Sonntag 13. März: Gegen die Aufrüstung! Nein zum Krieg! Weder Putin noch NATO!

Klassenkämpferischer und antiimperialistischer Block zur Großkundgebung in Berlin für Frieden und Solidarität für die Menschen in der Ukraine

Sonntag, 13.3. 11.45 Uhr Alexanderplatz
Treffpunkt: vor dem Cubix-Kino
Beim Treffpunkt der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften

Seit zwei Wochen dauert der Angriff der russischen Streitkräfte auf ukrainische Städte und Dörfer an. Über 1,5 Millionen Menschen sind bereits geflohen. Putins reaktionärer Krieg muss sofort gestoppt und die Truppen zurückgezogen werden. Geflüchtete benötigen ein volles Einreise-, Aufenthalts- und Arbeitsrecht, ohne jegliche rassistische Segregation.

Der Krieg ist kein Krieg zwischen Diktatur und Demokratie, sondern ein Ringen um kapitalistische Einflusssphären. Die EU und die NATO sind kein Ausweg! Die Länder Osteuropas dienen auch für die deutsche Industrie als Niedriglohnländer und Absatzmärkte, während der Internationale Währungsfond die Ukraine zu Sparmaßnahmen und Privatisierungen zwingt. Es braucht die internationale Solidarität der Arbeiter:innenbewegung, um sich überall gegen die kriegerische Eskalation, Ausbeutung und Unterdrückung zu wehren.

Wir stellen uns deshalb nicht nur gegen Putins Einmarsch, sondern auch gegen jede Intervention der NATO. Wir lehnen entschieden den neuen Kurs der deutschen Außenpolitik ab, der eine massive Aufrüstung der Bundeswehr und stärkere deutsche Beteiligung an internationalen Konflikten und Kriegen bedeutet.

Wir begrüßen, dass die Gewerkschaften zu Mobilisierungen gegen den Krieg aufrufen – wir lehnen jedoch scharf ab, dass sie sich hinter die Sanktionen stellen, die letztlich die Lebensbedingungen der russischen Bevölkerung zerstören und zugleich die Gefahr der Eskalation des Kriegs erhöhen. Sanktionen sind kein friedliches Mittel, sondern nur eine andere Form der Kriegsführung!

Als Gewerkschafter:innen und Linke sind wir ebenso der Meinung, dass wir dem deutschen Militarismus nicht einmal den kleinen Finger geben dürfen: Es reicht nicht aus, wie es der DGB tut, die Aufrüstung „kritisch“ zu beurteilen – wir müssen sie auf das schärfste ablehnen! Nein zum 100 Milliarden Euro Sonderhaushalt, nein zur Erhöhung der Militärausgaben auf das NATO 2 Prozent Ziel!

Nichts Gutes kann für die Menschen in der Ukraine und für die Völker der Welt kommen, wenn der deutsche Imperialismus aufrüstet. Deshalb brauchen wir eine starke Kampagne gegen Krieg und Aufrüstung, die in den Betrieben, Schulen und Unis und auf der Straße eine klassenkämpferische und antiimperialistische Antwort auf die Politik der Regierung und der Bosse liefert.

  • Russische Truppen raus aus der Ukraine!
  • Schluss mit NATO-Kriegsvorbereitungen!
  • Keine Aufrüstung der Bundeswehr! Milliarden für die Pflege, Bildung und Klima statt für Kriege!
  • Keine Waffenlieferungen oder Sanktionen von EU und USA!
  • Für die Aufnahme ALLER Geflüchteten!
  • Solidarität mit den Protesten in Russland gegen den Krieg!

Bisherige Unterzeichner:innen
Gruppe ArbeiterInnenmacht
MLPD Berlin
linksjugend [’solid] Nord-Berlin
REVOLUTION – kommunistische Jugendorganisation
Revolutionäre Internationalistische Organisation / Klasse Gegen Klasse
Revolutionär Sozialistische Organisation
Rot Feministische Jugend Berlin
SDS FU Berlin
Young Struggle Berlin

Wenn ihr auch unterschreiben wollt, dann meldet euch bei Klasse Gegen Klasse:
https://www.klassegegenklasse.org/sonntag-13-maerz-gegen-die-aufruestung-nein-zum-krieg-weder-putin-noch-nato/




Solidarität mit den Arbeiter_Innen und Jugendlichen in Kasachstan!

Artikel von der Gruppe Arbeiter_innenmacht zu den Protesten in Kasachstan

Seit Jahresbeginn erschüttern Massenproteste das Land. Sie begannen am Sonntag, den 2. Januar, in Schangaösen inmitten der westlichen Region Mangghystau, das das Zentrum der für die Wirtschaft des Lands entscheidenden Öl- und Gasindustrie bildet. Getragen wurden die Aktionen und die Bewegung von den Beschäftigten (und zehntausenden Arbeitslosen) dieser Industrie.

Bereits am 3. Januar wurde die gesamte Region Mangghystau von einem Generalstreik erfasst, der auch auf die Nachbarregion Atyrau übergriff. Innerhalb weniger Stunden und Tage inspirierten und entfachten sie Massenproteste in anderen städtischen Zentren  wie Almaty (ehemals Werny, danach Alma-Ata), der größten Stadt des Landes, und selbst in der neuen Hauptstadt Nur-Sultan (vormals Astana). Diese nahmen die Form lokaler spontaner Aufstände an.

Unmittelbar entzündet hat sich die Massenbewegung, die sich, ähnlich wie die Arabischen Revolutionen, rasch zu einem beginnenden Volksaufstand entwickelten, an der Erhöhung der Gaspreise zum Jahreswechsel, da deren bis dahin geltende Deckelung aufgehoben wurde. Die Ausgaben für Gas, das von der Mehrheit der Bevölkerung für Autos, Heizung und Kochen verwendet wird, verdoppelten sich praktisch über Nacht.

Die Bewegung entwickelt sich innerhalb kurzer Zeit von Streiks und Protesten gegen die drastischen Erhöhungen der Preise zu einer gegen die autoritäre kapitalistische Regierung. Von Beginn an spielten die Lohnabhängigen der zentralen Industrien eine Schlüsselrolle im Kampf, letztlich das soziale und ökonomische Rückgrat der Bewegung. So berichtet die Sozialistische Bewegung Kasachstans nicht nur sehr detailliert über die Ausweitung der Streikbewegung in einer Erklärung zur Lage im Lande (http://socialismkz.info/?p=26802; englische Übersetzung auf: https://anticapitalistresistance.org/russian-hands-off-kazakhstan/), sondern auch über eine Massenversammlung der ArbeiterInnen, wo erstmals die Forderung nach dem Rücktritt des Präsidenten erhoben wurde:

„In Schangaösen selbst formulierten die ArbeiterInnen auf ihrer unbefristeten Kundgebung neue Forderungen – den Rücktritt des derzeitigen Präsidenten und aller Nasarbajew-Beamten, die Wiederherstellung der Verfassung von 1993 und der damit verbundenen Freiheit, Parteien und Gewerkschaften zu gründen, die Freilassung der politischen Gefangenen und die Beendigung der Unterdrückung. Der Rat der Aksakals wurde als informelles Machtorgan eingerichtet.“ (ebda.)

Zuckerbrot und Peitsche

Die Staatsführung unter dem seit zwei Jahren amtierenden Präsidenten Tokajew reagierte auf die Protestbewegung mit Zuckerbrot und Peitsche, mit Zugeständnissen und brutaler Repression.

Um die Bevölkerung zu beschwichtigen, wurden die Erhöhungen der Gaspreise schon zurückgenommen. Außerdem traten die Regierung und bald danach auch der Vorsitzende des Sicherheitsrates, der ehemalige Präsident Nursultan Nasarbajew zurück. Diese Veränderungen sind jedoch rein kosmetischer Art. Nachdem der Regierungschef Askar Mamin abgedankt hat, werden die Amtsgeschäfte von dessen ehemaligem Stellvertreter  Alichan Smailow weitergeführt. Nasarbajew, der das Land rund 30 Jahre autokratisch regiert hat und weiter Vorsitzender der regierenden Partei Nur Otan (Licht des Vaterlandes) ist, die über eine Dreiviertelmehrheit im Parlament verfügt (76 von 98 Sitzen), trat zwar vom Amt des Vorsitzenden des Sicherheitsrates, einer Art Nebenpräsident, zurück. Diese Funktion übernahm nun jedoch auch sein Nachfolger Tokajew.

Vor allem aber reagierte der Präsident auf die anhaltenden Massenproteste, auf die Besetzung öffentlicher Gebäude und die drohende Entwicklung eines Aufstands zum Sturz der herrschenden Elite auch mit massiver Repression.

Die Proteste in Städten wie Almaty, die von Beginn an viel mehr den Charakter von Emeuten hatten, wurden brutal unterdrückt. Mehrere Dutzend Menschen wurden getötet. Die Regierung selbst spricht davon, dass bis zum 6. Januar 26 „bewaffnete Kriminelle“ liquidiert worden seien. Mehr als 3 000 wurden festgenommen, Tausende verletzt.

Damit gibt das Regime nicht nur selbst zu, dass es über Leichen geht, um seine Macht, seine „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen. Es tut auch, was alle kapitalistischen Regierungen, alle repressiven Regime anstellen, wenn ihre Macht gefährdet ist: Diffamierung der Massenbewegung als „Kriminelle“, „TerroristInnen“ und legitimiert damit die Verhängung des Ausnahmestandes (vorerst bis 19. Januar), den Einsatz von Schusswaffen gegen Protestierende, die Abschaltung von Messengerdiensten wie Signal und WhatsApp und von Internetseiten. Die sog. Antiterroreinsätze sollen laut Präsident Tokajew bis zur „kompletten Auslöschung der Kämpfer“ dauern. Um diese Operation auch mit aller Brutalität durchziehen zu können, ruft er die große imperialistische Schutzmacht Russland zu Hilfe. Und die kommt prompt mit 3000 SoldatInnen, die im Rahmen der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS) helfen sollen, die „verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherzustellen. Sie sollen Regierungsgebäude und kritische Infrastruktur schützen und haben auch das Recht, ihre Schusswaffen einzusetzen.

Ursachen der politischen Krise

Angesichts dieser Zusammenballung der Kräfte des Regimes, seines Staatsapparates und seiner Verbündeten droht eine brutale Unterdrückung der Massenbewegung. Dies wäre nicht das erste Mal in der Geschichte des Landes. Über Jahrzehnte regierte Nasarbajew mit eiserner Hand. Die politische Macht wurde faktisch bei einer kleinen Oligarchie konzentriert, die das Wirtschaftsleben des Landes kontrolliert, darunter die reichen Öl- und Gasfelder, große strategische, wichtige weitere Rohstoffvorkommen wie auch den Finanzsektor.

Seine Macht stützt das Regime auf die Kontrolle des Staatsapparates, die Staatspartei Nur Otan, die faktische Ausschaltung unabhängiger Medien und jeder nennenswerten Opposition. Selbst die sog. Kommunistische Partei wurde 2015 gerichtlich verboten.

Neben der Repression stützte sich die kasachische Pseudodemokratie aber auch jahrelang auf ein Wachstum der Wirtschaft. Der Öl- und Gasexport bildet bis heute ihr Rückgrat. Hinzu gesellt sich der Bergbau. Kasachstan ist mittlerweile der größte Uranproduzent der Welt und verfügt über weitere wichtige Rohstoffvorkommen (Mangan, Eisen, Chrom und Kohle).

Über Jahre expandierte die kasachische Ökonomie und galt als wenn auch autoritäres Wirtschaftswunderland unter den ehemaligen Sowjetrepubliken, was nicht nur den Ausbau wirtschaftlicher, politischer und militärischer Beziehungen zu Russland und China zur Folge hatte, sondern auch große westliche InvestorInnen gerade in der Öl- und Gasindustrie anzog (z. B. Exxon, ENI). Letztlich stellt das Land jedoch einen wichtigen halbkolonialen Verbündeten Russlands dar, das keinesfalls einen Sturz dieses Regimes zulassen kann.

Doch die globale Finanzkrise traf das Land schon recht hart, weil Kasachstan auch ein im Vergleich zu anderen halbkolonialen Ländern gewichtiges Finanzzentrum in Almaty hervorbrachte. 2014/15 machten sich jedoch vor allem die sinkenden Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt bemerkbar. Die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts brachen ein. Das Land macht im Grunde eine Phase der wirtschaftlichen Stagnation seit Mitte der 2010er Jahre durch, während der Pandemie und Krise schrumpfte das BIP.

Wie in vielen Ländern, deren Staatseinnahmen wesentlich aus Rohstoffexporten und der Grundrente stammen, ging die Entwicklung des kasachischen Kapitalismus mit einer extremen Form der sozialen Ungleichheit einher. Die aus der ehemaligen Staatsbürokratie stammende, neue Schicht von KapitalistInnen monopolisierte faktisch den Reichtum des Landes. Jahrelang ging diese Bereicherung jedoch auch mit Investitionen in andere Sektoren (z. B. Ausbau der Infrastruktur, von Verkehrswegen) einher und einer Alimentierung der Massen, deren Lebenshaltungskosten z. B. über die Deckelung der Gaspreise relativ gering gehalten wurden.

Doch seit Jahren wird dies für den kasachischen Kapitalismus immer schwieriger aufrechtzuerhalten. Die Herrschenden wollen keinen Cent an die Armen abgeben. Im Gegenteil, sie drängen im Chor mit westlichen WirtschaftsexpertInnen darauf, deren „Privilegien“ (!) zu streichen und die Wirtschaft weiter zu liberalisieren. Dafür versprechen sie Investitionen in der Öl- und Gasindustrie oder im Bergbau, um veraltete Anlagen zu erneuern oder neue Abbaustätten zu erschließen.

Besonders drastisch stellt sich daher die soziale Ungleichheit im Land gerade dort dar, wo der Reichtum geschaffen, produziert wird. Während sich die ChefInnen der kasachischen Energie- und Bergbauunternehmen und die Staatsführung regelrechte Paläste bauen lassen, schuften die Beschäftigten auf den Öl- und Gasfeldern – und das oft unter lebensgefährlichen Bedingungen. Viele warten oft monatelang auf ihre Löhne, zehntausende ArbeiterInnen in der Öl- und Gasindustrie sind mittlerweile arbeitslos.

Dass die Bewegung in den Regionen Westkasachstans ihren Ausgang in Form einer gigantischen Streikwelle nahm, ist kein Zufall. Schon 2011 kam es zu einer riesigen Streikwelle der ÖlarbeiterInnen, die blutig niedergeschlagen wurde. Dabei kamen Menschenrechtsorganisationen zufolge 70 Streikende ums Leben, 500 wurden zum Teil schwer verletzt. Doch trotz dieser extremen Repression hielten sich unabhängige, illegale oder halblegale Strukturen der ArbeiterInnenklasse in diesen Regionen. Aufgrund drohender Entlassungen, der Nichtauszahlung von Löhnen nahmen auch in den letzten Monaten des Jahres 2021 Streiks und Arbeitskämpfe in der Öl- und Gasindustrie zu.

Daraus erklären sich auch die Unterschiede zwischen der Bewegung in den industriellen Zentren in Westkasachstan, die von den Lohnabhängigen getragen werden und die sich des Streiks – und damit kollektiven Aktionen der ArbeiterInnenklasse – als Hauptkampfmittel bedienen, und an anderen Orten. Von größter Bedeutung ist jedoch, dass deren Forderungen mittlerweile längst über betriebliche und gewerkschaftliche Fragen hinausgegangen sind und auch einen politischen Charakter – Rücktritt des Präsidenten, Freilassung der politischen Gefangenen – angenommen haben.

Zum Teil schwappen diese auch in andere Regionen über. In anderen städtischen Zentren entwickelte sich die Bewegung viel stärker als eine Art Straßenaufstand, als Aufruhr  verarmter Schichten, von Jugendlichen, aber auch Lohnabhängigen, die aus ländlichen Regionen in die Zentren migrierten. Diese Wut und Empörung nimmt gerade, weil diese Schichten weniger organisiert sind, auch einen politisch unklareren, diffusen Charakter an. Dennoch ist diese Bewegung auch ein genuiner Ausdruck der Massenempörung gegen ein despotisches, autoritäres kapitalistisches Regime. Dass solche Emeuten auch mit Formen des Vanadalismus einhergehen, dass sich auch deklassierte, unpolitische Elemente oder gar staatliche ProvokateurInnen „anschließen“, ist nichts Ungewöhnliches für solche scheinbar spontanen, in Wirklichkeit jedoch sich schon lange vorbereitenden Eruptionen des Volkszorns. Entscheidend ist hier, ob diese Wut zu einer organisierten Kraft werden kann – und das hängt vor allem davon ab, ob die ArbeiterInnenklasse, allen voran die Öl- und GasarbeiterInnen, dieser eine politische Führung geben können.

Blutige Abrechnung droht

Die wirklichen „Kriminellen“ sind jedoch nicht auf den Straßen von Nur-Sultan oder anderen städtischen Zentren zu finden, sondern in Palästen der Reichen und BürokratInnen, in den Generalstäben der Armee und Repressionskräften, die eine blutige Abrechnung mit den Aufständischen und vor allem auch mit den streikenden und kämpfenden ArbeiterInnen vorbereiten.

Leute wie Nasarbajew und Tokajew haben sich längst entschieden, wie sie die Krise zu lösen gedenken. Der Präsident spricht von 20.000 „Banditen“, die auszumerzen gelte, Armee und Polizei wurde der Schießbefehl erteilt. Die Herrschenden wollen die Bewegung in Blut ertränken – und zwar nicht nur den Aufruhr in den Städten, sondern auch, ja vor allem die Streiks und Strukturen der ArbeiterInnenklasse in den Industrieregionen. Schließlich wissen sie nur zu gut, dass sich hier eine soziale Kraft, eine Klassenbewegung formiert, die ihnen wirklich gefährlich werden kann.

Die ArbeiterInnen der großen Industrieregionen und andere Schichten der Lohnabhängigen (z. B. TransportarbeiterInnen) können das Land lahmlegen. Sie können so auch die Repressionsmaschinerie zum Stoppen bringen – und möglicherweise auch untere Teile des Repressionsapparates, einfache SoldatInnen zum Wechsel der Seiten verlassen oder paralysieren. Auch diese Gefahr drängt das Regime zum Handeln und erklärt auch, warum es russische Truppen angefordert hat, deren bloße Anwesenheit auch die Disziplin potentiell „unsicherer“ kasachischer Repressionskräfte, von PolizistInnen oder SoldatInnen, sicherstellen soll.

Daher werden die nächsten Tage auch für die Bewegung von größter Bedeutung sein. Um die Repressionsmaschinerie zu stoppen, braucht es einen landesweiten Generalstreik. Dazu müssen wie in den Regionen der Öl- und Gasindustrie Vollversammlungen der Beschäftigten, aber auch in den Wohnvierteln organisiert und ArbeiterInnenkomitees gewählt werden, die den Kampf organisieren und zu einem Aktionsrat auf kommunaler, regionaler und landesweiter Ebene verbunden werden.

Angesichts der Repression müssen sie Selbstverteidigungsstrukturen bilden, die diesen Räten untergeordnet und in der Lage sind, die bisher unorganisierten Emeuten in Städten wie Nur-Sultan durch organisierte, in den Betrieben und Wohnvierteln verankerte Strukturen zu lenken.

Zugleich braucht es unter den einfachen SoldatInnen, den unteren Rängen der Polizei eine Agitation, sich dem Einsatz gegen die Bevölkerung zu verweigern, eigene Ausschüsse zu wählen und dem mörderischen Regime die Gefolgschaft aufzukünden. Die kasachischen und russischen Repressionskräfte müssen aus den Städten und ArbeiterInnenbezirken zurückgezogen werden. Die OVKS-Truppen sollen das Land verlassen, die Gefangenen der letzten Tage müssen auf freien Fuß gesetzt werden.

Ein solcher Generalstreik und eine Bewegung, die ihn stützt, würde zugleich unwillkürlich die Machtfrage in Kasachstan aufwerfen.

Das bedeutet auch, dass die Streik- und Massenbewegung und deren Koordinierungsorgane selbst zu einem alternativen Machtzentrum werden müssen, das das oligarchische Regime stürzen und durch eine ArbeiterInnenregierung ersetzen kann – eine Regierung, die nicht nur die despotische Pseudodemokratie abschafft, sondern auch die kapitalistische Klasse enteignet, in deren Interesse dieses Regime regiert. Dazu bedarf es der Enteignung der großen Industrie, der Öl- und Gasfelder, der Bergwerke, der Finanzinstitutionen unter ArbeiterInnenkontrolle und der Errichtung eines demokratischen Notplans zur Reorganisation der Wirtschaft und zur Sicherung der Grundbedürfnisse der Massen.

Nein zu jeder imperialistischen Einmischung! Internationale Solidarität jetzt!

Die Massenbewegung rückte Kasachstan auch ins Zentrum einer Weltöffentlichkeit, die die Verbrechen des Regimes Nasarbajew und seines Nachfolgers Tokajew über Jahrzehnte faktisch totgeschwiegen hatte. Was bedeutet schon die Unterdrückung und Ermordung von Streikenden, wenn dafür Profite reichlich in die Taschen, kasachischer, russischer, chinesischer, aber auch US-amerikanischer, italienischer, deutscher und britischer Konzerne fließen?

Das kasachische Regime mag demokratische Rechte verletzt, JournalistInnen und die Opposition unterdrückt haben – das wichtigste „Menschen“recht, das auf freien Handel und Wirtschafts„reformen“ brachte das Regime sehr zum Wohlgefallen aller ausländischen Mächte voran.

Natürlich war und ist Kasachstan vor allem eine Halbkolonie Russlands – zumal eine, die über Jahrzehnte nicht nur politisch eng verbunden war, sondern von deren Markt und Ressourcen der wirtschaftlich schwache russische Imperialismus sogar ökonomisch profitieren konnte. Hinzu kommen die Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und der OVKS und die Bedeutung Baikonurs (in Südkasachstan) für die russische Raumfahrt. Darüber hinaus macht die geostrategische Lage des Landes es zu einem wichtigen Schild Russlands vor einer weiteren Destabilisierung in Zentralasien. Kein Wunder also, dass dieses voll in den Chor der „Terrorbekämpfung“ einstimmt und seinem Verbündeten beispringt.

Ironischerweise verfolgten und verfolgen aber nicht nur China, sondern auch die meisten westlichen imperialistischen Länder ein Interesse an der Stabilität Kasachstans – sei es zur Sicherung ihrer ökonomischen Interessen, ihrer Investitionen, aber auch zur Stabilisierung des Landes gegen „islamistischen Terror“. Der ehemalige britischer Regierungschef Blair fungierte gar über Jahre als Berater Nasarbajews im Umgang mit westlichen Medien, insbesondere für den Fall von Aufstandsbekämpfung. Außerdem kooperierte Kasachstan jahrelang bei der US/NATO-Besatzung Afghanistans.

