Was ist eigentlich antimuslimischer Rassismus und woher kommt er?

Von Dilara Lorin und Stephie Murcatto, April/Mai 2024, Revolution Zeitung 2/2024

„Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse!“

Dass die rechtsextreme AfD-Abgeordnete Alice Weidel diesen Satz im Bundestag gesagt hat, ist noch gar nicht so lange her. Lehrer:innen, die deine Hijab tragenden Mitschüler:innen verbal angreifen und fragen, ob sie dazu gezwungen wurden und das Kopftuch wieder abnehmen sollen, bis hin zu Sprüchen wie „Na bekommt dein Gehirn darunter noch Luft“. Oder die Wohnungssuche, bei der Vermieter:innen einen Lukas einem Hamid vorziehen, obwohl beide die gleichen Unterlagen vorlegen, was zu offener Diskriminierung und Benachteiligung führt und auf dem Arbeitsmarkt nicht anders aussieht. Dies sind nur Bruchstücke des antimuslimischen Rassismus, mit dem viele Menschen tagtäglich konfrontiert sind. Dabei hat sich die Lage in Deutschland seit dem 7. Oktober 2023 verschlechtert, indem alle Muslim:innen unter Generalverdacht gestellt werden. Vize-Kanzler Robert Habeck fordert in einer Ansprache alle Muslim:innen dazu auf, sich zum 7. Oktober zu verhalten und Israel als Staat anzuerkennen. Würde dem nicht Folge geleistet, könnten sie Gefahr laufen, ihren Aufenthaltstitel zu verlieren. Der Generalverdacht, der von allen Seiten der deutschen Politik kommt, ist ein Schlag ins Gesicht der 5,3 – 5,6 Millionen in Deutschland lebenden Muslimen (ungefähr 6,4 – 6,7 Prozent der deutschen Bevölkerung). Doch was ist antimuslimischer Rassismus und woher kommt er? Um dies zu verstehen, müssen wir uns zuerst anschauen, was Rassismus ist:

Was ist Rassismus?

Eines ist klar: Rassismus ist kein Produkt der „menschlichen Natur“ und auch nicht Ausdruck einer „tief verwurzelten Angst vor dem Fremden“. Vielmehr ist Rassismus eng mit der Entstehung bürgerlich-imperialistischer Nationalstaaten verbunden. In einer Zeit, in der der Kapitalismus einen Weltmarkt schuf und die Nationalstaaten neue Märkte erschließen mussten, wuchs aufgrund der kolonialen Ausbeutung das Bedürfnis nach Erklärungen, die die „Unzivilisiertheit“ dieser Menschen konstatierten und sie damit zu ewigen „Dienern des weißen Mannes“ machten. Damit war der Boden bereitet für die pseudowissenschaftliche Erklärung ihrer „Minderwertigkeit“ durch den Rassenbegriff. Rassismus übersteigt jedoch bloße sprachliche oder kulturelle Kategorisierungen und nutzt phänotypische Merkmale wie zum Beispiel Hautfarbe und Kopfform, um Menschen in vermeintlich feste Gruppen einzuteilen. Der Rassenbegriff diente als effizientes Werkzeug für bürokratische Grenzziehungen und demagogische Mobilisierung. Der Rassismus ermöglicht auch die Zuteilung unterschiedlicher Rechte je nach Zugehörigkeit zu einer „rückständigen“ oder „zivilisierten“ Nation oder Nationalität. Damit wird die ethnische Zugehörigkeit zu einem imperialistischen „Staatsvolk“ positiv und die zu allen anderen negativ bewertet, was zu einer Abwertung der Angehörigen unterdrückter Nationen führt. Rassismus ist tief in unserem gegenwärtigen Herrschaftssystem verankert. Die materielle Basis des Rassismus‘ in der Arbeiterklasse ist die massenhafte Überausbeutung in den Halbkolonien, die einem Teil der Arbeiterklasse in den imperialistischen Ländern einen gewissen Wohlstand zu garantieren scheint.

Was zeichnet antimuslimischen Rassismus aus?

