazu nötigen, sexuellen Dienstleistungen aufgrund von Gewalt oder Not nachzugehen. Es wäre allerdings verkürzt und nicht hilfreich, ein Verbot zu fordern, da sich Prostitution, wie bereits beschrieben, nicht einfach abschaffen lässt, zumal nicht innerhalb einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft, die diese erst hervorgebracht hat. Dementsprechend ist es natürlich auch nötig, eine Massenbewegung aufzubauen, in welcher Sexarbeiter_Innen Seite an Seite mit allen Unterdrückten gemeinsam für das Ende von Kapitalismus und Patriarchat kämpfen können, ohne stigmatisiert zu werden.

Zwei andere Artikel zum Thema Sexarbeit, der sich mit einigen anderen Fragen beschäftigen:

Literaturverzeichnis

Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen. (2021): Stellungnahme zum Antrag „Nein! Zum Sexkaufverbot des Nordischen Modells“ der Fraktionen der CDU und FDP in NRW. https://berufsverbandsexarbeit.de/wp-content/uploads/2021/01/210114_Stellungnahme-desBesD-zu-No-Nordic-Model-NRW.pdf; https://doi.org/10.1007/s13178-018-0338-9 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Ellison, G., Ní Dhónaill, C., & Early, E. (2019): A Review of the Criminalisation of the Payment for Sexual Services in Northern Ireland; http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3456633 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Farley, M. (2004): Prostitution and trafficking in nine countries: Update on violence and posttraumatic stress disorder; Journal of Trauma Practice, 2(3-4), 33-74

Global Network of Sex Work Projects (2015): The Real Impact of the Swedish Model on Sex Workers; https://www.nswp.org/sites/nswp.org/files/Swedish%20Model%20Advocacy%20Toolkit%20Community%20Guide%2C%20NSWP%20-%20November%202015.pdf (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Krause-Schön, E. (2014): Das sind häufig sehr junge Mädchen; TAZ, 17.6.2014, S. 5; https://taz.de/Das-sind-haeufig-sehr-junge-Maedchen/!338223/? (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Le Bail, H., Giametta, C., & Rassouw, N. (2019): What do sex workers think about the French Prostitution Act? A Study on the Impact of the Law from 13 April 2016 Against the „Prostitution System“ in France [Research Report]; Médecins du Monde, pp. 96;  http://hal.archives-ouvertes.fr/hal-02115877f (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Migge, T. (2018): Prostitution in Italien: Katholiken für Bordelle; Deutschlandfunk, https://www.deutschlandfunk.de/prostitution-in-italien-katholiken-fuer-bordelle-100.html#:~:text=Seit%2060%20Jahren%20gibt%20es,ausgenutzt%20werden%2C%20etwa%20durch%20Zuh%C3%A4lter. (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Platt, L., Grenfell, P., Meiksin, R., Elmes, J., Sherman, S. G., Sanders, T., Mwangi, P., Crago, A. L. (2018): Associations between sex work laws and sex workers’ health: A systematic review and meta-analysis of quantitative and qualitative studies; PLOS Medicine, 15(12), e1002680; https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1002680 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Schwarz, C. (2020): Sexualisierte Gewalt in Deutschland: Kaum Verurteilungen von Tätern; TAZ;  https://taz.de/Sexualisierte-Gewalt-in-Deutschland/!5727344/ (zuletzt aufgerufen 31.5.23)

United States Department of State. (2017): Trafficking in Persons Report; https://www.state.gov/reports/2017-trafficking-in-persons-report/ (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

United States Department of State. (2020): Trafficking in Persons Report;  https://www.state.gov/reports/2020-trafficking-in-persons-report/ (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Vuolajärvi, N. (2019): Governing in the Name of Caring—the Nordic Model of Prostitution and its Punitive Consequences for Migrants Who Sell Sex; Sexuality Research & Social Policy Journal of NSRC, 16(2), 151-165; https://doi.org/10.1007/s13178-018-0338-9 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)




Von der Verteidigung der Bewegung zur Revolution

von Martin Suchanek, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Die Demonstrant:innen auf den Straßen, die Studierenden an den Unis, die Arbeiter:innen in vielen Betrieben verbinden seit Monaten Parolen wie „Jin, Jiyan, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) mit dem Ruf nach dem Sturz des Regimes. Ihnen ist längst bewusst, dass es einer Revolution, einer grundlegenden Umwälzung bedarf, um ihr Ziel, die Gleichberechtigung der Frauen, ein Leben frei von islamistischer und patriarchaler Gängelung durchzusetzen. Entweder siegt die Bewegung, die Revolution oder die blutige Konterrevolution des Regimes.

Trotz der Repression im Herbst 2022 verbreiteten sich die Proteste wochenlang. Die Aktionen waren auf lokaler, universitärer und betrieblicher Ebene durchaus koordiniert, werden von illegalen oder halblegalen Gruppierungen geführt oder von Gewerkschaften, die sich in den letzten Jahren im Untergrund gebildet hatten. Aber die Bewegung besaß kein landesweites, alternatives Macht- und Koordinationszentrum, das den Apparat des Regimes paralysieren oder es gar mit diesem aufnehmen könnte.

In den letzten Wochen zeigt sich dieses Problem immer deutlicher. Die Konterrevolution hat die Initiative ergriffen, droht, die Bewegung im Blut zu ersticken.

Um das zu verhindern, braucht sie Kampfformen, die sie vereinheitlichen kann und die das gesamte Land erschüttern können – und das kann nur ein politischer Generalstreik zur Verteidigung der Bewegung und zum Sturz des Regimes sein.

Dieser würde nicht nur die Produktion und Infrastruktur des Landes lahmlegen und ökonomischen Druck ausüben. Die Arbeiter:innen müssten auch entscheiden, welche Produktion sie für die Versorgung der Menschen aufrechterhalten. Vor allem aber müsste ein solcher Generalstreik auch Kampforgane, Aktionskomitees schaffen, die sich auf Massenversammlungen stützen, die an den Räten der iranischen Revolution, den Schoras, anknüpfen würden.

Solche Organe wären natürlich nicht nur betriebliche Strukturen. Sie könnten ebenso gut an Universitäten, in den Stadtteilen und auf dem Land durch Massenversammlungen gewählt werden. Alle Unterdrückten, die Frauen, die Jugend, die nationalen Minderheiten würden darin einen zentralen Platz einnehmen. Die Bewegung würde so auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene zusammengeführt werden, faktisch zu einem Zentralorgan der Bewegung geraten.

Der Generalstreik würde dabei zugleich als Schutzschild gegen das Regime fungieren, indem er Formen der revolutionären Legalität durchsetzt, also Doppelmachtorgane schafft, die eine Alternative zum Staatsapparat darstellen.

Dazu braucht es notwendigerweise die Bildung von Schutzeinheiten für den Generalstreik selbst, von Arbeiter:innen- und Volksmilizen. Diese Politik müsste durch Aufrufe an die Soldat:innen ergänzt werden, dem Regime die Gefolgschaft zu verweigern, Soldat:innenräte zu bilden, die Offizierskaste zu entmachten, reaktionäre Kräfte zu entwaffnen und Arsenale für die Arbeiter:innenmilizen zu öffnen.

Dazu müsste die Arbeiter:innenklasse selbst jedoch nicht nur als soziale aktive Kraft hervortreten. Sie müsste der Bewegung nicht nur die Kraft zum Sieg verleihen, sondern sie bräuchte auch ein eigenes Programm, wie die Revolution vorangetrieben werden kann und welche neue Ordnung im Iran durchgesetzt werden soll.

Übergangsprogramm

Es braucht ein Programm, das die demokratischen Aufgaben und die soziale Frage revolutionär angeht, miteinander verbindet mit dem Ziel der Schaffung einer Arbeiter:innen und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die die Revolution zu einer sozialistischen macht. Kernforderungen eines solchen Programms müssten sein:

  • Gleiche Rechte und volle Selbstbestimmung für alle Frauen! Abschaffung der reaktionären Kleidervorschriften und aller anderen diskriminierenden Gesetze!
  • Volle demokratische Rechte für die Jugend! Abschaffung aller reaktionären Vorschriften, die ihre geistige Betätigung, ihre Bewegungs- und Ausdrucksfreiheit beeinträchtigen!
  • Abschaffung der Zensur und aller Einschränkungen der Meinungs- und Publikationsfreiheit! Für die vollständige Trennung von Staat und Religion!
  • Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen und Nationalitäten wie Kurd:innen, Belutsch:innen! Gleiche Rechte für Geflüchtete wie z. B. die 3 Millionen Afghan:innen!
  • Für eine verfassunggebende Versammlung, einberufen unter Kontrolle der revolutionären Massen und ihrer Organe in den Betrieben und Stadtteilen!
  • Sofortprogramm zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut! Mindestlohn und Mindesteinkommen für Arbeitslose, Jugendliche und Rentner:innen, um davon in Würde leben zu können, festgelegt von Arbeiter:innenausschüssen, ständig angepasst an die Inflation!
  • Massive Besteuerung von Unternehmensgewinnen und privaten Vermögen! Streichung der Auslandsschulden! Beschlagnahme aller Vermögen und Unternehmen der Mullahs, diverser regimetreuer halbstaatlicher Organisationen und Wiederverstaatlichung der an Günstlinge des Regimes privatisierten Unternehmen!
  • Arbeiter:innenkontrolle über die verstaatlichte Industrie und alle anderen Unternehmen!Entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer:innen, des Großhandels und der großen Industrie und Banken sowie der ausländischer Konzerne unter Arbeiter:innenkontrolle! Für ein Notprogramm zur Versorgung der Massen, zur Erneuerung der Infrastruktur und der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, der Frauen und der Jugend und ökologischer Nachhaltigkeit!
  • Schluss mit der Unterstützung des russischen und chinesischen Imperialismus und reaktionärer Despotien wie des Assadregimes! Keine Unterstützung der USA und anderer imperialistischer Staaten in der Region! Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf! Bündnis mit der Arbeiter:innenklasse, demokratischen und antiimperialistischen Kräften gegen ihre reaktionären Regierungen und imperialistische Intervention!
  • Zerschlagung des islamistischen Regimes und des reaktionären Staatsapparates! Für eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte und Milizen stützt, die herrschende Klasse enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt!
  • Für die Ausweitung der Revolution! Für eine Föderation Sozialistischer Staaten im Nahen und Mittleren Osten!



Neues Abtreibungsrecht in Polen – dunkle Zukunft für Frauen

Arya Wilde, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9

Der 27. Januar 2021 erwies sich als ein dunkler Tag in der
polnischen Geschichte. Ein fast vollständiges Abtreibungsverbot trat
in Kraft, das Frauen die Rechte über ihren Körper verweigert und
dies mit dem Begriff „Pro Life“ verherrlicht. Kämpferische
Proteste, die im ganzen Land nach der Entscheidung des
Verfassungsgerichtshofs ((Trybunał Konstytucyjny;
Verfassungstribunal) vom 22. Oktober stattfanden, hatten dessen
Inkrafttreten über Monate verzögert. Ende Januar veröffentlichte
Staatspräsident Andrzej Duda jedoch den Gerichtsbeschluss, der somit
in Kraft tritt.

Bedeutung des Gesetzes

Mit der neuen Entscheidung wurde eines der restriktivsten
Abtreibungsgesetze Europas weiter verschärft. Schon seit Jahrzehnten
werden bei einer Bevölkerung von 38 Millionen höchstens 2.000
Schwangerschaftsabbrüche legal durchgeführt, im Jahr 2019 1.100. 97
% fanden aufgrund Missbildung des Fötus statt, was nun verboten ist.
Die geschätzte Gesamtzahl von Abtreibungen liegt
Frauenrechtler_Innen zufolge bei mindestens 150.000/Jahr. Konkret
müssen also zehntausende Polinnen im Untergrund oder mit
Abtreibungspillen zu Hause abtreiben bzw. nach Deutschland oder
Tschechien fahren. Nun dürfen nur noch Frauen, deren Gesundheit oder
Leben gefährdet ist oder die infolge einer kriminellen Handlung
schwanger wurden, legal Abtreibungen vornehmen lassen. Alle anderen,
Frauen mit finanziellen, sozialen Hindernissen oder jene, die einfach
kein Kind wollen, haben nicht das Recht, sich zu weigern, eines auf
die Welt zu bringen.

Situation in Polen

In Polen ist seit 2015 die rechtskonservative Prawo i
Sprawiedliwość (kurz: PiS: dt.: Recht und Gerechtigkeit) an der
Regierung und wurde damals von 37,6 % gewählt. Aufgrund des
undemokratischen Wahlrechts reichte dies zur absoluten Mehrheit im
Parlament. Der Erfolg der PiS ist auch Ausdruck des internationalen
Rechtsrucks. Die seitdem verabschiedeten reaktionären Gesetze und
unternehmensfreundliche Politik sorgten aber nicht für einen
Umschwung, nicht zuletzt dank einiger Zugeständnisse auch an ärmere
konservative Wähler_Innenschichten (Familienunterstützung).
Vielmehr vollzog sich der Rechtsruck weiter und bei der Wahl 2019
gewann die PiS nochmals 6 % der Stimmen hinzu. Zum Vergleich:
Lewica, das linke Wahlbündnis aus SLD, Wiosna, Razem, Polska Partia
Socjalistyczna (PPS) u. a., erhielt insgesamt 12,6 %.

Im Rahmen der PiS-Legislatur wurden sehr viele Gesetze erlassen,
die das öffentliche Leben sowie die Institutionen verändern. Eine
der ersten Institutionen, die fundamentalen Veränderungen ausgesetzt
war, war das Verfassungsgericht. Zwischen Oktober 2015 und Dezember
2016 brachte die PiS sechs Gesetze durch, die diesen Gerichtshof
betrafen. Ebenso wurde in den letzten fünf Jahren seine
Zusammensetzung maßgeblich verändert. Von 15 Richter_Innen wurden
14 durch die aktuelle Regierungsmehrheit ernannt.

Warum werden Abtreibungen verboten?

Seit 2016 hat die PiS immer wieder Versuche unternommen, das
Abtreibungsgesetz zu verschärfen. Dieses wurde aber aufgrund der
massiven Gegenbewegung und Frauenstreiks nicht umgesetzt. 2019 wurde
dann der Antrag eingereicht, dass das kontrollierte
Verfassungsgericht die Frage der Abtreibung ein für alle Mal klären
sollte. Fast ein Jahr nach Einreichung des Antrags traf der
Verfassungsgerichtshof seine Entscheidung – inmitten der
Corona-Pandemie. Diese aggressive reaktionäre Politik entspricht dem
rechtspopulistischen Charakter der gegenwärtigen Regierung.

Mit dem faktischen Totalverbot von Abtreibungen geht es auch
darum, eine reaktionäre, kleinbürgerliche Massenbasis bei der
Stange zu halten und gegen eine angebliche Bedrohung von außen zu
mobilisieren. Nationalismus und vor allem der Katholizismus bilden
hierfür die ideologischen Anknüpfungspunkte, um eine klassenmäßig
heterogene Anhänger_Innenschaft – von der eigentlichen Elite und
Staatsführung bis zu kleinbürgerlichen Schichten und rückständigen
Arbeiter_Innen in Stadt und Land – zu sammeln. Daher finden sich im
Schlepptau von Kirche und PiS auch die extrem nationalistischen und
faschistischen Kräfte unter den Abtreibungsgegner_Innen, die seit
Jahren sexuell Unterdrückte und deren Aktionen angreifen –
geduldet oder gar ermutigt von Polizei und Kirche.

Dem Volksglauben nach ist der Grund für das Abtreibungsgesetz
rein religiöser Natur. Es ist aber offensichtlich, dass es beim
Antiabtreibungsmythos nicht um das Wohl ungeborener Kinder geht.
Vielmehr geht es um den Erhalt einer patriarchalen Ordnung. Die
bürgerliche Familie muss um jeden Preis gestärkt werden. Das
passiert nicht aus Liebe oder „christlichen Werten“. Das
Abtreibungsverbot fesselt Frauen länger an den Herd und raubt ihnen
die Entscheidung, wie sie ihr Leben gestalten wollen. Davon
profitiert die herrschende Klasse, dass durch die Stärkung der
Familie Reproduktionskosten auf die Arbeiter_Innenklasse abgewälzt
werden können. Ebenso ist sie eine Garantin dafür, im nationalen
Rahmen billige Arbeitskräfte für die Zukunft zu schaffen und in ihr
Gehorsam und Unterordnung zu verinnerlichen.

Gleichzeitig trifft das Verbot nicht alle Frauen gleich. Für die
Mehrheit der Arbeiterinnen werden Abtreibungen unter extrem
unsicheren Bedingungen durchgeführt, da sie es sich oftmals nicht
leisten können, medizinische Versorgung in einem anderen Land
wahrzunehmen. Ebenso ist der Zugang zu Verhütungsmitteln
eingeschränkter aufgrund der Kosten. Für Bourgeoisie und
Kleinbürger_Innen gilt das Verbot auch, sie verfügen jedoch eher
über die nötigen Verbindungen und Mittel, um eine Wahl zu treffen.

Gegenproteste

Wie bereits geschrieben, konnten die vorherigen Angriffe auf das
Abtreibungsrecht abgewehrt werden. 2016 wurde vom Ogólnopolski
Strajk Kobiet (Allpolnischer Frauenstreik) und anderen Gruppen der
„Schwarze Protest“ organisiert. Als das Gesetz zum verschärften
Abtreibungsverbot debattiert wurde, mobilisierte dieser wochenlang
100.000 Demonstrant_Innen, nicht nur Frauen, sondern auch
unterstützende Männer und die LGBT-Gemeinschaft. Die Proteste
hatten teilweise Erfolg, insofern sie eine Verzögerung der Umsetzung
bewirkten.

Als im Oktober 2020 das Urteil dann erklärt wurde, löste dies
erneut landesweite Proteste aus – es waren die größten seit
Solidarnośćs-Streiks und Betriebsbesetzungen in den frühen 1980er
Jahren. Nicht nur in Warschau, sondern in rund 150 Städten wurden
Proteste organisiert. So fanden Straßenblockaden statt und am 28.
Oktober gipfelten die Aktion in einem gesamtpolnischen Frauenstreik
unter dem Motto: „Nie idę do roboty“ („Ich werde nicht
arbeiten gehen!“). Die Proteste wurden mit schwerer
Polizeibrutalität beantwortet, die im Laufe der Zeit zunahm.
Demonstrantinnen wurden in Gewahrsam genommen und von konservativen
Parteichef_Innen als „Usurpatorinnen“ bezeichnet, da dies ein
direkter Angriff auf Polen und die Kirche sei. Bis in den Dezember
hinein kam es immer wieder zu größeren Demos, spontanen Blockaden
und Auseinandersetzungen. Durch Polizeirepression und Maßnahmen
unter dem Deckmantel des „Infektionsschutzes“ vor Covid-19 wurde
versucht, den Protest zu ersticken. Am Mittwoch, dem 27. Januar, als
das Urteil des Verfassungsgerichts im Gesetzblatt veröffentlicht
wurde, brach er auf ein Neues aus.