Daher fallen die westlichen Stellungnahmen zur Lage in Kasachstan bisher vergleichsweise verhalten aus. So erklärte der US-Außenminister Antony Blinken in einem Gespräch mit dem kasachischen Amtskollegen Mukhtar Tleuberdi „die volle Unterstützung der Vereinigten Staaten für die verfassungsmäßigen Institutionen Kasachstans und die Medienfreiheit“. Aus der EU kommt wie oft der unverbindliche Aufruf zur „Mäßigung“ auf allen Seiten. Klarer ist hier schon der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft und dessen Vorsitzender Oliver Hermes, der gegenüber der Presse erklärte: „Eine schnelle Beruhigung der Lage ist unabdingbar, um weiteres Blutvergießen, eine Destabilisierung des Landes und damit auch eine Beschädigung des Wirtschafts- und Investitionsstandorts Kasachstan abzuwenden.“ (https://www.fr.de/politik/kasachstan-unruhen-tote-demonstration-gas-preise-proteste-flughafen-putin-russland-news-aktuell-zr-91219297.html) Über deutsche Waffenexporte im Wert von rund 60 Millionen, die im letzten Jahrzehnt an das Regime geliefert wurden und jetzt auch gegen die Massen eingesetzt werden, hüllen sich die Regierung und UnternehmerInnen in Schweigen.

Die relative Zurückhaltung des Westens lässt sich freilich nicht nur ökonomisch erklären. Sicherlich spielt dabei auch ein geostrategisches Tauschkalkül eine Rolle. Russland kann in Kasachstan die blutige Niederschlagung der Aufständischen unterstützen (und damit auch westliche InvestorInnen absichern). Zugleich verlangt man dafür ein „Entgegenkommen“ in der Ukraine oder wenigstens Stillschweigen zu deren weiterer Aufrüstung und Zurückhaltung bei einem möglichen NATO-unterstützten Angriffe der Ukraine auf die Donbass-Republiken.

Umso dringender ist es, dass die internationale ArbeiterInnenklasse und die Linke ihre Solidarität mit der Massenbewegung in Kasachstan auf die Straße tragen.

  • Nein zur Niederschlagung gegen die Massenbewegung! Sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes und aller Einschränkungen demokratischer Rechte! Freilassung aller politischen Gefangenen!
  • Nein zur russischen Intervention! Sofortiger Abzug aller OVKS-Truppen! Stopp aller Waffenliegerungen!
  • Internationale Solidarität mit der ArbeiterInnenklasse und Protestbewegung!



Die Weltlage und Aufgaben der Arbeiter_Innenklasse

Jaqueline Katherina Singh

In den vergangenen zwei Jahren sah sich die Welt mit einer Reihe von miteinander verknüpften Krisen konfrontiert. An erster Stelle steht eine weltweite Gesundheitskrise. Covid-19 hat die Regierungen und Gesundheitssysteme überrascht, obwohl Epidemiolog_Innen und die WHO vor einer wahrscheinlichen zweiten SARS-Epidemie gewarnt und die Gewerkschaften des Gesundheitspersonals darauf hingewiesen hatten, dass ihre Krankenhäuser und Kliniken für eine solche nicht gerüstet sind. Covid-19 hat weltweit mehr als fünf Millionen Todesopfer gefordert, wütet mit seinen Delta- und Omikron-Varianten immer noch – und bricht in Ländern wieder aus, die überzeugt waren, die Krankheit unter Kontrolle zu haben und ihre Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.

Die Schlagzeilen der letzten beiden Jahre beherrschten aber auch die sich häufenden extremen Wetterereignisse – Überschwemmungen, Waldbrände, Dürren -, die rund um den Globus wüten und die Aussicht auf einen katastrophalen Klimawandel unbestreitbar machen. Im krassen Gegensatz zu den Gefahren endete der Weltklimagipfel einmal mehr im – Nichts. Die wichtigsten Staaten blockierten jede feste Verpflichtung zur Reduzierung von CO2-Emissionen. Wieder einmal wurden die halbkolonialen Länder, vor allem in den bereits stark geschädigten Tropenzonen, um die Milliarden betrogen, die sie zur Bekämpfung der Auswirkungen benötigen. Stattdessen wurden ihnen weitere Kredite angeboten.

Im Jahr 2020 verursachte Covid den stärksten Einbruch der Weltwirtschaft seit den 1930er Jahren. Auch wenn die globale Ökonomie schon davor im Niedergang war, so synchronisiert die Pandemie die Rezession und diese prägt auch den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung und die Maßnahmen der Regierungen. Die Lockdowns zwangen die großen imperialistischen Staaten, mit den neoliberalen Dogmen über die Staatsausgaben zu brechen. Die Zinssätze, die jahrelang bei null lagen, um die zur Stagnation neigenden Volkswirtschaften anzukurbeln, erlaubten es den Staaten nun, Billionen zu leihen und in den imperialistischen Kernländern die Auswirkungen der Krise auf die Massen abzumildern. Die Unterbrechung der Versorgungsketten, der Weltmärkte und die wiederholten Aussperrungen haben enorme Verluste verursacht, auch wenn deren volles Ausmaß erst nach Beendigung der Pandemie deutlich werden wird. Auch wenn in einigen Ländern ein kurzfristiger Konsumboom möglich sein mag, wenn sich die Wirtschaften etwas erholen, so wird dieser eher einem Strohfeuer denn einer ernsten Erholung gleichkommen.

Ökonomische Auswirkungen

Mit Beginn der Pandemie stand ab Ende Februar 2020 die Wirtschaft still und internationale Produktionsketten lagen brach. Viele bürgerliche Forschungsinstitute und Konjunkturprognosen übten sich trotzdem in den letzten beiden Jahren in Sachen Optimismus. In Vorhersagen wurde  festgehalten, dass die Erholung schnell erfolgen und munter weitergehen wird – schließlich sei die Pandemie nur ein externer Faktor.

Die ganze Realität bildet das allerdings nicht ab. Nach dem Einbruch der weltweiten Wirtschaftsleistung 2020 um 3,2 % folgte in diesem Jahr zwar eine Erholung. In seinem vierteljährlichen Bericht ging der IWF im April 2021 noch von einer Steigerung der globalen Wirtschaftsleistung von 6,4 % aus – und musste diese Prognose nur um 0,4 % nach unten korrigieren. Begründet wurden die optimistischen Prognosen mit dem Beginn der Impfungen, der damit verbundenen Erwartung eines Endes der Pandemie sowie den Konjunkturpaketen.

So ist es auch kein Wunder, dass vor allem die imperialistischen Zentren Erholung verzeichnen, während die Länder, die sich weder Impfstoff noch Konjunkturpakete leisten können, zurückbleiben. Genauer betrachtet ist das Wachstum in den imperialistischen Zentren jedoch langsamer als erhofft und begleitet von Inflation. Die Gründe dafür sind vielfältig: Der Stillstand der Handels- und Produktionsketten hat einen länger anhaltenden Einfluss, wie man beispielsweise an der Halbleiterproduktion betrachten kann. Hinzu kommen gestiegene Energie- und Rohstoffpreise. So meldete das deutsche statistische Bundesamt, dass die Erzeugerpreise im September 2021 um 14,2 % im Vergleich zum Vorjahr nach oben gingen – die stärkste Steigerung seit der Ölkrise 1974. Die Energiekosten sind laut Bundesamt zusätzlich um 20,4 % teurer geworden. Auch Arbeitskräftemangel in bestimmten Sektoren sowie Inflation verlangsamen das Wachstum. Zentral sind aber niedrige Investitionsraten, die zwar durch die massiven Konjunkturpakete angekurbelt werden, aber vor allem im privaten Sektor gering ausfallen.

Ebenso darf bei der Betrachtung nicht vergessen werden, dass die Folgen der Finanzkrise 2007/08 noch längst nicht ausgelöffelt sind. Vielmehr hat sich die internationale Schuldenlast massiv erhöht und auch die Niedrigzinspolitik lief die letzte Dekade munter weiter.

Letztlich erfordern kapitalistische Krisen eine Vernichtung überschüssigen Kapitals. In der Rezession 2009 fand diese jedoch nicht annähernd in dem Maße statt, das notwendig gewesen wäre, um einen neuen Aufschwung der Weltökonomie zu ermöglichen. Staatdessen war das letzte Jahrzehnt weitgehend eines der Stagnation.

Die Politik des billigen Geldes in den imperialistischen Zentren verhinderte dabei nicht nur die Vernichtung überschüssigen Kapitals, sondern führte auch zu einem massiven Anstieg der öffentlichen wie privaten Schuldenlast; neue spekulative Blasen bildeten sich. Die Coronamaßnahmen vieler imperialistischer Regierungen haben diese Lage noch einmal befeuert. So wurden zwar befürchtete große Pleiten vorerst verhindert – gleichzeitig gilt ein bedeutender Teil der Unternehmen mittlerweile als „Zombiefirmen“, also Betriebe, die selbst wenn sie Gewinn machen, ihre Schulden nicht mehr decken können und eigentlich nur künstlich am Leben erhalten werden.

Hinzu kommen weitere Faktoren, die deutlich machen, dass in den kommenden Jahren mit keiner Erholung der Weltwirtschaft, sondern allenfalls mit konjunkturellen Strohfeuern zu rechnen ist. Erstens fällt China anders als nach 2008 als Motor der Weltwirtschaft aus. Zweitens verschärfen zunehmende Blockbildung wie auch Fortdauer der Pandemie die wirtschaftliche Lage selbst und können nicht nur als vorübergehende Faktoren betrachtet werden. Drittens reißt die aktuelle Lage schon jetzt wichtige Halbkolonien in die Krise. Ländern wie Argentinien, der Türkei oder Südafrika drohen Insolvenz und Zusammenbruch ihre Währungen. Indien und Pakistan befinden sich ebenfalls ganz oben auf der Liste von Ländern, die IWF und Weltbank als extrem krisengefährdet betrachten.

Zusammengefasst heißt das: Die Folgen der Finanzkrise 2007/08 wurden noch abgefedert. Jetzt erleben wir eine erneute Krise von größerem Ausmaß, die diesmal fast alle Länder gleichzeitig erfasst. Doch der Spielraum der herrschenden Klasse ist dieses Mal geringer.

Auswirkungen auf das Weltgefüge

Somit ist klar, dass die Coronapandemie und ihre Folgen die Welt noch für einige Zeit in Schach halten werden. Nicht nur, weil wir mit Mutationen rechnen müssen, gegen die die Impfstoffe unwirksamer sind, sondern die Pandemie ist längst kein „externer“ Faktor mehr, sondern ihrerseits eng mit den globalen wirtschaftlichen Entwicklungen und deren politischen Folgen verwoben. Ein einfaches Zurück zur „Vor Corona“-Zeit ist somit nicht möglich.

Bereits vorher war die internationale Lage zwischen den imperialistischen Kräften angespannt. Der  Handelskrieg zwischen USA und China bestimmt zwar nicht mehr die Schlagzeilen in den Zeitungen, aber die aktuelle Krise verschärft die innerimperialistische Konkurrenz erneut auf allen Ebenen. Die massive Überakkumulation an Kapital spitzt nicht nur die ökonomische Konkurrenz zu, sondern  wird auch das Feuer der innerimperialistischen politischen Querelen weiter anfachen. Schließlich will niemand die Kraft sein, auf deren Kosten die anderen ihr Kapital retten. Praktisch bedeutet das: weitere harte Handels- und Wirtschaftskonflikte, zunehmende ökonomische Tendenz zur Blockbildung und Kampf um die Kontrolle etablierter oder neuer halbkolonialer Wirtschaftsräume. Die USA und China, aber auch Deutschland und die EU verfolgen dies mit zunehmender Konsequenz.

Dies hat nicht nur ökonomische, sondern auch politische Folgen, darunter die zunehmende Militarisierung sowie eine weitere Eskalation kriegerischer Auseinandersetzungen. Hinzu kommt, dass die Pandemie den Trend zum Nationalprotektionismus verschärft hat und ein widersprüchliches Moment in sich trägt. Wie wir an Lieferengpässen sehen, sind die Produktionsketten mittlerweile extrem verschränkt. Ein einfaches Entflechten gemäß dem Ideal, „alles was man braucht“, im eigenen Staat zu produzieren, ist schlichtweg nicht möglich. Dennoch kann es infolge von vermehrten ökonomischen und politischen Konflikten zur Erhebung weiterer Zölle, wechselseitigen Sanktionen etc. kommen. Auch wenn dies die Weltwirtschaft selbst in Mitleidenschaft ziehen wird, so werden solche Konflikte zunehmen. Das Kräftemessen kann zugleich auch deutlich machen, welche Länder das schwächste Glied in der imperialistischen Kette bilden, und seinerseits innere Konflikte zuspitzen und ganze Staaten destabilisieren.

Die Aussichten sind also nicht besonders rosig. Schon das letzte Jahrzehnt war von einer Zunahme autoritärer, rechtspopulistischer und bonapartistischer Tendenzen geprägt, die sich unter dem gesellschaftlichen Ausnahmezustand der Pandemie verschärft haben. Um in kommenden Auseinandersetzungen mögliche Proteste in Schach zu halten, ist damit zu rechnen, dass wir eine Verstärkung von Rechtspopulismus, Autoritarismus, Bonapartismus erleben werden.

Angesichts diese krisenhaften Lage erheben sich zentrale Fragen: Wer wird zur Kasse gebeten, um die Rettungs- und Konjunkturpakete zu finanzieren? Wer wird die Kosten der Krise zahlen? Welche Klasse prägt die zukünftige Entwicklung?

Bedeutung für die Arbeiter_Innenklasse

Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig. Nicht die Herrschenden wollen den Kopf hinhalten und so werden die bürgerlichen Regierungen natürlich versuchen, die Last vor allem auf die Arbeiter_Innenklasse, die Bauern-/Bäuerinnenschaft und die Mittelschichten abzuwälzen, wie dies im Grunde schon während der Coronakrise der Fall war. Fast überall arbeiteten die jeweiligen Gesundheitssysteme an ihren Grenzen und Gewalt, insbesondere gegen Frauen, hat gesamtgesellschaftlich stark zugenommen. Allein die unmittelbaren Folgen des Stillstands wie Massenentlassungen, Verelendung und massiver Zuwachs an Armut sind global schnell sichtbar geworden. So erwartet der Internationale Währungsfonds, dass die Pandemie den Fortschritt in der Bekämpfung der globalen Armut seit den 1990er Jahren annulliert sowie die Ungleichheit weiter verstärkt.

Die größten Auswirkungen sind in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen zu verzeichnen. Dort beträgt deren Verlust mehr als 15 Prozent. Genau diese Länder haben zudem die schwächsten Sozialsysteme. Hinzu kommt die steigende Inflation, die die Lebenshaltungskosten in Ländern wie der Türkei oder dem Libanon und vielen anderen in die Höhe treibt. Das Festhalten der imperialistischen Länder an den Patenten zugunsten der Profite sorgt dafür, dass die Lage sich nicht in absehbarer Zeit verbessern wird.

Nicht allzu viel besser sieht die Situation in den imperialistischen Zentren aus. Auch hier gab es zahlreiche Entlassungen. So hatten die USA 2020 ihr historisches Hoch. Die Konjunkturpakete oder Hilfen wie das Kurzarbeiter_Innengeld in Deutschland federn zwar die Auswirkungen der Krise ab, aber auch hier ist die Inflation deutlich in der Tasche zu spüren.

Was kommt?

Aufgrund des konjunkturellen Aufschwungs in den USA und in etlichen europäischen Staaten werden die kurzfristigen Auswirkungen hier andere sein als für große Teile der Massen in den Halbkolonien. Letztere werden von einer Dauerkrise der Wirtschaft, der Pandemie und auch ökologischen Katastrophen geprägt sein. Das heißt, dass in den halbkolonialen Ländern der Kampf für ein Sofortprogramm gegen die akute Krise und Pandemie eine zentrale Rolle spielen wird, das die verschiedenen ökonomischen und sozialen Aspekte umfasst. Grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass der Klassenkampf in diesen Ländern aufgrund der zugespitzten sozialen und politischen Lage eine weit explosivere Form annehmen wird.

Die Extraprofite des imperialistischen Kapitals in den Metropolen sowie der aktuelle konjunkturelle Aufschwung in etlichen Ländern erlauben in diesen Staaten mehr Spielraum für gewerkschaftliche und soziale Umverteilungskämpfe. Ebenso kann es sein, dass teilweise reformistische oder linkspopulistische Kräfte an Aufwind gewinnen. Schließlich hat die Gesundheitskrise in den Augen von Millionen verdeutlicht, dass massive Investitionen, Verstaatlichungen und Neueinstellungen in diesem Bereich wie auch in anderen Sektoren nötig sind (Wohnung, Verkehr … ). Bürgerliche wie reformistische Kräfte versuchen, dem verbal entgegenzukommen und die Spitze zu nehmen. So beinhalten das Programm Bidens wie auch der Green Deal der EU Versprechen, die ökologischen Probleme zu lösen und soziale Ungleichheit zu reduzieren. In der Realität werden sich diese Reformversprechen als Quadratur des Kreises entpuppen.

In Wirklichkeit sind es Programme zur Erneuerung des Kapitals, nicht der Gesellschaft. Der Arbeiter_Innenklasse und den Unterdrückten wird nichts geschenkt, schon gar nicht in der Situation zunehmenden Wettbewerbs. Während die wirtschaftliche Lage in den imperialistischen Ländern jedoch kurzfristig einen gewissen Verteilungsspielraum eröffnen kann, der von der Arbeiter_Innenklasse genutzt werden muss, besteht dieser in den halbkolonialen Ländern praktisch nicht. Dort können und werden sich selbst Kämpfe um soziale, ökonomische und demokratische Verbesserungen viel rascher zum Kampf um die politische Macht zuspitzen, wie z. B. der Sudan zeigt.

Auch wenn die Situation in imperialistischen Ländern und Halbkolonien bedeutende Unterschiede birgt, so sind alle wichtigen Auseinandersetzungen unserer Zeit – der Kampf gegen die Pandemie, die drohende ökologische Katastrophe,  die Folgen der Wirtschaftskrise und die zunehmende Kriegsgefahr – Fragen des internationalen Klassenkampfes. Sie können auf nationaler Ebene letztlich nicht gelöst werden.

Wo aber beginnen?

Zuerst ist es wichtig zu verstehen, dass die verschlechterte Situation der arbeitenden Klasse nicht automatisch Proteste mit sich bringt. Diese gibt es zwar, ebenso wie Streiks und Aufstände, jedoch sind sie erstmal nur Ausdruck der spontanen Unzufriedenheit der Massen. Zu glauben, dass aus ihnen mehr erwachsen muss oder sie von alleine zu einer grundlegenden Lösung führen werden, ist falsch, ein passiver Automatismus. Streiks befördern natürlich das Bewusstsein der Arbeiter_Innenklasse, dass sie sich kollektiv zusammenschließen muss, um höhere Löhne zu erkämpfen. Nicht mehr und nicht weniger. Ihr spontanes Bewusstsein im ökonomischen Kampf ist jedoch selbst noch eine Form bürgerlichen Bewusstseins, weil es auf dem Boden des Lohnarbeitsverhältnisses steht. Es stellt insbesondere in Friedenszeiten nicht das kapitalistische System in Frage, sondern fordert erstmal nur mehr Lohn ein. Ähnliches gilt für Proteste beispielsweise aufgrund von Hunger. Beide – Streiks und spontane Proteste – tragen jedoch in sich das Potenzial, zu mehr zu werden. Allerdings nur, wenn es geschafft werden kann, die Grundlage der Misere aufzuzeigen, zu vermitteln, dass die Spontaneität der Proteste noch nicht automatisch die Lösung bringt, sondern es einen organisierten Umsturz braucht, um dieses System erfolgreich zu zerschlagen. Es ist Aufgabe von Revolutionär_Innen, dieses Verständnis, dieses Bewusstsein in die Klasse zu tragen und die dazu notwendigen Schritte zu vermitteln. Dies ist jedoch leichter geschrieben als getan, denn ein Blick auf die aktuelle Lage zeigt, dass es viele Widerstände gibt, die man zu überwinden wissen muss.

Kämpfe und Kontrolle

Das heißt, dass man in die existierenden Kämpfe intervenieren und diese zuspitzen muss. Beispielsweise durch Forderungen, die weiter gehen als jene, die bereits aufgeworfen werden. Es reicht nicht, nur kommende Angriffe abzuwehren, vielmehr müssen die Abwehrkämpfe mit dem Ziel geführt werden, konkrete Verbesserungen zu erkämpfen, und dabei aufzeigen, was für eine andere Welt möglich wäre. Denn der Illusion anzuhängen, dass es irgendwann genauso wie vor der Pandemie werden kann, ist eine Illusion, wie die obige Diskussion der Weltlage aufzeigt. Zudem war dieser Zustand eh nur für einen sehr geringen Teil der Weltbevölkerung annehmbar. Beispielsweise kann das dafür notwendige Bewusstsein folgendermaßen vermittelt werden:

In Zeiten permanenter Preissteigerungen geraten selbst erfolgreiche Lohnkämpfe an ihre Grenzen. Die Forderung nach höheren Löhnen muss daher mit der nach automatischer Anpassung an die Preissteigerung verbunden werden. Da zur Zeit die Preise für die Konsumgüter der Arbeiter_Innenklasse (Mieten, Heizung, Lebensmittel) stärker steigen, als es die statistische Inflationsrate zum Ausdruck bringt, sollte durch die Gewerkschaften und Verbraucher_Innenkomitees ein Index für die reale Steigerung der Lebenshaltungskosten erstellt und immer wieder aktualisiert werden. An diesen sollten die Löhne und Gehälter angeglichen werden. Damit dies auch wirklich passiert, sollten wir uns nicht auf den Staat (und schon gar nicht auf die Ehrlichkeit der Unternehmen) verlassen, sondern müssen dazu betriebliche Kontrollkomitees – also Formen der Arbeiter_Innenkontrolle – etablieren.

So kann ein konkretes Problem – die Steigerung der Lebenshaltungskosten – für die gesamt Klasse angegangen und mit dem Aufbau von Organen der Arbeiter_Innenkontrolle, also der betrieblichen Gegenmacht, verbunden werden.

Ähnliches lässt sich auch für andere Bereiche zeigen. Die Forderung nach massiven Investitionen in den Gesundheitssektor stellt sich weltweit. Dies muss durch Besteuerung der Reichen passieren unter Kontrolle der Arbeiter_Innen selber. Hier bedarf es neben einer Erhöhung der Löhne auch einer enormen Aufstockung des Personals, um Entlastung zu schaffen.

Hinzu kommt, dass die Arbeit im gesamten Care-Sektor oftmals geringer vergütet wird, da dieser nicht im gleichen Maße Mehrwert produziert – und somit nicht auf gleicher Ebene rentabel ist. Das ist nur einer der Gründe, warum es entscheidend ist, dass die Investitionen unter Kontrolle der Beschäftigten stattfinden. Sie können aufgrund ihrer Berufsqualifikation und -erfahrung wesentlich besser entscheiden, wo Mängel im Joballtag bestehen, und hegen zeitgleich kein materielles Interesse daran, dass der Gesundheitssektor so strukturiert ist, dass er Profite abwirft. Zentral ist allerdings beim Punkt Kontrolle, dass sie nicht einfach so herbeigeführt werden kann. Damit dies nicht nur schöne Worte auf Papier bleiben, sondern sie Realität werden kann, bedarf es Auseinandersetzungen innerhalb der Betriebe, bei denen sich Streik- und Aktionskomitees gründen. Diese stellen Keimformen von Doppelmachtorganen dar, die den Weg zur Arbeiter_Innenkontrolle ebnen. Nur so kann die nötige Erfahrung gesammelt werden sowie sich das Bewusstsein entwickeln, dass die existierende Arbeit kollektiv auf die Arbeitenden aufgeteilt werden kann.