Dabei handelt es sich um eine Form des Rassismus, der sich nicht nur gegen religiöse Sympathien und Praktiken richtet, sondern gleichzeitig Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunft rassifiziert und dem Islam zuordnet. Antimuslimischer Rassismus und Islamophobie machen den:die „Muslim:in“ zu einer unveränderlichen Sache, sodass Menschen verschiedener Nationalitäten und sogar Glaubensrichtungen als „muslimisch“ charakterisiert werden. Somit trifft antimuslimischer Rassismus nicht nur Muslim:innen sondern auch diejenigen, die scheinbar „muslimisch“ aussehen oder Menschen sind, die aus einem Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung stammen. Dabei hat der antimuslimische Rassismus einen ähnlichen Zweck wie der Rassismus: Spaltung der Arbeiter:innenklasse und herausentwickeln einer prekären Schicht dieser, Trennung des Arbeitsmarktes und Legitimation von Kriegen und imperialistischen Interessen. Durch die Spaltung der Arbeiter:innenklasse wird einerseits eine einheitliche Masse der Ausgebeuteten verhindert und andererseits können jene Arbeiter:innen besser ausgebeutet werden, die aufgrund ihrer Rassifizierung nicht die gleichen Rechte erhalten. Die Verbindung der Diskriminierung von Arbeitsmigrant:innen mit ihrer rassistischen Brandmarkung als „Muslimin:innen“ stellt diese als „Gefahr“ für „zivilisierte“ Gesellschaften dar. Diese Charakterisierung wird zunehmend von Rechtsextremen aufgegriffen und mit Verschwörungsideologien verknüpft. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte „Islamisierung des Abendlandes“, wegen der angeblich muslimische Einwanderung stattfindet, um die weiße Bevölkerung zu marginalisieren. So soll die Abschottung und Rückführung von Geflüchteten besser gelingen. Letztendlich sind alle Formen von Islamophobie und antimuslimischem Rassismus rassistische Ideologien, die der Unterdrückung von eingewanderten und geflüchteten Arbeiter:innen dienen sowie einen ideologischen Deckmantel für „humanitäre“ Interventionen in Halbkolonien oder die Unterstützung des zionistischen Staates rechtfertigen.

Wie ist der antimuslimische Rassismus entstanden?

In den letzten Jahren hat sich der Rassismus gegen Muslim:innen und die Islamophobie erheblich verändert, wodurch dem antimuslimischen Rassismus ein anderer Charakter verliehen wurde. Seit den 2000er Jahren können wir erkennen, dass der antimuslimische Rassismus eine dominierende Form des Rassismus in den imperialistischen Ländern eingenommen hat. Dies hat seine Ursache in verschiedenen historischen Entwicklungen. Eine davon ist der Zusammenbruch der Sowjetunion, der die Weltlage schlagartig verändert und die USA dazu veranlasst hat, die Welt neu ordnen zu wollen, um ihre Hegemonie und ihre Machtansprüche zu sichern. In den USA wurden in dieser Zeit immer mehr Bücher und Publikationen veröffentlicht, die Wege und Strategien für die Hegemonie der USA skizzieren. Dabei wurden vor allem andere imperialistische Länder wie China und Russland als Rivalen dargestellt und Strategien veröffentlicht, die verhindern sollten, dass diese Länder die Hegemonie der USA angreifen können. Eines dieser rassistischen Bücher war Huntingtons Clash of Civilisations (Kampf der Kulturen), das auch den „Islam“ als einen Imperialismus beschrieb, der sich zu einem globalen Rivalen entwickeln könnte, und das voller rassistischer Ideologie war. Dabei ist der Islam weder eine wirtschaftliche Einheit noch eine Nation oder eine Föderation von Nationen. Er ist kein Rivale um die Weltmacht. Aber er eignet sich gut als globaler Feind, der sowohl intern als auch extern ist. Nach den Angriffen am 11. September 2001 wird diese Ideologie dann genutzt, um den sogenannten „war on terror“ zu legitimieren und dutzende imperialistische Kriege wie in Afghanistan, auf vermeintlich muslimische Länder im Mittleren Osten, aber auch überall in der Welt zu legitimieren. Außerdem bietet es nicht nur eine ideologische Rechtfertigung für die Destabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens, sondern auch für die polizeiliche Überwachung und Stigmatisierung der muslimischen Bevölkerung. Dafür mussten der „Islam“ und der „Islamismus“ als einheitliches Gebilde konstruiert werden, um somit einen homogenen, gefährlichen und barbarischen Feind zu kreieren, dessen Anhänger:innen zu einer rückständigen Kultur gehören, die nicht in die moderne, demokratische Gesellschaft integrierbar ist. Dass im Islam selbst unterschiedliche Schulen und Glaubensauslegungen vorherrschen, beispielweise Unterschiede zwischen Schiiten und Sunniten, spielt dabei gar keine Rolle. Dabei wird oft von allem Islam als Islamismus gesprochen, ohne zwischen echtem Islamismus (politischem Islam) und dem Islam als bloßer Religion zu unterscheiden. So werden die in Deutschland stattfindenden Pro-Palästina-Demonstrationen von Robert Habeck als islamistisch bezeichnet, obwohl es sich bei den Organisatoren größtenteils um säkulare, linke Organisationen handelt.

Situation von Muslim:innen

Insgesamt gehört die Mehrheit der Muslim:innen in der EU zu den prekären Teilen der Arbeiter:innenklasse: So ist die Arbeitslosenquote unter türkischen Arbeiter:innen in Deutschland oder unter pakistanischen und bangladeschischen Arbeiter:innen in Großbritannien um 15 bis 40 Prozent höher als im nationalen Durchschnitt; man kann also sagen, dass die Arbeitslosenquote unter Migrant:innen und Muslim:innen (soweit getrennte Daten vorliegen) wesentlich höher ist als im nationalen Durchschnitt. Dadurch wird deutlich, dass Muslim:innen systematischer Unterdrückung, Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt sind, was als Folge Ghettoisierung mit sich bringt.