Wie geht es weiter?

Zwar mag die Pandemie die Mobilisierung in gewisser Form
schwächen. Doch laut Umfragen lehnen fast 70 % der polnischen
Bevölkerung nicht nur die Gesetzesverschärfungen ab, sondern
stimmen auch der Aussage zu, dass Frauen selbst das Recht haben
sollten zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft abbrechen. Es
wurden Online-Plattformen geschaffen, die nicht nur auf das
Abtreibungsverbot aufmerksam machen, sondern auch den Einfluss der
Kirche auf die Regierung, Rechte für Menschen mit Behinderungen und
den Kampf gegen Homophobie thematisieren. Ebenso hat das Bündnis des
Allpolnischen Frauenstreiks am 1. November einen Konsultativrat (Rada
Konsultacyjna) gebildet. Vorbild dafür ist der auf Vorschlag von
Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja ausgerufene
Koordinierungsrat (Kaardynacyjnaja Rada), der 2020 in Belarus nach
der Präsidentschaftswahl während der Proteste gegründet worden
ist. Das Ziel: unabhängig von Parteien als Mittler zwischen
Regierung und Protestierenden eine Einigung zu finden.

Seine Forderungen:

(1) die Situation des Verfassungsgerichts, des Obersten
Gerichtshofs und der Ombudsperson zu regeln.

(2) Mehr Mittel für den Gesundheitsschutz und die Unterstützung
von Unternehmer_Innen.

(3) Volle Frauenrechte – legale Abtreibung, Sexualerziehung,
Empfängnisverhütung.

(4) Stopp der Finanzierung der katholischen Kirche aus dem
Staatshaushalt.

(5) Ende des Religionsunterrichts an Schulen.

(6) Rücktritt der Regierung.

Welche Strategie bringen Gesetz und Regierung zu
Fall?

Auch wenn der Koordinierungsrat für eine Vermittlungslösung mit
der Regierung offen ist, so ist der Spielraum für einen Kompromiss
mit der Regierung bei den sechs Forderungen gering. Es besteht aber
die Gefahr, dass die Aktivist_Innen auf wahrscheinlich fruchtlose
Verhandlungen vertröstet werden.

Damit der Protest nicht versandet, sondern weitergeführt wird,
muss er vielmehr ausgeweitet werden. Der Frauenstreik vom 28. Oktober
stellt einen wichtigen Ansatz dar. Doch er darf kein einmaliges
Ereignis bleiben, sondern es muss Ziel sein, die Protestbewegung in
den Betrieben und Büros zu verankern. Dort sollten Versammlungen
einberufen werden, um die Arbeitsniederlegung zu organisieren und
Streikkomitees zu wählen. Die Frage des Eintretens für die Rechte
der Frauen und vor allem der Arbeiterinnen bedeutet in den Betrieben
und in der Arbeiter_Innenklasse zugleich auch einen Kampf,
Lohnabhängige von den Gewerkschaften wegzubrechen, die die PiS
unterstützen, und für eine einheitliche Gewerkschaftsbewegung
unabhängig von allen bürgerlichen Parteien einzutreten.

Der Allpolnische Frauenstreik muss Druck auf alle
regierungskritischen Gewerkschaften, insbesondere auch die OPZZ,
ausüben. Ziel ist es, sie dazu zu bringen, sich nicht nur mit der
Bewegung zu solidarisieren, sondern offen für den Kampf einzutreten
und ihre Mitglieder zu mobilisieren. Die Waffe des Streiks, also das
Stocken der Profitproduktion, ist das effektivste Druckmittel gegen
die PiS. Durch die Einberufung von Vollversammlungen an Unis, Schulen
und in Betrieben (die auch online durchgeführt werden können), wird
zusätzlich erreicht, dass mehr Menschen in ihrem direkten Alltag mit
den Inhalten des Protestes konfrontiert und diese alltäglichen Orte
politisiert werden. Gegen die Repressionen seitens des polnischen
Staates sowie zur Abwehr drohender rechter Angriffe müssen
demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees aufgestellt
werden, die die Mobilisierungen schützen.

Gleichzeitig bedarf es innerhalb der Bewegung einer Debatte über
die Strategie, mit welcher man die oben genannten Forderungen
umsetzt. Als Revolutionär_Innen unterstützen wir einige der
Forderungen wie das Recht auf Abtreibung, das Ende der Finanzierung
der Kirche aus dem Staatshaushalt oder des Religionsunterrichts an
Schulen ohne Wenn und Aber. Jedoch hegen wir keine Illusionen darin,
dass sich durch den Rücktritt einzelner Minister_Innen etwas ändert.
Die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung wirft aber ebenso die
Frage auf, was danach kommen soll. Würde die PiS-Regierung bei
etwaigen Neuwahlen bloß durch die neoliberale Bürgerkoalition
ersetzt, so würde sich für die Masse der Arbeiter_Innenklasse wenig
ändern.

Wenn der Protest erfolgreich ausgeweitet werden soll, muss nicht
nur in Betrieben mobilisiert, es müssen ebenso klare Forderungen im
Interesse der Lohnabhängigen aufgeworfen werden. Statt Unterstützung
für Unternehmer_Innen in der aktuellen Corona-Krise braucht es einen
Kampf gegen Lohnkürzungen und Entlassungen. Neben ihrer
Legalisierung sollte die Finanzierung von Abtreibung oder
Verhütungsmitteln nicht auf die Arbeiter_Innenklasse abgewälzt
werden, dadurch dass diese sie selber zahlen oder ihre Kosten durch
Steuern aufgebracht werden. Vielmehr müssen sie von jenen finanziert
werden, die von der aktuellen Krise profitieren. Statt also insgesamt
ein Bündnis mit liberalen Teilen der Bourgeoisie zu suchen, müssen
die Forderungen klar aufzeigen, dass die herrschende Klasse die
Kosten tragen soll.

Die Gründung des Rada Konsultacyjna zur Koordinierung der
Proteste ist sinnvoll. Allerdings bedarf es einer stetigen Wähl- und
Abwählbarkeit seiner Delegierten sowie ihrer vollständigen
Rechenschaftspflicht. Wichtig ist ebenso, dass dieser Rat mit
Aktions- und Betriebskomitees verbunden wird und sich aus deren
Aktivist_Innen zusammensetzt, also sich zum Arbeiter_Innenrat mit
eigenen Machtbefugnissen entwickelt, weg von einer Lobby, die nur
Druck auf Parlament, Regierung und Gerichte ausüben will. Ebenso
klar muss sein, dass er keine „Vermittlerrolle“ zwischen
Regierung und Protestierenden einnehmen darf. Er muss Ausdruck der
Protestierenden sein mit dem Ziel, die sich selbst gegebenen
Forderungen durchzusetzen mithilfe der Arbeiter_Innenklasse, und
etwaige Verhandlungen öffentlich führen. Es ist die Aufgabe von
Revolutionär_Innen im Rahmen des Protestes für den Aufbau einer
proletarischen Frauenbewegung und einer neuen revolutionären
Arbeiter_Innenpartei einzutrete




Krise des deutschen Krankenhaussektors

Katharina Wagner, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung, März
2021

Man hatte es kommen sehen! Nicht erst seit dem Beginn der
weltweiten Corona-Pandemie war es um das deutsche Gesundheitssystem
nicht gut bestellt. Seit vielen Jahren existiert ein Fachkräftemangel
im Gesundheits- und vor allem im Altenpflegebereich. Die
herrschenden, schlechten Arbeitsbedingungen tun ihr Übriges dazu,
potenzielle Berufsanfänger_Innen abzuschrecken bzw. Fachkräfte aus
dem Arbeitsumfeld zu vertreiben. Dabei war und ist der Bereich
Kranken- und Altenpflege, sowohl der bezahlten als auch in viel
größerem Maße der unbezahlten, weiterhin eine Domäne der Frauen.
Der
Anteil weiblicher Beschäftigter
liegt bei über 80 %. Nun,
inmitten  der Pandemie, mehren sich die Stimmen, die vor einem
Kollaps des deutschen Gesundheitssystems warnen, vor allem auf den
Intensivstationen.

Gleichzeitig spielten die Beschäftigten in den Krankenhäusern
eine zunehmend bedeutendere Rolle in den Klassenkämpfen der 
letzten Jahre, sei es um mehr Personal an diversen Unikliniken oder
als Vorkämpfer_Innen in der Lohntarifrunde des öffentlichen
Dienstes von Bund und Kommunen im letzten Herbst.

Aktuelle Situation

Seit Anfang Februar gehen zwar die Zahlen von Covid-Neuinfizierten
zurück. Noch immer sterben aber hunderte Menschen täglich und Grund
zu Entwarnung gebt es aufgrund des Zick-Zack-Kurse von Bund und
Ländern bei der Pandemie-Bekämpfung und aufgrund neuer Mutationen
erste recht nicht. Laut DIVI-Intensivregister (DIVI: Deutsche
Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin)
sind in den erfassten 1.200 Akut-Krankenhäusern derzeit 22.433
Intensivbetten belegt, lediglich 17 % der Gesamtbetten stehen
bundesweit für weitere Patient_Innen zur Verfügung. Von den derzeit
intensivmedizinisch
behandelten COVID-19-Patient_Innen
(über 5000 Anfang Januar
2021) müssen rund 57 % beatmet werden, mit einer
durchschnittlichen Beatmungsdauer von rund zweieinhalb Wochen
(Quelle: Neues Deutschland, 12.11.2020). Mit rund 64 % sind die
Betten allerdings mit anderen als an COVID-19 Erkrankten belegt,
bspw. nach Notfällen oder planbaren Operationen.

Denn anders als im Frühjahr haben viele Kliniken aufgrund
finanzieller Gründe den Regelbetrieb noch immer nicht eingeschränkt.
Allerdings muss hier berücksichtigt werden, dass diese Zahlen
teilweise nicht der Realität entsprechen. So meldete das ARD-Magazin
„plusminus“ am 02. Dezember 2020 aufgrund interner Recherchen,
dass etliche Krankenhäuser mehr verfügbare Betten gemeldet hatten,
als tatsächlich zur Verfügung stehen, um den versprochenen Bonus
von bis zu 50.000 Euro pro neu aufgestelltem Intensivbett vom Bund zu
bekommen. Allerdings kann ein nicht unerheblicher Teil dieser Betten
aufgrund fehlender Fachkräfte nicht eingesetzt werden. Dieser
Fehlanreiz seitens des Bundesgesundheitsministers kostete den/die
Steuerzahler_In bisher rund 626 Millionen Euro (Quelle:
www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/videos/sendung-vom-02-12-2020-video-102.html).

Zusätzlich erhielten die Kliniken sogenannte Freihaltepauschalen
im Zuge von zwei Rettungsschirmen, um finanzielle Anreize für das
Freihalten von Intensivbetten durch Verschiebung planbarer und nicht
dringend notwendiger Operationen zu setzen. Während die Pauschalen
beim ersten Rettungsschirm im Frühjahr 2020 an alle Krankenhäuser
ausgezahlt wurden, sollen innerhalb des zweiten nur Kliniken Geld
bekommen, die in Gebieten mit hohem Infektionsgeschehen liegen und
weitere Bedingungen erfüllen. Die Entscheidung über die Auszahlung
liegt bei den jeweiligen Bundesländern. Trotz der beiden
Rettungsschirme fordern bereits verschiedene Organisationen, darunter
die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) weitere Liquiditätshilfen
für das gesamte Jahr 2021 inklusive Streichung der Einhaltung und
Dokumentation von Personaluntergrenzen. Auch die Prüfquote
des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen
soll auf max. 5 %
reduziert werden. All dies geht natürlich zu Lasten der
Beschäftigten und Patient_Innen.

Unterm Strich können diese Ausgleichszahlungen allerdings die
Defizite im Krankenhaus nicht wettmachen, die ein auf
gewinnträchtigen Behandlungen fußendes System mit sich bringt und
besonders durch die Pandemie schonungslos aufgedeckt wurden. Wir
kritisieren also nicht die Ausgleichszahlungen als solche, sondern
ihre Planlosigkeit und ihren zu geringen Umfang. So wurden sie teils
nicht an die Behandlung von Coronapatient_Innen geknüpft, teils
wurden Einrichtungen geschlossen (Rehakliniken) und ihr Personal in
Kurzarbeit geschickt, während die Hotspots mit Überlastung und
Einnahmeverlusten zu kämpfen hatten.

Für das Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen gab
es außer Beifall und warmen Worten wenig für seine
aufopferungsvolle Tätigkeit während der Pandemie. Zwar wurde eine
Corona-Prämie seitens des Bundes zugesagt, diese aber an sehr viele
Bedingungen geknüpft und von vornherein nur für ca. 100.000 der
über 440.000 Angestellten in Krankenhäusern vorgesehen. Die
Entscheidung, wer nun den Bonus bekommen solle, wurde dabei den
Betriebs- und Personalräten sowie Mitarbeiter_Innenvertretungen (in
kirchlichen Einrichtungen, wo Betriebsverfassungs- und
Personalvertretungsgesetz nicht gelten) zugeschoben. Dagegen gab es
allerdings teilweise heftigen
Widerstand
. Für die stationäre und ambulante Pflege wurde
bereits im Frühjahr 2020 eine Bonuszahlung beschlossen, diese aber
in sehr vielen Fällen nicht an die Beschäftigten weitergegeben.

Ökonomische Entwicklung

Während die Krankenhäuser in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg
bis in die Anfänge der 1970er Jahre komplett durch den Staat
finanziert wurden (Kameralistik), fand 1972 ein Wechsel zu einer
dualen Finanzierung statt. Dabei wurden die Kosten zwischen den
Bundesländern und den Krankenkassen aufgeteilt. Während letztere
für die laufenden, also Betriebs- und Behandlungskosten, aufkamen,
übernahm der Staat die sogenannten Investitionskosten. Allerdings
gingen diese Aufwendungen seit Einführung dieses Systems 
drastisch zurück, während es gleichzeitig zu einem
Personalkostenanstieg für die Krankenkassen, genauer gesagt für die
Versicherten, kam. Dies alles bereitete den Boden für die Einführung
der sogenannten diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRGs: diagnosis
related groups) 2004, nachdem bereits 2002 eine gesetzlich verordnete
Öffnung des Krankenhausbereichs für private Konzerne eingeführt
wurde. Dies erlaubte nur noch eine Abrechnung von gleichen
Behandlungskosten pro Fall, wohingegen anfallende Kosten für z. B.
für Rettungswesen, Verwaltung, Materialbesorgung etc. nicht
berechnet werden können. Daraus resultiert eine Auslagerung von
Tätigkeiten außerhalb der Pflege mit gleichzeitigem Personalabbau
im Bereich der Pflegearbeit. So ermittelte beispielsweise eine Studie
der Hans-Böckler-Stiftung
aus dem Jahre 2018 einen Mangel von
100.000 Vollzeitstellen allein in der Krankenhauspflege. Durch
mögliche Verluste der Kliniken bei überdurchschnittlich hohem
Fallaufwand sieht man sich gezwungen, Patient_Innen entweder
frühzeitig zu entlassen oder profitorientierte Eingriffe wie das
Einsetzen künstlicher Gelenke stark gegenüber konventionellen und
langwierigen Therapien zu favorisieren. Auch zahlreiche Schließungen
von kommunalen Krankenhäusern sowie eine starke Privatisierungswelle
waren direkte Folgen des Wechsels hin zu einem profitorientierten
Abrechnungssystem.

Darunter haben nicht nur die Beschäftigten im Gesundheits- und
Pflegebereich stark zu leiden. Auch für Patient_Innen,
Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bedeutet dies eine
schlechtere Gesundheitsversorgung. Mittlerweile formiert sich schon
seit einigen Jahren Widerstand gegen ungenügende
Personalbemessungsgrenzen, Fachkräftemangel und schlechte
Arbeitsbedingungen. Im Zuge der Corona-Pandemie kamen weitere
Probleme wie die nicht ausreichende Versorgung mit Test- und
Schutzausrüstung sowie die Aushebelung von erkämpften
Arbeitsschutzrechten, als Beispiel sei an dieser Stelle die Erhöhung
der maximalen Arbeitszeit angeführt, hinzu. So hat Niedersachsen
eine Vorreiterrolle eingenommen und als erstes Bundesland die
maximale tägliche Arbeitszeit für Beschäftigte in Krankenhäusern,
Pflegeeinrichtungen sowie im Rettungsdienst von 10 auf 12 Stunden
täglich über den 1.1.2021 hinaus angehoben. Ausgleichsstunden oder
besondere Entschädigungszahlungen sind in dieser Allgemeinverfügung
zum Arbeitszeitgesetz nicht vorgesehen (Quelle: Neues Deutschland,
12.11.2020).

Die Antwort auf diesen besonders dreisten Vorstoß kann nur in
einer Verstärkung des Kampfes für die Abschaffung der
Fallpauschalen, eine gesetzlich geregelte Personalbemessung („Der
Druck muss raus!“) und die Verstaatlichung der privatisierten
Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und Patient_Innenverbände
bestehen. Dieser muss aktuell ergänzt werden durch einen
Pandemienotplan unter Arbeiter_Innen- und Nutzer_Innenkontrolle für
flächendeckende Impfungen, Tests, Infektionskettenrückverfolgungen
und Bereitstellung aller Krankenhäuser und Kliniken für die
Coronatherapie.