Ebenso müssen wir dafür einstehen, dass die Patente für die Impfstoffe abgeschafft werden. Es wird deutlich, dass das Vorenthalten nicht nur aktiv dafür sorgt, dass Menschen in Halbkolonien an dem Coronavirus sterben, sondern auch durch die Auswirkungen auf die Wirtschaft stärker verarmen. Ausreichend allein ist dies natürlich nicht. Die Freigabe der Patente muss mit der kostenlosen Übergabe von Wissen und den nötigen technischen Ressourcen verbunden werden – ein kleiner Schritt, der dafür sorgt, dass die stetige Abhängigkeit von den imperialistischen Ländern sich an diesem Punkt nicht weiter verfestigt. Nur so kann die Grundlage geschaffen werden, etwaige Mutationen des Virus zu verringern. Falls diese doch entstehen, erlaubt es schnelles Handeln bei der Produktion notwendiger neuer Impfstoffe. Auch dies kann nur geschehen, wenn nicht die Profitinteressen der imperialistischen Länder und Pharmaindustrie vorrangig bedient werden. Deswegen müssen auch hier die Konzerne enteignet und unter Arbeiter_Innenkontrolle gestellt werden.

Doch so einfach ist es nicht …

Dies sind Forderungen, die weltweit ihre Relevanz haben und die Grundlage für eine internationale Antikrisenbewegung legen können. Doch einfacher geschrieben als durchgesetzt. Denn wie bereits zuvor geschrieben: Es gibt Widerstände, auch innerhalb der Klasse.

Niederlagen in den Klassenkämpfen des letzten Jahrzehntes, vor allem des Arabischen Frühlings, aber auch von Syriza in Griechenland trugen eine tiefe, desillusionierende und demoralisierende Auswirkung auf die Massen mit sich. Nicht die Linke, sondern die populistische Rechte präsentierte sich in den letzten fünf Jahren immer wieder als pseudoradikale Alternative zur Herrschaft der tradierten „Eliten“. Diese konnte sich aufgrund der Passivität der Linken innerhalb der Coronakrise profilieren. So kann die Zunahme eines gewissen Irrationalismus‘ in Teilen des Kleinbürger_Innentums, aber auch der Arbeiter_Innenklasse beobachtet werden. Rechte schaffen es, die Bewegung für sich zu vereinnahmen und dort als stärkste Kraft aufzutreten – was Grundlage für ihr Wachstum ist, aber auch ihre Radikalisierung mit sich bringt.

Die Dominanz von Reformist_Innen und Linkspopulist_Innen drückt sich in einer Führungskrise der gesamten Arbeiter_Innenklasse aus. Zwar werden Kämpfe geführt, wenn es sein muss – also wenn es Angriffe gibt. Letztlich läuft die Politik der Gewerkschaftsbürokratien und der Sozialdemokratie – aber schließlich auch der Linksparteien – auf eine Politik der nationalen Einheit mit dem Kapital, auf Koalitionsregierungen und Sozialpartner_Innenschaft in den Betrieben hinaus. Die Politik des Burgfriedens sorgt dafür, dass Proteste im Zaum gehalten werden oder erst gar nicht aufkommen. Somit besteht eine der zentralen Aufgaben von Revolutionär_Innen darin, den Einfluss dieser Kräfte auf die Masse der Arbeiter_Innenklasse zu brechen.

Internationalismus

Dies geschieht jedoch nicht durch alleiniges Kundtun, dass Bürokratie & Co üble Verräter_Innen sind. Sonst wäre es schon längst im Laufe der Geschichte passiert, dass die Massen sich von diesen Kräften abwenden und automatisch zu Revolutionär_Innen werden. Deswegen bedarf es hier der Taktik der Einheitsfront, des Aufbaus von Bündnissen der Arbeiter_Innenklasse für Mobilisierungen um konkrete Forderungen. Aufgabe ist, möglichst große Einheit der Klasse im Kampf gegen Kapital und Staat herzustellen und im Zuge der Auseinandersetzung aufzuzeigen, dass die Gewerkschaftsbürokratie oder reformistische Parteien sich selbst für solche Forderungen nicht konsequent ins Zeug legen.

Entscheidend ist es also, bestehende Kämpfe und Bewegungen zusammenzuführen, die existierende Führung dieser sowie der etablierten Organisationen der Arbeiter_Innenklasse herauszufordern. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass es eine Wiederbelebung der Sozialforen gibt – diesmal jedoch nicht nur als Versammlungen zur unverbindlichen Diskussion, sondern zur beschlussfähigen Koordinierung des gemeinsames Kampfes. Doch ein alleiniges Zusammenführen von ganz vielen verschiedenen Bewegungen reicht nicht. Unterschiedliche Positionierungen, Eigeninteressen und fehlende oder falsche Analysen können zu Stagnation und letztendlich zum Niedergang dieser führen. Es braucht einen gemeinsamen Plan, ein gemeinsames – revolutionäres – Programm, für das die revolutionäre Organisation eintreten muss. Eine solche müssen wir aufbauen – in Deutschland und international.




Afghanistan: ein Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende?

5 Fragen und 5 Antworten

  1. Afghanistan, Was ist da los?,
  2. Wie ist die Situation von Jugendlichen vor Ort?
  3. War es ein Fehler die Bundeswehr abzuziehen?
  4. Was bedeutet die Herrschaft der Taliban und sollten wir sie gegen den Imperialismus unterstützen?
  5. Was können wir hier vor Ort tun?

1.: Afghanistan, was ist da los?

Nach 20 Jahren Besatzung durch die NATO-Militärkoalition ist nach deren Abzug aus Afghanistan innerhalb von nicht einmal zwei Monaten beinahe das gesamte Staatsgebiet wieder in die Hände der radikalislamischen Taliban gefallen. Die Taliban überfielen unmittelbar nach dem Abzug der NATO-Besatzungstruppen zunächst die Provinzhauptstädte und umzingelten schließlich die Hauptstadt Kabul, welche nahezu kampflos erobert werden konnte. Am 16.08. kapitulierte die von der NATO eingesetzte Marionettenregierung Afghanistans unter dem Präsidenten Ghani schließlich (der Hals über Kopf mit einem Heli voller Bargeld das Land verließ). Dies bedeutete faktisch die Machtübernahme durch die ursprünglich aus den Mudschahedin („Gotteskrieger“, welche btw von den USA, Saudi-Arabien und Pakistan erst hochgerüstet und finanziert wurden) hervorgegangenen Taliban. Der Abzug der letzten verbliebenen Soldat_Innen der NATO-Mitgliedsstaaten und der klägliche Versuch der Evakuierung der Ortskräfte, also jener Afghan_Innen, welche für die Besatzungstruppen arbeiteten, stellte den Höhepunkt der Niederlage der USA und seiner Verbündeten im Afghanistankrieg dar. Allgemein gab es keinen nennenswerten Widerstand gegen den Vormarsch der Taliban und zur Verteidigung der afghanischen Regierung. Obwohl die Regierungstruppen während der 20 Jahre Besatzung gut ausgerüstet und ausgebildet worden sind und offiziell 300 000 Mann umfassten, während die Taliban gerade mal über schätzungsweise

70 000 Millizionäre verfügten, konnten Letztere bei Ihrem Vormarsch nicht einmal annähernd durch die Regierungsarmee aufgehalten werden. Der Grund hierfür liegt nicht darin, dass die Taliban angeblich über einen hohen Rückhalt in der Bevölkerung verfügten. Viel mehr sind die Korruption des Präsidenten Ghani und seiner Marionettenregierung, die zunehmend ausgebliebene Auszahlung des Solds an die afghanischen Soldat_Innen nach dem Abzug der NATO-Truppen, die Demoralisierung des afghanischen Militärs durch den Abzug der Besatzungsarmeen sowie nicht zuletzt die grundlegend schlechte Versorgungslage für die breite Bevölkerung als Gründe für den ausbleibenden Widerstand gegen die Taliban zu nennen. Nicht zuletzt sind während der Besatzung rund 250 000 AfghanInnen gestorben – hiervon rund 70 000 Angehörige der Sicherheitskräfte, 100 000 wirkliche oder vermeintliche Taliban und über 70 000 ZivilistInnen. Sieben der insgesamt rund 38 Millionen Afghan_Innen wurden zu Flüchtlingen, hiervon rund vier Millionen im eigenen Land. Die anderen drei Millionen flohen nach Pakistan, Iran oder weiter westwärts.

Es steht jetzt schon zweifellos fest, dass die nun angebrochene, erneute Herrschaft der Taliban, welche letztlich das Ergebnis von 20 Jahren erfolgloser Besatzung durch die westlichen imperialistischen Staaten darstellt, für den absoluten Großteil der Bevölkerung nur Verschlechterungen, aber keine Verbesserungen zu bieten hat. Die Rücknahme demokratischer Rechte sowie auch die zunehmende Unterdrückung von Frauen und LGBTIAQs zeigte sich bereits in der „Empfehlung“ vonseiten der Taliban-Administration an Frauen, aufgrund der Sicherheitslage zuhause zu bleiben wie auch in der brutalen Niederschlagung der spontanen Frauendemonstrationen gegen die Herrschaft der Taliban. [1]

2.: Wie ist die Situation von Jugendlichen vor Ort?

Auch und insbesondere für die Jugend in Afghanistan sieht die aktuelle Lage nicht viel besser aus. Während sie ebenfalls von der Einschränkung demokratischer Rechte betroffen ist und die Hälfte von ihnen, nämlich die Frauen, voraussichtlich zunehmend aus den Bildungseinrichtungen verdrängt wird, ist die Jugendarbeitslosigkeit mit offiziell 17% nach wie vor verhältnismäßig hoch [2]. Es ist damit zu rechnen, dass diese in Zukunft weiter ansteigen wird, da die afghanische Wirtschaft zum Großteil an Kapital- und Warenströme aus und in die Besatzerstaaten gekoppelt war. Vor allem aber wird die Unterdrückung der Jugendlichen, die Entmündigung und Ankettung an die Eltern (oder vielmehr den Vater), sich unter den Taliban weiter verschärfen. Besuch von Discos, Videospiele oder „westliche“ Musik? Fehlanzeige. Die Pädagogik, Möglichkeit zur Entfaltung der Persönlichkeit, das Kulturangebot uvm. werden unter der Herrschaft der feudalen Talibanbande ihrer rückwärtsgewandten Gesellschaftsvorstellung untergeordnet werden. Die bis dahin zumindest in den Großstädten gängige Lebensweise, Arbeitsmöglichkeiten auch für Frauen, Menschenrechte, das Versammlungsrecht und die Meinungsfreiheit gehören mit der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan der Vergangenheit an.

3.: War der Abzug der Bundeswehr ein Fehler?

Vor diesem Hintergrund könnte man schnell zu dem Schluss kommen, dass der Abzug der Bundeswehr und der NATO-Truppen aus Afghanistan ein Fehler war. Dieser Schein trügt jedoch, da er ausblendet, dass erst die Besatzung Afghanistans durch die Bundeswehr und ihrer Verbündeten ein verwüstetes Land und zigtausende zivile Opfer hinterlassen hat. Die politischen Verhältnisse in Afghanistan sind nicht zu verstehen, ohne die nicht enden wollende Kette der Einmischung anderer Staaten zu betrachten. Angefangen bei der kolonialen Ausbeutung, über die sowjetische Besatzung und der Finanzierung der Mudschahedin durch die USA, bis hin zur NATO-Invasion. Rund 80% der Bevölkerung gelten heute als arbeitslos oder unterbeschäftigt, 60% der Kinder leiden schon jetzt an Hunger und Unterernährung [3]. Der von der NATO-Militärkoalition geführte Krieg gegen Afghanistan war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Ziel war mitnichten die vorgegebene Demokratisierung und der Export von Menschenrechten, sondern hatte vielmehr die Verfolgung geostrategischer und ökonomischer Interessen zum Ziel. Wie schon im Kolonialismus tarnen die Besatzer ihre ökonomischen und militärischen Interessen unter dem Deckmantel des Kampfes für „Menschenrechte“ und „zivilisatorische Werte“. Die Form der Führung dieses ungleichen Krieges und der überstürzte Abzug, die bloße Ausplünderung des Landes und Verwüstung dessen, das Zurücklassen der Ortskräfte uvm. zeigen mehr als deutlich auf, dass Interventionen des imperialistischen Westens keine Lösung, sondern viel mehr die Ursache des Problems sind. Die Befreiung vom Joch der Unterdrückung können nur die unterdrückten Klassen Afghanistans selbst bewerkstelligen, in Kooperation und internationaler Solidarität mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten weltweit. Darüber reden wir in der fünften Frage noch genauer. Schon jetzt ist aber klar, dass wir auch weiterhin fest gegen alle imperialistischen Auslandseinsätze und Waffenexporte stehen!

  1. Was bedeutet die Herrschaft der Taliban? Sollten wir sie gegen den Imperialismus unterstützen?

Den Taliban schwebt die Errichtung eines theokratischen Gottesstaates, eines afghanischen Kalifats vor. Die Herrschaft der Taliban bedeutet in erster Linie eine Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für die breiten Massen, die Einschränkung demokratischer Rechte, Rücknahme von Frauenrechten, die Verbannung von Frauen aus der Öffentlichkeit und Verdrängung in die Reproduktionssphäre, die verschärfte Unterdrückung von Frauen, LGBTQIA+-Menschen, Jugendlichen und nationaler Minderheiten. Mädchenschulen werden voraussichtlich dichtgemacht, Frauen von der Teilhabe an Bildung nach und nach ausgeschlossen und ihnen wird vermutlich auch wieder verboten werden, die eigene Wohnung ohne männliche Begleitung zu verlassen. Die Verfolgung politischer Gegner, von Journalist_Innen und Menschenrechtsaktivist_Innen, Folter und Mord werden künftig zum repressiven Alltag der Afghan_Innen gehören. Durch die Sanktionen und die zu erwartende, weitestgehende Isolation Afghanistans wird sich die ohnehin schon miserable Versorgungslage für weite Teile der Bevölkerung aller Voraussicht nach massiv verschlechtern.

Alleine aus den bereits genannten Gründen wird klar, warum eine Unterstützung der Taliban gegen den Imperialismus im Sinne der antiimperialistischen Einheitsfront für uns ausgeschlossen ist. Hinzu kommt, dass alle Linken, SozialistInnen, MarxistInnen, AnarchistInnen usw. sich in Afghanistan fortan in der Illegalität organisieren müssen und von der verschärften Unterdrückung unter der Talibanherrschaft nicht verschont bleiben. Der Versuch, eine kommunistische Jugendorganisation und eine unabhängige Arbeiter_Innenpartei mit revolutionärem Programm aufzubauen, würde also zweifelsohne durch die Taliban mit allen Mitteln bekämpft werden, ein solcher Aufbau kann bestenfalls unter dem Vorzeichen der Illegalität stattfinden.

Weiterhin stehen die Taliban nicht für die Unabhängigkeit vom Imperialismus, sondern es zeigt sich viel mehr, dass diese offen für die Kooperation mit dem russischen, vor allem aber mit dem chinesischen Imperialismus sind. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in den anhaltenden diplomatischen Treffen der Taliban mit Vertreter_Innen Russlands und Chinas und der öffentlich verlautbarten Bereitschaft zur Anerkennung der Herrschaft der Taliban. Die Taliban werden versuchen, die Isolation durch den westlichen Imperialismus zu durchbrechen, indem diese sich zumindest die Gunst des russischen und chinesischen Imperialismus sichern wollen. Russland und China werden die Einladung, das durch den Abzug der NATO hinterlassene Machtvakuum in Afghanistan zu füllen, dankend annehmen. Schließlich verfolgen beide Staaten ihre eigenen geostrategischen und ökonomischen Interessen. Nicht zuletzt steht auch Pakistan weiterhin mehr oder weniger offen an der Seite der Taliban. Es gibt Berichte, wonach die Eroberung der bis zuletzt Widerstand leistenden Provinz des Pandschir-Tals durch die Taliban durch Angriffe der Luftwaffe Pakistans unterstützt wurde. Dass insbesondere der pakistanische Geheimdienst beste Verbindungen zu den Taliban unterhält und diese seit jeher finanziert und aufgebaut hat, ist kein Geheimnis. Hieran wird deutlich, dass auch Pakistan bei dem Kampf um die Neuordnung Afghanistans versucht, seinen Einfluss als Regionalmacht geltend zu machen. Für uns stellt sich daher gar nicht die Frage, ob wir die Taliban im Kampf gegen den Imperialismus unterstützen. In diesem Stellvertreterkonflikt zwischen den imperialistischen Blöcken kann die einzig richtige Position nur die Parteinahme für die Unabhängigkeit vom Imperialismus, für den Aufbau einer internationalen, antiimperialistischen Bewegung und für die Befreiung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten sein. Der Kampf gegen den Imperialismus kann also nicht mit den Taliban, sondern nur gegen diese erfolgreich geführt werden.

5. Was können wir hier vor Ort tun?

Für uns als revolutionäre Marxist_Innen ist klar, dass der Kampf gegen die Herrschaft der Taliban, der Kampf für demokratische Rechte und soziale Verbesserungen mit dem Kampf gegen den Imperialismus verknüpft werden muss. Weiterhin darf der Kampf für demokratische Rechte auch nicht vom Ziel der sozialistischen Revolution getrennt gesehen werden. Vielmehr kann eine solche Vorstellung von einer „demokratischen Etappe“ als strikt zu trennende Vorbedingung für die soziale Revolution nur den Besitzenden in Afghanistan und dem Imperialismus in die Hände spielen. Stattdessen müssen die Unterdrückten selbst die Macht ergreifen und die Erkämpfung demokratischer Rechte mit der Errichtung einer sozialistischen Räterepbulik verbinden – nicht nur in Afghanistan, sondern auch darüber hinaus.

In Afghanistan selbst müssen Revolutionär_Innen aktuell vor allem ums Überleben kämpfen und sich in der Illegalität organisieren. Es bedarf des Aufbaus von demokratisch kontrollierten Selbstverteidigungskomitees und einer im Untergrund gedruckten revolutionären Presse. Diese muss das afghanische Proletariat zu politischen Streiks gegen die Taliban-Regierung und zur Gründung von Betriebs-, Gemeinde- Soldatenräten aufrufen. Dabei gilt es auch die afghanische Exilbevölkerung, die Teil des Proletariats der umliegenden Länder ist, zu organisieren und in diesen Ländern mit Demonstrationen und Streiks für offene Grenzen und gegen jegliche militärische, wirtschaftliche und politische Unterstützung der Taliban-Regierung zu kämpfen.

Auch hier in Europa gilt es jetzt vor allem, politischen Druck aufzubauen und internationale Solidarität zu organisieren. Die Luftbrücke-Demonstrationen waren ein guter Ansatz, um die NATO-Mitgliedsstaaten in die Pflicht zu nehmen, unbürokratisch afghanische Geflüchtete aufzunehmen. Doch dabei allein darf es nicht bleiben. Wir Jugendlichen müssen gemeinsam mit der Arbeiter_Innenklasse eine internationale Bewegung aufbauen, welche nicht nur für legale Fluchtwege kämpft, sondern auch für die dezentrale Unterbringung, die Versorgung mit Arbeitsplätzen und Wohnungen, volle StaatsbürgerInnenrechte und offene Grenzen für alle, einen Stopp von Waffenexporten und aller Auslandseinsätze fordert. In Deutschland fällt uns dabei insbesondere die Aufgabe zu, Widerstand zu organisieren gegen die Beziehungen zwischen dem deutschen Kapital und den die Taliban unterstützenden Kräften wie Pakistan, das zu den fünf größten Handelspartnern des deutschen Imperialismus gehört. Ebenso wäre es denkbar, dass eine entstehende unabhängige Widerstandsbewegung von der deutschen und internationalen Arbeiter_Innenklasse Waffen oder andere materielle Unterstützung erhält.

Am Ende müssen wir uns revolutionär organisieren, eine internationale kommunistische Jugendorganisation und eine neue revolutionär-marxistische Internationale aufbauen, um den Imperialismus und Kapitalismus, aber mit diesen auch jede Form reaktionär-theokratischer Herrschaft hinwegzufegen.




Solidarität mit der Jugend in Sheikh Jarrah! Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand!

Zuerst veröffentlicht unter: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/05/11/solidaritaet-mit-der-jugend-in-sheikh-jarrah-solidaritaet-mit-dem-palaestinensischen-widerstand/

Dilara Lorin, Martin Suchanek, Infomail 1149, 11. April 2021

Seit Montag, den 10. Mai, bombardiert die israelische Luftwaffe
Gaza. Mindestens 24 Menschen, darunter 9 Kinder, wurden nach Angaben
des palästinensischen Gesundheitsministeriums bis zum Morgen des 11.
Mai getötet, 109 wurden verletzt. Insgesamt flogen die israelischen
Streitkräfte 150 Angriffe.

Die Regierung Netanjahu und die Armeeführung präsentieren und
rechtfertigen die Bombardierungen einmal mehr als Akt der
Selbstverteidigung – und in ihrem Gefolge auch die westlichen
imperialistischen Schutzmächte und Verbündeten Israels. Die Aktion
wird als Reaktion auf den Abschuss von über 100 Raketen aus Gaza
dargestellt, als Vergeltung auf eine vorhergehende Aktion der Hamas
und des palästinensischen Widerstandes, die als „Terrorist_Innen“,
„Islamist_Innen“ oder blutrünstige „Antisemit_Innen“
diffamiert werden.

Kurzum, der ideologischen Rechtfertigung der zionistischen
Regierung wie ihrer westlichen Unterstützer_Innen gelten die
Palästinenser_Innen als Aggressor_Innen. Die Vergeltungsschläge
sollen bloß „verhältnismäßig“ bleiben und, so das
stillschweigende Kalkül, nach einigen Tagen verebben.

Verschwiegen wird, worum es im „Konflikt“ eigentlich geht,
worin seine Ursachen eigentlich bestehen. Dabei verdeutlicht der
Kampf gegen die Räumung palästinensischer Wohnungen und Häuser im
Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah exemplarisch, worum es sich
dreht: um die fortgesetzte, systematische Vertreibung und nationale
Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung. Ostjerusalem soll
die nächste Etappe der Vertreibung und Annexion durch den
zionistischen Staat darstellen – eine fortdauernde, die mit der
Gründung Israels und dessen Expansion untrennbar verbunden ist.

Sheikh Jarrah

Auch wenn mittlerweile die internationalen Medien voll sind mit
Berichten über Sheikh Jarrah, die Zusammenstöße von Polizei,
zionistischen, rechten Siedler_Innen und palästinensischen
Jugendlichen, so dienen diese wohl eher dem Einschwören auf die
israelische und westliche politische Linie denn der Information.