Reaktion der Gewerkschaften und anderer
Organisationen

Die Gewerkschaften, allen voran ver.di, haben sich in dieser
Situation des Pflegenotstandes meist auf Lobbyismus, wie etwa das
Sammeln von Unterschriften oder Starten diverser Petitionen,
konzentriert. Kam es tatsächlich mal zu Streikaktionen, blieben
diese meist auf einzelne Krankenhäuser wie etwa die Charité in
Berlin oder andere Unikliniken beschränkt. Bei der letzten
Tarifrunde im öffentlichen Dienst im Herbst 2020 wurde in erster
Linie von der Tarifkommission eine Verbesserung der Entlohnung
gefordert. Forderungen nach Einhaltung der beschlossenen
Personaluntergrenzen wurden dagegen nicht aufgenommen, obwohl vielen
Beschäftigten bessere Arbeitsbedingungen wichtiger gewesen wären
als eine Anhebung ihrer Löhne. Denn selbst in Krankenhäusern, wo in
der Vergangenheit Personaluntergrenzen vereinbart wurden, als
Beispiel sei hier wieder die Charité in Berlin genannt, haben die
Beschäftigten keinerlei Möglichkeiten, die Einhaltung
durchzusetzen. Denn eigentlich müssten bei Unterschreitung der
Personaluntergrenzen Betten gesperrt und planbare Operationen
verschoben werden. Dies verringert allerdings den Gewinn der
profitorientierten Krankenhäuser und wird demzufolge nicht
durchgeführt.

Perspektiven für den Kampf

Um dies zu verhindern und die Einhaltung der
Personalbemessungsgrenzen durchzusetzen, sind daher dringend
Kontrollorgane der Beschäftigten sowie der 
Patient_Innenorganisationen notwendig. Und statt eines „Häuserkampfs“
in einzelnen Kliniken sollte seitens der Gewerkschaften ein
bundesweiter Tarifvertrag mit gesetzlich geregelten
Personaluntergrenzen und einer damit einhergehenden Mindestbesetzung
gefordert werden. Um dies zu erreichen, müssen innerhalb der
Gewerkschaften Streikaktionen bis hin zum politischen Streik als
einem wichtigen Kampfmittel der Beschäftigten sowie der gesamten
Arbeiter_Innenklasse organisiert werden. Dafür sollten zunächst
Aktions- und Kontrollkomitees in Krankenhäusern und
Pflegeeinrichtungen aufgebaut werden und die Beschäftigten sowie die
Gewerkschaftsaktivist_Innen gemeinsam mit Patient_Innenorganisationen
über notwendige Maßnahmen entscheiden. Ein weiterer notwendiger
Schritt wäre die Durchführung einer bundesweiten Aktionskonferenz
zur Vernetzung für einen gemeinsamen Kampf und die Unterstützung
der #ZeroCovid-Kampagne als ersten Schritt in Richtung eines
Pandemiebekämpfungsnotplans.

Allerdings dürfen wir keine Illusionen in die bürgerliche
Gewerkschaftsbürokratie hegen, sondern müssen für einen internen
Wandel hin zu kämpferischen Gewerkschaften eintreten. Die Vernetzung
für kritische Gewerkschaften (VKG) bildet einen ersten Sammelpunkt
für die Möglichkeit der Bildung einer klassenkämpferischen,
antibürokratischen Basisbewegung in den Gewerkschaften, die diese
wieder auf den Pfad des Klassenkampfs statt der Sozialpartnerschaft
mit dem Kapital führen und die Bürokratie durch jederzeit
abwählbare, der Mitgliedschaft verantwortliche, zum
Durchschnittsverdienst ihrer Branche entlohnte Funktionär_Innen aus
den Reihen der besten Aktivist_Innen ersetzen kann!

Als Ausgangspunkte für Diskussionen im Zuge einer solchen
bundesweiten Aktionskonferenz im Gesundheitsbereich halten wir
folgende Forderungen für sinnvoll:

  • Staat und Unternehmen raus aus den Sozialversicherungen!
    Abschaffung der konkurrierenden Kassen zugunsten einer
    Einheitsversicherung mit Versicherungspflicht für alle, Abschaffung
    der Beitragsbemessungsgrenzen!
  • Allerdings sollen die Unternehmen ihren Beitrag
    („Unternehmeranteil“) proportional zu ihren Gewinnen zahlen
    statt zu ihren Personalkosten!
  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – von Tests bis
    zur Unterbringung in Krankenhäusern!
  • Stopp aller Privatisierungen im Gesundheitsbereich!
    Entschädigungslose Enteignung der Gesundheitskonzerne und
    Verstaatlichung aller Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime unter
    Kontrolle der dort Beschäftigten und der Organisationen der
    Patient_Innen, alten Menschen und Behinderten sowie ihrer
    Angehörigen!
  • Abschaffung der DRGs (Fallpauschalen) – stattdessen:
    Refinanzierung der realen Kosten für medizinisch sinnvolle
    Maßnahmen!
  • Breite Kampagne aller DGB-Gewerkschaften – unter Einbezug
    von Streikmaßnahmen – für Milliardeninvestitionen ins
    Gesundheitssystem, finanziert durch die Besteuerung der großen
    Vermögen und Erhöhung der Kapitalsteuern!
  • Sofortige Umsetzung aller bereits durchgesetzten Regelungen
    zur Personalaufstockung (PPR 2), kontrolliert durch Ausschüsse von
    Beschäftigten, ihrer Gewerkschaften und
    Patient_Innenorganisationen!
  • Einstellung von gut bezahltem Personal entsprechend dem
    tatsächlichen Bedarf, ermittelt durch die Beschäftigten selbst!
    Sofortige Umsetzung der von ver.di, der Deutschen
    Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat eingeforderten
    neuen Personalbemessung PPR 2 und nötigenfalls ein politischer
    Streik zur Durchsetzung!
  • Kampf für bessere Bezahlung aller Pflegekräfte in
    Krankenhäusern und (Alten-)Pflegeeinrichtungen: mind. 4.000 Euro
    brutto für ausgebildete Pflegekräfte!
  • Einstellung von ausreichend gut bezahlten und geschulten
    Reinigungskräften! Entsprechende Qualifizierung von vorhandenem
    Reinigungspersonal, das mit tariflicher Bezahlung bei den
    medizinischen Einrichtungen eingestellt wird! Sofortige Rücknahme
    der Auslagerung von Betriebsteilen in Fremdfirmen bzw.
    Tochtergesellschaften mit tariflichen Substandards!
  • Radikale Arbeitszeitverkürzung für alle bei vollem Lohn-
    und Personalausgleich – vor allem in den Intensivbereichen:
    Reduzierung der Arbeitszeit auf 6-Stunden-Schichten – bei vollem
    Lohn- und Personalausgleich und Einhaltung der Ruhezeit von
    mindestens 10 Stunden! Gegen die Verschlechterung des
    Arbeitszeitgesetzes, nötigenfalls mittels eines politischen
    Massenstreiks!
  • Für einen internationalen Notplan gegen die Coronapandemie
    unter Arbeiter_Innenkontrolle, beginnend mit einer Ausweitung der
    #ZeroCovid-Kampagne und der Einberufung einer internationalen
    Aktionskonferenz!



Check your privileges – aber reicht das aus?

Leonie Schmidt, Revolution Deutschland, Fight! Revolutionäre
Frauenzeitung Nr. 9

„Check your privileges“/ „Check mal deine Privilegien“:
ein Satz, den du bestimmt schon mal irgendwo gehört hast. Gerade im
Zuge der BLM- und Antira-Proteste der letzten Jahre kam er vermehrt
auf und fordert Menschen, die nicht oder weniger unterdrückt werden,
dazu auf, sich ihrer Stellung in der Gesellschaft bewusst zu werden.
Dafür gibt es extra Checklisten im Internet oder in Büchern. Zu den
Unterdrückungsformen, die hier erforscht und verglichen werden,
gehören bspw. Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Ableismus
(bezeichnet die Beurteilung von Menschen anhand ihrer Fähigkeiten
und ist behindertenfeindlich) und auch Klassismus (Abwertung aufgrund
der Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse, insbesondere Vorurteilen
gegenüber Armen, aber ungleich dem Klassenwiderspruch). Viele der
Fragen auf den Checklisten beziehen sich auf strukturelle Probleme,
die die Unterdrückten alltäglich erleben. Manche beziehen sich
natürlich auch auf die Jobsuche und andere wichtige Bereiche wie zum
Beispiel das Familienleben.

Erstmals entwickelt wurde der Begriff des „male privilege“
(männliches Privileg) von Feminist_Innen in den 1970er Jahren, wo
besonders die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Vordergrund
stand. Später wurde die Untersuchung aber auch intersektionaler,
denn die Feministin Peggy McIntosh begann auch das „white
privilege“ mit zu untersuchen. So beschrieb sie diese Privilegien
als etwas, was bspw. Männer nicht direkt erkennen, da sie ihre
gesellschaftliche Stellung als etwas Persönliches und Individuelles
wahrnehmen. Aufgrund ihres eigenen Schicksals erkennen sie gar nicht,
dass sie gewisse Privilegien gegenüber anderen Personen genießen
oder aber aufgrund des bereits lange andauernden patriarchalen
Systems daran gewöhnt sind, weswegen die Vorteile und Rechte als
normal angesehen werden. Des Weiteren war ihr auch wichtig, dass
nicht alle Männer aktiv und bewusst zur Unterdrückung beitragen,
aber alle davon profitieren würden.

Das klingt ja eigentlich ganz plausibel, oder?

Sie mögen ein hilfreiches Werkzeug darstellen, um sich des
Ausmaßes von Unterdrückung bewusst zu werden, jedoch zählen diese
Checklisten lediglich Symptome auf und helfen uns nicht wirklich, die
strukturellen Unterdrückungsmechanismen zu verstehen, und vor allem
nicht, wie wir sie letztlich bekämpfen können, denn dazu gibt es
keine klaren Aussagen in der „Privilege Theory“
(Privilegientheorie). Wenngleich gerade in Bezug auf „male
privilege“ von einem patriarchalen System ausgegangen wird, so wird
dieses doch nicht näher in einen Kontext gesetzt und schon gar nicht
in den, dass es mit dem Kapitalismus und der Klassengesellschaft
zusammenhängt.

Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die „Privilege Theory“
wurde ähnlich wie die heute vorherrschenden Formen der
Identitätspolitik im Rahmen des Postmarxismus groß und verbreitete
sich, nachdem der Marxismus als gescheitert erklärt wurde.
Dementsprechend ist sie auch nicht darauf ausgelegt, Unterdrückung
im gesellschaftlich-strukturellen Sinne zu erläutern, sondern
fokussiert sich stattdessen lieber auf die individuelle Person. Und
wenngleich tatsächlich Personen, die kaum oder gar nicht unterdrückt
werden, bevorzugt werden in unserer Gesellschaft, müssen wir uns
doch fragen, wer am Ende WIRKLICH profitiert.

Und das ist in der Klassengesellschaft nun mal die herrschende
Klasse, im Kapitalismus die Bourgeoisie. Einerseits profitieren sie
von der Spaltung der Gesellschaft, insbesondere der
Arbeiter_Innenklasse, welche durch Unterdrückungsmechanismen
verstärkt wird und mit dafür sorgt, dass die Unterdrückten nicht
ihre gemeinsame Unterdrückung durch die Ausbeutung der Arbeitskraft
erkennen. Andererseits dient die Unterdrückung besonders von Frauen
und Queerpersonen der weiteren Aufrechterhaltung des Idealbilds der
bürgerlichen Familie. Diese ist im Kapitalismus unter anderem dafür
da, dass die Ware Arbeitskraft (also die Arbeiter_Innen) so günstig
wie möglich (re)produziert werden. Das mag abstrakt klingen, aber in
diesen Bereich fallen vor allem Erziehung, Haus- und Carearbeit,
welche im klassischen Rollenbild den Frauen aufgetragen werden. Das
lohnt sich für die Kapitalist_Innen insofern, dass sie so wenig wie
möglich dafür bezahlen müssen, also einen höheren Profit
erwirtschaften können.

Es ist zwar dem Kapital an sich egal, welches Geschlecht die
Hausarbeit letztendlich übernimmt. Aber im Kapitalismus wird das
nach wie vor den Frauen aufgetragen, nachdem eine schon vorgefundene
geschlechtsspezifische Arbeitsteilung fortgeschrieben wird. Faktisch
kümmern sich auch heutzutage mehr Frauen um die Hausarbeit. So
verrichten im EU-Durchschnitt 79 % der Frauen täglich
Hausarbeit, aber nur 34 % der Männer. In vielen halbkolonialen
Ländern fällt das noch deutlicher aus – allerdings im Gegensatz
zum klassischen Bild der bürgerlichen Familie meist zusätzlich zu
der klassischen Lohnarbeit, so entsteht eine doppelte Ausbeutung.
Außerdem existiert weiterhin der Gender Pay Gap
(geschlechtsspezifischer Lohnunterschied; Frauen verdienen im
Durchschnitt 20 % weniger als Männer). Dadurch, dass Männer
mehr Lohn erhalten, manifestiert sich auch ihre Macht und das
passiert auch in der Arbeiter_Innenklasse. Dadurch helfen die
Privilegien auch die Klassengesellschaft zu stützen, denn viele
wollen sie nicht einfach aufgeben.

Bewusstsein und Kampf

Aber letztlich ist das nicht nur eine Frage des individuellen
Bewusstseins. Was z. B. den Gender Pay Gap betrifft, so lässt
sich das auf individueller Ebene auch nicht so leicht
bewerkstelligen. Würde sich z. B. eine proletarische Familie
dafür entscheiden, dass die Frau mit geringerem Stundenlohn Vollzeit
arbeitet und der Mann mit höherem teilzeitbeschäftigt ist, so
müssten sie und ihre Kinder unter den bestehenden Verhältnissen
signifikante Einkommenseinbußen hinnehmen. Gerade für ärmere
ArbeiterInnenfamilien ist das unmöglich, da sie ohnedies schon an
der Untergrenze der Reproduktionskosten leben. Um diese Unterdrückung
und doppelte Ausbeutung aufzuheben, brauchen wir also kollektive
Lösungen, die erkämpft werden müssen wie gleiche Löhne für
gleiche Arbeit und  die Vergesellschaftung der Hausarbeit, so
dass sie aus dem privaten Rahmen geholt und gesellschaftlich
organisiert wird. Solange die Hausarbeit noch nicht vergesellschaftet
ist, treten wir auch für die gleichmäßige Verteilung der
Hausarbeit auf alle Geschlechter im privaten Bereich ein.

Auch Rassismus ist hilfreich für die herrschende Klasse, denn so
kann das imperialistische System weiter aufrechterhalten werden. Er
liefert auch eine „Rechtfertigung“, warum bspw. migrantische
Menschen in Jobs im Niedriglohnsektor arbeiten müssen. Um Rassismus,
Sexismus usw. also gänzlich abzuschaffen, müssen wir ihnen die
materielle Voraussetzung nehmen: nämlich die Klassengesellschaft.
Erst im Sozialismus wird es möglich sein, effektiv diese Mechanismen
abzuschaffen, allerdings sind sie keine „Nebenfrage“, sondern
integraler Bestandteil des Klassenkampfes. Im Hier und Jetzt müssen
diese Kämpfe miteinander verbunden werden.

Wenngleich Klassismus auch eingebaut ist in der „Privilege
Theory“, so wird der Klassenkampf dadurch längst doch nicht zum
Dreh- und Angelpunkt der sozialen und politischen
Auseinandersetzungen. Die Ungleichheit der Klassen wird nur als ein
gleichgeordnetes Unterdrückungsverhältnis angesehen. Des weiteren
ist Klassismus in dieser Theorie auch nicht als letztlich nur
revolutionär aufhebbarer Klassenwiderspruch verstanden worden,
sondern bedeutet lediglich, dass (zumeist) die unteren Schichten mit
negativen Vorurteilen und Nachteilen im Bildungssektor und auf dem
Arbeitsmarkt zu kämpfen haben. Platt gesagt, soll man, nur weil man
aus einer niedrigen Schicht kommt, nicht respektlos behandelt oder
für unfähig erklärt werden, intellektuelle Kopfarbeit auszuführen.
Das berücksichtigt allerdings keinesfalls die Klassenunterdrückung
im Kapitalismus, in welcher die Bourgeoisie das Proletariat
ausbeutet. Somit ist dieser Ansatz unzureichend und präsentiert als
Lösung bloß, netter zu den unteren Schichten zu sein, weniger
Vorurteile zu haben, aber nicht die Klassengesellschaft an sich
abzuschaffen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass es, um effektiv seine
Privilegien zu „checken“, schon einen gewissen Grad an
Bewusstsein braucht, denn man muss ja erkennen, dass es diese Formen
von Unterdrückung gibt. Außerdem ist die Einsicht, dass es
Privilegien gibt, noch lange keine Garantin dafür, dass Personen
ihre auch ablegen wollen. Manche wollen sie im Gegenteil eher
verstärken (bspw. Konservative, die Abtreibungen verbieten wollen).
Grundsätzlich geht es natürlich beim Begreifen von Ungleichheit und
Unterdrückung innerhalb der eigenen Klasse immer auch um Bewusstsein
und Bewusstwerdung. Aber diese sind nicht losgelöst von den
materiellen Bedingungen. Das gesellschaftliche Sein bestimmt unser
Bewusstsein und nicht andersherum. Demnach kann diese gedankliche,
kritische Auseinandersetzung nicht alleine zu einer Lösung führen.
Des Weiteren verläuft die Bewusstseinsentwicklung nicht linear und
stellt auch nicht bloß ein persönliches, sondern vor allem auch ein
gesellschaftliches Phänomen dar. Das Massenbewusstsein kann Sprünge
machen – und zwar aufgrund gemeinsamer Kämpfe und Erfahrungen.
Umgekehrt kann es auch wieder zurückfallen, bspw. durch einen
Rechtsruck. Außerdem kann man bspw. in einer Reflektionsrunde viel
sagen, solange man nicht auch so handelt, hat das nur wenig Gewicht
und dient im schlimmsten Fall lediglich der Selbstbeweihräucherung.

Was tun?

Wir müssen den Chauvinismus und Sexismus in der Klasse bekämpfen,
um die Spaltung zu überwinden und die gemeinsame Kampfkraft zu
entfalten. Deshalb treten wir bspw. für das Caucusrecht von
Unterdrückten in den Organisationen der Arbeiter_Innenklasse ein.
Das bedeutet, dass sie das Recht haben, in einem gesonderten Raum,
allein unter ihresgleichen, über ihre Unterdrückung zu sprechen,
Probleme in der eigenen Organisation kollektiv aufzugreifen und
Empfehlungen an das Kollektiv auszusprechen, wie diese überwunden
werden können oder welche gemeinsamen Forderungen und Aktionen im
Kampf vorangetrieben werden sollen.

Wir treten für den Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung
ein. In bestimmten Situation kann die Bildung einer kommunistischen
Frauenorganisationen sinnvoll sein, sowohl, um den Chauvinismus in
der Arbeiter_Innenklasse zu bekämpfen, die Arbeit unter
proletarischen Frauen zu systematisieren und so Frauen, die noch
nicht der revolutionären Partei (oder ihrer Vorform) beitreten
wollen, auf der Basis eines revolutionären Aktionsprogramms gegen
Frauenunterdrückung in einer möglichst engen Kampfgemeinschaft
näher an diese heranzuführen. Des Weiteren müssen wir auch in den
Organisationen dafür kämpfen, dass sich nicht nur die Unterdrückten
mit ihrer eigenen Unterdrückung theoretisch auseinandersetzen,
sondern auch alle anderen.

Alles in allem dürfen wir uns nicht darauf verlassen, dass wir,
wenn wir uns alle nur selber genug reflektieren, die
Unterdrückungsmechanismen abschaffen können. Auch die Vereinzelung
der Unterdrückungsformen und Unterdrückten sind nicht hilfreich,
denn wenn wir wirklich die Klassengesellschaft abschaffen wollen, ist
es nötig, dass wir ein revolutionäres Programm mit gemeinsamen
Forderungen aufstellen und zusammen für eine sozialistische Zukunft
kämpfen, die wir nicht durch Reform des kapitalistischen Systems,
sondern nur durch einen revolutionären Umsturz auf Basis einer
breiten Massenbewegung unter kommunistischer Führung erreichen!




Pan y Rosas: Zwischen Reform und Revolution?

Aventina Holzer, Arbeiter*innenstandpunkt, REVOLUTION
Österreich, Fight 9, März 2021

Seit Jahren nehmen nicht nur Angriffe auf Frauenrechte zu, sondern
stellen sich auch Bewegungen in unterschiedlichen Ländern dieser
Realität. Dies hat auch zu einer Wiederbelebung linker Strömungen
geführt, die darauf eine Antwort geben wollen. Auf der einen Seite
wird versucht, die Bewegungen zu unterstützen und zu analysieren,
auf der anderen sie loszutreten, sie zu befeuern und in eine richtige
Richtung zu lenken. Was die wenigsten Organisationen und Strömungen
aber begreifen, ist die Notwendigkeit, Frauenkämpfe nicht nur
abstrakt im Zusammenhang mit dem Kapitalismus zu sehen, sondern auch
dementsprechend revolutionäre und klassenspezifische Organisierung
zu erreichen. Deshalb halten wir es für zentral, in eine politische
Debatte mit jenen Kräften zu treten, die diesen Anspruch an sich
selbst und die Bewegung stellen. Schon in früheren Publikationen
haben wir uns mit programmatischen Manifesten und Theorien
beschäftigt, die selbst einen antikapitalistischen, sozialistischen
oder marxistischen Anspruch formulieren. So diskutierten wir in der
letzten Ausgabe von Fight!
das Manifest Feminismus der 99 %. Im Revolutionären
Marxismus 53
beschäftigten wir uns mit Lise Vogels
Marxismus und Frauenunterdrückung und der Social
Reproduction Theory.

Brot und Rosen

Im Folgenden besprechen wir das 2013 in Argentinien erschienene
Buch Brot und Rosen: Geschlecht und Klasse im Kapitalismus
(1) von Andrea D’Atri, dessen deutsche Übersetzung 2019
veröffentlicht wurde. Andrea D’Atri ist eine Aktivistin der
argentinischen Frauenbewegung und eine Genossin der
Frauenorganisation Pan y Rosas (Brot und Rosen) sowie der Partido de
los Trabajadores Socialistas (Partei der sozialistischen
ArbeiterInnen, PTS). Als eine der Gründerinnen von Brot und Rosen
hat sie auch einen beachtlichen theoretischen Beitrag ihrer
Organisation geleistet. Im Folgenden werden wir ihr Buch hinsichtlich
ihres historischen Verständnisses und ihrer Programmatik
untersuchen, aus denen sich maßgeblich ihre Vorstellungen für den
anvisierten politischen Kampf ergeben. Im Anschluss werden wir daher
auch auf  die programmatischen Grundlagen und
Schlussfolgerungen  des Internationalen Manifests von Brot
und Rosen
eingehen.

Auch wenn Andrea D’Atris Buch nicht das Produkt eines
gemeinsamen Beschlusses der gleichnamigen Organisation ist, so kann
man es durchaus als die politische Grundlage des Manifests von
Brot und Rosen
betrachten. Es beginnt mit einer Geschichte von
Frauenkämpfen. Mit einer Mischung aus historischem Gesamtblick und
einzelnen biographischen Erzählungen sollen aus einer proletarischen
Perspektive die Zugänge zum Kampf um Frauenbefreiung und Feminismus
erläutert werden. Beginnend mit Getreideaufständen in Europa und
gefolgt von der Französischen Revolution, über die
Industrialisierung, die Pariser Commune bis hin zum Kampf für die
demokratischen Rechte der Frau wird an episodischen Einzelschicksalen
die Situation und die Notwendigkeit der Kämpfe verdeutlicht. Danach
werden des Weiteren die Kriegssituation und auch die Kämpfe der
sozialistischen Frauenbewegung anhand der Organisationen und Debatten
der Zweiten Internationale dargestellt. Ein eigenes Kapitel
beschäftigt sich mit der Sowjetunion und Frauenrechten. Im weiteren
Verlauf wird auch deren stalinistische Degeneration beleuchtet.
Schließlich werden die Lage nach dem Zweiten Weltkrieg, der
Aufschwung der Linken nach 1968, das damit verbundene Anwachsen und
die Radikalisierung des Feminismus betrachtet. Am Ende findet sich
eine Kritik des institutionalisierten Feminismus wie des mit
Postmodernismus, Dekonstruktivismus und Postmarxismus einhergehenden
Vordringens von Individualismus und Skeptizismus.

Dieser Überblick verdeutlicht schon, worum es sich beim Buch
handelt – und worum nicht. Brot und Rosen ist sowohl eine
geschichtliche Darstellung der Frauenunterdrückung und der
Entwicklung des Kampfes dagegen wie der Entwicklung des Feminismus.
Oft erscheinen auch die linken Strömungen des Feminismus als synonym
mit revolutionärer, marxistischer Politik. Anders als der Untertitel
des Buches – Geschlecht und Klasse im Kapitalismus
suggeriert, stellt es keine theoretische Ausarbeitung des
Verhältnisses von kapitalistischer Ausbeutung zu systematischer
Unterdrückung der Frauen dar. Das Buch betont zwar immer wieder zu
Recht, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung nicht vom
Klassenkampf getrennt begriffen werden darf, dass die
ArbeiterInnenklasse das zentrale Subjekt im Kampf für Sozialismus
und die Überwindung aller Unterdrückungsformen darstellt. Es
verweist auch immer wieder berechtigter Weise darauf, dass das
Kapital von der Fesselung der proletarischen Frau an die Hausarbeit
unmittelbar ökonomisch profitiert und die Spaltung der Klasse seine
Herrschaft politisch festigt. Auf analytischer Ebene allerdings
bleibt die Darstellung im Wesentlichen bei diesen allgemeinen
Wahrheiten stehen, die sowohl der Marxismus wie auch Teile des
sozialistischen Feminismus anerkennen. Die spannende, für
MarxistInnen zu beantwortende Frage wäre allerdings, wie die private
Hausarbeit, und damit die spezifische Form der Frauenunterdrückung,
mit dem Kapitalverhältnis zusammenhängt, wie das
 Lohnarbeitsverhältnisses der Reproduktionsarbeit seinen
Stempel aufdrückt. Diese theoretischen Schwächen werden
insbesondere dann deutlich, wenn die Konzeptionen verschiedener
feministischer Strömungen betrachtet werden. Im Buch wird sich
ebenfalls mit der zweiten Welle des Feminismus und weiteren neueren
Strömungen beschäftigt. Diese werden auch stärker politisch
analysiert und eingeordnet. Hier können wir auf die politische
Position der Autorin selbst Rückschlüsse zu ziehen und die
Abgrenzung zum bürgerlichen Feminismus besser verstehen. Es werden
dabei speziell die Unterschiede zwischen Gleichheitsfeminismus, zu
denen D’Atri auch einige Strömungen des sozialistischen Feminismus
zählt, und des Differenzfeminismus herausgearbeitet.

Gleichheitsfeminismus und Differenzfeminismus

D’Atri beschreibt in diesem Kontext die feministische Bewegung
Ende der 1960er Jahre sehr unkritisch: „Die generelle
Perspektive der feministischen Bewegung der 70er Jahre ist
anti-institutionell. Deshalb ist sie nur im Rahmen der weltweiten
aufständischen Bewegungen zu verstehen […].“
  (S. 175)
Dies geht für sie – auch mit einem gewissen historischen Recht –
mit einer Radikalisierung des Feminismus einer. Der
Gleichheitsfeminismus betritt die Bühne. Dieser beschäftigt sich
mit Geschlecht als Konstrukt, worauf auch die Unterscheidung in sex
und gender, also zwischen biologischem und sozialem
Geschlecht, aufbaut. Diesbezüglich schreibt D’Atri:

„Der Gleichheitsfeminismus hat das Verdienst, Geschlecht als
soziale Kategorie zu begreifen […]. Er macht sichtbar, dass die
Unterdrückung der Frauen einen historischen Charakter hat und keine
„natürliche“ Konsequenz aus anatomischen Unterschieden ist. Der
Differenzfeminismus wiederum widersteht der Anpassung an ein System,
das auf der Unterordnung, Diskriminierung und Unterdrückung all
dessen basiert, was vom „universellen“ Modell abweicht, welches
unter patriarchaler Herrschaft geschaffen wurde.“
(S. 196)

Die Radikalität der zweiten Welle des Feminismus verortet die
Autorin also darin, dass sie an den Versprechen der bürgerlichen
Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – anknüpfe
und diese gegen Patriarchat und Kapitalismus wende. D’Atri entgeht
dabei zwar nicht, dass auch der bürgerliche und liberale Feminismus
genau daran ansetzen. Sie geht jedoch nicht auf die Grenzen der
Methode ein, die Kritik an Ausbeutung und Unterdrückung durch einen
Abgleich mit den uneingelösten Freiheitsversprechen zu begründen.
Es entgeht ihr damit, dass diese selbst zu einer reformerischen
Lösung drängt, wie sie in der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft
selbst noch in deren Idealen befangen bleibt, statt diese selbst als
Ideologie zu begreifen.

Innerhalb des Gleichheitsfeminismus unterscheidet sie drei Formen:
Den liberalen, den radikalen und den sozialistischen. Ersterer wolle
den Kapitalismus reformieren, um die Lage der Frauen zu verbessern.
Zweiterer betrachte das Patriarchat als die grundlegende
Gesellschaftsstruktur, die es abzuschaffen gelte. Der Zugang, den die
radikalen Feministen wählen, macht den Feminismus zu einer
politischen Theorie, die die Gesamtheit des politischen Systems
beschreiben soll. Hier werden die Frauen selbst als eigene Klasse
betrachtet. Die sozialistischen Feministen konzentrieren sich, so
D’Atri, währenddessen auf die Verbindung von marxistischer
Gesellschaftsanalyse mit Frauenunterdrückung.

„Er (der sozialistische Feminismus; d. Red.) setzt den
Schwerpunkt auf das Konzept des Patriarchats und auf die historische
Entwicklung der Art und Weise, wie Familienverhältnisse in den
verschiedenen Produktionsweisen organisiert sind. Die sozialistischen
Feministinnen verstehen die Ungleichheit als eine ganz und gar
gesellschaftliche Frage: Sie beschäftigen sich vor allem mit dem
Konzept der gesellschaftlichen Arbeitsteilung – eine Teilung, die
für sie die Ursache für die soziale Ungleichheit zwischen den
Geschlechtern ist. Sie definieren das Patriarchat als die Gesamtheit
der gesellschaftlichen Verhältnisse der menschlichen Reproduktion,
die von der männlichen Dominanz über Frauen und Kinder strukturiert
sind.“
(S. 180)

Für einige, so D’Atri weiter, stellt das Patriarchat den Fokus
und auch den Ausgangspunkt aller anderen Unterdrückung dar, der aus
historisch-materialistischer und dialektischer Perspektive
aufgearbeitet werden muss. Für andere besteht die Hauptaufgabe
darin, Frauenunterdrückung mit der Entstehung der
Klassengesellschaft zu begreifen und sie im Hinblick auf Produktion
und Reproduktion zu analysieren. Die Autorin belässt es bei dem
Verweis, dass sozialistische Feministen das Verhältnis von
Patriarchat und kapitalistischer Ausbeutung verschieden fassen. Dabei
liegt das Grundproblem des sozialistischen Feminismus gerade darin,
dass er eine methodisch-theoretische Versöhnung zwischen radikalem
Feminismus und Marxismus versucht, bei ihm Patriarchat und
Kapitalverhältnis als mehr oder weniger gut miteinander verbundene,
parallele, die gesellschaftliche Dynamik strukturierende Verhältnisse
dargestellt werden.

Für den Marxismus stellt allerdings das Kapitalverhältnis den
grundlegenden gesellschaftlichen Widerspruch dar, der die
spezifischen Formen der modernen Reproduktion und damit auch die
Frauenunterdrückung formt (2). Der sozialistische Feminismus
vertritt hingegen letztlich eine dualistische Auffassung. Diese muss
logisch und politisch-praktisch zu einem unterschiedlichen Begriff
des revolutionären Subjekts führen. Für den Marxismus ist dies die
ArbeiterInnenklasse, für den sozialistischen Feminismus gibt es
hingegen letztlich zwei Befreiungssubjekte, die Lohnabhängigen und
die Frauen. Unterschiedliche Strömungen innerhalb des
sozialistischen Feminismus legen ein stärkeres Augenmerk auf das
eine oder andere Subjekt. Tatsächlich ist dies im Endschluss
allerdings eine Negation Zetkins vollkommen korrekter Bemerkung, dass
es eine „Frauenfrage für die Frauen des Proletariats, des
Mittelbürgertums und der Intelligenz und der oberen Zehntausend


[gibt]

; je nach der Klassenlage dieser Schichten nimmt sie eine
andere Gestalt an.“ (Zetkin,
Nur mit der proletarischen Frau wird der Sozialismus siegen
)

Von dieser grundsätzlichen Problematik des sozialistischen
Feminismus findet sich im Buch kein Wort. D’Atri unterstellt
vielmehr, dass der sozialistische Feminismus eigentlich auf dem Boden
der revolutionären ArbeiterInnenpolitik stehen würde: „die
sozialistischen Feministinnen – strategisch und mit verschiedenen
Nuancen – [bestehen] auf der Notwendigkeit einer
antikapitalistischen Revolution.“
(S. 181) Wir möchten
keinesfalls in Frage stellen, dass einige sozialistische
FeministInnen durchaus subjektiv revolutionäre Ambitionen hegen.
Allerdings verwischen solche Formulierungen die eigentlich
fundamentalen Unterschiede zum Marxismus. Anstatt sozialistische
FeministInnen für den historisch-dialektischen Marxismus zu
gewinnen, werden letztlich gewichtige Positionen des letzteren
aufgegeben. Unterschiedliche Theorien, oft auch mit unterschiedlichen
praktischen Resultaten, erscheinen als reine Nuancen. Logischerweise
wird daher auch der Niedergang des Gleichheits- und die Krise des
sozialistischen Feminismus ohne Bezug auf deren eigene, innere
Problematik erklärt. Er erscheint einzig als Resultat einer
geschichtlichen Epochenwende:

„Während die bürgerliche Restauration voranschreitet, kann
weder die Integration in die kapitalistische Demokratie des
Gleichheitsfeminismus noch die widerspenstige Gegenkultur des
Differenzfeminismus verhindern, dass sich Gewalt und Unterdrückung
von Millionen Frauen auf der ganzen Welt fortwährend reproduzieren
[…].“
(S. 197)

Richtig ist sicherlich die kritische Haltung gegenüber dem
institutionalisierten Gleichheits- und zum Differenzfeminismus.
Stärker wird außerdem mit der Intersektionalität und
Identitätspolitik abgerechnet, obwohl diese nur am Rande erwähnt
werden. Die Kritik konzentriert sich darauf, dass eine
Individualisierung der Unterdrückung nicht der Weg sein kann, um sie
kollektiv zu überwinden. Es sei gefährlich, Ausbeutung auf eine
Stufe mit Unterdrückung zu setzen, damit also auch die Ursprünge
der Unterdrückung im Kapitalismus unscharf zu machen. Während dies
der richtige Ansatzpunkt ist, wundern wir uns, warum diese Erkenntnis
nicht auf die eigene Analyse der gesellschaftlichen Rolle von Frauen
konsequent angewandt wird. Die Auseinandersetzung mit postmodernen
Strömungen ist vor allem auf Judith Butler bezogen und kritisiert im
weiteren Verlauf vor allem deren individualistische und idealistische
Ansprüche, keine Theorie für die Massen schaffen zu können und zu
wollen, daher auch teilweise keinen Anspruch zu hegen, das
kapitalistische System zu überwinden. Neben dieser sehr berechtigten
Kritik an unterschiedlichen Strömungen des Feminismus stellt sich
für die LeserInnen ein bisschen die Frage, was denn nun die eigene
Perspektive der Autorin ist. Das ist zwar nicht unbedingt die
Fragestellung des Buches, wird aber auch im Manifest nicht
ausreichend beantwortet, das am Ende des Buches veröffentlicht ist.

Brot und Rosen als Manifest

Das Internationale Manifest von Brot und Rosen stammt aus
dem März 2017. Die Genossinnen dieser Organisation sind zugleich
Teil der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale.
Ähnlich wie das Buch beginnt das Manifest mit einem kurzen Abriss
von Frauenkämpfen, von einzelnen Biografien revolutionärer Frauen
und von Kämpfen, die langfristige Veränderungen und Verbesserungen
für die ArbeiterInnenbewegung gebracht haben. Es wird damit versucht
zu erklären, in welcher Tradition Brot und Rosen sich sieht. Mit
diesen historischen Verweisen wird im weiteren Verlauf auch die
Notwendigkeit einer Abgrenzung von neoliberalen Lösungsversuchen und
vom bürgerlichen Feminismus begründet, die sich auf individuelle
statt kollektive Lösungsversuche verlassen. Zeitgleich wird aber
auch betont, wie die Kämpfe der Vergangenheit zu einer kompletten
Veränderung der Situation von Frauen weltweit führten, speziell was
die Frage von demokratischen Rechten angeht. Dies wirft, laut dem
Manifest, auch ein besonders schlechtes Licht auf den Stalinismus,
der nicht nur eine reaktionäre Rolle in Frauenkämpfen spielte,
sondern damit auch die Abkehr vieler Frauen vom Sozialismus zu
verantworten hatte.