Es wird nicht erwähnt, dass der zionistische Staat seit seiner
Gründung unablässig fortfährt, Palästinenser_Innen aus ihren
Wohnungen und Häusern zu vertreiben und dadurch in die Flucht zu
zwingen. Es werden die ultraorthodoxen und rechten Gruppierungen
nicht erwähnt, die friedlich Fasten brechende oder protestierende
Palästinenser_Innen angreifen, sie aus ihren Häusern werfen und
tatkräftig von den staatstragenden Parteien hofiert und unterstützt
werden. Es wird beim Lob für Israels  Impfkampagne nicht
erwähnt, dass in den vom Staat besetzten israelischen Gebieten die
Bevölkerung nicht nur keinen Zugang zum Impfstoff erlangt, sondern
auch das gesamte Gesundheitssystem permanent vor dem Zusammenbruch
steht. Palästinenser_Innen sind faktisch Menschen zweiter Klasse.
Ihnen werden gleiche bürgerliche Rechte vorenthalten, Westbank und
Gaza werden immer mehr von der Außenwelt abgeschottet.

Die rechte Regierung Netanjahu setzt seit Jahren auf einen
aggressiveren Kurs der Vertreibung und der Annexion von Land in der
Westbank infolge des Siedlungsbaus. Unter der Administration Trump
und deren „The Deal of the Century“ wurde Jerusalem offiziell als
Hauptstadt Israels anerkannt, eine Einladung an die zionistische
Regierung, an Behörden und Gerichte sowie an rechte Siedler_Innen,
die Annexion Ostjerusalems voranzutreiben.

Was hat all dies mit Sheikh Jarrah zu tun?

Sheikh Jarrah ist ein Viertel in Ostjerusalem, welches auch nach 
1948, der Gründung des israelischen Staates, mehrheitlich von
Palästinenser_Innen bewohnt war, während im Westen mehrheitlich
israelische Staatsbürger_Innen wohnen und Palästinenser_Innen
diesen Teil der Stadt nicht einfach so betreten dürfen. Diese
Aufteilung und das Verbot für die palästinensische Bevölkerung
sind Teil einer bewussten Politik, die immer mehr versucht, den
Wohnraum und die Existenz von Palästinenser_Innen einzuschränken.
Zwischen 2004 bis 2016 wurden 685 palästinensische Häuser in
Jerusalem zerstört. 2513 Menschen wurden obdachlos.

Heute leben mehr als 700.000 israelische Siedler_Innen in
illegalen Siedlungen in Palästina und Ostjerusalem. Aber damit
leider nicht genug, denn die Situation um Sheikh Jarrah hat 
kein Alleinstellungsmerkmal. Diese Zwangsräumungen der dort seit
Jahrhunderten ansässigen Palästinenser_Innen hat israelische
Tradition und ist tragische Geschichte von mehr als 538 Städten und
Dörfern. Den Bewohner_Innen dieses Stadtteils droht Vertreibung und
die damit einhergehende Flucht – entweder auf „legalem“ Weg,
indem israelische Gerichte Ansprüche von Siedler_Innen auf Häuser
legitimieren, die seit Jahrzehnten von Palästinenser_Innen bewohnt
wurden, oder auf „illegalem“, indem der Bau von Häusern und
Wohnungen durch Siedler_Innen nachträglich anerkannt wird. Die
Besatzungsbehörden planen außerdem den Bau von 200
Siedlungseinheiten auf dem Land und in den Häusern der Bevölkerung
von Sheikh Jarrah. Diese Vertreibung ist seit mehr als 40 Jahren ein
Teil des israelischen Siedlungsplans, um auf diesen Flächen
Siedlungen zu errichten, so wie es im Westjordanland tagtäglich
geschieht.

Al-Aqsa, Jerusalem und der Widerstand

Gegen die Räumung palästinensischer Häuser und Wohnungen wehren
sich seit Tagen vor allem Jugendliche in Ostjerusalem. Dagegen ging
die Polizei mit äußerster Brutalität, mit Blendgranaten und
Wasserwerfern vor. Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt, um
Unrecht und die Ordnung der Herrschenden aufrechtzuerhalten.

Anlässlich des „Jerusalem-Tages“, an dem in Israel die
Annexion Ostjerusalems im Zuge des 6-Tage-Krieges von 1967 gefeiert
wird, eskalierten rechte Siedler_Innen am 10. Mai bewusst die Lage,
indem sie trotz der Spannungen ihren jährlichen reaktionären
Fahnenmarsch durchführten. Diesmal wurde aus der gezielten
Provokation faktisch ein Angriff auf die Al-Aqsa-Moschee. Diese
befindet sich auf der Westseite Jerusalems in der Altstadt und bildet
für die Muslime/a eines der 3 wichtigsten Heiligtümer. Tage zuvor
schon hingen Plakate an den Wänden der Stadt, welche diese Angriffe
seitens rechter Siedler_Innen propagierten und dazu aufriefen, sich
daran zu beteiligen.

Während sich ein Teil der Palästinenser_Innen noch im
Fastenmonat Ramadan befindet, kämpfen diese und andere gegen die
Angriffe und Attacken. Es verbreiteten sich Bilder wo in der
Al-Aqsa-Moschee Jugendliche Steine sammeln, Barrikaden bauen, um dem
angekündigten Angriff entgegenzuwirken, und ein wütender Mob
Siedler_Innen an den Türen und Toren der Altstadt rüttelt. Die
Situation dauert schon seit mehreren Tagen an und es wurden mehr als
300 Palästinenser_Innen verletzt.

Der Angriff auf die Al-Aqsa-Moschee stellt dabei eine gezielte
Provokation nicht nur der Palästinenser_Innen, sondern aller
Muslime/a, ja aller Unterdrückten im Nahen Osten dar.

Dabei wurden bewusst und provokant religiöse Gefühle verletzt.
Im Kern geht es aber um keine Glaubensfrage, sondern darum, den
national und rassistisch Unterdrückten ihre Ohnmacht, ihre
Chancenlosigkeit vorzuführen.

Der Widerstand gegen die Räumungen bildet daher nur einen Aspekt
eines größeren Kampfes gegen ein System der Unterdrückung, der
Vertreibung, der fortgesetzten Kolonisierung und imperialistischen
Ausbeutung. An vorderster Front bei den Demonstrationen und Kämpfen
steht dabei oft die palästinensische Jugend.

Flächenbrand

Der Kampf um Sheikh Jarrah und um Al-Aqsa wirkt wie der berühmte Funken, der das Pulverfass zu entzünden droht. In zahlreichen Städten in der Westbank gingen Jugendliche, Arbeiter_Innen, Bauern/Bäuerinnen und die verarmten Massen auf die Straße. In Nazareth, Kafr Kana oder Schefar’am brachen in der Nacht vom Montag zum Dienstag lokale Aufstände aus. In Gaza marschieren Hunderte, wenn nicht Tausende, an die von der israelischen Armee hermetisch abgeriegelte und hochmilitarisierte Grenze.

Hamas und verschiedene Gruppen des palästinensischen Widerstandes
feuern Raketen auf Israel, wohl wissend um die blutige Antwort von
dessen Luftstreitkräften. Doch diese verzweifelten Aktionen in einem
asymmetrischen Krieg verdeutlichen auch die Entschlossenheit des
palästinensischen Volkes, dessen Würde und Existenz untrennbar mit
dem Widerstand gegen die Besatzung verbunden ist.

Dieser Widerstand gegen die Besatzung ist in all seinen Formen
legitim. Auch wenn die taktische und strategische Nützlichkeit von
Raketenangriffen auf Israel fraglich ist, so unterscheiden wir als
Revolutionär_Innen klar zwischen der Gewalt der Unterdrücker_Innen,
des israelischen Staates und seiner Armee, und der Unterdrückten und
solidarisieren uns mit dem Widerstand.

Eine neue Intifada liegt in der Luft. Die entscheidende politische
Frage ist jedoch, wie sich diese ausweiten, wie sie siegen kann. Die
zionistische Vertreibung und Expansion und die offene Unterstützung
durch Trump haben schon in den letzten Jahren die Palästinenser_Innen
in eine immer verzweifeltere Lage gebracht und auch die politische
Führungskrise in der Linken und Arbeiter_Innenklasse massiv
verschärft. Auch wenn die Palästinensische Autonomiebehörde und
die Hamas die Bewegung in Ostjerusalem unterstützen, so kollaboriert
erstere nach wie vor mit dem zionistischen Staat und jagt einer
Verhandlungslösung nach. Auch die Hamas verfügt über keine
Strategie zum Sieg und bietet eine reaktionäre, religiöse und keine
fortschrittliche, demokratische oder gar sozialistische Perspektive
im Interesse der Arbeiter_Innenklasse.

Die zentrale Frage besteht daher darin, wie die fortgesetzten
Bombardements Israels gestoppt und die lokalen Aufstände der Jugend
verbreitert werden können und in diesem Zug auch eine neue,
revolutionäre Kraft in Palästina aufgebaut werden kann. Dies ist
nicht so sehr eine organisatorische, sondern vor allem eine
programmatische Frage.

Um den Widerstand gegen die zionistische Aggression
voranzutreiben, braucht es eine neue Intifada, die die Form eines
Generalstreiks in den Werkstätten und auf den Feldern sowie der
Einstellung jeder Kooperation mit den Institutionen der
Besatzungsmacht annimmt. Die Möglichkeiten des rein ökonomischen
Drucks in Palästina sind aufgrund der Ersetzung palästinensischer
Arbeitskraft in vielen israelischen Unternehmen erschwert, wenn auch
nicht unmöglich.

Von entscheidender Bedeutung könnte und müsste die Solidarität
der Arbeiter_Innenklasse und Unterdrückten in den Ländern des Nahen
Ostens sein, indem sie Israel und seine militärische Maschinerie
durch Streiks und Weigerung, Waren zu transportieren oder
Finanztransaktionen durchzuführen, unter Druck setzt. Dies könnte
in Verbindung mit massenhaften Solidaritätsdemonstrationen auch die
reaktionären arabischen Regime in Ägypten und Saudi-Arabien oder
die vorgeblichen Freund_Innen der Palästinenser_Innen wie Erdogan
oder Chamenei entlarven und die Arbeiter_Innenklasse zur führenden
Kraft im Kampf gegen den Zionismus machen.

Dieser Druck kann auch die klassenübergreifende Einheit zwischen
Kapital und jüdischer Arbeiter_Innenklasse in Israel unterminieren
und damit die Perspektive eines gemeinsamen Kampfes von
palästinensischer Arbeiter_Innenklasse und Bauern-/Bäuer_Innenschaft
mit der jüdischen Arbeiter_Innenklasse gegen Zionismus und für
einen gemeinsamen, multinationalen Staat unter Anerkennung des
Rückkehrrechts aller Palästinenser_Innen eröffnen.

Schließlich müssen die Arbeiter_Innenklasse und die Linke in den
imperialistischen Ländern selbst in Solidarität mit dem
palästinensischen Volk auf die Straße gehen und mit Streik und
Boykott von Transporten den Druck auf Israel erhöhen, die
Luftangriffe auf Gaza und die Repression in Ostjerusalem
einzustellen. Solidaritätskundgebungen und die Unterstützung von
Demonstrationen zum Nakba-Tag wären dazu ein erster Schritt.

Die Bombardements seitens Israel, die Belagerung Gazas und die
Siedlungsbauten in der Westbank haben auch jede Hoffnung auf die
Zwei-Staaten-Lösung begraben. Angesichts der Vertreibung, der
Aggression und Unnachgiebigkeit der israelischen Regierungen erweist
sie sich nicht nur als reaktionär, sondern schlichtweg auch als
komplett illusorisch, als diplomatische Farce. Die einzig mögliche
demokratische Lösung besteht in der Zerschlagung des Systems der
Apartheid und der rassistischen Grundlage des zionistischen Staates,
im Recht auf Rückkehr für alle Palästinenser_Innen und in der
Errichtung eines binationalen Staates auf der Basis vollständiger
rechtlicher Gleichheit aller. Die imperialistischen Staaten wie die
USA, Deutschland, Britannien und die EU müssen dazu gezwungen
werden, die Kosten für diese Rückkehr und den Aufbau der nötigen
Infrastruktur und Wohnungen zu tragen. Damit diese ohne
nationalistische Gegensätze erfolgen kann, muss diese demokratische
Umwälzung mit einer sozialistischen, mit der Enteignung des
Großkapitals und Großgrundbesitzes verbunden werden.

  • Schluss mit der Besatzung! Keine Bomben auf Palästina!
  • Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand!
  • Für einen binationalen Staat, in dem alle Staatsbürger_Innen
    gleiche Rechte haben unabhängig von ethnischer Herkunft und
    Religion!
  • Für ein sozialistisches Palästina als Teil Vereinigter
    Sozialistische Staaten des Nahen und Mittleren Ostens!



Queer-Unterdrückung in Pakistan

Hina Tariq & Minerwa Tahir, Fight! Revolutionäre
Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

Auf dem Aurat-Marsch (1) 2020 hissten queere (2) Genossinnen und
Genossen die Regenbogenflagge. Während wir als Sozialist_Innen stolz
auf diesen Akt des Widerstands gegen sexuelle und
Gender-Unterdrückung sind, waren einige feministische Führer_Innen
anderer Meinung. In der Folge mussten sich queere Aktivist_Innen mit
dem Vorwurf auseinandersetzen, dass es „unfair und dominierend von
queeren Menschen sei, die Aurat Marsch-Bewegung auf diese Weise zu
kapern“. In diesem Artikel werden wir argumentieren, warum
Pakistans Queers ein integraler Bestandteil der sozialen Bewegungen
des Landes sein müssen. Insbesondere die Queer- und die
Frauenbewegung teilen gemeinsame Interessen. Indem wir sie
hervorheben, wollen wir zeigen, wie queere Forderungen zu einem
dynamischen Hebel bei der Entwicklung einer sozialistischen und
Arbeiter_Innenklasse-Politik werden können.

Queer-Aktivist_Innen sehen seit langem, wie sich das Schweigen,
das sie in der Gesellschaft erfahren, in Pakistans linken und
feministischen Kreisen reproduziert. Während die meisten linken
Parteien und Organisationen sich einfach nicht darum scheren, ist die
Stimmung, insbesondere in den etablierteren und damit einflussreichen
feministischen Kreisen: „Frauenrechte zuerst“. In der
Zwischenzeit sind viele der Organisator_Innen des Aurat-Marsches, so
werden wir argumentieren, nur gegenüber Teilen der queeren Gemeinde
einladend. Nur eine kleinere und weniger einflussreiche Gruppe von
radikalen Feminist_Innen und Sozialist_Innen wie wir will, dass alle
queeren Menschen ein integraler Bestandteil des Kampfes gegen das
Patriarchat sind. Solche ausgrenzenden Praktiken der derzeitigen
Mehrheit der pakistanischen feministischen Bewegung beginnen, unseren
Bewegungen zu schaden. Dieses Jahr haben sich queere Kollektive wie
das Non-Binary Collective (Nicht-Binäres Kollektiv) aus den
Organisationsgremien des Aurat-Marsches zurückgezogen.

Nach unserem Verständnis sind obengenannte politischen Konzepte
mehr als ausgrenzend. Sie folgen einer Logik, die von den
klassenbezogenen Strategien der Bewegung geprägt ist. Obwohl der
Aurat-Marsch bisweilen eine radikale Terminologie verwendet, würden
wir seine vorherrschende Politik zum jetzigen Zeitpunkt jedoch als
bürgerlichen Feminismus charakterisieren. Es ist richtig, dass die
pakistanische Frauenbewegung mit dem neuen Jahrhundert eine neue
Wendung genommen hat. Im Mittelpunkt der heutigen Proteste stehen die
individuellen Erfahrungen und Rechte der Frauen. Auch wenn der
Aurat-Marsch jedes Jahr einen Forderungskatalog herausgibt, ist der
klassische Kampf für eine bestimmte Gesetzgebung nicht mehr so
präsent wie früher.

Eine Bewegung mit einem Mittelklassen-Standpunkt

Ohne die wohlwollende Aufmerksamkeit schmälern zu wollen, die der
Aurat-Marsch auf die verabscheuungswürdige Frauenunterdrückung in
Pakistan gelenkt hat, sei gesagt, dass es sich dabei in der Regel um
die spezifischen Erfahrungen von Frauen aus den Mittelschichten und
der Bourgeoisie handelt. Als Reaktion auf radikalere Stimmen
innerhalb der Bewegung haben einige Führer_Innen für eine
„klassenübergreifende Bewegung“ plädiert, die „alle Frauen“
repräsentiert. Das praktische Ergebnis bliebe jedoch dasselbe, da
eine solche Konzeption notwendigerweise die Zurückstellung der
spezifischen Interessen der Bäuerinnen, der Unterschicht und der
Arbeiterinnen und damit der Interessen der Mehrheit der sozial
Unterdrückten bedeuten würde. Dies hat wichtige Implikationen für
die Perspektive sowohl der Frauen- als auch der Queer-Bewegung.

Wenn sich unsere Bewegungen nicht mit der ausbeuterischen
Arbeitsteilung des Kapitalismus befassen und sie tatsächlich in den
Mittelpunkt stellen, die sowohl in der Industrie und der
Landwirtschaft (produktive Sphäre) als auch in unseren Familien
(reproduktive Sphäre) zum Ausdruck kommt, werden sie die
pakistanische Gesellschaft nicht radikal verändern können. Die
Befreiung bleibt also auf den Bereich der formalen Rechte beschränkt,
sei es durch eine Änderung des gesunden Menschenverstands oder der
Gesetze.

Dies wiederum erklärt den Alibicharakter des Aurat-Marsches in
Karatschi gegenüber Khwaja Sira (Trans-Frauen). Diejenigen, denen
eine Bühne gegeben wird, wären oft Trans-Frauen, die sich mit Hilfe
von Nichtregierungsorganisationen in glamouröse, liberale
Berühmtheiten verwandelt haben. Dieser Ansatz stellt die Frage
jedoch vom Kopf auf die Füße. Natürlich sollten queere Menschen
das gleiche Recht haben, Prominente und Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens zu werden, aber das Problem der queeren
Gemeinschaften Pakistans, insbesondere der Khwaja Sira, besteht
darin, dass sie gezwungen sind, unter den prekärsten Bedingungen zu
leben und zu arbeiten. Die Lösung ihrer Probleme liegt nicht darin,
dass einige wenige von ihnen Teil der Elite werden, sondern darin,
ein patriarchalisches Klassensystem herauszufordern, das sie in die
Prostitution, die Aufführung von Tänzen oder zum Betteln zwingt.

Außerdem zählte diese Inklusion nur für einige queere Menschen.
Wie die Cis-Het-Organisator_Innen des Aurat-Marschs 2019 sagten:
„Unsere Mitgliedschaft ist nur für Trans-Frauen offen“. Interne
Widerstände radikaler Aktivist_Innen führten dazu, dass sie ihre
Haltung aufweichten, aber nur geringfügig. Während man sich darauf
einigte, dass der Marsch die Unterdrückung von „sexuellen und
geschlechtlichen Minderheiten“ thematisieren würde, hieß es, dass
nur binäre Trans-Frauen und geschlechtsinkonforme Menschen
Organisator_Innen des Aurat-Marsches werden könnten. Schwule und
Trans-Männer wurden ausgeschlossen, da behauptet wurde, dass
„schwule Männer auch Frauenfeindlichkeit verinnerlicht haben“.

Bevor wir erörtern, was unserer Meinung nach ein sinnvoller Kampf
sein könnte, der sich in die Kämpfe und Forderungen der queeren
Menschen integriert, lasst uns einen Blick auf die bestehende
Situation der queeren Gemeinschaft in Pakistan werfen.

Vielschichtige Natur der Unterdrückung: Familie,
Gesetz und staatliche Strukturen

Die Frauenbewegung in einem halbkolonialen Land wie Pakistan wird
eindeutig von globalen Entwicklungen wie den weltweiten Frauenstreiks
beeinflusst. Gleichzeitig hat sie aber auch ihre eigenen spezifischen
Merkmale und Herausforderungen zu bewältigen, die sich aus den
besonderen objektiven Bedingungen der pakistanischen Gesellschaft
ergeben. Die Existenz der Khwaja Sirai als soziales und kulturelles
Phänomen in der südasiatischen Gesellschaft – aus Gründen, auf
die wir in diesem Artikel nicht näher eingehen können –
ermöglicht ihre Sichtbarkeit und eine gewisse Akzeptanz für ihre
wahrnehmbare Existenz in Pakistan. Für bestimmte Theoretiker_Innen
mit postkolonialen Neigungen führt dies zu einer Romantisierung der
scheinbar fortschrittlichen südasiatischen Gesellschaft im Vergleich
zu den oft offen transphoben „westlichen“ Gesellschaften. Die
objektiven Bedingungen in Ländern wie Pakistan zeigen jedoch ein
anderes Bild. Für die meisten queeren und Transgender-Menschen ist
finanzielle Unabhängigkeit nach wie vor das größte soziale Problem
für das Funktionieren ihres Lebens. Aber die Schwere dieses Problems
ist im Fall von binären Trans-Menschen noch viel gravierender. Ihre
Geschlechtsidentität entspricht nicht dem biologischen Geschlecht,
das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, was bedeutet, dass sie
durch ihr Geschlechtsverhalten und sexuellen Ausdruck sehr sichtbar
sind. Der Preis für diese Sichtbarkeit wird zuerst im Elternhaus
bezahlt. Familien von Trans-Personen werfen sie aus dem Haus und
entziehen ihnen ihren Anteil am Erbe. Dies ist eine weit verbreitete
soziale Realität für die große Mehrheit der Trans-Menschen. In
diesem Sinne wird die spezifische Natur der Sexualität von
Trans-Menschen von der Institution Familie gegen sie verwendet. Diese
spezifische Natur nimmt ihnen auch die Möglichkeit, ein geheimes
Doppelleben zu führen wie binäre Schwule oder Lesben. Infolgedessen
bleiben den Khwaja Sira drei Berufe zur Auswahl: Sexarbeit, Tanzen
auf Partys und Betteln.

Während das weithin gefeierte Transgender-Schutzgesetz eine
dritte Geschlechtskategorie in allen offiziellen Dokumenten vorsieht,
zeigt die Frage der Erbschaft, wie Transgender-Frauen gezwungen
werden, sich als Männer eintragen zu lassen. Das liegt daran, dass
nach dem Scharia-Gesetz Männer zwei Anteile am Erbe bekommen, Frauen
nur einen. Aufgrund dieser patriarchalen Diskriminierung würden sich
die meisten Transgender-Frauen in ihren Ausweisdokumenten als Männer
eintragen lassen, in der Hoffnung, dass sie in der grausamen Anarchie
des Kapitalismus einen größeren Anteil am Erbe erhalten würden.

Transgender-Schutzgesetz: eine progressive
bürgerliche Reform?