Die weitere Analyse leitet den Existenzgrund der Gruppierung aus
dem speziellen Faktor der Gewalterfahrung aufgrund sexistischer
Diskriminierung ab, was mit der Bewegung „Ni una menos“ auch ein
wichtiger Ausgangspunkt der Entstehung der Organisation ist. Hierbei
geht es in der Analyse speziell um die Ohnmacht, die Frauen fühlen
und ihre Rolle als Opfer, wogegen sich Brot und Rosen stark machen
möchte. Frauen sollen ihren Subjektstatus wiedererlangen. Zeitgleich
wird argumentiert, dass man sich nicht auf den bürgerlichen Staat
verlassen könnte, um dieses Problem zu lösen und stattdessen der
Hass gegen Unterdrückung und unfaire Behandlung auf den wahren
Übeltäter, den Staat, gerichtet werden muss.

Im nächsten Abschnitt werden die ersten Forderungen mit den
vorhergehenden Analysen verbunden. Es geht auf der einen Seite um den
Kampf um politische Freiheiten und demokratische Rechte. An dieser
Stelle wird zu Recht eine ultralinke Politik abgelehnt und
argumentiert, dass man durchaus auch im Parlament für Verbesserungen
und  Frauenrechte kämpfen kann. Andererseits wird für die
breiter gefächerten Forderungen wie „gegen Gewalt an Frauen“
auch konkret vorgeschlagen, Frauenkommissionen in Betrieben,
Wohnorten und Ähnlichem zu gründen, die sich selbst organisieren.
Was diese Kommissionen dann aber konkret tun müssen, um aktiv gegen
Gewalt an Frauen anzukämpfen, wird nicht weiter ausgeführt.
Schlussfolgerungen wie Selbstverteidigung und demokratische Kontrolle
an und über Arbeitsplätze/n werden nicht erwähnt. Weitere
Forderungen beziehen sich auf antiimperialistische Positionen und ein
„Ende von Rassismus“, Selbstbestimmungsrecht über den eigenen
Körper, Ausbau von Kinderbetreuung und Trennung von Staat und
Kirche. Auch arbeitsrechtliche Verbesserungen haben ihren Platz im
Manifest wie das Ende von prekärer Arbeit und einzelne
Übergangsforderungen wie die nach Aufteilung der Arbeit auf alle
Hände.

Der Ursprung der Frauenunterdrückung?

Es wird sich zwar immer wieder auf klassenkämpferische Politik
bezogen, aber zeitgleich eine Ebene etabliert, auf der sexistische
Unterdrückung zusätzlich, daher letztlich auch begriffslogisch
unabhängig vom Kapitalverhältnis existiert. Folglich werden also
die Fragen von Reproduktionsarbeit und der Vergesellschaftung dieser
sowie zur Einbeziehung der gesamten Klasse in gemeinsame politische
Kämpfe um diese herum nicht als zentraler programmatischer
Ausgangspunkt gesehen – weder im Buch noch im Manifest.

Dieser Mangel führt auch dazu, dass wichtige Teilforderungen nach
sozialer und politischer Gleichheit nicht mit der eigentlich
strategischen Frage verbunden werden, in welche Richtung denn die
geschlechtsspezifische Arbeitsteilung überwunden werden muss. Eine
Reihe von Minimalforderungen aufzustellen, ist zwar gut und richtig,
führt aber zu keiner nachhaltigen Überwindung des Systems und
entwickelt auch keinen Ansatz dazu, wie nach einer erfolgreichen
Revolution Frauenunterdrückung überwunden werden kann.

Der ganze Text wirkt eher wie eine Aneinanderreihung von
Ungerechtigkeiten als eine systematische Analyse, aus der sich
logisch der gemeinsame Kampf gegen Staat und Kapital ergibt. Am Ende
wird anerkannt, dass die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus
die Aufgabe der ArbeiterInnenklasse ist. Diese Schlussfolgerung wird
aber davor kaum argumentiert. Sätze wie: „Denn in der
unbezahlten Hausarbeit ruht ein Teil der Profite der
Kapitalist_Innen, die so den Arbeiter_Innen nicht die Tätigkeiten
entlohnen müssen, die für ihre eigene tägliche Reproduktion als
Arbeitskräfte […] nötig sind“
(S. 252) beinhalten auch ein
einseitiges Verständnis der Ökonomie der privaten Hausarbeit. Es
wird suggeriert, dass diese immer mit einer Senkung des Werts der
Ware Arbeitskraft einhergehen würde. Dies ist aber keineswegs immer
der Fall. Unter bestimmten Bedingungen können die
Akkumulationsbedürfnisse sogar eine begrenzte Sozialisierung der
Reproduktionsarbeit erfordern, die ihrerseits mit einer Senkung des
Werts der Ware Arbeitskraft einhergeht, wenn z. B. die Kosten
für Lebensmittel sinken und Teile der Reproduktionsarbeit staatlich
organisiert werden. Die Steigerung des Profits ist in diesem Fall
nicht auf  Vermehrung privater Hausarbeit zurückzuführen, ja
kann sogar mit deren Abnahme einhergehen.

Ein Übergangsprogramm zur Frauenbefreiung?

Schlussendlich betont das Manifest, dass Klassenunabhängigkeit
erreicht werden muss. Die logische Schlussfolgerung ist die Schaffung
einer unabhängigen Arbeiter_Innenbewegung, die am Aufbau einer
revolutionäre Massenpartei und Internationale beteiligt sein müsse.
Das Programm endet mit der Betonung auf einem klaren Bruch mit dem
Reformismus und einem Bekenntnis zur ArbeiterInnenbewegung. Damit
steht es weit links von den meisten feministischen Strömungen. Die
Frage ist freilich, ob das Manifest selbst eine konsequente
programmatische Antwort liefert. Brot und Rosen steht in einer
trotzkistischen Tradition und vielen Forderungen lässt sich das auch
anmerken. Es fehlt aber eine Systematik, die versucht, ein
schlüssiges Programm miteinander verbundener Übergangsforderungen
zu entwickeln. Letztlich bleibt die Verbindung zwischen den heutigen
Kämpfen und der Revolution hölzern. Vielmehr handelt es sich beim
Manifest um eine Reihe an Minimal- und Maximalforderungen, die ohne
einen roten Faden mit sporadischen Einsprengseln einzelner
Übergangsforderungen aufgezählt werden.

Am augenscheinlichsten ist dabei, dass die Frage nach
Arbeiter_Innenkontrolle kaum erwähnt wird. Die Forderung
aufzuwerfen, dass es „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ braucht
oder auch eine Aufteilung der Arbeit auf alle Hände notwendig ist,
ist sicher richtig, beantwortet aber nicht, wer das kontrolliert und
wie diese Forderungen umgesetzt werden sollen. Die häufiger
erwähnten Frauenkommissionen, die an Arbeitsplätzen, Schulen und
Wohnorten gegründet werden sollen, bleiben relativ zahnlos. Es wird
nicht erklärt, wie sie zu einem Interaktionspunkt einer militanten
und von den kapitalistischen Institutionen unabhängigen
Frauenbewegung werden können. Hierfür müssten sie sowohl Organe
der  Selbstverteidigung einerseits sowie andererseits der
Kontrolle am und über den Arbeitsplatz, Wohnort etc. sein. Es müsste
außerdem dargestellt werden, in welchem Verhältnis sie zu den
bestehenden Massenorganisationen stehen sollten. Es erscheint, als
würden Gewerkschaften, reformistische oder links-populistische
Parteien sich zu solchen Organen nicht verhalten oder diese gar
kontrollieren falls sie morgen geschaffen würden.

Inwiefern sollen und können diese Frauenkommissionen mit dem
vorherrschenden Bewusstsein brechen? Unter welchen Umständen können
sie Gegeninstitutionen des bürgerlichen Staates verkörpern? Vor
allem aber bleibt auch unklar, ob solche Kommission als Organe der
proletarischen Einheitsfront oder Organe einer Minderheit der Klasse
auftreten sollen.

Richtigerweise wird im Manifest die Notwendigkeit des Bruchs mit
dem bürgerlichen Staat, dessen Institutionen und den bürgerlichen
Parteien gefordert. Aber dies bleibt abstrakt ohne Bezugnahme auf die
sehr reale Bewegung von Arbeiter_Innen, die organisatorisch oft von
reformistischen Parteien und bürokratischen Gewerkschaften
kontrolliert, ideologisch von unterschiedlichen nicht-revolutionären
feministischen Ideologien beeinflusst werden. In solchen Situationen
sind Einheit in der Aktion und revolutionäre Kritik von oberster
Bedeutung. Eine prinzipienfeste Anwendung der Einheitsfronttaktik
kann sogar zeitweilige Bündnisse mit bürgerlichen oder liberalen
Feministinnen wie mit Vertreter_Innen des Differenz- oder
Queerfeminismus als auch dem Reformismus erlauben. Aber natürlich
tragen solche Formationen einen Klassencharakter. Eine Schwäche von
Brot und Rosen ist die fehlende theoretische Tiefe, welche wiederum
kein breites taktisches Reservoir bietet. Das beinhaltet auch die
Gefahr, dass praktischer Kontakt mit z. B. einer bürokratischen
Gewerkschaft, die Arbeiter_Innen organisiert, oder liberalen
Feminist_Innen, die eine kämpfende kleinbürgerliche Frauenbewegung
anführen, impressionistisch bleiben muss.

Dies wird umso deutlicher, wenn wir uns vor Augen halten, dass die
subjektiv revolutionären Linke – und dazu gehört auch Brot und
Rosen – eine kleine Minderheit innerhalb der Arbeiter_Innenklasse
und der Frauenbewegung darstellt. Erfolgreiche Kämpfe sind auch auf
dem Gebiet der Verteidigung der Rechte der Frauen nur möglich, wenn
es gelingt, die Anhänger_Innen von Massenbewegungen zu gewinnen,
wenn wir die Forderung nach Einheit im Kampf sowohl an deren
Mitglieder als auch an deren Führungen systematisch stellen. Diese
methodische Schwäche bezüglich der Einheitsfront betrifft sicher
nicht nur Brot und Rosen alleine, sondern bildet eines der
Kernprobleme der zentristischen Politik der Trotzkistischen Fraktion
für die Vierte Internationale.

So erscheint das Entstehen einer revolutionären Kraft, der Bruch
mit der Bourgeoisie vor allem als deklamatorische Übung. Natürlich
kann es einer solchen Politik manchmal gelingen, eine beträchtliche
Minderheit von Radikalen zu versammeln. Aber welche Richtung wird
diese Minderheit einschlagen, um die Tore der gesamten Klasse zu
stürmen? Wir fürchten, dass Brot und Rosen eine theoretische
Schwäche innewohnt, die die Gefahr einer scharfen Wendung zum
Opportunismus oder einer Fortsetzung des Sektierertums in sich birgt,
sobald eine solche Organisation auf die Probe gestellt wird, wenn sie
sich tatsächlich in der größeren Arena des Klassenkampfes
praktisch verhalten muss. Dies ist verbunden mit einer Konzeption,
die leicht als idealistischer Ansatz missverstanden werden kann, der
erklärt, dass die Erfahrung der Unterdrückung und des radikalen
Bruchs an sich das Potenzial für die revolutionäre Überwindung des
Kapitalismus bieten würde.

Revolution, aber wie?

Neben diesen programmatischen Unklarheiten ist auch die
Schwerpunktsetzung etwas undurchsichtig. Für ein Programm, das sich
selbst auf die Fahne schreibt, für eine Überwindung des
Kapitalismus zu stehen, wird über diese letztlich kaum konkret
geschrieben. Vielleicht sieht sich Brot und Rosen nicht in der
Verantwortung, als Vorfeldorganisation eine eigenständige
konsequente, revolutionäre Programmatik vorzuschlagen, sondern
überlässt das lieber der Trotzkistischen Fraktion.
Nichtsdestotrotz: Für eine Organisation, die sich in Worten so stark
auf die Revolutionärin Luxemburg bezieht, wäre  eine
Revolutionskonzeption durchaus angebracht. Das Manifest erklärt das
Ziel der Schaffung einer Internationalen, aber auch hier erscheint
dies vor allem als eine Willensbekundung.

Die Forderungen des Manifests spiegeln weitestgehend den Inhalt
des Buches wider. Während wir mit den meisten konkreten Forderungen
übereinstimmen, fallen diese jedoch recht knapp aus. Ein wichtiger
blinder Punkt ist der Kampf um LGBTQIA+-Rechte, die vor allem in den
letzten Jahren ein essenzieller Bezugspunkt für Frauenkämpfe
geworden sind. Es wird weder klar, warum diese Kämpfe erneut an
Bedeutung gewonnen haben, noch wie diese in der revolutionären
Konzeption von Brot und Rosen zusammengeführt werden können.

Wie bereits erwähnt, fehlt ein zentraler programmatischer Punkt:
die Vergesellschaftung der Hausarbeit und zentrale damit verbundene
Forderungen. Leider fehlt auch eine Positionierung zu den
Frauen*streiks, immerhin eine Massenbewegung unserer Zeit, die die
Trennung von reproduktiver und produktiver Arbeit in den Vordergrund
gestellt hat.

Sowohl Buch als auch Manifest übersehen oder bestreiten, dass der
sozialistische Feminismus eine dualistische Interpretation des
gesellschaftlichen Grundwiderspruchs darstellt. Zumindest implizit
akzeptieren Brot und Rosen die Grundannahme aller feministischen
Strömungen, dass es eine spezielle Frauenfrage gibt, die mit den
Werkzeugen des historisch-dialektischen Materialismus nicht adäquat
erklärt werden kann. Statt den Marxismus weiterzuentwickeln, auch
durch kritische Auseinandersetzung mit empirischen, historischen oder
theoretischen Konzepten des Feminismus, wird der Marxismus dem
sozialistischen Feminismus angepasst.

So erklärt sich die dargestellte Dichotomie zwischen Feminismus
und Arbeiter_Innenbewegung, der die Leser_Innen nur schwer entkommen
können. Dies mag auch mit der Schwäche des Buches und des Manifests
zusammenhängen, unterschiedliche analytische Ebenen zu etablieren:
Theoretische Abstraktionen, historische Realitäten und zukünftige
Interventionen erscheinen nebeneinander. Während die
Auseinandersetzung mit der Historiografie und konkrete persönliche
Beispiele das Verständnis und die empathische Beziehung zu einem
Thema stärken können, wird es aber problematisch, wenn sich eine
solche Methode im Manifest widerspiegelt.

Buch und Manifest schwanken stark zwischen Proklamationen,
Geschichtsschreibung, persönlichen Erzählungen, theoretischen
Zusammenfassungen, Forderungen und einer Kritik am liberalen
Feminismus. Ein konsistentes Programm und zentrale Taktiken unserer
Zeit werden jedoch kaum entwickelt. Der implizite Fokus, so scheint
es, ist, den Feminismus wieder (?) sozialistisch zu machen. Dies
scheint der Weg zu sein, auf dem eine proletarische, eine
revolutionäre Frauenbewegung aufgebaut werden kann.

Letztlich ist es daher nicht verwunderlich, dass sowohl eine
theoretische als auch eine programmatische Trennung zwischen dem
Marxismus und den verschiedenen Spielarten des sozialistischen
Feminismus fehlen, wo diese notwendig wären. Dies wird durch eine
mangelnde Konzeption für die Intervention der revolutionären
Organisationen gegenüber den Massenorganisationen ergänzt. Der
Aufbau der proletarischen Frauenbewegung erscheint daher, wenn
überhaupt, als ein ambivalenter und diskursiver Prozess des
subjektiven sozialistischen Flügels innerhalb des Feminismus, nicht
aber als eine theoretisch klärende Intervention des Marxismus
gegenüber Strömungen des Feminismus.

Damit soll der wichtige Beitrag in den täglichen Kämpfen der
Genossinnen von Brot und Rosen nicht unterschätzt werden. Ganz im
Gegenteil. Gerade aufgrund der Impulse, die die Genossinnen gegeben
haben, sind wir der Meinung, dass theoretische und programmatische
Schwächen diskutiert werden sollten, bevor der gewonnene Fortschritt
durch die bevorstehenden größeren praktischen Tests rückgängig
gemacht wird. In diesem Sinne hoffen wir, dass diese Kritik auch als
eine solidarische verstanden wird. Wir haben unsererseits ein großes
Interesse sowohl an einem gemeinsamen Klärungsprozess als auch an
einer gemeinsamen Praxis beim Aufbau der heutigen Bewegungen.

Endnoten

(1) Andrea D’Atri, Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im
Kapitalismus, Argument Verlag, Hamburg 2019; Zitate aus dieser
Ausgabe

(2) Ausführlicher dazu: Bewegung für eine
revolutionär-kommunistische Internationale, Keine Frauenbefreiung
ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung, in:
Revolutionärer Marxismus 42 und Stefan
Katzer, Kritik des Feminismus
, in: Fight! Revolutionärer
Frauenzeitung Nr. 6




Vergesellschaftung der Hausarbeit

Ella Mertens, REVOLUTION Österreich, Fight! Revolutionäre
Frauenzeitung Nr. 9

Obwohl Frauen rund 60 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Haus- und
Sorgearbeit – Kochen, Putzen, Kinder- und Krankenbetreuung –
aufbringen als Männer, werden weder diese Arbeit noch die sie
Ausübenden besonders geschätzt. Nicht nur nicht gewürdigt wird die
Hausarbeit, sie wird größtenteils nicht einmal als Arbeit
wahrgenommen. „Niemand bemerkt sie, es sei denn, sie wird nicht
gemacht.“ (Barbara Ehrenreich, 1975)

Dieses Ungleichgewicht in der geschlechtlichen Aufteilung der
Hausarbeit geht mit einem Ungleichgewicht in der Aufteilung der
bezahlten Arbeit einher: In Deutschland ist rund die Hälfte aller
Frauen teilzeitbeschäftigt – unter Müttern ist diese Zahl noch
höher. Gleichzeitig arbeiten 88,8 % der Männer ausschließlich
in Vollzeit – eventuelle Vaterschaft beeinflusst diese Zahl kaum.
Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bildet die Grundlage für
ein Machtgefälle innerhalb der bürgerlichen Familie: die
(Haus-)Frau ist finanziell von ihrem Mann abhängig, während
gleichzeitig ein Großteil der Reproduktionsarbeit von ihr verlangt
wird.

Die Pandemie hat diese Doppelbelastung nochmal massiv verstärkt.
Gleichzeitig gibt es einige Stimmen, die glauben, dass Homeoffice die
Situation für Frauen verbessert, da sich diese dann „flexibler“
aussuchen können, wann sie denn die unbezahlte Mehrarbeit erledigen
können. An dieser Stelle wollen wir aufzeigen, dass das nur eine
Scheinlösung ist und was wirklich hilft, das Problem zu lösen. Doch
bevor wir dazu kommen, wollen wir klären, warum es überhaupt diese
Form der unbezahlten Arbeit gibt.

Was ist Reproduktionsarbeit?

Der Begriff der Reproduktionsarbeit geht auf Karl Marx zurück und
bezeichnet die Wiederherstellung der Arbeitskraft (also die Fähigkeit
produktive Arbeit zu verrichten), sowohl im individuellen als auch im
gesellschaftlichen Bereich. Es zählen dazu alle Tätigkeiten, die
direkt zum Erhalt des menschlichen Lebens dienen (Waschen, Kochen,
Pflegen, Erziehen). Sie kann gegen Lohn oder unbezahlt stattfinden.
Die Reproduktionsarbeit stellt in der Regel keine produktive Arbeit
für das Kapital dar, weil sie meist keinen Mehrwert generiert
(obwohl es auch Unternehmen gibt, wo Reproduktionsarbeit einen Profit
für das Kapital schafft wie z. B. bei privaten
Krankenhauskonzernen). Produktiv bedeutet hier vor allem die Stellung
welche die Arbeit zum Kapital hat und keine moralische Wertung.

Auch wenn die Reproduktionsarbeit in bestimmten Entwicklungsphasen
(z. B. Expansion nach dem 2. Weltkrieg) selbst Tendenzen zur
Vergesellschaftung unterliegt, so verbleiben wesentliche Teile im
privaten Haushalt. Gerade in Krisenperioden wird versucht, diese
Arbeiten ins Private zurückzudrängen, wo sie nicht entlohnt werden
muss. Das trifft besonders die Tätigkeit, die wir tagtäglich zum
Überleben brauchen: jene unsichtbare, selbstverständliche
Angelegenheit der Hausarbeit, die mehrheitlich von Frauen verrichtet
wird.

Die für den Kapitalismus typische Struktur stellt dabei die
bürgerliche Kleinfamilie dar. Dabei erfüllt sie unterschiedliche
Aufgaben. So dient sie für die Familien der Arbeiter_Innenklasse
dazu, die Ware Arbeitskraft zu reproduzieren. Gleichzeitig wird
dadurch die geschlechtliche Arbeitsteilung zwischen Männern und
Frauen reproduziert und an die nächste Generation vermittelt.

Aber was ist mit Kindergärten, Krankenhäusern und Schulen? Ist
das nicht widersprüchlich, dass es die gibt, wenn versucht wird,
alle Kosten zu sparen? Diese Teile der Care-Arbeit, die
gesellschaftlich organisiert werden, resultieren aus Kämpfen der
Arbeiter_Innenbewegung, verstärkter Nachfrage nach (weiblicher)
Lohnarbeit sowie den gestiegenen Anforderungen an die Arbeitskraft.
Beispielsweise Schulbildung ist ein Bereich, der (zumindest
teilweise) staatlich organisiert wird, u. a. damit die einzelnen
Kapitalist_Innen nicht die Ausbildungskosten tragen müssen, was
einen Konkurrenznachteil gegenüber ihrer Konkurrenz mit sich bringen
würde, die ausgebildete Arbeitskräfte einstellt, aber nicht für
ihre Ausbildung bezahlt. Deswegen tritt an ihrer Stelle der Staat als
ideeller Gesamtkapitalist und trägt die Kosten, welche auch durch
Steuern von der Arbeiter_Innenklasse eingetrieben werden.

Insgesamt sind diese Care-Bereiche oftmals schlecht bezahlt und
unterliegen wie beispielsweise die Arbeit im Krankenhaus dem Druck,
profitabel zu wirtschaften. Generell werden Frauen nicht nur in
schlechter bezahlter Berufe gedrängt, sondern verdienen auch bei
gleicher Arbeit deutlich weniger, was wiederum die
geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Haushalt der
Arbeiter_Innenklasse insgesamt reproduziert.

Was tun?

Individuelle Lösungen wie Homeoffice, Putzhilfen, Absprachen mit
dem männlichen Partner oder Einbeziehung von Freund_Innen mögen
vielleicht unmittelbar helfen. Aber sie sind keine
gesamtgesellschaftliche Lösung, ja sie können, wenn wir z. B.
den überausgebeuteten Sektor weiblicher Haushaltshilfen betrachten,
sogar die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertiefen.

Oft sind sie nur für jene möglich, die sich des Problems
überhaupt bewusst sind und es sich „leisten“  können, weil
sie entweder Geld haben, sich von dieser Arbeit freizukaufen oder
über ein Umfeld verfügen, das genügend Zeit dafür bietet. 
Es gibt auch Feminist_Innen, die eine Lösung versucht haben zu
finden. Mit ihrem Werk „Die Macht der Frauen und der Umsturz der
Gesellschaft“ prägten  Mariarosa Dalla Costa und Selma James
die Debatte um die Hausarbeit entscheidend. Aus dieser Theorie
entstand erstmals 1974 in Italien die Forderung nach Lohn für
Hausarbeit. Diese ist allerdings ebenfalls problematisch. Anstatt die
Rolle der Hausfrau abzuschaffen und eine neue Verteilung der
reproduktiven Arbeit zu bieten, institutionalisiert sie sie und
festigt sie somit. Die geschlechtliche Arbeitsteilung  bleibt
erhalten und somit kämpft diese Forderung nicht für eine
konsequente, langfristig Verbesserung für Frauen. Was also tun? Wenn
wir die Doppelbelastung von Frauen beenden wollen, dann müssen wir
das Problem an der Wurzel packen: der bürgerlichen Familie.

Wie stellen wir uns das vor?

Das heißt nicht, dass wir als Kommunist_Innen die Familie
verbieten wollen. In der kapitalistischen Gesellschaft dient, sie wie
oben beschrieben, für die Arbeiter_Innenklasse als Ort, wo die
eigene (und zukünftige) Arbeitskraft reproduziert werden kann. Sie
ist trotz all ihrer Widersprüchlichkeit der Raum, in dem man sich
auch erholen kann. Statt also individuelle Absprachen zu treffen oder
zu hoffen, dass man irgendwann genug Geld verdient, sich
Haushaltshilfen zu leisten, macht es Sinn, gesamtgesellschaftliche
Lösungen zu finden – also die Reproduktionsarbeit auf alle Hände
aufzuteilen.

Dazu braucht man nicht an eine utopische Zukunft in mehreren
Jahrzehnten zu denken, um sich eine vergesellschaftete Hausarbeit
vorstellen zu können. Bereits 1930 gab es in Wien ein Wohnprojekt,
das – zumindest im kleinen Stil – diese Forderungen aufgriff: den
Karl-Marx-Hof. In dem Gemeindewohnbau gab es zusätzlich zu Wohnungen
mehrere gemeinschaftliche Einrichtungen wie kommunale Waschküchen,
Jugendheime und Kinderbetreuungsstellen, die von den Bewohner_Innen
gemeinsam organisiert und genutzt wurden. Für diese Einrichtungen
sprechen gleich mehrere Sachen: Erstens wird die Zeit, die wir
individuell in die Reproduktion stecken, gesenkt, die wir dann
woanders nutzen können. Zweitens beenden wir damit ebenso die
geschlechtliche Arbeitsteilung und damit die Grundlage für die
nervigen Geschlechterrollen, in die wir im Kapitalismus gedrängt
werden.

Wie ist das realisierbar?

Im Kapitalismus hat das Ganze Grenzen. Schließlich geht’s den
Kapitalist_Innen nicht darum, dass wir glücklich sind, sondern um
ihre Profite. Zwar gibt es Tendenzen, wie beispielsweise in
Kriegszeiten, in denen mehr Bereiche der Reproduktion kollektiviert
wurden. Dies diente aber nur kurzfristig dazu, mehr Frauen in die
Produktion zu ziehen. Nach dem Kriegsende wurde das Ganze wieder
geändert und die Frauen entlassen.

Damit es also nach unserem Interesse läuft, müssen wir die
Vergesellschaftung der Hausarbeit selber kontrollieren. Konkret heißt
das, dass wir alle Kürzungen im Bereich der öffentlichen
Reproduktionsarbeit und alle Privatisierungen bekämpfen müssen.
Stattdessen müsste ein massiver Ausbau von
Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen, des Gesundheitswesens und
der Freizeiteinrichtungen erkämpft werden.

Ebenso unterstützen wir im Hier und Jetzt den Kampf für einen
Mindestlohn, angepasst an die Inflation für alle Arbeiter_Innen. Für
alle, die keine Arbeit haben, fordern wir ein Mindesteinkommen in
derselben Höhe. Damit kann auch sichergestellt werden, dass niemand
aufgrund ökonomischer Abhängigkeit gezwungen ist, bei seiner
Familie zu leben, und so Gewalt, Druck oder Mehrarbeit ausgesetzt
sein muss.

Auch wenn im Kapitalismus einzelne Verbesserungen erkämpft werden
können, erfordert eine konsequente Vergesellschaftung der Hausarbeit
die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft. Warum? Eine
Vergesellschaftung der Hausarbeit würde auch bedeuten, dass die
Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft vergesellschaftet wird,
ihr Warencharakter und die Konkurrenz innerhalb der Klasse
eingeschränkt würden.

Daher ist die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit
untrennbar mit gesamtgesellschaftlicher Planung und Organisation
verbunden. Nur so kann die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in
Produktion und Reproduktion dauerhaft durchbrochen werden.
Pädagogische und andere versorgende Einrichtungen müssen
umstrukturiert und anders geplant werden, und die Neuaufteilung der
Hausarbeit muss durch Räte, die die Arbeiter_Innen selbst
repräsentieren und ihre Beschlüsse umsetzen, in Angriff genommen
und abgesichert werden.

Wir müssen also weiter kämpfen und das Ausbeutungssystem des
Kapitalismus revolutionär überwinden, um allen Menschen eine freie,
selbstbestimmte Zukunft gewährleisten zu können!

Quellen

https://arsfemina.de/rassismus-und-sexismus/vergesellschaftung-der-hausarbeit
https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-unbezahlte-arbeit-frauen-leisten-mehr-3675.htm
https://www.zeitschrift-luxemburg.de/wiedergelesen-die-frauen-und-der-umsturz-der-gesellschaft/
http://www.dasrotewien.at/seite/karl-marx-hof



Gewalt gegen Frauen bekämpfen – Ursachen abschaffen!

Veronika Schulz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9,
März 2021

Dass während der Corona-Pandemie häusliche und sexualisierte
Gewalt gegen Frauen drastisch angestiegen ist, wird mittlerweile
allgemein anerkannt. Eine Studie der UN-Frauenorganisation (Einheit
der Vereinten Nationen für Gleichstellung und Ermächtigung der
Frauen, kurz: UN Frauen; United Nations Entity for Gender Equality
and the Empowerment of Women, UN Women) verweist auf eine Zunahme der
Hilferufe bei nationalen Hotlines von 25–30 %.

Das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen und Mädchen war schon vor der
Pandemie erschreckend. Nach internationalen Studien wird jede dritte
Frau mindestens einmal geschlagen, vergewaltigt oder ist auf andere
Weise Gewalt ausgesetzt.

Naturgemäß sind diese Zahlen Indikatoren und Schätzungen, weil
ein großer Teil der erfahrenen Gewalt nie öffentlich gemacht wird.
Schon vor Corona fand Gewalt gegen Frauen und Mädchen vor allem im
engsten Umfeld, im Heim und der Familie statt, die oft als Orte der
Geborgenheit und des Schutzes idealisiert werden. Häusliche Gewalt
gegen Frauen bildete also schon in den letzten Jahren deren häufigste
Form – und das in vielen Ländern (darunter auch in Deutschland)
mit einer steigenden Tendenz.

Der weitere dramatische Anstieg im letzten Jahr wird oft mit der
räumlichen Nähe und Enge sowie größerem Stress durch Homeoffice
und soziale Isolation begründet. Offensichtlich hat die Pandemie den
Fokus auf diese privateste aller Sphären richten müssen, um zu
verdeutlichen, dass die Wohnung allzu oft keinen Schutzraum für
Frauen (und Kinder), sondern für den Täter darstellt, der
Gewaltverbrechen vor der Öffentlichkeit verbirgt.

Dennoch bleibt die Frage: Ist Gewalt gegen Frauen ein Phänomen,
das mit einer prekärer werdenden Situation zunimmt und somit
ökonomische, sicherlich auch psychologische Gründe hat? Oder ist
sie per se mit Männlichkeit verbunden und in deren Natur angelegt?
Wie hängt Gewalt gegen Frauen mit Kapitalismus, Ausbeutung und
systematischer Unterdrückung zusammen?

Diesen Fragen wollen wir uns im folgenden Artikel widmen, weil
davon auch abhängt, welche Politik, welches Programm zur Bekämpfung
dieser Gewalt und ihrer Ursachen notwendig ist.

Gewalttätigkeit des Mannes: genetisch bedingt?

Unterdrückung von und Gewalt gegen Frauen hat aus
radikal-feministischer Sicht ihre Grundlage oftmals in Faktoren wie
der Rolle der Frau bei der Reproduktion auf der einen und dem Wesen
des Mannes bzw. der Frau auf der anderen Seite. Essentialistische
Argumente, wonach Männer „aggressiver“ sind und „ihre Dominanz
ausnutzen“, blenden soziale Gegebenheiten zugunsten biologischer
nahezu vollständig aus. Einige gehen sogar so weit, Frauen und
Männer als eigenständige Klassen anzusehen, losgelöst von ihrer
Stellung im Produktionsprozess oder ihrem Zugang zu
Produktionsmitteln.

Die deterministische Perspektive, wonach Männer „von Natur aus“
zu Gewalt neigen und aggressives Handeln im männlichen Geschlecht
verwurzelt ist, lehnen wir als Marxist_Innen aus verschiedenen
Gründen ab. Wenn dem so wäre, hätten wir es mit biologischen
Konstanten zu tun. Unabhängig von allen äußeren Umständen und
somit sozialen Gegebenheiten würden Männer zu allen Zeiten der
Geschichte per Geburt den Hang zu Gewaltbereitschaft in sich tragen,
im vermeintlichen Gegensatz zur „weiblichen Natur“. Ein Ende des
Geschlechterkampfes wäre, folgt man diesem Denkschema in aller
Konsequenz, schwer möglich, da die gegebene „männliche Natur“
unveränderbar wäre.

Janet Sayer widerlegt solche und ähnliche Annahmen in ihrem Buch
„Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist Perspectives“.
Schon die simple Tatsache, dass durch die Mechanisierung körperliche
Kraft eine geringere Rolle im Produktionsprozess spielte,
verdeutlicht, dass „natürliche“ Kraftunterschiede spätestens
seit der Industrialisierung nicht mehr als (alleiniges/primäres)
Argument für die althergebrachte Arbeitsteilung, anhaltende
Unterdrückung und Gewaltausübung gegen Frauen herangezogen werden
können.

Rezepte des liberalen Feminismus

Am einfachsten wird die Unzulänglichkeit der Argumentation des
liberalen Feminismus offenbar: persönliche Freiheit und rechtliche
Gleichstellung würden gewissermaßen automatisch zur Emanzipation
der Frau führen. Abgesehen von bis heute geführten Debatten um
Frauenquoten, die sich oft nur auf eine Minderheit ohnehin
privilegierter Vorstandsposten beziehen, hat sich die liberale
Gleichheitsillusion nicht bestätigt. Dennoch lohnt ein Blick auf das
Argumentationsmuster liberaler Feminist_Innen.

Anders als der biologisch-deterministische Ansatz radikaler
Feminist_Innen vertritt der liberale Feminismus, wie Sayers
hervorbebt, vorrangig die Sichtweise, dass die geschlechtliche
Unterdrückung ein Hindernis für den freien Markt und dessen
Entfaltung darstellt. Dieser Aspekt kann nicht genug betont und
ebenso kritisiert werden: Es geht bei dieser Idee weder um die
Befreiung der Frau als Selbstzweck oder
humanistisch-emanzipatorischen Akt, sondern vor allem um das
„Funktionieren“ der Ökonomie und die rein formelle Gleichheit.
Liberaler Feminismus kann nicht erklären, weshalb trotz formell
verankerter Gleichberechtigung der Geschlechter in den Verfassungen
„liberaler“ Demokratien Ungleichheit weiterhin existiert, Gender
Pay Gap, Teilzeitfalle und „Gläserne Decke“ seien hier nur als
Schlagworte genannt.

Idealismus, Strukturalismus und historischer Materialismus

Die Mehrzahl feministischer Theorien ist entweder
strukturalistisch (Männer sind unabänderlich gewalttätig) oder
idealistisch (der Wille der Männer stiftet allein Geschichte), führt
somit zu einem „umgekehrten“ Geschlechterkampf. Darüber hinaus
sind diese Ansätze allesamt ungeschichtlich, d. h. sie lassen
außer Acht, dass Frauenunterdrückung und Gewalt gegen Frauen ein
Resultat menschlicher Geschichte, also menschengemacht sind.

Frauenunterdrückung ebenso wie jedwede soziale Unterdrückung
muss geschichtlich erklärt werden. Als Marxist_Innen orientieren wir
uns bei der Analyse an einer Geschichtsschreibung,  die
ausgehend vom grundlegenden Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur,
der Arbeit und der von ihr eingegangenen Gesellschaftsverhältnisse
die Gesamtheit aller Gesellschaftsbeziehungen untersucht
(Totalitätsverständnis). Diesem Verständnis gemäß ist die
Geschichte nicht nur die von Staaten und Politik, nicht nur die
„großer Männer“ und ihres Willens, ihrer
Charaktereigenschaften, sondern aller Gesellschaftsmitglieder, v. a.
der arbeitenden Klassen, der Frauen, Jugendlichen und Kinder.

Marxistische Erklärung

Wir als Marxist_Innen können Phänomene wie Gender Pay Gap
erklären, was liberaler und radikaler Feminismus nicht können: Sie
liegen darin begründet, dass Frauen und Männer dem
Produktionsprozess verschiedenartig ausgesetzt sind. Frauen sind
aufgrund Jahrtausende währender geschlechtlicher Arbeitsteilung seit
Beginn der Sesshaftigkeit, die die Voraussetzungen für den Übergang
zur Klassengesellschaft im Ackerbau schuf (neben der auch
nomadisierend betriebenen Viehzucht, die von Beginn an eine männliche
Domäne war), ans Haus gefesselt.