Das 2018 von der pakistanischen Nationalversammlung verabschiedete
Transgender-Schutzgesetz (3) bietet auf dem Papier eine Reihe von
Schutzmaßnahmen für Transgender-Menschen, darunter das Recht auf
Selbstidentifikation. Es wird sowohl von Liberalen und
Nichtregierungsorganisationen (4) (5) als auch von bürgerlichen
Medien (6) (7) als fortschrittliche Maßnahme angepriesen. Während
wir die Verabschiedung eines Gesetzes begrüßen, das Menschen das
Recht auf Selbstidentifikation zugesteht, bleibt das Gesetz
weitgehend ein Fortschritt nur auf dem Papier. Erst letztes Jahr
wurde eine Transgender-Überlebende einer Vergewaltigung, Julie, acht
Tage lang mit männlichen Insassen im Gefängnis eingesperrt. (8)

Außerdem wird die Verabschiedung dieses Gesetzes als eine
bürgerliche Reform dargestellt, die von einem Teil der herrschenden
Klasse Pakistans aus der Güte ihres „fortschrittlichen“ Herzens
gewährt wird. Doch wie jeder anderen Reform geht auch dieser
Gesetzgebung eine Geschichte des Widerstands voraus. Sie folgt auf
das Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2012, das
pakistanischen Transgender-Personen zwar die Anerkennung als
Bürger_Innen eines dritten Geschlechts gewährte, aber auch empfahl,
Tests durchzuführen, um festzustellen, ob „Eunuchen“ – wie das
Urteil sie gerne nannte – tatsächlich „Eunuchen“ waren. Diese
Empfehlung führte zu Protesten von Trans-Menschen, die
argumentierten, dass Männern und Frauen die Identität auf der
Grundlage ihres Wortes zugestanden wird. Warum also müssen sich
Trans-Menschen entsetzlichen Prozeduren solch invasiver Tests
unterziehen? (9)

Darüber hinaus gewährt das Transgender-Personen-Gesetz 2018
Trans-Männern und -Frauen aller Religionen die gleichen Erbrechte,
die cis-geschlechtlichen Männern und Frauen nach islamischem Recht
zustehen (der Anteil der Frau beträgt die Hälfte des Anteils ihrer
männlichen Geschwister am Erbe). (10)

In ähnlicher Weise darf es laut dem Gesetz keine Diskriminierung
von Transgender-Personen bei der Zulassung zu öffentlichen oder
privaten Bildungseinrichtungen geben, „vorbehaltlich der Erfüllung
der vorgeschriebenen Anforderungen“. Wie Semra Islam jedoch
veranschaulicht, berücksichtigen die vorgeschriebenen Anforderungen
nicht, dass die gelebten Erfahrungen von Trans-Personen diese
Anforderungen nicht erfüllen können, da sie oft aus ihren
Familienhäusern geflohen sind, unter anderem aufgrund der
Auferlegung von normativen männlichen Rollen. (11) Dies wird auch
durch Shahnaz Khans Forschung unterstützt:

Viele brechen die Schule ab und laufen von zu Hause weg, um eine
einladendere Umgebung unter der Leitung eines Gurus zu finden, der
sie ermutigt, zu singen, zu tanzen und Formen der Lust auszudrücken,
die zu Hause und in der Schule verboten sind. (12)

Islam weist auch auf die transphobe gelegentliche Verwendung des
männlichen Pronomens „er“ für alle Transgender-Personen als
eine „eklatante ,Inkonsistenz’ im Gesetz“ (13) hin. Die
Verwendung des Begriffs „Eunuchen“ zeigt auch, wie sich die
juristischen Eliten an die diskriminierende koloniale Ausdrucksweise
angepasst haben. Kurzum, entgegen der Darstellung in den bürgerlichen
Medien ist das Gesetz in einem begrenzten Sinne fortschrittlich, und
das auch nur auf dem Papier. Das Fehlen von Strafmaßnahmen (14), die
für alles, was das Gesetz kriminalisiert, skizziert werden,
reduziert es auf einen progressiven Alibicharakter, dessen
Anwendungsbereich nur in der Theorie besteht.

Der Fluch von Abschnitt 377 und Hudood-Gesetzen
für die sexuell Unterdrückten

Eine weitere wichtige Überlegung, die berücksichtigt werden
muss, ist das Vorhandensein von Gesetzen wie Section 377 und der
Hudood Verordnungen (4 Verordnungen zur Islamisierung des Strafrechts
in Pakistan, die der Diktator Zia ul-Haq 1979 erließ), die Teil des
komplexen Rechtssystems in Pakistan sind, in dem zwei parallele
Systeme gleichzeitig gelten. Es gibt Gesetze, die auf der Verfassung
beruhen, und solche, die sich aus einer bestimmten (hanafitischen;
eine der 4 Rechtsschulen des sunnitischen Islams) Lesart der Scharia,
also der islamischen Rechtsprechung, ableiten. Wie Khan darlegt,
gewähren diese Gesetze Männern und Frauen unterschiedliche Rechte
in Bezug auf Heirat und Erbschaft. (15) Auf diese Weise lassen andere
diskriminierende Gesetze und soziale Strukturen trotz scheinbar
antidiskriminierender und trans-anerkennender Gesetze oft wenig Raum
für Trans-Frauen, sich in Personaldokumenten tatsächlich als Frauen
auszuweisen. Denn wenn sie das täten, würde dies bedeuten, dass sie
auf die Hälfte des Anteils am Erbe verzichten müssten, den sie
erhalten würden, wenn sie sich als Männer auswiesen.

Dies verdeutlicht das objektive Interesse von Trans-Frauen und
Cis-het-Frauen, einen kollektiven Kampf gegen eine solche
Gesetzgebung unter der Führung eines Programms der
Arbeiter_Innenklasse zu führen. Warum bestehen wir auf der
Notwendigkeit eines Programms der Arbeiter_Innenklasse?

Wir erkennen zwar an, dass Trans-Menschen aus allen Klassen unter
schwerer und systematischer Unterdrückung leiden, aber ihre
unterschiedlichen Klasseninteressen verleihen ihr auch einen anderen
Ausdruck und prägen das politische Programm und die Forderungen, die
sie vertreten und priorisieren. Für Trans-Frauen (und -Männer) aus
der Arbeiter_Innenklasse, binäre lesbische Frauen oder schwule
Männer und nicht-binäre Menschen ist die Unterdrückung selbst an
ihre Klassenposition gebunden. Das bedeutet nicht nur, dass sie
dieselben objektiven Interessen mit allen Teilen der
Arbeiter_Innenklasse teilen, sondern auch, dass ihre Befreiung eng
mit der Bewältigung der sozialen Benachteiligung, der Armut und des
Elends verbunden ist, mit denen sie als Trans-Menschen mit einem
Arbeiter_Innenhintergrund konfrontiert sind.

Die Situation für unterdrückte Menschen aus einem
kleinbürgerlichen oder Mittelschichts-Hintergrund (um nicht von der
herrschenden Klasse zu sprechen) stellt insofern anders dar, als sie
auch an die sozialen Privilegien gebunden sind, die mit ihrer
Klassenposition einhergehen. Daher neigen sie dazu, sich auf den
Kampf um gleiche Rechte zu konzentrieren oder ihn sogar zu begrenzen,
und vernachlässigen dabei die große Masse der Trans-Menschen.
Während wir möglichst viele Unterdrückte aus der
Arbeiter_Innenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, aber auch aus
dem städtischen Kleinbürger_Innentum und den Mittelschichten
vereinen wollen, bleibt die Frage, welche soziale Klasse eine solche
Bewegung anführt.

Aus unserer Sicht ist ein Programm der Arbeiter_Innenklasse der
Schlüssel, wenn wir konsequent für die Befreiung aller
Unterdrückten kämpfen wollen, denn nur ein solches Programm kann
den Kampf mit seinen gesellschaftlichen Wurzeln, der
geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Kapitalismus und der damit
einhergehenden patriarchalischen Familieninstitution und -gesetze,
verbinden.

Wie wir in den folgenden Abschnitten zeigen werden, weist die
diskriminierende Gesetzgebung auf die Notwendigkeit eines kollektiven
Kampfes zusammen mit allen queeren Menschen hin, einschließlich der
binären schwulen und lesbischen sowie der nicht-binären Menschen.

Während es für Transgender-Personen einen gewissen Schutz gibt,
wenn auch nur auf dem Papier, gibt es in Pakistan keine
Bürger_Innenrechtsgesetze zum Schutz von Schwulen und Lesben vor
Diskriminierung. (16) Homosexuelle Handlungen sind nach Gesetzen aus
der Kolonialzeit wie Abschnitt 377 illegal. Ebenso können eine
heterosexuelle Frau und ein heterosexueller Mann, die nicht
miteinander verheiratet sind, nach Abschnitt 496B des pakistanischen
Strafgesetzbuchs ins Gefängnis gehen und mit einer Geldstrafe belegt
werden, wenn sie einvernehmlichen Sex miteinander haben. (17) Wie
Rechtsexpert_Innen wie Rafia Zakaria betonten:

„Die Unterlagen über Frauen, die unter dem Vorwurf der Unzucht
oder des Ehebruchs nach den Hudood-Verordnungen inhaftiert wurden,
zeigen, dass es die armen Frauen Pakistans sind, die am häufigsten
Opfer der unkontrollierten Macht des Staates bei der Gesetzgebung zur
Moral im Namen des Islam werden. Daher mögen die versprochenen
Änderungen der Rechtsprechung im Rahmen des [Frauenschutz-]Gesetzes
zwar ein linderndes Pflaster auf eine eiternde Wunde legen, aber sie
gehen an der Realität vorbei, dass eine arme Frau, die sich dazu
entschließt, eine Vergewaltigungsklage einzureichen, immer noch mit
unglaublichen Herausforderungen konfrontiert ist, die von diesem
politisch inspirierten Stück Gesetzgebung grob ignoriert werden.“
(18)

In ähnlicher Weise haben schwule Männer und Khwaja Sira aus der
Arbeiter_Innenklasse nur zwei Möglichkeiten, wenn sie Angst vor
einer HIV/AIDS-Exposition haben: in ein öffentliches Krankenhaus zu
gehen, um innerhalb von 72 Stunden nach der Exposition Zugang zu PEP
(Postexpositionsprophylaxe) zu erhalten oder zu riskieren, HIV/AIDS
zu bekommen, indem sie nichts dagegen unternehmen. An dieser Stelle
kommen Abschnitt 377 und die Heuchelei des pakistanischen Staates ins
Spiel. Einerseits wird PEP aufgrund internationaler Abkommen und der
finanziellen Unterstützung des pakistanischen Staates von der
Regierung in öffentlichen Krankenhäusern angeboten, in denen es
Abteilungen gibt – separate Räume für Khwaja Sira, Schwule und
Lesben. Auf der anderen Seite wird Abschnitt 377 gegen diese Menschen
eingesetzt, weil sie „unnatürlichen Sex“ haben, und es gab sogar
schon Fälle, in denen Ärzt_Innen diese Menschen wegen dieses
„Verbrechens“ bei der Polizei angezeigt haben. Die Ärzt_Innen in
solchen Einrichtungen verfügen über immense Macht über diese
verletzlichen Patient_Innen, weil PEP nur nach dem Sammeln nicht nur
persönlich identifizierbarer Informationen, sondern auch übermäßig
eindringlicher Details wie dem Geschlecht der Person, mit der man Sex
hatte, bereitgestellt wird.

Währenddessen müssen Schwule aus reichen, gehobenen und
bürgerlichen Verhältnissen nicht mit all diesen Hürden kämpfen,
wenn sie die „richtigen Kontakte“ haben. Natürlich gibt es auch
in der queeren Gemeinschaft verschiedene Klassen, deren objektive
Interessen im Kapitalismus unvereinbar sind. Kleinbürgerliche queere
Menschen hatten ebenso wie die entsprechenden Cis-het-Menschen ein
Problem damit, die Erkennungsfahne beim Aurat-Marsch zu hissen. Ihrer
Meinung nach ist eine solche Sichtbarkeit „nicht“ das, was wir
brauchen, weil sie uns angreifbarer macht. Auf der anderen Seite sind
kleinbürgerliche Queers, die Nichtregierungsorganisationen leiten,
ins Ausland reisen und Zuschüsse von der EU bekommen, bereits
sichtbar und als schwul geoutet. Ihre sexuelle Identität ist bereits
offengelegt, weil sie nicht denselben Gefahren ausgesetzt sind wie
ein schwuler Mann aus der Arbeiter_Innenklasse aufgrund des Privilegs
ihrer sozialen Klasse. Queere Menschen aus der Arbeiter_Innenklasse
fragen ihre kleinbürgerlichen Kolleg_Innen, warum sie ihre
privilegierte Position in der Gesellschaft nicht nutzen, um die Frage
der Offenlegung der eigenen sexuellen Identität zu politisieren.
„Warum kämpfen sie nicht dafür, dass die große Mehrheit von uns
sich outen kann?“, fragen sie. „Queerness ist ein politisches
Problem, das im Mainstream verankert werden muss. Unsere Sichtbarkeit
ist nicht irgendein liberales Narrativ, es ist eine politische Frage.
Indem sie sich weigern, die Frage zu politisieren, drängen
privilegierte queere Menschen die größere queere Gemeinschaft dazu,
im Verborgenen zu bleiben.“

All dies verdeutlicht, dass Cis-het-Frauen, binäre Trans-,
schwule und lesbische sowie nicht-binäre Menschen aus der
Arbeiter_Innenklasse aufgrund ihrer Klassenlage einer spezifischen
sozialen Unterdrückung ausgesetzt sind und daher ein objektives
Interesse hegen, gemeinsam zu kämpfen. Es ist wahr, dass
Machtkämpfe, Konkurrenz und Gleichgültigkeit die Gemeinschaft
derjenigen plagen, die aufgrund ihres Geschlechts unterdrückt
werden. Wir sehen das an der mangelnden Bereitschaft von
Arbeiterinnen, für die bürgerlichen Freiheiten lesbischer
Kolleginnen zu kämpfen. Wir sehen dies auch in der Gleichgültigkeit,
die gegenüber der Unterdrückung von Schwulen und Lesben von
Trans-Frauen an den Tag gelegt wird, nachdem das
Transgender-Schutzgesetz verabschiedet wurde. Der Terfismus
(Transphobie) in der Frauen- oder binären Schwulen- und
Lesbenbewegung ist ein weiteres Beispiel dafür.

Dies verdeutlicht, was die Liga bereits in ihren Thesen zur
Trans-Unterdrückung festgestellt hat: „ … Konflikte zwischen
sozial Unterdrückten, das Aufeinanderprallen von gegenseitigen
Forderungen und Ansprüchen sind in der bürgerlichen Gesellschaft
keine Seltenheit, sie kommen immer wieder vor.“ (19)

Kampf gegen die Institutionen bürgerliche
Familie und Kapitalismus

Der entscheidende Punkt hier ist, dass, ob die geschlechtlich und
sexuell Unterdrückten sich dessen bewusst sind oder nicht, ihre
Unterdrückung in der Institution der bürgerlichen Familie im
Kapitalismus verwurzelt ist. Diese Unterdrückung ist entscheidend
für die Funktionsweise des Kapitalismus. Ob man sich dessen nun in
der gegenwärtigen Lage bewusst ist oder nicht, unser objektives
Interesse als Cis-het-Frauen, binäre Trans-, schwule und lesbische
und nicht-binäre Menschen aus der Arbeiter_Innenklasse liegt daher
darin, gemeinsam gegen repressive und diskriminierende Gesetze und
für bürgerliche Freiheiten wie das Recht zu heiraten, das Recht zu
adoptieren usw. zu kämpfen.

Unsere cis-het und schwulen männlichen Genoss_Innen aus der
Arbeiter_Innenklasse sollten auch Teil dieses Kampfes werden. Warum?
Ihr objektives Interesse liegt in einem antisexistischen Kampf. Es
sind immer diejenigen aus dem Arbeiter_Innenmilieu, die für etwas so
Menschliches und Natürliches wie Sex zum Opfer werden. Unser Recht
auf körperliche Autonomie als Menschen sollte nicht von diesem oder
jenem religiösen oder kulturellen Dogma abhängig gemacht werden.

Es stimmt, dass es angesichts der extrem rückständigen Natur des
pakistanischen Patriarchats gefährlich sein kann, seine Stimme gegen
ein solches Dogma zu erheben. Aber jede politische Arbeit in Pakistan
birgt die Gefahr staatlicher Unterdrückung. Wenn wir schon in Bezug
auf unsere grundlegenden bürgerlichen Freiheiten unterdrückt 
werden, können wir genauso gut mit staatlicher Repression rechnen,
wenn wir für das kämpfen, was unser kollektives Recht ist, nämlich
das Recht, unser Leben in Würde und mit den Freiheiten zu leben, die
jeder Mensch verdient.

Aber kann dieser Kampf nur über die Gesetzgebung gewonnen werden?
Nein. Es muss ein Kampf geführt werden. Es muss ein Ringen sein, das
von Anfang an sehr klar ist über die unversöhnlichen Interessen der
queeren Menschen aus der Arbeiter_Innen- und der herrschenden Klasse
sowie auch jener queeren Menschen, die sich sozialer Privilegien
erfreuen und diese gegen die Interessen der Arbeiter_Innenklasse
verteidigen. Queere Menschen aus der Arbeiter_Innenklasse haben ihre
Verbündeten in den cis-het Männern und Frauen der
Arbeiter_Innenklasse. Gleichzeitig versuchen sie, queere
kleinbürgerliche und Mittelschichts-Menschen und cis-het Männer und
Frauen für ihre Sache zu gewinnen, ohne Zugeständnisse an
kleinbürgerliche politische Programme zu machen. Während die
Arbeiter_Innenklasse in der Lage sein kann, die Mittelschichten der
Gesellschaft hinter sich zu versammeln, ist es klar, dass diejenigen,
die aus einem bürgerlichen Hintergrund kommen, die die
Produktionsmittel besitzen und verwalten, immer im Widerspruch zu
denen stehen werden, die mit diesen Produktionsmitteln arbeiten.
Daher werden letztere mit ihrer Klasse brechen müssen. Beider
Interessen sind unversöhnlich, und das ist das Wesen der
Produktionsverhältnisse und die Grundlage der politischen Ökonomie.

Als wissenschaftliche Marxist_Innen erkennen wir auch die
grassierende Trans- und Queerphobie in der Arbeiter_Innenklasse, und
wir wollen eine Strategie entwickeln, mit der wir auch gegen solche
Übel in der Arbeiter_Innenbewegung aufstehen, weil unser wirkliches
materielles Interesse darin liegt, gemeinsam zu kämpfen. Aber wir
sind uns darüber im Klaren, dass dies – genau wie im Fall des
Kampfes gegen die Unterdrückung der Frauen in der
Arbeiter_Innenklasse – eine scharfe und dauerhafte
Auseinandersetzung mit männlichem Chauvinismus und Transphobie
innerhalb der Klasse erfordert, einschließlich des Rechts auf Caucus
für Trans-Personen und der offenen Herausforderung aller Formen von
Transphobie innerhalb unserer Bewegung.

Letztendlich liegt es im objektiven Interesse der gesamten
Arbeiter_Innenbewegung, einschließlich der cis-het Männer und
Frauen sowie aller queeren Menschen der Arbeiter_Innenklasse, zu
verstehen, dass die Wurzel der geschlechtsspezifischen sozialen
Unterdrückung in der Institution der bürgerlichen Familie liegt. 
Um gegen diese Wurzel zu kämpfen, müssen wir kollektiv uns für die
Abschaffung des Privateigentums engagieren. Damit meinen wir
keineswegs, dass wir den Kampf für die gleichberechtigte Teilhabe
von Frauen der Arbeiter_Innenklasse und queeren Menschen am Erbe
aufgeben. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen persönlichem
Eigentum und Privateigentum. Letzteres ist das Eigentum an den
Produktionsmitteln, das die Essenz der bestehenden gesellschaftlichen
Verhältnisse ist.

Was wir meinen, ist, dass unsere Kämpfe darauf ausgerichtet sein
müssen, die Wurzel unserer kollektiven Unterdrückung und Ausbeutung
abzuschaffen, das heißt, die ungleichen Eigentumsverhältnisse unter
der Anarchie des Kapitals. Nur unter der Führung einer wirklich
revolutionären Strategie können wir die gemeinsame Ursache unserer
Unterdrückung mit Stumpf und Stiel ausreißen. Eine solche Strategie
muss auf unnachgiebiger Klassenunabhängigkeit und der kollektiven
Notwendigkeit beruhen, das ausbeuterische und unterdrückerische
System des Kapitalismus abzuschaffen und es durch eine demokratische
Regierung der Arbeiter_Innen zu ersetzen, die alle umfasst, also auch
cis-het und queere Arbeiter_Innen.

In der gegenwärtigen Situation müssen wir unmittelbare
demokratische und soziale Forderungen für Trans-Personen mit den
breiteren Fragen der Arbeiter_Innenklasse verknüpfen.

Wir können unseren Kampf in diese Richtung beginnen, indem wir
eine Kampagne für die Abschaffung von Abschnitt 377 und aller
anderen diskriminierenden Gesetze aufbauen. Frauen und Trans-Personen
müssen auf allen Ebenen, vor den Gerichten und im privaten und
öffentlichen Leben die gleichen Rechte erhalten.

Wir müssen ein Recht auf Bildung, Ausbildung und Arbeit für alle
Trans-Menschen bei voller Bezahlung sicherstellen, damit sie nicht
zur Prostitution und zum Betteln gezwungen werden.

Trans-Menschen müssen, genau wie Frauen, das Recht auf Schutz vor
Gewalt und Entbehrung zu Hause sowie durch reaktionäre Kräfte
haben. Wir fordern den Bau von sicheren Häusern für Opfer solcher
Gewalt – öffentlich finanziert, aber von Trans-Menschen selbst
betrieben.

Solche unmittelbaren Forderungen sollten beim Aurat-Marsch in
diesem Jahr und von der gesamten Frauenbewegung sowie von den
Gewerkschaften und allen linken Organisationen als Teil des Kampfes
gegen soziale Diskriminierung im ganzen Land aufgegriffen werden.

Endnoten

(1) Aurat ist das Urdu-Wort für Frauen. Der Aurat-Marsch wird
seit 2018 am achten März organisiert. Für weitere Informationen
lesen Sie den Artikel von Minerwa Tahir in Fight 8/2020

(2) Wir verwenden queer als allumfassenden Begriff, um alle
Menschen zu bezeichnen, deren sexuelle oder geschlechtliche
Identitäten nicht dem heteronormativen binären Geschlecht
entsprechen.