Damit konzentrieren sie sich auf den inneren Kern der Reproduktion
des unmittelbaren Lebens (Kindererziehung, Hausarbeit für den
privaten Bedarf der einzelnen Familien), während Männer den
„Gesellschaft stiftenden“ Teil der Arbeit (Hofarbeit als
wesentliche Quelle des Mehrprodukts, der Revenue für die jeweils
ausbeutenden Klassen, Handel, Handwerk – also gesellschaftliche
Tauschoperationen bedingende Tätigkeiten) überwiegend verrichten.
Innerhalb der Lohnarbeiter_Innenfamilie, in der die Urproduktion
eigener Lebensmittel mangels Besitz an Grund und Boden weitestgehend
weggefallen ist, fehlt sogar jeglicher Produktionsanteil der
proletarischen Hausfrau im eigenen Zuhause. Sie ist „nur“ noch
für die unentlohnte Subsistenzreproduktion und den darüber
vermittelten Anteil an der (Wieder-)Herstellung der Ware Arbeitskraft
verantwortlich.

Ihre Diskriminierung in einer Gesellschaft wie der bürgerlichen,
die nur die Produktion von (mehr) Geld und v. a. Kapital als
sozial wertvoll im wahrsten Sinne des Wortes anerkennt, ist also noch
umfassender als in vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Ihre
Arbeitskraft gilt nicht nur als quantitativ geringer, sondern
qualitativ: sie schöpft keinen Tauschwert. Bei der Proletarierin im
Produktionsprozess wirkt sich zusätzlich die geschichtlich ererbte
und ans Wertgesetz angepasste geschlechtliche Arbeitsteilung als
strukturell ungleicher Lohn aus.

Bürgerliche Demokratie schafft unterdrückerische
Spaltungslinien nicht ab

Auch in Gesellschaften mit bürgerlicher Demokratie und formaler
Gleichstellung der Geschlechter stößt diese Gleichheit in der
kapitalistischen Produktionsweise und der damit einhergehenden
Ausbeutung der Arbeiter_Innenklasse an ihre Grenzen.

Der Kapitalismus profitiert von einer zementierten Ungleichheit
der Geschlechter wie auch von der Konkurrenz entlang weiterer
Spaltungslinien: Jung gegen Alt, Stadt- gegen Landbevölkerung, Volk
und Nation gegen Migrant_Innen, um nur einige zu nennen. Der Fokus
auf immer nur einen dieser Teilaspekte bzw. eine Spaltungslinie
verschleiert die eigentlichen Klassenwidersprüche, deren Dynamiken
die jeweiligen Geschichtsepochen prägen. Schon bei oberflächlicher
Betrachtung zeigt sich, dass eben nicht alle, d. h. nicht alle
Frauen, gleichermaßen von Gewalt betroffen sind. Bestimmte Formen
von (sexualisierter) Gewalt treffen hauptsächlich oder besonders
stark Frauen aus der Arbeiter_Innenklasse oder der
Bauern-/Bäuerinnenschaft – und hier wiederum aus den unteren
Schichten: z. B. Frauenhandel, Zwangsprostitution, systematische
Gewalt von kriminellen Banden in Slums und Armenvierteln,
Vergewaltigungen und Gewalt als Mittel in (Bürger-)Kriegen. Hinzu
kommt, dass die ökonomische Abhängigkeit der Frauen aus der
Arbeiter_Innenklasse, aber auch aus Teilen des Kleinbürger_Innentums
von ihren Männern viel größer ist – nicht, weil die Männer
schlechter als jene der Bourgeoisie wären, sondern aufgrund ihrer
Klassenlage.

Es handelt sich also auch bei diesem Themenkomplex um eine
Klassenfrage, die nicht isoliert vom Gesamtsystem betrachtet werden
darf. Der Kapitalismus ist für uns Marxist_Innen nicht nur ein
Produktionssystem, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Seine Logik
wirkt in alle Lebensbereiche, prägt unser Denken und Handeln und
formt unsere Gesellschaft demnach auch abseits des Arbeitsplatzes
mehr, als uns oftmals bewusst ist.

Soziale Unterdrückung und Ideologie

Der Kampf gegen Gewalt muss sich gegen die Ursachen der
Unterdrückung wenden. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Rolle
von Ideologie, die den Fortbestand der kapitalistischen Gesamtordnung
sichert. Gemeinhin werden die gegebenen gesellschaftlichen
Verhältnisse – auch von den Ausgebeuteten – als legitim
erachtet. Opfer und Täter werden individualisiert, was dazu führt,
dass selbst bei konkreten Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen
kein organisiertes Handeln aus dem Kollektiv heraus erfolgt, sondern
Vereinzelung vorherrscht. Allein das erschwert schon das Erstatten
einer Anzeige enorm. So individualisiert der Untersuchungs- und
Rechtsprechungsprozess durch bürgerliche Polizei und Justiz die
Frauen und reproduziert strukturell die Ohnmachtserfahrung des
Opfers.

Aus marxistischer Sicht ist eine der Hauptursachen von
Frauenunterdrückung die dem Kapitalismus inhärente Trennung von
gesellschaftlicher Produktion und privater Haus- und Sorgearbeit.
Diese schafft neben schlechterer Position für Frauen auf dem
Arbeitsmarkt (s. o.) Abhängigkeiten – beispielsweise vom
Lebenspartner oder Ehemann.

Wesentlich zur Aufrechterhaltung der Unterdrückungsverhältnisse
tragen subtil wirkende gesellschaftliche Mechanismen bei wie z. B.
geschlechtsspezifische Sozialisierung und damit die Reproduktion
stereotyper Verhaltensweisen. Es sind eben keine natürlichen
Vorprägungen, die automatisch für geschlechtliche Unterdrückung
verantwortlich sind. Physische Gewalt ist dabei „nur“ ein Extrem,
die sichtbarste Spitze des Eisberges von (Frauen-)Unterdrückung.

Zunahme der Gewalt und Klassenkampf

Aber wie die Zahlen zeigen, handelt es sich um eine gigantische
„Spitze“. Die Zunahme von Gewalt gegen Frauen – auch im
öffentlichen Bereich – muss vor dem Hintergrund aktueller
gesellschaftlicher Entwicklungen verstanden werden, die die inneren
Spaltungen der Arbeiter_Innenklasse und die geschlechtsspezifische
Arbeitsteilung noch prekärer machen.

Die letzten Jahrzehnte waren hinsichtlich der Lage der Frauen im
Berufsleben durch eine widersprüchlichen Entwicklung geprägt.
Einerseits wurden öffentlich organisierte Teile der
Reproduktionsarbeit zurückgefahren oder privatisiert (und damit
verteuert), andererseits nahm aber die Zahl der erwerbstätigen
Frauen, wenn auch oft in Teilzeitstellen, zu – in manchen
halbkolonialen Ländern wie z. B. Indien sogar in einem sehr
großen Ausmaß. Frauen leisten also nicht nur den größten Teil der
privaten Hausarbeit, auch ihr Anteil an der gesamten Lohnarbeit
steigt.

Dies unterminiert die bestehende Arbeitsteilung. Vor dem
Hintergrund einer strukturellen Krise des Kapitalismus und erst recht
der Verheerung durch die Pandemie bringt diese Entwicklung die Kräfte
der Reaktion auf verschiedene Weise auf den Plan, die sie als
angebliche „Feminisierung“ und einen imaginierten „Genderwahn“
brandmarken. Den aggressiven Antifeminismus des Rechtspopulismus
können wir dabei nur verstehen, wenn wir die Klassenlage des
Kleinbürger_Innentums und der von Deklassierung bedrohten
Mittelschichten in der Krise begreifen. Die Ausweitung von Lohnarbeit
der Frauen wird – obwohl zumeist auf schlechter entlohnte, prekäre
Arbeitsverhältnisse konzentriert und in den „besseren“ Berufen
noch immer krass unterpräsentiert – zur angeblichen „Förderung“
oder gar Bevorzugung von Frauen (und rassistisch Unterdrückten)
verkehrt. Die reale und durchaus berechtigte Abstiegsangst angesichts
verschärfter Konkurrenz und Krise wird nicht den kapitalistischen
Verhältnissen, sondern „den Frauen“ oder „den Minderheiten“
angelastet. Der Feminismus erscheint als Gefahr, die die hart
arbeitenden Männer in den Ruin treiben würde. Da die Führungen der
Arbeiter_Innenklasse zumeist eine passive, wenn nicht gar
chauvinistische Haltung gegenüber lohnabhängigen Frauen einnehmen,
können rechtspopulistische oder gar (halb-)faschistische Kräfte
auch rückständige Arbeiter_Innen für ihre reaktionäre Demagogie
gewinnen.

Die aktuelle Zunahme von Gewalt gegen Frauen muss auch in diesem
Kontext begriffen werden. Die in den letzten Jahren entstehenden
Frauen*streiks und die Bewegung Ni una menos, die in Argentinien
ihren Ausgang nahm, weisen dem Kampf gegen Femizide sowie Gewalt
gegen Frauen und sexuell Unterdrückte zu Recht eine zentrale Stelle
zu.

Dieser inkludiert notwendigerweise den Schutz vor den Tätern.
Dabei dürfen sich die Frauen nicht auf den bürgerlichen Staat
verlassen, sondern es müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet
werden, die von der gesamten Arbeiter_Innenbewegung und der
Unterdrückten getragen werden.

Gegen häusliche Gewalt braucht es als direkte Maßnahme
öffentlich finanzierte, selbstverwaltete Frauenhäuser und
Beratungsangebote.

Eine weitere politische Forderung muss sich auf den
flächendeckenden Ausbau an Kinderbetreuungsangeboten beziehen, damit
Frauen eine Erwerbstätigkeit ermöglicht wird, deren Lohn zum Leben
reicht und nicht durch Teilzeit in Aufstockung und später
Altersarmut durch Mindestrente endet, was überproportional
Alleinerziehende trifft. Daran zeigt sich auch, mit welch
finanziellen Einbußen eine Trennung vom Partner oftmals verbunden
ist und warum viele Frauen trotz Gewalterfahrung in einer toxischen
Beziehung verharren.

In den Gewerkschaften, in den Betrieben wie auch in den
Wohnvierteln müssen Kampagnen und Beratungsstellen organisiert
werden, die sich gegen jede Form von männlichem Chauvinismus und
Gewalt gegen Frauen richten, die Opfer unterstützen und für eine
Verhaltens- und Bewusstseinsänderung der Männer wirken.

Damit eine solche Kampagne erfolgreich sein kann, darf sie nicht
nur als Frage individuellen Verhaltens begriffen werden, sondern auch
als eine des kollektiven Ringens gegen den Einfluss reaktionärer
Bewusstseins- und Verhaltensformen in der Arbeiter_Innenklasse.

Der Kampf gegen diese Gewalt muss daher verbunden werden mit dem
um gleiche Rechte, gleichen Lohn und Arbeitsbedingungen. Er muss
verbunden werden mit der Forderung nach Vergesellschaftung der
Reproduktionsarbeit, d. h. einer doppelten Überwindung der
Vereinzelung – sowohl der häuslichen Tätigkeiten als auch der
Gebundenheit der Frau an die (Klein-)Familie.

Zur Umsetzung dieser Forderungen müssen wir uns zusammenschließen
und eine proletarische Frauenbewegung aufbauen, die sich als Teil
einer neuen revolutionären Internationale sieht und für die
Befreiung aller Menschen eintritt.

Literaturquellen

Engels, Friedrich (1878): Gewaltstheorie, in: Herrn Eugen Dührings
Umwälzung der Wissenschaft. Online verfügbar unter
http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_136.htm

Sayers, Janet (1982): Biology and the Theories of contemporary
feminism, in: Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist
Perspectives. Tavistock Publications: New York, S. 173–203.

Sayers, Janet (1982): Physical strength, aggression, and male
dominance, in: Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist
Perspectives. Tavistock Publications: New York, S. 65–83.




Gewalt gegen Frauen in Bolsonaros Brasilien

Raquel Silva, Liga
Socialista/Brasilien
, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9,
März 2021

Der erste Jahrestag der Covid-19-Pandemie verging in Brasilien
ohne jegliche Feierlichkeiten. Tatsächlich gibt es in der aktuellen
Situation nichts zu feiern. Wie Studien ergeben, hat die soziale
Isolation, in der wir seit März 2020 leben, zu einem Anstieg der
Vorfälle an häuslicher Gewalt und Femiziden geführt. Im Oktober
2020 zeigten Erhebungen, dass in Brasilien zwischen März und August
497 Frauen getötet wurden. Das bedeutet, dass alle neun Stunden eine
Frau ermordet wurde. Die Bundesstaaten mit den höchsten Gewalt- und
Mordraten sind São Paulo, Minas Gerais und Bahia. Die von sieben
Journalistenteams durchgeführten Erhebungen weisen auf einen Anstieg
der Zahlen während der Pandemie hin. Sie verdeutlichen auch, dass
die niedrigen Zahlen gewaltbezogener Vorfälle in einigen
Bundesstaaten tatsächlich auf ihre Untererfassung zurückzuführen
sind. Die Daten zeigen, dass die Mehrheit der Opfer schwarze und arme
Frauen sind. In Minas Gerais zum Beispiel sind 61 % der Opfer
schwarze Frauen.

Indigene Frauen

Seit dem Putsch gegen Dilma Rousseff von der Partido dos
Trabalhadores (PT; Partei der Arbeiter_Innen) hat die Intensität der
Angriffe auf indigene Bevölkerungsgruppen stark zugenommen. Mit der
Zerstörung von Hilfs- und Unterstützungseinrichtungen für indigene
Völker wie Fundação Nacional do Índio (FUNAI; wörtlich:
Nationale Stiftung des Indios) sind die Dörfer nun noch
verwundbarer. Indigene Gemeinden werden auch durch illegalen Bergbau,
Brände und Agrobusiness angegriffen. Zudem hat die Gewalt gegen ihre
Vertreter_Innen zugenommen. Mehrere ihrer Sprecher_Innen wurden in
den letzten Jahren getötet.

Daten über die Situation indigener Frauen fehlen generell. Einige
Berichte deuten jedoch darauf hin, dass sich ihre Situation
verschlechtert hat, da häusliche Gewalt und Vergewaltigungen in den
Dörfern während der Pandemie zugenommen haben. Illegaler Bergbau
führt zu einer Situation der Verwundbarkeit und Gewalt in den
indigenen Gemeinden. Wie eine/r der Anführer_Innen berichtet, führt
die Schwierigkeit, sich selbst zu erhalten und ihre/seine Kinder zu
ernähren, oft dazu, dass indigene Frauen der gleichen oder sogar
noch härteren Gewalt ausgesetzt sind als nicht-indigene Frauen der
Arbeiter_Innenklasse. Sie alle leiden unter einem Mangel an
finanzieller und anderer Unabhängigkeit, was sie anfälliger für
Verbrechen wie häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung und in den
schlimmsten Fällen Femizid macht.

Zurücknahme von Errungenschaften

Wir sind uns bewusst, dass nicht erst die Regierung Bolsonaro
Gewalt gegen Frauen hervorgebracht hat. Der Kampf gegen Gewalt gegen
Frauen reicht Jahrzehnte zurück. Obwohl die Errungenschaften der
letzten 30 Jahre seit der Verfassung von 1988 unzureichend waren,
bedeuteten sie einen Schritt in die richtige Richtung, ebenso wie
alle anderen Fortschritte, die durch den Kampf sozialer Bewegungen
erreicht wurden.

Nach dem Putsch haben jedoch reaktionäre Sektoren, die mit der
Rechten und rechtsextremen evangelikalen Gruppen verbunden sind, die
die so genannte „Bibelbank“ (in den Parlamentskammern) bilden,
versucht, den Frauen ihre Rechte und Errungenschaften zu nehmen,
indem sie der großen Mehrheit der Frauen der Arbeiter_Innenklasse
ein reaktionäres und gewalttätiges Programm aufzwingen wollen. Dies
geht einher mit der kapitalistischen neoliberalen Agenda der Angriffe
auf die Rechte von Arbeiter_Innen. Zusätzlich zu Gesetzesänderungen,
die den Arbeiter_Innen verschiedene Rechte und Garantien entzogen
haben, ist der Angriff auf Frauen noch heftiger. Das liegt daran,
dass Frauen, ohnehin der Doppelbelastung von Lohn- und Hausarbeit
ausgesetzt, in der Arbeitswelt um ein Vielfaches mehr unter noch
niedrigeren Löhnen und verlängerten Arbeitszeiten leiden. Die
Rentenreform hat die Frauen der Arbeiter_Innenklasse noch stärker
getroffen, da sie nun mit einer Erhöhung der notwendigen
Lebensarbeitszeit konfrontiert sind, um länger in die Rentenkassen
einzuzahlen, wodurch der Rentenanspruch noch schwieriger zu erreichen
sein wird.

Die Regierung Bolsonaro hat bereits in ihrem ersten Amtsjahr 2019
die Mittel zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen drastisch gekürzt.
Sie schaffte das Sekretariat für Frauenpolitik ab und schuf
stattdessen das Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte
(das die LGBTQ+-Agenda ausschloss). Ein Ministerium, dessen
ideologische Agenda darin besteht, „Moral und gutes Benehmen“ zu
bewahren, hat sogar die begrenzten verfassungsmäßigen Rechte und
Garantien angegriffen wie z. B. den Zugang zur assistierten
Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung, Lebensgefahr für die
Mutter oder Anenzephalie (schwere Missbildung des embryonalen bzw.
fötalen Gehirns).

Der reaktionäre Charakter der gegenwärtigen Regierung und derer,
die sie unterstützen, wurde vor allem durch die skandalöse
Behandlung eines 10-jährigen vergewaltigten Kindes im Juli 2020
entlarvt. Das Recht auf Abtreibung dieses Vergewaltigungsopfers wurde
in Frage gestellt, sein Name veröffentlicht und es erlitt ein
schweres psychologisches Trauma, da Extremist_Innen versuchten, eine
Abtreibung zu verhindern. Ministerin Damares Alves vom Ministerium
für Frauen, Familien und Menschenrechte, eine evangelikale Pastorin,
erließ zwei Gesetze, die den Zugang zur assistierten Abtreibung
erschweren und peinliche und restriktive Maßnahmen für weibliche
Vergewaltigungsopfer schufen.

Ele Nao! Nicht er!