(3) Nadir Guramani, “National Assembly passes bill seeking
protection of transgender rights”, Dawn, May 8, 2018
https://www.dawn.com/news/1406400

(4) Rimmel Mohydin, “With Transgender Rights, Pakistan has an
Opportunity to be a Pathbreaker”, Amnesty International, January
22, 2019
https://www.amnesty.org/en/latest/news/2019/01/with-transgender-rights-pakistan-has-an-opportunity-to-be-a-path-breaker/

(5) “Kami Sid expresses joy as the Transgender Persons
(Protection of Rights) Bill 2017 passes”, Images, May 8, 2018
https://images.dawn.com/news/1180033/kami-sid-expresses-joy-as-the-transgender-persons-protection-of-rights-bill-2017-passes

(6) “Education for trans people”, Dawn, April 18, 2018
https://www.dawn.com/news/1402275

(7) “Affirming trans identity”, Dawn, May 11, 2018
https://www.dawn.com/news/14

(8) Saniyah Eman, “The not-so-curious case of trans oppression
in Pakistan”, The News, September 11, 2020
https://www.thenews.com.pk/magazine/us/712330-the-not-so-curious-case-of-trans-oppression-in-pakistan

(9) Semra Islam, “The Transgender Community and the Right to
Equality in Pakistan: Review of the Transgender Persons Act 2018”,
2020, LUMS Law Journal 2020, 7:1
https://sahsol.lums.edu.pk/law-journal/transgender-community-and-right-equality-pakistan-review-transgender-persons-act-2018

(10) Ebenda

(11) Ebenda

(12) Shahnaz Khan, “What is in a Name? Khwaja Sara, Hijra and
Eunuchs in Pakistan”, Indian Journal of Gender Studies,
23(2):218-242, May 18, 2016
https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0971521516635327

(13) Semra Islam, “The Transgender Community and the Right to
Equality in Pakistan: Review of the Transgender Persons Act 2018”,
2020, LUMS Law Journal 2020, 7:1
https://sahsol.lums.edu.pk/law-journal/transgender-community-and-right-equality-pakistan-review-transgender-persons-act-2018

(14) Ebenda

(15) Shahnaz Khan, “What is in a Name? Khwaja Sara, Hijra and
Eunuchs in Pakistan”, Indian Journal of Gender Studies,
23(2):218-242, May 18, 2016
https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0971521516635327

(16) Meghan Davidson Ladly, “Gay Pakistanis, Still in Shadows,
Seek Acceptance”, The New York Times, November 3, 2012
https://www.nytimes.com/2012/11/04/world/asia/gays-in-pakistan-move-cautiously-to-gain-acceptance.html?pagewanted=all&_r=0

(17) Rafia Zakaria, “Sex and the state”, The Hindu, December
29, 2006
https://frontline.thehindu.com/world-affairs/article30211901.ece

(18) Ebenda

(19) International Executive Committee, “The Oppression of
Transgender People”, League for the Fifth International, March 17,
2019
https://fifthinternational.org/content/oppression-transgender-people




Russland: Der Fall Nawalny und das Regime Putin

Robert Teller, Infomail 1140, 22. Februar 2021

zuerst veröffentlicht unter: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/02/22/russland-der-fall-nawalny-und-das-regime-putin/

Am 20. Februar schloss der bislang letzte Akt der juristischen Farce um Alexei Nawalny, der Galionsfigur der russischen Opposition. Das Moskauer Babuschkinskij-Gericht wies die Berufung gegen seine Verurteilung zu rund 3,5 Jahren Lagerhaft ab. Im selben Gerichtssaal wurde auch die Strafe von umgerechnet 9.500 Euro wegen Diffamierung eines Kriegsveteranen bestätigt.

Zu 3,5 Jahren Haft war Nawalny schon Anfang Februar verurteilt worden. Das Berufsgericht bestätigte dies, auch wenn die Strafdauer um einige Wochen reduziert wurde.

Überraschend kamen weder die Festnahme Nawalnys am Moskauer Flughafen am 17. Januar, die von der russischen Regierung im Voraus angekündigt war, noch das Urteil, das offensichtlich darauf ausgerichtet ist, die Galionsfigur der bürgerlichen, prowestlichen Opposition gegen Putin zumindest bis zur nächsten Präsidentschaftswahl aus dem Verkehr zu ziehen – sei es durch Anschläge, sein Exil oder eben jederzeit durch willfährige Richter_Innen verlängerte Haft.

Die Begründung der Justiz wirft ein bezeichnendes Licht auf das System Putin. Nawalny hätte, so das Urteil, gegen Bewährungsauflagen verstoßen, die sich aus früheren Strafverfahren ergeben hätten. Als er knapp der Vergiftung – mutmaßlich durch Agent_Innen des russischen Staates – entgangen war, wurde er in Berlin behandelt. Einige Zeit war er komatös. Während dieser Zeit, so das Gericht, hätte er sich nicht an die Bewährungsauflagen gehalten, zu denen u. a. eine zweiwöchentliche Meldung bei den russischen Behörden gehört.

Das Skandalurteil stellt alles andere als einen Einzelfall dar. Russische Oppositionelle – ganz zu schweigen von Angehörigen unterdrückter Nationalitäten oder von regimekritischen Linken – sind seit Jahren solchen Formen staatlicher Unterdrückung ausgesetzt, die selbst nur einen Teil des Herrschaftssystems Putins darstellen.

Tatsächlich trifft die politische Repression Linke im Allgemeinen härter als bürgerliche Rival_Innen. Vor einem Jahr wurde im sog. „Network Case“ eine Gruppe antifaschistischer Aktivist_Innen in der Stadt Penza zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Urteile stützten sich auf erzwungene Geständnisse. Ende Dezember wurde Sergei Udalzow, ein führendes Mitglied der Parteienkoalition „Linksfront“, der bereits eine viereinhalbjährige Haftstrafe wegen seiner Beteiligung an den Protesten 2012 abgesessen hat, verhaftet und wegen einer nicht genehmigten Protestaktion zu 10 Tagen Haft verurteilt.

Massenproteste

Der entscheidende Unterschied zu den unzähligen Fällen politischer Repression, inklusive Skandalurteilen, langjähriger Haft wegen der Ausübung demokratischer Rechte, liegt aber in Folgendem: Über lange Jahre erzielten diese eine abschreckende Wirkung, weil sich das System Putin neben Repression und einer Monopolisierung der Medien auf eine gewisse soziale Stabilität im Inneren stützen konnte.

Diesmal ist es anders. Die Verhaftung und die Verurteilung Nawalnys lösten eine Welle von Massenprotesten im ganzen Land aus. Diese wurden zu den größten der vergangenen Jahre, mit etwa 15.000 Teilnehmer_Innen in Moskau und über 100.000 in 80 oder mehr Städten landesweit. Die Bedeutung der nicht genehmigten Demonstrationen lässt sich auch an der Anzahl verhafteter Demonstrant_Innen ablesen. Laut OVD-Info, einer russischen Menschenrechtsorganisation, wurden allein Mitte Januar mindestens 4.000 Teilnehmer_Innen festgenommen. Gegen viele wurden Strafverfahren eingeleitet oder in Schnellverfahren Geldstrafen oder Administrativhaft verhängt. Auf weiteren Demonstrationen am 31. Januar wurden erneut mindestens 5.600 Teilnehmer_Innen festgenommen. Menschen wurden nicht erst wegen der Teilnahme an Protesten verhaftet, sondern auch wegen des Teilens von nicht genehmigten Protestaufrufen auf Social Media. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, dass die Polizei ohne Anlass brutal gegen Demonstrant_Innen vorgeht. Auch einige linke Organisationen unterstützten die Proteste kritisch, also ohne dabei Nawalnys politischen Zielen Anerkennung zukommen zu lassen. Nach den Verhaftungen vom 23. und 31. Januar ruft Nawalnys Bewegung nun dazu auf, weitere Proteste zu unterlassen und sich stattdessen für die Duma-Wahlen im September bereitzuhalten.

Wie immer die weitere Mobilisierung verlaufen wird, so signalisiert die Bewegung doch eine bedeutende Veränderung der politischen Lage in Russland, die weit über die Frage der Freilassung von Nawalny hinausgeht. Angesichts der ökonomischen und politischen Probleme des russischen Imperialismus kann das Regime Putins selbst ins Wanken geraten. Nawalny und die bürgerlichen, prowestlichen Kräfte hoffen, aus dieser Lage Kapital schlagen zu können. Es ist kein Zufall, dass sie, anders als in früheren Jahren, die Kritik an Putin vor allem auf Korruptionsvorwürfe lenken, auf die Bereicherung durch ihn und seine Unterstützer_Innen. Eine eigens von Nawalny gegründete Antikorruptions-Stiftung veröffentlichte u. a. ein bekannt gewordenes Video über einen teuren Palast am Schwarzen Meer, der Putin zugeschrieben wird und dessen persönliche Bereicherung belegen soll. Mit diesen Enthüllungen versucht er zugleich, sozial heterogene Putin-Gegner_Innen, die von unzufriedenen Lohnabhängigen und Armen über städtische Mittelschichten und Aufsteiger_Innen bis zu unzufriedenen Kapitalist_Innen reichen, anzusprechen, die meinen, im System Putin zu kurz gekommen zu sein.

Nawalny und die rechtsliberale Opposition

Das darf aber nicht über seine politische Ausrichtung hinwegtäuschen. Die Korruptionsvorwürfe sind für Nawalny Mittel zum Zweck und haben darüber hinaus den Vorteil, dass er seine eigentlichen politischen, programmatischen Ziele in den Hintergrund treten lassen kann.

Nawalny ist ein Rechtsliberaler, der Russland vor Putin retten will. Er fand in der Vergangenheit an liberalen wie auch rechtsnationalistischen Gruppierungen und Organisationen Gefallen und hat – durchaus in Übereinstimmung mit Putins Ansichten – „russische Interessen“ gegenüber den demokratischen Ambitionen nichtrussischer Völker und Nationen verteidigt. Von seinen extrem rassistischen Sprüchen – so bezeichnete er 2007 die Menschen aus dem Kaukasus als „Kakerlaken“ – hat er sich zwar nicht distanziert, doch der Rassismusvorwurf scheint nun entweder mit der Zeit verblasst oder durch Märtyrertum getilgt zu sein. Seine rassistischen Ausfälle u. a. gegen Tschetschen_Innen zeigen, dass er der demokratische Weltverbesserer, als den ihn westliche Fans gerne sehen, nicht ist und nicht sein will. Nawalny präsentiert sich als ein Verbesserer der russischen Nation. Beschönigend bezeichnete er sich als „nationalistischen Demokraten“. Als solcher muss er mit Putin um die Gunst der Nation wetteifern und will nicht zurückfallen, wenn es gilt, die „Gefühle“ des Volkes zu bedienen.

Aktuell reduziert Nawalny alles Schlechte in Russland auf eine behauptete Korruptheit der Eliten. Damit knüpft er erstens an die Wahrnehmung vieler Menschen an, ihnen werde „alles geraubt“. Das stimmt zwar, aber die Korruption in Russland ist dabei eher ein Nebenaspekt gegenüber der  formell legalen Privatisierung von ehemaligem Volkseigentum nach der Restauration des Kapitalismus, die unter Putin fortgesetzt wurde. Politisch ist der bloße Korruptionsvorwurf im Übrigen vor allem demagogisch, weil Nawalny als bürgerlicher Populist natürlich nicht die politökonomischen Ursachen kritisiert, die sie hervorbringen, sondern letztlich selbst an die Futtertröge rankommen will.

Zweitens kritisiert Nawalny damit die Eigenschaft des russischen Systems, die Teilhabe sowohl des Volkes als auch von Teilen der herrschenden Klasse an der Gestaltung der politischer Macht zu beschneiden. Dies entspricht nicht seiner Vorstellung einer anständigen kapitalistischen Großmacht, die auf Augenhöhe mit anderen, v. a. westlichen, Großmächten agieren will und über entsprechende politische Strukturen verfügen sollte, in welchen vor allem auch die verschiedenen Teile der Bourgeoisie selbst demokratisch um die politische Vorherrschaft konkurrieren können. Der Zustand des russischen Staates passt in seinen Augen nicht recht zu einem imperialistischen Land, das zu neuem nationalen Selbstbewusstsein gelangt ist.

Und drittens macht ihn dieser Populismus auch für seine deutschen und westeuropäischen Unterstützer_Innen interessant, die die vorliegenden imperialistischen Konflikte mit Russland lieber als Auseinandersetzungen um „Demokratie und Rechtsstaat“ statt um Märkte und imperiale Einflusszonen verstanden haben wollen. Es handelt sich um solche, die insbesondere dort, wo unmittelbar deutsche Geschäftsinteressen in Frage stehen, auch weiterhin „vernünftig“ mit Russland zusammenarbeiten und gleichzeitig ein legitimes, gesittetes, freiheitlich-demokratisches politisches und militärisches Drohpotential schaffen und vergrößern wollen. Um Russlands Illegitimität Putin direkt in die Schuhe schieben zu können, ist es hilfreich, ein Gesicht der Legitimität vorzuführen, einen Anti-Putin. Nawalny reduziert die Ära Putin auf Korruption und Despotismus. Das reicht, um von den Vertreter_Innen des imperialistischen Deutschlands geadelt zu werden.

Nawalnys Politik drückt primär die Interessenlage nicht allzu großer Teile der Bourgeoisie und des städtischen Kleinbürger_Innentums aus, die von einer stärkeren Öffnung zum Westen mehr zu gewinnen als zu verlieren haben. Er findet, wie die Reichweite der Proteste zeigt, aber auch Anklang in der städtischen Jugend, unter Arbeiter_Innen und Mittelschichten, die entweder Illusionen in seine Version eines modernen, aufgeklärten Populismus hegen oder sich trotz Fehlens solcher Illusionen auf gemeinsame Ziele wie die Beseitigung politischer Verfolgung beziehen.

Nawalny konnte lange mit seinem Populismus einen eher beschränkten Kreis an Wähler_Innen und Unterstützer_Innen mobilisieren und diese Basis reichte bei weitem nicht aus, eine ernsthafte Bedrohung für Putin darzustellen. Dies könnte sich jedoch ändern. Bei Wahlen propagiert er die Taktik des sog. „Smart Voting“. Diese besteht darin, stets die aussichtsreichsten Putin feindlichen Kandidat_Innen zu unterstützen, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit oder ihrem Programm. Bisher konnten Putins Leute oft tatsächlich deutliche Stimmenmehrheiten erzielen, was nicht in erster Linie manipulierten Wahlen zugeschrieben werden konnte, sondern auch mit der Zersplitterung und teilweisen Integration der Opposition ins Herrschaftssystem zu tun hatte. Mit seiner Wahltaktik versucht Nawalny gewissermaßen automatisch, alle Anti-Putin-Stimmen für sich zu beanspruchen. Zu den von ihm unterstützten Kandidat_Innen gehören gegebenenfalls auch Angehörige der „systemtreuen Opposition“ wie der KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation) oder der ultrarechten LDPR (Liberaldemokratische Partei Russlands).

Seine begrenzte Massenbasis und die nicht vorhandene Legitimation aus dem Staatsapparat heraus stellt bisher aber auch die Grenze der Figur Nawalny dar – und damit der möglichen Einflussnahme westlicher Mächte. Nawalny biederte sich diesen dadurch an, dass er abgesehen von dem Wunsch nach einer Öffnung zum Westen wesentliche außenpolitische Fragen – wie die der militärischen Interventionen, der Nahostpolitik usw. – offenließ oder mit unverbindlichen Phrasen beantwortete. Umgekehrt verteidigte er auch russische Interessen wie z. B. auf der Krim oder in der Ostukraine.

Auch wenn Nawalnys populistische Methode zu gewissen Wahlerfolgen führen und der Legitimität von Putins System Kratzer zufügen sollte, beinhaltet sie kein politisches Konzept für ein „Russland ohne Putin“. Nawalny mag für manche als authentische und mitreißende Oppositionsfigur erscheinen, weil er seit Jahren einen Gegenpol zu Putin bildet, sein persönliches Schicksal dabei hintenanstellt und sich nicht auf die begrenzten Möglichkeiten der „systemtreuen“ Parteien beschränkt. Letztlich ordnet er aber nicht nur sich selbst, sondern auch die Bewegung auf der Straße seiner Wahltaktik unter.

Nawalnys politisches Programm ist, soweit es überhaupt explizit formuliert wurde, reaktionär. Aber natürlich ist das längst nicht alles, was es über seine Verhaftung und die Protestbewegung zu sagen gibt. Die Verfolgung Nawalnys ist ein bewusster Akt eines bürgerlich-bonapartistischen Regimes, dessen politische Legitimität Risse bekommen hat. Dies spielt sich ab auf dem Boden einer Klassengesellschaft, einer imperialistischen Macht, die in einer wirtschaftlichen Krise steckt und ihre Interessen gegenüber imperialistischen Rival_Innen zu behaupten hat.

Ursprung des Konflikts mit Putin

Die Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen UdSSR hat aus den ehemals vergesellschafteten Industrien, vor allem im Energiesektor, privates Kapital entstehen lassen. Doch die neu entstandene bürgerliche Klasse, die Oligarchie, hatte als solche keine kontinuierliche Geschichte. Sie vermochte nicht, ein gemeinsames gesamtkapitalistisches Interesse zu verfolgen, vielmehr drohte ihre mehr oder minder ungezügelte Aneignung und Plünderung des Volksvermögens, die Wirtschaft zu ruinieren. Die Zukunft Russlands als kapitalistische Großmacht war in den 1990er Jahren ernsthaft in Frage gestellt. Das zeigte sich damals, als Kaugummi und McDonald’s das Land eroberten, es aber unter Jelzin zu zerfallen drohte. Nicht nur an der Peripherie, wo Völker und Nationen neue oder alte Ansprüche auf politische Eigenständigkeit stellten, war der Staat im Zerfall, sondern auch im Innern, wo Oligarch_Innen regionale Regierungen aus dem föderalen System herauskauften und dadurch zeigten, wie wenig „nationales Gesamtinteresse“ sie zu verfolgen beabsichtigten. Der desolate Zustand des politischen Überbaus spiegelte den inneren Zustand der Bourgeoisie wider, einer Klasse, die kein Bewusstsein dafür besaß, welche Herausforderung es bedeutet, sich in der globalen Konkurrenz zu behaupten.

Putin hat in den vergangenen 20 Jahren ein bonapartistisches Regime geschaffen, das sich durch starke zentralistische Machtstrukturen, ein Übergewicht des Sicherheitsapparates und mit diesem historisch verbundener Teile der Bourgeoisie auszeichnet. Putin setzte der drohenden Balkanisierung und Herabstufung Russlands zur Halbkolonie im Zuge der neoliberalen Schocktherapie der 1990er Jahre ein Ende und schuf einen politischen Überbau, mit dem Russland wieder als kapitalistische Großmacht auf der Weltbühne stehen kann. Dieses System funktioniert so, dass ein „nationales Gesamtinteresse“ nicht notwendigerweise durch die, sondern gegebenenfalls und häufig gegen oder über die Köpfe der Bourgeoisie hinweg zur Geltung kommen muss. Die Anerkennung Putins als Repräsentanten des „ideellen Gesamtkapitals“ durch die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie ist nicht ein Resultat, sondern eine Vorbedingung für die politische Repräsentation ihrer Interessen. Oligarch_Innen, die sich dem widersetzten, erhielten entsprechende Lektionen, wie etwa Chodorkowski 2004. Natürlich ist das nicht eine Abweichung von irgendeiner „Idealform“ bürgerlicher Demokratie, sondern ihre spezielle Form unter einer bestimmten historisch bedingten Klassenkonstellation. Der Konflikt, den Nawalny mit Putins Staatsapparat austrägt, ist letztlich ein Resultat der Art und Weise, wie das gesellschaftliche Eigentum der UdSSR privatisiert worden war. Putins „Partei von Räuber_Innen und Halunk_Innen“ entspricht einer Bourgeoisie mit genau diesen Eigenschaften.

Klassenkampf und imperialistische Konfliktlage

Der russische Imperialismus steht vor großen Herausforderungen. Abgesehen von der Rüstungsindustrie verfügt er nicht über starke Exportindustrien, mit denen er die Dominanz über andere Länder sichern kann. Die Extraprofite aus dem Export fossiler Energieträger ermöglichen zwar die Finanzierung des staatlichen Renten- und Gesundheitssystems, das gerade aufgrund der Prekarisierung weiter Teile der Bevölkerung bislang ein wichtiges integratives Element des bonapartistischen Systems darstellt. Die gefallenen Energiepreise gefährden aber das staatliche Distributionssystem und zwangen die Regierung 2018 zu einem historischen Angriff auf die Renten. 2020 brachen die Einnahmen aus dem Gasexport um 39 % und der Gesamtexport um 24 % ein. Der Öl- und Gasexport ist zudem natürlich Gegenstand imperialistischer Rivalität. Die europäischen Hauptabnehmer_Innen sind angesichts des globalen Überangebots an Energieträgern zu einem verstärkten Import aus Russland nur zu für sie vorteilhaften Bedingungen bereit, d. h. bei ihrer Beteiligung an dem dabei erzielten Extraprofit. Die genannten Aspekte beschreiben eine krisenhafte Entwicklung Russlands, die zu politischen Brüchen im Staatsapparat und Opposition innerhalb der herrschenden Klasse führen kann, und damit zu einer Zuspitzung der Verhältnisse. Sie wird zu sozialen Angriffen auf die Massen führen, die Widerstand notwendig machen.

Die schwierige ökonomische Lage geht zugleich mit einer menschenverachtenden Pandemie-Politik und dem weitgehenden Verzicht auf Einschränkungen der Wirtschaft einher – mit fatalen Folgen für die Gesundheit der Massen. Insgesamt hat das Land über 80.000 Tote zu beklagen.

Politische Schlussfolgerungen

Diese aktuelle wirtschaftliche Krise unterhöhlt die soziale Basis des politischen Herrschaftssystems Putins. Das betrifft die Masse der Lohnabhängigen, die Mittelschichten, aber auch die Superreichen und Kapitalist_Innen. Im System Putin überließen sie weitgehend der Staatsbürokratie mit einem bonapartistischen Führer die politische Macht. Im Gegenzug sicherte dieser massive Profite des Großkapitals und die Stabilität der Geschäfte.

Dieser grundlegende gesellschaftliche Krisenprozess bildet auch die Grundlage dafür, dass sich hinter Nawalny tatsächlich eine Massenbewegung formierten könnte, die Putin in Frage stellt. Das Regime ist sich dessen offenbar bewusst und sperrt daher den Oppositionsführer weg. Doch die Repression gegen Nawalny stellt dabei nur die Spitze des Eisbergs dar. Weit über zehntausend Menschen wurden in den letzten Monaten festgenommen, brutal angriffen und warten auf Verfahren.

Auch wenn Nawalny selbst ein bürgerlich-nationalistischer Reaktionär ist, dem Linke keinerlei politische Unterstützung zukommen lassen dürfen und dem gegenüber sich jegliche Illusionen in seine „demokratischen“ Absichten verbieten, so geht es bei seiner fadenscheinigen Aburteilung nicht primär um dessen Person oder Charakter.

Vielmehr geht es darum, dass das russische bürgerlich-bonapartistische Regime ein Exempel statuieren will, um jedes Aufbegehren, jede Opposition einzuschüchtern, um diese im Keim zu ersticken. Daher auch tausende weitere Festnahmen.

Die Arbeiter_Innenklasse und Revolutionär_Innen können und dürfen der staatlichen Repression nicht gleichgültig gegenüberstehen, weil die Durchsetzung dieser Urteile und willkürlichen Festnahmen die Staatsgewalt stärkt und sich nicht nur gegen Nawalny, sondern auch gegen jeden zukünftigen linken Widerstand, gegen jede Arbeiter_Innenaktion richtet.