Unter den Bedingungen der Pandemie 2020 wurden viele der Angriffe
der Regierung Bolsonaro auf Frauen und die LGBTQ+-Community massiv
spürbar, da die Mobilisierung schwieriger wurde. Doch schon während
des Präsidentschaftswahlkampfes 2018 ist klar geworden, dass uns im
Falle eines Sieges von Bolsonaro schwere Rückschläge bevorstehen
würden. Seine Aussagen als Parlamentarier zeigten bereits, dass die
Angriffe auf Frauen, Schwule, Schwarze und Indigene hart ausfallen
würden.

Bolsonaro widmete seine Stimmabgabe für Dilmas Amtsenthebung dem
Oberst Brilhante Ustra, der während der Militärdiktatur für die
Folterung inhaftierter linker, militanter Frauen verantwortlich war.
Dilma war eine von ihnen gewesen. Bolsonaro griff auch eine
PT-Abgeordnete in der Abgeordnetenkammer an und rief: ,,Ich würde
sie nicht vergewaltigen, weil sie es nicht verdient hat.“ In einer
anderen Kampagne machte er deutlich, dass er die Quilombola-Schwarzen
angreifen würde, womit er sich auf die Dörfer der Schwarzen bezog,
die aus der Sklaverei geflohen sind, um ein selbstbestimmtes Leben zu
führen. Ihr Kampf wird im rassistischen Narrativ mit Chaos
gleichgesetzt. Er drohte auch damit, die Linke und die sozialen
Bewegungen anzugreifen.

Im Angesicht dieser Drohungen wurde die Bewegung „Ele Nao!“
(Nicht er!) in den sozialen Medien populär, die eine beeindruckende
Demonstration gegen die Wahl Bolsonaros organisieren konnte. In einem
erbitterten Kampf gewann Bolsonaro die Wahl. Es war eine Wahl, die
von einer Politik des Hasses gegen die PT, dem Verbot der Kandidatur
Lulas und vielen Enthaltungen geprägt war.

In der neuen Regierung gingen Sparmaßnahmen gegen die
Arbeiter_Innen Hand in Hand mit der Weiterführung der konservativen
Agenda der rechtsextremen Evangelikalen. Die Frauenbewegung hat in
verschiedenen Kollektiven, die sich im ganzen Land ausbreiten,
versucht, diese Angriffe zu stoppen. Aber die aktuelle Situation
führte dazu, dass die Pandemie eine entmutigende Wirkung auf die
Bewegungen ausübte. Die soziale Isolation hat viele
Straßenbewegungen gelähmt. Viele Kollektive agieren virtuell,
andere gehen in extremen Fällen auf die Straße (wie im Fall des
vergewaltigten Mädchens, als Rechtsextremist_Innen versuchten, eine
Abtreibung zu verhindern und das Frauenkollektiv das Recht des
Mädchens wahrte, indem es die Extremist_Innen von der Krankenhaustür
vertrieb).

Die Linke und soziale Bewegungen

Generell finden Aktionen gegen die Angriffe der Regierung
Bolsonaro seit letztem Jahr über soziale Medien statt. Die soziale
Isolation schafft eine sehr starke Barriere gegen Aktionen. Die Angst
vor Ansteckung, aber auch die, als „Corona-Leugner_In“ wie
Bolsonaro zu erscheinen, hindert Bewegungen daran, außerhalb des
Internets zu agieren.

Bei den landesweiten Kommunalwahlen 2020 (in Brasilien finden sie
alle am selben Tag statt), bei denen Tausende von Stadträt_Innen und
Bürgermeister_Innen gewählt wurden, konzentrierte sich die Linke
oft auf Kandidaturen, die die Unterdrückten repräsentieren –
Frauen, Schwarze und Trans-Personen.

Die Webseite der Deutschen Welle Brasilien bewertet die Vielfalt
in Bezug auf Geschlecht, sexuelle und ethnische Identität bei den
Wahlen 2020 als Fortschritt. Der Anstieg der Kandidaturen von
Unterdrückten war höher als 2016. Von den 503 Trans-Kandidat_Innen
wurden 82 gewählt. In Hauptstädten wie Belo Horizonte (Minas
Gerais) und Aracaju (Sergipe) erhielten Trans-Kandidat_Innen die
meisten Stimmen. Die Zahl der Frauen im Allgemeinen sowie die Zahl
der schwarzen Frauen, die in gesetzgebende Ämter gewählt wurden,
hat ebenfalls zugenommen. In 18 Städten gibt es 16 % weibliche
Abgeordnete. Parteien wie Partido Socialismo e Liberdade (PSOL;
Partei für Sozialismus und Freiheit) und PT stellten die größte
Anzahl von Kandidat_Innen aus den sozial unterdrückten Schichten
auf, aber auch die konservativen und liberalen Mainstream-Parteien
erhöhen die Anzahl der Kandidaturen von Frauen und rassistisch
Unterdrückten. Kommentator_Innen führen diese Veränderung auf eine
Reaktion gegen die Wahl Bolsonaros und seine rechtsextreme Plattform
zurück. Sie sehen darin einen Versuch der Reorganisation von Teilen
der Linken, indem Kandidat_Innen der sozialen Bewegungen aufgewertet
werden. Darüber hinaus wird vielen Kandidat_Innen zugesprochen, dass
sie über die LGBTQ+- und Frauenagenda hinausgehen und sich auf
Fragen des Wohnungsbaus, der Bildung und Gesundheit der
Arbeiter_Innen zubewegen.

Verstärkte Polarisierung

Analyst_Innen weisen aber auch darauf hin, dass rechtsextreme
Kandidaturen zugenommen haben und es in den gesetzgebenden Kammern zu
vielen Auseinandersetzungen kommen wird.

Die Situation hat sich während der Pandemie für verschiedene
Schichten verschlechtert. Die Versäumnisse, vor allem nach der Krise
in Manaus (Amazonas), als Patient_Innen wegen Sauerstoffmangels zu
sterben begannen, sowie das Ende der Katastrophenhilfe, ein Anstieg
der Arbeitslosigkeit (allein die Schließung von Ford Brasilien
führte zum Verlust von 55.000 direkten und indirekten
Arbeitsplätzen), Korruptionsskandale und die Veruntreuung von
Geldern aus der Covid-Hilfe, beginnen die Regierung Bolsonaro immer
mehr zu zermürben. Angriffe auf die Presse haben Unzufriedenheit
erzeugt, sogar bei Teilen, die die PT angegriffen und Bolsonaro zum
Wahlsieg verholfen haben.

Viele harte Kämpfe liegen noch vor uns. Ohne Impfstoffe werden
die Kämpfe jeden Tag härter, besonders jetzt, wo wir mit einer sehr
starken zweiten Welle der Pandemie und der neuen Variante des Virus
konfrontiert sind. Die PT und PSOL, linke Parteien mit
parlamentarischer Vertretung, agieren zaghaft im Aufruf zu Protesten
auf der Straße, während sie sich darauf konzentrieren,
Unterstützung für „moderate“ Parteien im Rennen um die
Präsidentschaft des Bundeskongresses zu sammeln (obwohl diese
Parteien Teil des Putsches gegen die Linke waren!).

Gleichzeitig können wir aber auch Anzeichen für ein mögliches
Wiederaufleben von Massenmobilisierungen sehen. Die 8M
(Weltfrauenstreik) und Kollektive, die Teil des „World March of
Women“ (Weltfrauenmarsch) sind, nehmen an den aktuellen
Mobilisierungen gegen Bolsonaro teil, die in den „Carreatas“
(Autokorsos) der Gewerkschaften ihren Mittelpunkt haben. Dies sind
wichtige Schritte für die Frauenbewegung, sich mit den
Mobilisierungen und Kämpfen der Arbeiter_Innen zu verbinden.

Nieder mit Bolsonaro!

In diesem Zusammenhang sehen wir die Notwendigkeit, den Kampf mit
dem Aufbau einer Einheitsfront gegen die Regierung Bolsonaro, den
rechten Flügel und die Angriffe der Bosse voranzutreiben. Die
Bewegung müsste für drastische Maßnahmen zur Bekämpfung der
Pandemie und gegen die Versuche der Bosse, die Arbeiter_Innen für
die Krise zahlen zu lassen, kämpfen. Aber eine solche Einheit wird
nur erreicht werden, wenn der Kampf für die Rechte der Frauen, gegen
Gewalt im Haus und in der Öffentlichkeit und gegen Femizide ein
zentraler Teil dieser Auseinandersetzung wird, der die Frauen der
Arbeiter_Innenklasse an die Spitze der Frauenbewegung sowie des
breiteren Kampfes der Arbeiter_Innenbewegung gegen den
brasilianischen Kapitalismus bringt.

Versuche, eine Einheitsfront aufzubauen, sind bereits im Gange mit
der Autokorso-Kampagne, die Impfstoffe für alle und die
Amtsenthebung Bolsonaros fordert. Aber Autokorsos allein können
diese Ziele nicht erreichen. Wir müssen mehr Autokorsos und
Straßendemonstrationen organisieren, mit dem klaren Ziel, einen
Generalstreik auszurufen, der ein Ende der Regierung Bolsonaro
fordert.

Trotz der Untätigkeit der Führung der linken Parteien darf die
Einheitsfront niemals vor echten militanten Aktionen gegen die
Regierung zurückschrecken und muss die bewusstesten und
kämpferischsten Schichten der sozial Unterdrückten zusammen mit den
militanten Teilen der Gewerkschaftsbasis und der Linken einbeziehen.

  • Für einen Generalstreik!
  • Nieder mit Bolsonaro!
  • Für eine Regierung der Arbeiter_Innen und Bauern/Bäuerinnen!



Cardi B & Co. – Sex Sells oder sexuelle Befreiung?

Von Sani Meier

Einer der erfolgreichsten Hip-Hop-Songs
im Jahre 2020 war auch einer der am meist diskutierten, sodass, als
letzten August “WAP” (“Wet Ass Pussy“) von Cardi B &
Megan Thee Stallion erschien, die Welt der Popkultur kurz stillstand.
Während der Song in sozialen Medien wie TikTok direkt viral ging und
sich wochenlang an der Spitze der internationalen Charts hielt, löste
die explizite, sexpositive (= Bejahung einvernehmlicher Sexualität
in all ihren Formen) Message innerhalb der Hiphop-Szene und der
US-amerikanischen Politik eine hitzige Debatte aus. Gestritten wird
darüber, ab wann offene, weibliche Sexualität vulgär und moralisch
verwerflich ist. Wir gehen in diesem Artikel der Frage nach, warum
diese Thematik überhaupt so kontrovers ist und welche Perspektiven
Künstlerinnen wie Cardi B & Co. für eine befreite Sexualität
von Frauen bieten.

„WAP“ ist sicherlich nicht der
erste Song seiner Art, sondern steht in einer Tradition sexpositiven
weiblichen Hiphops von Künstlerinnen wie u.a. Lil Kim, Missy
Elliott, Trina oder Nicky Minaj. Ihre Songs stehen dafür, dass
Frauen Sex haben können, wann und wie sie wollen und dabei ihr
eigenes Vergnügen im Zentrum steht. Eine Perspektive, die in unserer
patriarchalen Gesellschaft üblicherweise tabuisiert und beschämt
wird, vor allem wenn sie von Frauen selbst aufgeworfen und gelebt
wird. Das wird vor allem daran deutlich, dass männliche Künstler
völlig ungehemmt über ihre Sexualität reden können, selbst wenn
ihre Inhalte dabei Gewalt gegen Frauen verherrlichen. Deutschrapper
wie die „187 Straßenbande“ beispielsweise sprechen in ihren
Texten davon, Frauen mit K.O.-Tropfen zu betäuben, um sie später zu
vergewaltigen und werden dafür höchstens aus feministischen Kreisen
kritisiert. Währenddessen brechen sie Spotify-Rekorde und
profitieren somit materiell von der sexuellen Unterdrückung von
Frauen. Es macht also offensichtlich einen Unterschied, wer über
Sexualität sprechen darf- Warum ist das so?

Weibliche Sexualität wird in unserer
Gesellschaft stark reglementiert und unsichtbar gemacht. Um zu
verstehen, warum das so ist und wer davon profitiert, müssen wir zu
den Ursprüngen des Patriarchats zurückgehen. Kurz zusammengefasst
lässt sich historisch eine gesellschaftliche Ungleichbehandlung von
Frauen ab dem Zeitpunkt nachweisen, an dem Menschen anfingen,
sesshaft zu werden und Privateigentum zu besitzen. Ab diesem
Zeitpunkt spielte also auch die Vererbung genau dieses Eigentums eine
wichtige Rolle und dies geschah meist über die Erblinie des Vaters.
Um eine korrekte Vererbung zu gewährleisten, musste also eindeutig
nachweisbar sein, welche Kinder zu welchem Vater gehörten. Ohne
moderne Techniken der Vaterschaftstests oder ähnlichem bedeutete
dies die Einführung der Monogamie- für Frauen. Nur wenn es sicher
war, dass Frauen nur mit ihren Männern Sex hatten, war eine
Vaterschaft eindeutig nachweisbar. Was ihre Männer währenddessen
machten, wurde erst deutlich später relevant. Es gab also eine
materielle Notwendigkeit dafür, dass Frauen ihre Sexualität nicht
mehr frei auslebten, sondern einzig auf ihren Partner oder Ehemann
beschränkten. Dass ihre Bedürfnisse möglicherweise ganz andere
waren, musste negiert und unterdrückt werden. Die Auswirkungen
dessen spüren wir noch heute: Weibliche Körper werden von klein auf
durch Politik, Gesetze und kulturelle oder religiöse Vorstellungen
fremdbestimmt. Frauen wird anerzogen, sich für ihre Sexualität und
Körper zu schämen, ihre „Reize“ zu zügeln. Abweichendes
Verhalten wird moralisch abgewertet, was sich unter anderem daran
zeigt, dass ein Großteil aller sexistischen Beleidigungen für
Frauen auf ihre ungehemmte Sexualität abzielt. Diese Vorstellungen
sind oft so verinnerlicht, dass sich Frauen dahingehend selbst und
gegenseitig überwachen.

Aber nicht nur vor einigen
Jahrtausenden, sondern auch heute noch ist genau diese Kontrolle im
Interesse des kapitalistischen Systems: Indem aus Frauen sexuell
passive Wesen gemacht werden, lassen sie sich besser kontrollieren
und fügen sich einfacher in ihre zugeteilte gesellschaftliche
Funktion der Reproduktion ein. Im Rahmen der bürgerlichen
Kleinfamilie sollen sie im besten Fall möglichst viele Kinder
kriegen und Fürsorge für andere leisten. Für sexuelle
Selbstverwirklichung bleibt da kein Platz. Sex wird als Aktivität
erlebt, die den eigenen Körper zwar involviert, aber dem eigenen
Vergnügen wenig bis keinen Stellenwert einräumt. An der aktuellen
Kontroverse zeigen sich zusätzlich auch rassistische Aspekte, denn
vor allem schwarze Frauen sind stark eingeschränkt in den
Möglichkeiten ihrer sexuellen Selbstbestimmung. Besonders ihre
Darstellung in pornographischen Filmen hat einen Stereotyp der
„ungezügelten & wilden schwarzen Sexualität“ erschaffen,
den es zu „zähmen“ gelte.

Vor diesem Hintergrund ist es also
nicht mehr überraschend, dass Künstlerinnen wie Cardi B & Megan
Thee Stallion vor allem in Zeiten von Krise und sexistischen
Rollbacks Wut ernten, denn ihre Texte fordern die Kontrolle über
sexuelle Narrative und ihre Körper zurück. Dies ist ein großer
Fortschritt hinsichtlich der Frage, wer über weibliche Sexualität
sprechen und von ihr profitieren darf, allerdings muss es bis zu
einem bestimmten Punkt auch als das bewertet werden, was es ist: Ein
Produkt auf dem kapitalistischen Markt, welches möglichst viel
Profit einbringen muss. So ist es zwar sicherlich relevant, dass die
Künstlerinnen zwei Women of Colour sind, die ihre Sexualität und
Körper in ihrer Musik thematisieren, anstelle von männlichen
Künstlern, die diese Themen lediglich für ihren Profit nutzen,
indem Frauen als Accessoires in ihren Musikvideos auftauchen.
Allerdings stehen auch sie unter dem Druck, sich selbst möglichst
erfolgreich zu vermarkten, was in unserer Gesellschaft leider am
effektivsten über „sex sells“ funktioniert. Der Text ist auch
ziemlich auf sexuelle und Schönheitsklischees der bürgerlichen
Gesellschaft ausgelegt (Frauen mit enger Scheide, und Männer mit
großem Penis), und so dürfte ihr Erfolg auch zum Teil durch die
damit erreichte Provokation zu erklären sein. Wie bereits vorher
ausgeführt, liegt der Ursprung der sexuellen Unterdrückung der Frau
im Kapitalismus selbst und kann deshalb auch nur im Kampf gegen
diesen überwunden werden. Empowernde Texte können diesen vielleicht
unterstützen, indem sie das Bewusstsein der Konsument_Innen
beeinflussen, sie können ihn aber nicht ersetzen. Im Gegenteil kann
es bei sehr sexistisch eingestellten Menschen und insbesondere
mackerhaften Männern, auch zu einer vermehrten Ablehnung oder noch
vermehrten Objektivierung des weiblichen Körpers führen, während
es insbesondere Frauen natürlich auch ermutigen kann. Dennoch wird
es die sexistische Unterdrückung nicht beenden, weil es ihre Ursache
nicht angreift. Es braucht also eine revolutionäre Perspektive, die
die materielle Grundlage dieser Gesellschaft als Ganzes verändert
und nicht nur die Musik, die höchstens die Reproduktion dieser
verhindern kann.

Trotzdem lassen sich einige positive
Effekte festhalten: So ist das klare Aussprechen sexueller Wünsche
auch ein wichtiger Bestandteil von sexuellem Konsens und Texte, dies
das thematisieren, könnten dabei helfen, einen offenen Umgang damit
zu normalisieren. Wenn du noch mehr zum Thema Konsens wissen willst,
haben wir in dieser Zeitung auch einen ganzen Artikel dazu
geschrieben:„Let’s talk about Sex: über Konsens reden – Aber
wie?“
. Weiterhin brechen sie mit dem Anspruch, dass alle von
der Sexualität von Frauen profitieren können, außer sie selbst und
machen weibliche Perspektiven, Wünsche und Fantasien sichtbar. In
einer Gesellschaft, in der sich sexuelle Medien wie Musik und
Pornographie vor allem an ein männliches Publikum richten, bieten
sie Identifikationsfläche für viele junge Frauen und erschaffen
Narrative, in denen sie nicht nur passive Teilnehmerinnen sind,
sondern selbst aktiv ihre Lust in den Fokus stellen.