Revolutionär_Innen müssen daher für Nawalnys Freilassung und die aller Festgenommen eintreten sowie die Einstellung aller Verfahren gegen diese fordern. Sofern Demonstrationen zu seiner Freilassung einen Massencharakter annehmen, sollten Linke auch an diesen Protesten teilnehmen und dort mit ihren eigenen Losungen und Bannern auftreten.

Außerdem wäre es falsch, eine politische Zuspitzung innerhalb des bürgerlichen Lagers links liegenzulassen. Die Auseinandersetzung unterstreicht, dass Putins Bonapartismus entgegen seinem äußeren Anschein zur Zeit ein politisch geschwächtes und instabiles Regime darstellt, das von Klassenkämpfen erschüttert werden kann. Die politische Schwäche der Arbeiter_Innenbewegung und die bonapartistische Herrschaftsform sind zwei Faktoren, die dazu beitragen, dass ein bürgerlicher Populist und Nationalist zur Ikone werden konnte, wie es auch in den Massenprotesten 2011/2012 der Fall war. Die Lösung der „demokratischen Frage“ liegt aber nicht in den Händen der liberalen Bourgeoisie, sondern der Arbeiter_Innenklasse. Sie braucht ihr eigenes Programm, das weder auf ein reformiertes Putin-Regime setzt, wie es die KPRF und die mit ihr verbundenen Gewerkschaften tun, noch auf ein besseres Russland unter einem Anti-Putin hofft. Die klassenkämpferische und radikale Linke muss vielmehr versuchen, die Lohnabhängigen aus dem Lager der Opposition politisch herauszubrechen, indem sie den Kampf für demokratische Rechte mit der sozialen Frage verbindet, mit dem Aufbau kampfstarker, vom Regime unabhängiger Gewerkschaften und sozialer Bewegungen sowie einer von Putin und Nawalny unabhängigen revolutionären Arbeiter_Innenpartei.




Mali: Massenproteste und der Putsch vom 18. August

Der Putsch in Bamako vom 18. August hat den Blick auf eine Massenbewegung gelenkt, der bis dahin wenig Aufmerksamkeit zukam. Er hat auch Reaktionen der in Mali involvierten ausländischen Interventionsmächte hervorgerufen, die die Anliegen dieser Bewegung bis dahin für nicht beachtenswert gehalten haben.

Dem Putsch vorausgegangen ist seit Anfang Juni eine Massenbewegung, die zehntausende Menschen in der Hauptstadt Bamako auf die Straßen mobilisiert hat. Sie forderte den Rücktritt von „IBK“, dem seit 2013 regierenden Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta, und die Auflösung des Parlaments. Ein Auslöser der Proteste war eine umstrittene Entscheidung des Verfassungsgerichts, das die Parlamentswahlen vom März 2020 in Teilen für ungültig erklärt hatte und dadurch IBKs Partei ermöglicht hatte, ihre Mehrheit auszubauen. Doch die Proteste gründen sich auf eine weit umfassendere Krise. Im Zentrum steht dabei eine Welle reaktionärer ethnischer Gewaltverbrechen durch bewaffnete Gruppen und die Unfähigkeit oder der Unwillen der Regierung, ihre Autorität im Land durchzusetzen. Eine große Rolle spielt auch der neoliberale Niedergang des Landes durch eine Reihe aufgezwungener Reformprogramme seit den 1990er-Jahren, die die Lebensgrundlage eines großen Teils der ländlichen Bevölkerung bedroht oder zerstört hat und mit der Verdrängung der traditionellen Landwirtschaft durch modernes Agrobusiness einhergeht.

Die Macht im Land liegt nun in den Händen eines bis vor kurzem unbekannten Zirkels von Militärs unter der Führung des Offiziers Assimi Goita. Er hat versprochen, internationale Vereinbarungen einzuhalten, besonders mit Hinblick auf die ausländischen Militärinterventionen (derer es drei verschiedene gibt). Dennoch dominiert unter den imperialistischen Mächten die Befürchtung, dass der Putsch deren Kriegsziele und strategische Interessen zurückwerfen wird.

2012: Tuareg-Aufstand und Islamisches Kalifat

Mali umfasst eine Vielzahl verschiedener Ethnien, von denen die meisten wiederum in mehreren Staaten leben. Auf die Interessen der Bevölkerungsgruppen wurde bei der Grenzziehung durch die ehemaligen Kolonialmächte in Westafrika im Einzelnen keine Rücksicht genommen. Daher ist einerseits rassistische und nationale Unterdrückung in diesen heute halbkolonialen Ländern strukturell angelegt und muss andererseits ein destabilisierendes Moment ausüben, das sich den üblichen sozialen Verheerungen, mit denen der globale Kapitalismus dem afrikanischen Kontinent aufwartet, überlagert. Der Tuareg-Aufstand von 2012 bestätigt das. Er brachte die ehemalige „Musterdemokratie“ Mali auf den Weg in den Strudel der „failed states“. Burkina Faso und Niger sind von dieser Entwicklung ebenfalls betroffen.

Die Gemeinschaften der Tuareg, die sich über mehrere Länder im Zentrum der Sahara verteilen, waren mehr als andere Völker der Region im Zuge der Dekolonialisierung marginalisiert worden. Die blutige Niederschlagung des ersten Tuareg-Aufstandes von 1963 hatte viele Tuareg aus ihren Heimatregionen vertrieben. Die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch wirtschaftliche Misere und die Dürren der 1970er und 80er Jahre verstärkten dies und schufen eine entrechtete, transnationale Jugend (Ishumar), die als ArbeitsmigrantInnen umherziehen. Diese waren die hauptsächliche soziale Basis der bewaffneten Rebellionen von 1990-95 und 2007. Die Rebellionen wurden vom malischen Militär mit Unterstützung von ethnischen Hilfstruppen bekämpft und mit Versprechungen von begrenzter Selbstverwaltung und stärkerer Integration der Tuareg in die Sicherheitskräfte beigelegt.

Die Tuareg wurden notwendigerweise Gegenstand regionaler Auseinandersetzungen. Von politischem Interesse waren sie stets nur insoweit, wie sie für spezifische Interessen – insbesondere des libyschen Regimes – von Nutzen sein konnten. So waren sie im „Gastland“ Libyen als Arbeitskräfte und Rekruten in den Repressionsorganen gerade dadurch geschätzt, dass es ihnen an staatsbürgerlichen Rechten mangelte. Außenpolitisch konnten sie Gaddafis pan-afrikanische Ambitionen unterstreichen. Obwohl Gaddafi das Konfliktpotential, das in der ungelösten nationalen Frage der Tuareg liegt, gezielt ausnutzte, konnte er die politischen Ambitionen der Tuareg kanalisieren. Dies zeigte sich etwa 2009 im Tuareg-Aufstand in Niger, wo Gaddafi mit einem Teil der Tuareg-Kräfte eine Vereinbarung aushandelte, die den Aufstand spaltete und beendete. Der Nutzen der Tuareg lag für Gaddafi darin, dass er sich gegenüber dem Ausland als Vermittler anbieten konnte. Es überrascht nicht, dass sein Sturz 2011 nachhaltigen Einfluss auf die Tuareg-Frage genommen hat.

Der Tuareg-Aufstand 2012 resultierte in der Erklärung des kurzlebigen Staates von Azawad. Sein rascher Zerfall war die Folge einer prinzipienlosen Bündnispolitik der MNLA-Führung (frz. Mouvement national de libération de l’Azawad) mit Ansar Dine, lokaler Ableger von AQIM (Al Qaida im Islamischen Maghreb), und der falschen Orientierung der MNLA auf Anerkennung und Unterstützung durch den Imperialismus. Der Aufstand scheiterte vor allem an daran, dass seine von Tuareg dominierte Führung kaum Unterstützung unter den übrigen Volksgruppen in Nordmali gewinnen konnte. Ansar Dine attackierte die MNLA für ihren azawadischen Nationalismus und rekrutierte selbst unter den Tuareg. Zugleich nutzten die Salafisten bestehende rassistische Ressentiments aus und gewann die Unterstützung von Kräften in den Gemeinschaften der Songhai und Fula (frz. Peul), die vormals an der Seite der Regierung standen. Diese Allianz unter Führung von Salafisten brach mit der MNLA und konnte im Sommer 2012 ihre alleinige Kontrolle über Nord-Mali errichten. Der rasche Kontrollverlust der Regierung in Bamako triggert außerdem am 21. März 2012 einen Putsch.

Der Putsch von 2012 mit linker Rückendeckung

Der Putsch von 2012 gegen Präsident „ATT“ (Amadou Toumani Touré) bekam es mit Gegenwind zu tun. Die „Verweigerungsfront“ (frz. Front du Réfus), bestehend aus etwa 100 gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen und 50 Parteien, beharrte auf einer zivilen und demokratisch legitimierten Regierung und weigerte sich, die Junta anzuerkennen oder mit ihr zusammenzuarbeiten. Bezeichnenderweise war die reform-stalinistische SADI-Partei die einzige parlamentarische Kraft, die sich zu einer Zusammenarbeit mit der Junta bereit erklärte. Trotz dieser verbreiteten Ablehnung des Putsches kam es zu keiner Massenmobilisierung, die der Herrschaft des Militärs etwas hätte entgegensetzen können. Die Junta-GegnerInnen bildeten einen prinzipienlosen Block mit nationalistischen, bürgerlichen Kräften, die auch UnterstützerInnen des gestürzten Präsidenten umfasste. Zugleich stellte sich ein anderer Flügel der Gewerkschaftsbewegung hinter die Militärjunta.

Etliche linke Intellektuelle bezogen sogar eine durch und durch chauvinistische Position. Beispielhaft hierfür steht das „Forum für ein anderes Mali“ (Forum pour un Autre Mali, FORAM), das über Verbindungen zur Sozialforenbewegung verfügt und u.a. von der malischen Linken Aminata Traoré unterstützt wird. Sie argumentierten 2012, dass der Tuareg-Aufstand Teil einer planmäßigen Neuaufteilung Westafrikas durch die imperialistischen Mächte sei. Daher sei die Herrschaft des Militärs das kleinere Übel gegenüber des drohenden Verlusts der „territorialen Einheit“. Natürlich zeigte sich schnell, dass das Militär und die korrupten Eliten im Interesse ihres eigenen Machterhalts den imperialistischen Interventionen bereitwillig zustimmen würden. Die vollkommene Preisgabe einer linken Programmatik hat die politische Orientierungslosigkeit dieser malischen und westafrikanischen Linken verschärft und dazu beigetragen, dass sie oftmals als linke Flankendeckung für reaktionäre despotische Regime und deren Politik agieren – ganz zu schweigen davon, dass sie mit der „territorialen Einheit“ genau die postkoloniale, d.h. imperialistische Ordnung verteidigen, als deren GegnerInnen sie sich präsentieren. Die Linke kann im westafrikanischen Nationalitätenmosaik keine progressive und anti-imperialistische Perspektive vertreten, ohne das Selbstbestimmungsrecht der Völker bedingungslos anzuerkennen. Die nationale Frage muss mit dem Kampf gegen die herrschenden Eliten verknüpft werden, die die postkolonialen Staaten ausplündern und deren Macht und internationale Anerkennung die Verteidigung der bestehenden staatlichen Ordnung zur Voraussetzung hat.

Konflikt in Zentralmali

Angesichts der Etablierung der militanten salafistischen Kräfte hat die Regierung und das Militär auf ethnische Milizen gesetzt. Beispielhaft hierfür steht die Miliz Dan Na Ambassaou, deren Mitglieder aus den Dogon-Gemeinschaften kommen. Sie wurde von der Regierung zu Beginn des Konflikts als nützliches Gegengewicht betrachtet und hat sich mittlerweile selbst als Machtfaktor etabliert. Sie ist bekannt für reaktionäre Verbrechen gegenüber den Fula, die den Charakter von ethnischen Säuberungen annehmen, wie das Ogossagou-Massaker vom 23. März 2019 mit 160 Todesopfern. Die rassistische Grundstimmung, die Fula als angebliche UnterstützerInnen von Ansar Dine stigmatisiert, ist eine Begleiterscheinung des „Kriegs gegen den Terror“.

Ethnische Konflikte sind zugleich Vorraussetzung und Folge der imperialistischen Interventionspolitik. Die Imperialisten versuchen, durch militärische „Hilfestellung“, Ausbildung etc. das malische Militär zum kompetenten Ordnungsfaktor aufzubauen. Angesichts dessen, dass das Militär seit der Unabhängigkeit immer die letztendlich entscheidende Rolle im Land gespielt hat, liegt diese Strategie auf der Hand. Die Massenbewegung der vergangenen Wochen hat gezeigt, dass dieses System gestürzt werden kann, aber um die Krise in progressiver Weise zu lösen, ist eine politische Strategie notwendig. Die Führung der M5-RFP (Mouvement du 5 Juin 2020, Rassemblement des Forces Patriotiques) hat die Militärjunta anerkannt. Assimi Goita hat angekündigt, dass seine Junta während einer „Übergangsperiode“ von 3 Jahren regieren wird. Ein großer Teil der malischen Linken scheint die Fehler von 2012 zu wiederholen, indem sie die „nationale Einheit“ als ein den unmittelbaren Interessen der Massen übergeordnetes Ziel vertritt.

Natürlich wird die Militärjunta keines der elementaren Probleme des Landes lösen können. Sie wird wie jede andere bürgerliche Regierung vom Wohlwollen des französischen Imperialismus und der sog. „internationalen Gemeinschaft“ abhängig sein. Der bis vor kurzem im Zentrum der M5-RFP stehende salafistische Prediger Mahmoud Dicko gibt sich als „Brückenbauer“ zwischen Nationalisten und Islamisten. Er gehörte 2013 zu den UnterstützerInnen der imperialistischen Intervention und bis 2017 zum Lager von IBK. Assimi Goita selbst kommt aus den malischen Spezialkräften, die seit 2013 von imperialistischen Mächten für den Anti-Terror-Krieg trainiert werden. Die Militärjunta repräsentiert keine grundsätzlich andere Politik, sondern einfach jenen Teil der nationalen Elite, der für einen etwas inklusiveren Umgang mit dem islamistischen Aufstand eintritt.

Die Krise in Mali beruht auf dem Erbe des Kolonialismus und auf ungelösten nationalen Fragen, auf der Landfrage und dem Verlust der Lebensgrundlage von SubsistenzbäuerInnen durch neoliberale Reformpolitik und Klimawandel, und allgemein auf der ungelösten demokratischen Frage. Um diese Krise im Sinne der unterdrückten Massen zu lösen, ist ein Programm nötig, das sich zentral auf die ArbeiterInnenklasse bezieht und diese Fragen mit der Mobilisierung und Bewaffnung der Massen verbindet.

Der Militärjunta muss eine verfassungsgebende Versammlung entgegengestellt werden, die von Massenversammlungen der ArbeiterInnen, BäuerInnen und Armen organisiert wird, und in der die Klassenfrage politisch offen zutage treten kann. Dies stellt natürlich unmittelbar die Macht der Militärjunta in Frage, was den Kampf innerhalb des Militärs für das Recht auf politische Organisierung und Agitation für SoldatInnen, für das Recht auf Befehlsverweigerung und letztlich für die Zersetzung der Macht der Junta von innen heraus auf die Tagesordnung setzt.

Die reaktionäre ethnische Gewalt erfordert die Bewaffnung der Massen und die Bildung von Selbstverteidigungseinheiten, die von den Massen kontrolliert werden und diese vor Angriffen der Islamisten, des Militärs oder anderer Gruppen schützen.

In Anbetracht der nationalen Frage müssen Linke unbedingt für ein Programm eintreten, das die politischen und sozialen/wirtschaftlichen Gegensätze zwischen den Nationalitäten überwindet und jegliche Formen von Diskriminierung bekämpft. Dies muss nicht die Lostrennung des Nordens beinhalten, aber das unbedingte Recht auf diese, falls die Bevölkerung dies dort mehrheitlich wünscht. Die nationale Frage muss auch verbunden werden mit dem Kampf gegen alle imperialistischen Interventionen und für den Abzug aller ausländischer Truppen.




Krisenstimmung auch in der EU

Flo Schwerdtfeger

„Whatever the weather, we must move together!“ titelte ein
Propagandaplakat für den Marshall-Plan in den 50ern. Darauf zu sehen war eine Windmühle,
deren Blätter die einzelnen Länder Europas waren. Symbolisiert werden sollte
Einigkeit und ein gemeinsames Handeln als europäischer Kontinent. Wenn es sie
überhaupt einmal gab, so sind diese Zeiten der Einigkeit aber lange wieder
vorbei. Nicht erst seitdem sich Großbritannien aus der EU verabschiedet hat.
Die Uneinigkeit findet sich wieder in der Frage, welcher Staat wieviele oder
überhaupt Flüchtende über die Grenze lassen müsse. Sie findet sich in der
Umweltpolitik wieder, wo an der einen Stelle Kernkraft aufgegeben, an der
anderen aber erst aufgebaut wird. Sie findet sich aber auch da wieder, wo die
Staaten Mittel- und Westeuropas, wie Deutschland, Frankreich und das UK, nach
der Wirtschaftskrise 2008/09 die Mittelmeerstaaten ausbluten ließen, um ihre
Schulden zu tilgen. Besonders jetzt durch die Pandemie werden die Effekte
weiter verstärkt und spitzen sich zu. In diesem Artikel wollen wir ein wenig
versuchen, die Fronten innerhalb der EU nachzuzeichnen.

Dieses mal mit den Rechten

Seit Jahren lässt sich der stetige Aufstieg der Rechtspopulist_Innen beobachten, in einigen Ländern wie Ungarn oder Italien sind sie sogar an der Regierung. Als Folge des Versagens der Linken eine Antwort auf die sozialen Angriffe nach der Krise 2007/08 zu bieten, erstarkten in vielen Ländern wieder konservative und nationalistische Ideen und Parteien. Seit der Fluchtbewegung 2015 wurde die Festung Europa wieder stärker ausgebaut und der Kontinent abgeschottet gegenüber Menschen, die vor Krieg und Ausbeutung flüchten. Die Menschen, die es dann doch nach Europa schaffen, werden zwischen den Ländern hin- und hergeschoben, weil niemand sie wirklich aufnehmen will. Und obwohl sich die Rechtspopulist_Innen meist als Europäer_Innen darstellen und behaupten, den Kontinent gegenüber „Invasoren“ zu verteidigen, sind sie es auch, die die EU am liebsten abschaffen würden und ihre eigenen Nationalstaaten wieder aufleben lassen wollen. Dabei ist nicht nur das UK mit dem Brexit das Paradebeispiel, auch in Italien mehren sich die Stimmen, die einen Austritt aus der EU fordern.Selbst in Ländern, in denen sich noch „liberale“ oder immerhin „proeuropäische“ Regierungen halten konnten, sitzt diesen heute eine stärkere Rechte im Nacken als dies noch zur letzten Krise der Fall war.

Und in der Pandemie verschärft sich die Situation nur noch weiter: In Deutschland stellt sich die AfD verstärkt als Verteidigerin der Freiheit und Grundrechte dar, indem sie gegen die Einschränkungen, die durch die Pandemie entstehen, demonstrieren. In Ungarn erhöht sich Viktor Orban immer mehr zum Alleinherrscher, indem er per Notstandsgesetze am Parlament vorbeiregiert, und in Großbritannien wurde zum Glück noch vom Ansatz der Herdenimmunität wieder abgerückt.
Wenn es nicht einmal geschafft wird, den am schwersten betroffenen Nachbarstaaten mit medizinischen Materialien und Personal auszuhelfen, offenbart sich auch wie schlecht es mit den humanistischen Idealen der EU in der Praxis aussieht

Zwischen den Fronten

Der EU macht aber auch die globale Konkurrenz zu schaffen. Sie wird ja meist als weiterer Machtblock in der Welt gehandelt, besonders wenn es darum geht, eine gemeinsame Armee aufzustellen, um sich gegenüber Russland, China oder den USA zu behaupten.
Aber nicht nur militärisch stellen diese Staaten eine Bedrohung dar, sondern auch wirtschaftlich. Erkennbar wird das durch die starken Verflechtungen, durch Handels- oder Produktionsstrukturen. China hat z.B. ein doppelt so hohes Exportvolumen in die EU wie umgekehrt.
Dazu kommt der direkte Einfluss Chinas auf europäische Unternehmen und Länder. So hält zum Beispiel das chinesische Unternehmen Cosco mehr als 50% der Anteile an dem Hafen Piräus´, einer der größten griechischen Häfen. Auch in Italien war China da – und nicht etwa die EU – wenn es um medizinische Unterstützung ging während der Corona-Hochphase.

Es ist abzuwarten, wie genau sich die globale Konkurrenz fortführen wird. Solange der amerikanische Kontinent das Epizentrum der Pandemie bleibt und die USA nur zu Verzweiflungshandlungen fähig ist, wird demgegenüber der Einfluss Chinas umso wichtiger. In China wurde die Produktion viel schneller als anderswo wieder hochgefahren und genau dann, als die Produktionen der EU und der USA aussetzten, konnte China seine Macht ausbauen, indem sie die entstehenden Versorgungslücken decken und so viel mehr Export erbringen konnten.

Angriffe auf die Sozialsysteme

An anderer Stelle offenbart sich die Spaltung Europas als Folge der Weltwirtschaftskrise 2008/09 und der Schuldenkrise 2010/11. Bis heute ist vor allem der Mittelmeerraum durch die Sparmaßnahmen geprägt, die vor allem von Deutschland auferlegt worden sind. Besonders hart hat es dabei Griechenland getroffen, aber auch Spanien und Italien durchleben ähnliches. Gestützt durch Deutschland und Frankreich wurden damals Kredite an die verschuldeten Staaten ausgegeben. Der Haken daran ist nicht nur, dass diese Kredite samt Zinsen wieder zurückgezahlt werden müssen. Vor allem sind sie auch an Maßnahmen des sozialen Kahlschlags in den jeweiligen Ländern gebunden worden, überwacht – und exekutiert – durch eine von der EU vorort installierte Troika. Die Sparmaßnahmen trafen Renten- und andere soziale Leistungen, hatten einen großen Stellenabbau zur Folge, schlugen sich aber eben auch in Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitswesen und Privatisierungen nieder.

Wohin diese Kürzungen führten, sah und sieht man heute besonders in Italien. Ein Grund für die hohe Sterberate während der Pandemie ist, dass so wenig Personal und Ausrüstung auf den Intensivstationen vorhanden waren, da dem Gesundheitssystem fast 37 Milliarden Euro an Investitionen fehlen.

Obwohl die großen Imperialisten wie Deutschland und
Frankreich viel davon profitiert haben, die südeuropäischen Länder
kleinzuhalten und sich an ihnen zu bereichern, sind sie auch davon abhängig,
dass in ihnen eine gewisse Stabilität herrscht, wenn es um Absatzmärkte,
Produktionsketten oder Investitionsströme geht.

Was sollen die Krisenmaßnahmen sein?

Irgendetwas muss die also EU tun, um die Krisenfolgen
abzufedern, auch in den Ländern, die besonders stark betroffen sind, darin sind
sich eigentlich alle einig.

Die Streitfrage ist allerdings wie genau diese Maßnahmen
aussehen sollen.

Insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich tun sich
dabei Widersprüche auf. Einerseits ist Frankreich (im Gegensatz zu Deutschland)
ziemlich stark von der Corona-Krise betroffen und daher selbst schon an guten
Konditionen für Hilfsmaßnahmen interessiert. Zusätzlich würde auch eine weitere
Schwächung der anderen Länder wie Italien die Vormachtstellung von Deutschland
weiter verstärken, was ebenso nicht im Sinne Frankreichs ist. Frankreich steht
in diesem Konflikt also eher auf der Seite der hochverschuldeten Staaten,
während Deutschland an dem alten Modell mit Zurückzahlung unter Zinsen
festhalten will.

Der erste Vorschlag waren sogenannte Corona-Bonds in der
Höhe von 1,5 Billionen Euro. Diese sollten sich im
ersten Entwurf an die Euro-Bonds anlehnen, die nach der Schuldenkrise
ausgegeben wurden. Dabei wird von der EU ein Kredit an Länder ausgegeben,
die Unterstützung benötigen. Das Problem an der Sache ist, dass diese Bonds mit
Zinsen wieder zurückgezahlt werden müssen, wodurch den betroffenen Staaten
nicht wirklich geholfen ist, da sie so über Jahrzehnte an diese Rückzahlung
gebunden sind. Im zweiten und aktuelleren Entwurf ist nur noch von 500
Milliarden Euro die Rede, dafür aber als Auszahlung, die ohne Zinsen
zurückgezahlt werden soll. Besonders die stark betroffenen Länder wie
Frankreich, Spanien und Italien sollen davon profitieren. Probleme könnte es
dafür besonders von den EU Staaten im Norden und Osten geben, da diese
wahrscheinlich mehr Geld geben werden als sie bekommen. Dadurch könnten weitere
Spannungen, besonders in den sowieso schon EU-skeptischen Ländern wie Polen und
Ungarn entstehen.

Innerer Widerspruch und dessen Lösung

Es ist ein Widerspruch an sich, dass sich imperialistische Staaten und damit auch die Kapitalist_Innen der Länder zu einer Einheit zusammenschließen. Eigentlich versuchen Sie sich nämlich gegenseitig zu verdrängen und Halbkolonien zu ihren Absatzmärkten zu machen.

Die EU kann daher nur als Gegenprojekt zu den anderen
Imperialisten wie China, USA, Russland existieren. Dieser Burgfrieden ist aber
bröckelig, denn besonders die westeuropäischen Länder Deutschland, Frankreich
und Großbritannien streben nach der Führung.

Oberflächlich betrachtet ist die EU ein Beispiel dafür, dass Schritte weg vom
Nationalstaat möglich sind. Es wäre eine Schande, die Errungenschaften der
internationalen Verflechtungen auf industrieller und kultureller Ebene wieder
aufzulösen, nur um in chauvinistische Nationalstaaten zurückzukehren, die sich
alle untereinander verfeindet sind. Nur sind halt viele der Träume der EU nicht
mehr zu finden. Die Humanität stirbt an den Außengrenzen. Im Innern wird die
bestehende Ungleichheit durch Bürokratie und Sparmaßnahmen noch verschärft und
letztendlich bleibt sie nur ein Zusammenschluss, zur Verwirklichung der
wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Kapitale.

Wirkliche Vereinigung kann Europa nur erfahren ohne die
auseinandertreibende Wirkung der kapitalistischen Konkurrenz. Die bestehenden
Verbindungen müssen von der europäischen Arbeiter_Innenklasse genutzt werden,
um sich international zu organisieren und der EU nach vorne zu entkommen: In
die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.




Feminismus in Pakistan

Minerwa Tahir, Women’s Democratic Front Lahore, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

In den letzten Jahren ist der Aurat-Marsch zu einem der sichtbarsten Ausdrücke der Frauenbewegung in Pakistan geworden. „Aurat“ bedeutet Frau in der Urdusprache. Seit 2018 ist in den großen Städten Pakistans das Phänomen des Aurat-Marsches zu beobachten – Frauen, geschlechtsspezifische Minderheiten, Männer und Kinder gehen auf die Straße und marschieren am Internationalen Tag der arbeitenden Frauen am 8. März.

Wer beteiligt sich?

In zwei großen städtischen Zentren – Karatschi und Lahore – wurde der Aurat-Marsch von einem Bündnis hauptsächlich radikal-feministischer und liberal-feministischer Kräfte organisiert, darunter führende Persönlichkeiten von NGOs, die sich bereit erklärten, die Fahnen ihrer NGOs hinter sich zu lassen und sich unter dem einen Banner des Aurat-Marsches zu vereinen. Eine Organisatorin aus Karatschi sagte: „Bei den Themen, mit denen Frauen heute konfrontiert sind, geht es um Gleichberechtigung im öffentlichen Raum, das Recht auf Arbeit, Sicherheit am Arbeitsplatz und vor allem um die Unterstützung durch eine Infrastruktur, während die vorherige Generation für politische Rechte kämpfte“ (Chughtai, 2019). In anderen Teilen wie Hyderabad und Islamabad organisierte die Demokratische Frauenfront (1), eine sozialistisch-feministische Organisation, die arbeitende Frauen aus städtischen und ländlichen Gebieten organisiert, den Aurat-Azadi-Marsch (2).

Einige der Forderungen dieses Marsches waren ein Ende der Gewalt gegen Frauen; eine Gesetzgebung, die die Rechte von Frauen und Transgender-Personen schützt; ein Mindestlohn und andere rechtliche Schutzmaßnahmen für den informellen Sektor; ein Ende der Privatisierung von und größere Investitionen in Gesundheit und Bildung, insbesondere für Frauen; Frauenwohnheime und Kindertagesstätten für die Kinder von arbeitenden Frauen; der Bau von Wohnungen für Leute mit niedrigen Einkommen und ein Ende der Kampagne gegen informelle Siedlungen; ein Ende der militärischen Operationen; die Rückkehr der vermissten Personen und eine politische Lösung des Belutschistan-Problems (Today, 2019). Auch ArbeiterInnenorganisationen und -verbände wie die Vereinigung weiblicher Arbeitskräfte im Gesundheitswesen (Chughtai, 2019) und die pakistanische Gewerkschaftsschutzkampagne  (Today, 2019) unterstützten den Marsch und nahmen daran teil. Mit Ausnahme von Hyderabad war der Klassencharakter der Frauenmärsche in den großen städtischen Zentren Pakistans weitgehend mittelständisch. Während ein Teil der Gründe für das Fehlen von Führung der ArbeiterInnenklasse in der Frauenbewegung mit dem Versagen der Linken und dem Aufstieg der Rechten sowie alternativen antimarxistischen Diskursen zu tun hat, liegt ein weiterer wichtiger Grund dafür, dass so viele Frauen aus der Mittelschicht sich für die Teilnahme an diesen Märschen entschieden haben, darin, dass der Status der Frauenrechte in Pakistan selbst für Frauen aus Nicht-ArbeiterInnenklassen-Hintergrund erbärmlich ist.

Lage der Frauen

Vergewaltigung, Ehrenmorde, Säureangriffe, Zwangsheiraten, erzwungene Bekehrungen nicht-muslimischer Mädchen zum Islam, Kinderehen, sexueller Missbrauch und Belästigung sowie allgemeine geschlechtsspezifische Diskriminierung sind in der Gesellschaft weit verbreitet (HRW, 2019). Inzwischen gibt es weder nationale Gesetze, die geschlechtsspezifische Diskriminierung bei der Einstellung noch die geschlechtsspezifische Lohnunterschiede verbieten (Kirton-Darling, 2018). In ähnlicher Weise sind auch die Arbeitsgesetze in Pakistan diskriminierend gegenüber Frauen (Tribune, 2014). Im Allgemeinen hegt die Gesellschaft eine diskriminierende Einstellung gegenüber Frauen. Der jüngste Fall, in dem die nationale Universität für Wissenschaft und Technologie die Vergewaltigung einer Studentin leugnete, ist ein Zeugnis für diese Haltung (Dawn.com, 2019).

Sexualität

Ein wichtiges Thema, um das sich der Aurat-Marsch dreht, sind Fragen der Sexualität. „Mein Körper, meine Wahl“ war ein beliebter Slogan. Während man davon ausgehen kann, dass diese Frage in einigen demokratischen Ländern schon lange Teil des öffentlichen Diskurses ist, war und ist sie in Pakistan ein Tabuthema. Wie die gesellschaftliche Haltung sie geprägt hat, bleibt Sexualität eine Angelegenheit, die sich auf die privaten Grenzen des Schlafzimmers beschränkt und über die man, vor allem eine Frau, nicht spricht. Qandeel Baloch (Geburtsname: Fouzia Azeem), ein Star in den Sozialen Medien, die sexy Videos von sich selbst für den öffentlichen Konsum veröffentlichte, wurde schließlich von ihrem Bruder im Namen der „Ehre“ getötet. Wie Zoya Rehman schreibt, „markiert der Aurat-Marsch einen wichtigen Moment in der Entwicklung des feministischen Widerstands im Land, in dem jetzt für eine neue Art von feministischer Praxis gekämpft wird, die in Fragen der sexuellen Autonomie und Handlungsfähigkeit ,das Schweigen bricht’ (John und Nair, 1998)“ (Rehman, 2019). Sexualität, ein Thema, über das aufgrund seines „privaten“ Charakters nie in der Öffentlichkeit gesprochen wurde, wurde durch den Marsch – vor allem im Jahr 2019 – aus der Enge des häuslichen und privaten Lebens herausgebracht und für die Öffentlichkeit offengelegt. Folglich startete der rechte Flügel Angriffe gegen die OrganisatorInnen und TeilnehmerInnen in den Massen- und sozialen Medien. Es wurden Todes- und Vergewaltigungsdrohungen ausgesprochen (Reuters, 2019). Unterdessen griffen reaktionäre Schichten innerhalb der pakistanischen Linken zu einem ähnlichen Ansatz, wobei die Belutschistan-Sektion der Awami-ArbeiterInnenpartei (AWP) den Aurat-Marsch ablehnte (Jafri, 2019). In ähnlicher Weise tauchte die Politik der Reaktion innerhalb der feministischen Bewegung in Form der bekannten feministischen Dichterin Kishwar Naheed auf, die die radikalen Botschaften bezüglich der Sexualität kritisierte, die auf den Plakaten des Aurat-Marsches standen. Sie sagte, dass „Feministinnen ihre Kultur und Traditionen im Auge behalten sollten, um nicht wie ,Dschihadis’ auf Abwege zu geraten“ (Images, 2019).

Sadia Khatri kritisierte Frauen, die sich gegen die radikalen Plakate aussprachen, und schrieb, dass diese Art von Vorwürfen „verwirrender, ja sogar verletzend ist, wenn sie von anderen Frauen kommt“ (Khatri, 2019). Ich kann das Gefühl zwar nachempfinden, aber der Vorwurf überrascht mich wirklich nicht. Es ist schließlich die Politik der Menschen, nicht ihr Geschlecht oder andere Identitäten, die ihre Einstellung zu einem gesellschaftlichen Phänomen bestimmt. Auch der Gegenmarsch zum Aurat-Marsch wurde von rechten Frauen angeführt, nicht von Männern.

Die Sexualität während des Frauenmarsches aus der privatisierten Sphäre des Hauses herauszuholen, stellte eine radikale Errungenschaft der Frauenbewegung in Pakistan dar. Die Belutschistan-Sektion der Awami Workers Party lehnte den Aurat-Marsch mit der Begründung ab, dass die auf dem Marsch erhobenen Parolen nichts mit den Frauen der ArbeiterInnenklasse oder ihrem Kampf zu tun hätten. Diese Aussage spiegelt nicht nur eine Abtrennung von der Frauenbewegung wider, sondern zeigt auch, wie isoliert die Sektion der AWP in Belutschistan von den Kämpfen der Arbeiterfrauen in Pakistan ist. Wenn man mit berufstätigen Frauen in der Realität interagiert, erzählen sie uns davon, dass „nicht jede aus Freude und Entscheidung die vollverschleiernde Burka trägt“.

Natürlich kann es vorkommen, dass Schichten der Klasse, die aufgrund der zusätzlichen Belastung durch die reproduktive Arbeit atomisiert bleiben, der Interaktion und Organisation mit ihrer Klasse beraubt werden und somit den Vorstellungen der Reaktion zum Opfer fallen. Aber mit der sich zunehmend vertiefenden Wirtschaftskrise in Pakistan, insbesondere nach dem IWF-Deal, können es sich Frauen, die mit Männern aus der Arbeiterklasse verheiratet sind, nicht mehr leisten, nur reproduktive Arbeit zu leisten. Sie werden aus dem Haus gedrängt, um Arbeit zu finden, um die ArbeiterInnenfamilie zu ernähren. Während dies schon seit langem der Fall ist, da die Wirtschaft des halbkolonialen Landes weitgehend instabil geblieben ist, haben die Klauseln des IWF zu schlechteren Bedingungen für die arbeitenden Armen geführt (Arshad, 2019). Selbst wenn es sich bei diesen Jobs um niedere Tätigkeiten handelt, wie z. B. die Arbeit als Haushaltshilfe in Haushalten der Mittelschicht, bieten sie diesen Frauen eine gewisse Möglichkeit, sowohl mit ihrer eigenen Klasse als auch mit dem/r KlassenfeindIn zu interagieren. Es überrascht daher nicht, dass eine Hausangestellte, die eine halbverschleiernde Niqab trägt, bei einem Treffen mit anderen berufstätigen Frauen sagte, dass „nicht jede die Burka aus Freude und Entscheidung trägt“.

Diejenigen pakistanischen Linken, die Sexualität und andere Aurat-Marsch-Themen immer noch nicht als wichtige Themen für das Leben arbeitender Frauen sehen, sollten sich einige grundlegende Fragen stellen. Wenn die arbeitende Frau die Freiheit, Zeit und Geld hätte, sich wie Frauen der Mittelschicht zu kleiden, würde sie das nicht tun? Wenn sie die Freiheit, die Zeit und das Geld hätte, würde sie sich nicht romantischen/sexuellen Affären hingeben wollen, wie es Frauen aus privilegierten Schichten in diesem Land tun? Wenn es für sie keine Frage mehr wäre, jeden Tag etwas „Khana“ [Essen] für ihre Familie zu bekommen, wie es für Frauen aus der Mittelschicht der Fall ist, würde sie sich dann nicht auch wünschen, dass ihr männlicher Partner gleichberechtigt an der Zubereitung dieser Mahlzeiten teilnimmt? Diese Fragen machen deutlich, wie arbeitende Frauen durch die wirtschaftlichen Bedingungen gezwungen sind, bestimmte Themen als Hauptanliegen zu behandeln. Dies spiegelt jedoch keineswegs wider, dass arbeitende Frauen nicht an Fragen der sexuellen Befreiung interessiert sind.

Was für eine Bewegung brauchen wir?

Unterdessen ist eine andere Idee, die in bestimmten radikalen Schichten der Frauenbewegung in Pakistan vorherrscht, dass wir eine klassenübergreifende feministische Bewegung brauchen. Die Befürworterinnen dieser Ansicht argumentieren, dass dies ein „inklusiver“ Ansatz sei, da er es Frauen aus allen Klassen ermöglicht, sich zusammenzufinden, um gegen einen gemeinsamen Feind, nämlich das Patriarchat, zu kämpfen und die Gleichberechtigung zu erlangen. Nehmen wir eine der Forderungen, die von radikalen Feministinnen erhoben wurden. „Gleichheit beim Zugang zu öffentlichen Räumen“.

Nehmen wir an, dass diese Forderung nun gewonnen ist. Die Frau aus der ArbeiterInnenklasse wird die formale Gleichheit beim Zugang zu öffentlichen Räumen haben, aber genau wie ihr männlicher Kollege aus der ArbeiterInnenklasse hat sie diese Freiheit als jemand, der immer noch 12 Stunden am Tag arbeitet, dessen Kinder unterernährt sind und denen es an guter Bildung mangelt, der der Zugang zu guter Gesundheitsversorgung verwehrt wird und deren Familie an neun von zehn Tagen immer noch hungrig schläft. In der Praxis bedeutet dies eine Krise der Führung der ArbeiterInnenklasse und der Organisation der unabhängigen Klassenpolitik, die eine wesentliche Schwäche der feministischen, antirassistischen und ökologischen Bewegungen in der ganzen Welt darstellt.

Außerdem, was bedeutet eine „klassenübergreifende Bewegung“ überhaupt? Dass sie die Interessen aller Klassen vertritt? Würde sie dann auch ein „klassenübergreifendes Programm“ haben? Ob so etwas jemals praktisch durchführbar ist oder nicht, sicher ist, dass eine klassenübergreifende Bewegung kein Programm für die ArbeiterInnenklasse haben wird. Und das liegt daran, dass die Interessen der ArbeiterInnenklasse mit denen anderer Klassen unvereinbar sind. Die ArbeiterInnenklasse verfügt über kein Privateigentum an den Produktionsmitteln. Unabhängig davon, ob diese Klasse sich dessen schon subjektiv bewusst ist oder nicht, liegt ihr objektives Interesse in der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und seiner Ersetzung durch gesellschaftliches Eigentum. Dieses Interesse steht offensichtlich im Widerspruch zu dem der Klassen, deren Quelle von Reichtum und sozialem Status das Privateigentum bildet. Wie Clara Zetkin prägnant zusammenfasst:

„Es gibt eine Frauenfrage für die Frauen des Proletariats, der Bourgeoisie, der Intelligenz und der oberen Zehntausend. Sie nimmt je nach der Klassensituation jeder dieser Schichten eine andere Form an“


(Zetkin, 1896)

Wie beeinflusst dies die Bewegung?

Wie beeinflusst dies die Bewegungen dann? In der bürgerlichen Gesellschaft ist jede klassenübergreifende Bewegung verpflichtet, die Interessen der ArbeiterInnenklasse (die mit der strategischen Aufhebung der unterdrückenden Arbeitsteilung im Hinblick auf die produktive und reproduktive Arbeit verbunden ist) den begrenzten Zielen der bürgerlichen Feministinnen unterzuordnen. Das bestmögliche Ergebnis einer klassenübergreifenden Bewegung ist, dass die begrenzten Forderungen nach formaler Gleichheit zwischen Männern und Frauen erfüllt werden. Berufstätige Frauen werden formell gleichberechtigt sein wie ihre bürgerlich-feministischen Kolleginnen, aber sie werden es als Frauen sein, die immer noch 12 Stunden am Tag arbeiten und keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Sozialleistungen haben. Sie werden formellen Zugang zu allen Bereichen des öffentlichen Lebens haben ebenso wie ihre männlichen Partner aus der ArbeiterInnenklasse, die ebenfalls kein Geld oder keine Zeit haben, um diese Bereiche faktisch zu betreten. Diese arbeitenden Frauen werden im Namen einer klassenübergreifenden Bewegung für die individuellen Rechte und Freiheiten der bürgerlichen Feministinnen kämpfen. Um noch einmal Zetkin zu zitieren: „Wir dürfen uns nicht von sozialistischen Tendenzen in der bürgerlichen Frauenbewegung täuschen lassen, die nur so lange anhalten, wie sich die bürgerlichen Frauen unterdrückt fühlen“ (Zetkin, 1896).

Was braucht es?

Dieser Ansatz „klassenübergreifender“ Bewegungen versäumt es, die Wurzel der geschlechtsspezifischen Unterdrückung zu untersuchen. In der heutigen Klassengesellschaft verortet der revolutionäre Marxismus die Ursprünge der geschlechtsspezifischen Unterdrückung in der öffentlich-privaten Kluft, in der der Mann in der öffentlichen „produktiven“ Sphäre arbeitet, während die Frau für die „reproduktive“ Arbeit verantwortlich ist. Diese Kluft ist notwendig, damit der Kapitalismus sich selbst erhalten kann, weshalb unsere Bewegungen antikapitalistischer Natur sein müssen. Um effektiv zu sein, müssen sie auch die Krise der Führung der ArbeiterInnenklasse überwinden. Und diese Krise kann solange nicht überwunden werden, bis und wenn die ArbeiterInnenklasse der radikalen Kleinbourgeoisie die Throne streitig macht, an denen sie seit Ewigkeiten festhält.

In einer Zeit, in der Identitätspolitik, Postmoderne und alle Arten von Ideologien, die nicht zum Sturz des kapitalistischen Systems führen, auf der ganzen Welt vorherrschen, gibt es einen Hoffnungsschimmer in bestimmten Schichten der pakistanischen Frauenbewegung. Die Demokratische Frauenfront (DFF), eine unabhängige Organisation, die arbeitende Frauen in städtischen und ländlichen Gebieten Pakistans organisiert, hat einige revolutionäre Forderungen, deren wichtigste die Forderung nach einer Vergesellschaftung der reproduktiven Arbeit ist. Während die derzeitige Führung in den meisten Sektionen aus der mittleren/unteren Mittelschicht stammt, bemüht sich die Organisation darum, arbeitende Frauen in die Führung zu bringen. In Lahore, wo ich die Vorsitzende bin, wurde vor kurzem eine Sektion der DFF gegründet, die hart daran arbeitet, ihre Wurzeln in den ArbeiterInnenvierteln zu stärken, um die Entstehung eines weiblichen Kaders aus diesen Gebieten vorzubereiten.

Wir arbeiten in den Vierteln der Hausangestellten und HeimarbeiterInnen und versuchen, sie zu organisieren. Diese Frauen erzählten uns, wie sich die steigende Inflation auf ihr Leben auswirkt und sie darum kämpfen, ihre Familien zu ernähren. Eine wichtige revolutionäre Forderung in diesem Szenario könnte die Einrichtung von Preiskomitees unter der Leitung von Frauen sein. Es besteht Hoffnung und Potenzial für die Entstehung einer weiblichen Führung der ArbeiterInnenklasse, wenn sich die DFF konsequent einer solchen Aufgabe widmet. Sie ist besonders entscheidend in einer Zeit, in der Kämpfe in verschiedenen frauenzentrierten Sektoren wie dem Gesundheits- und Bildungswesen auftauchen. Lahore, eines der städtischen Zentren Pakistans, birgt das Potenzial der Entstehung einer ArbeiterInnenbewegung. Ebenso birgt es das Potenzial für kleinbürgerlichen Radikalismus, gewerkschaftlichen Opportunismus und Reformismus sowie Zentrismus. Wenn es der DFF ernst damit ist, eine Führung der arbeitenden Frauen in der größeren ArbeiterInnenbewegung zu installieren, wird sie sich darauf vorbereiten müssen, solche Übel zusammen mit dem Kampf gegen den/die KlassenfeindIn und das Patriarchat zu bekämpfen.

Endnoten:

1 Die Demokratische Frauenfront (DFF) wurde ursprünglich von der Awami-ArbeiterInnenpartei (AWP) als ihre „Frauenfront“ gegründet. Die AWP ist bei Weitem die mitgliederstärkste linke Partei in Pakistan. Die DFF ist jetzt eine unabhängige Organisation. Die AWP spielt weder eine Rolle noch übt sie Einfluss auf Entscheidungen oder Strukturen der DFF aus. Natürlich sind Doppelmitglieder vertreten, die sowohl in DFF wie AWP organisiert sind. Die Autorin ist ein solches.

2 Azadi heißt auf Urdu Freiheit.