Auf dem Arbeitsmarkt und in der Schule erleben Migrant:innen und Muslim:innen alltägliche Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund ihrer Herkunft und Religion, auch wenn es in vielen Ländern oberflächliche Antidiskriminierungsgesetze gibt, die nicht verhindern, dass z. B. die Arbeitssuche für Migrant:innen mit Kopftuch wesentlich schwieriger ist als für weiße Frauen ohne Kopftuch. Auch in der Schule ist es für Schüler:innen aufgrund ihrer sozialen Lage schwieriger, akademische Erfolge zu erzielen, was insgesamt dazu führt, dass Muslim:innen (und Migrant:innen insgesamt) tendenziell in schlechter bezahlten Sektoren arbeiten als weiße Arbeiter:innen.

Wir wollen im zweiten Teil der Artikelreihe zu antimuslimischem Rassismus genauer darauf eingehen, was wir tun können, um dagegen anzukämpfen. Welche Forderungen sollten wir im Kampf aufstellen? Wieso ist der Kampf für Religionsfreiheit für alle wichtig? Seid gespannt.




Afghanistan: ein Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende?

5 Fragen und 5 Antworten

  1. Afghanistan, Was ist da los?,
  2. Wie ist die Situation von Jugendlichen vor Ort?
  3. War es ein Fehler die Bundeswehr abzuziehen?
  4. Was bedeutet die Herrschaft der Taliban und sollten wir sie gegen den Imperialismus unterstützen?
  5. Was können wir hier vor Ort tun?

1.: Afghanistan, was ist da los?

Nach 20 Jahren Besatzung durch die NATO-Militärkoalition ist nach deren Abzug aus Afghanistan innerhalb von nicht einmal zwei Monaten beinahe das gesamte Staatsgebiet wieder in die Hände der radikalislamischen Taliban gefallen. Die Taliban überfielen unmittelbar nach dem Abzug der NATO-Besatzungstruppen zunächst die Provinzhauptstädte und umzingelten schließlich die Hauptstadt Kabul, welche nahezu kampflos erobert werden konnte. Am 16.08. kapitulierte die von der NATO eingesetzte Marionettenregierung Afghanistans unter dem Präsidenten Ghani schließlich (der Hals über Kopf mit einem Heli voller Bargeld das Land verließ). Dies bedeutete faktisch die Machtübernahme durch die ursprünglich aus den Mudschahedin („Gotteskrieger“, welche btw von den USA, Saudi-Arabien und Pakistan erst hochgerüstet und finanziert wurden) hervorgegangenen Taliban. Der Abzug der letzten verbliebenen Soldat_Innen der NATO-Mitgliedsstaaten und der klägliche Versuch der Evakuierung der Ortskräfte, also jener Afghan_Innen, welche für die Besatzungstruppen arbeiteten, stellte den Höhepunkt der Niederlage der USA und seiner Verbündeten im Afghanistankrieg dar. Allgemein gab es keinen nennenswerten Widerstand gegen den Vormarsch der Taliban und zur Verteidigung der afghanischen Regierung. Obwohl die Regierungstruppen während der 20 Jahre Besatzung gut ausgerüstet und ausgebildet worden sind und offiziell 300 000 Mann umfassten, während die Taliban gerade mal über schätzungsweise

70 000 Millizionäre verfügten, konnten Letztere bei Ihrem Vormarsch nicht einmal annähernd durch die Regierungsarmee aufgehalten werden. Der Grund hierfür liegt nicht darin, dass die Taliban angeblich über einen hohen Rückhalt in der Bevölkerung verfügten. Viel mehr sind die Korruption des Präsidenten Ghani und seiner Marionettenregierung, die zunehmend ausgebliebene Auszahlung des Solds an die afghanischen Soldat_Innen nach dem Abzug der NATO-Truppen, die Demoralisierung des afghanischen Militärs durch den Abzug der Besatzungsarmeen sowie nicht zuletzt die grundlegend schlechte Versorgungslage für die breite Bevölkerung als Gründe für den ausbleibenden Widerstand gegen die Taliban zu nennen. Nicht zuletzt sind während der Besatzung rund 250 000 AfghanInnen gestorben – hiervon rund 70 000 Angehörige der Sicherheitskräfte, 100 000 wirkliche oder vermeintliche Taliban und über 70 000 ZivilistInnen. Sieben der insgesamt rund 38 Millionen Afghan_Innen wurden zu Flüchtlingen, hiervon rund vier Millionen im eigenen Land. Die anderen drei Millionen flohen nach Pakistan, Iran oder weiter westwärts.

Es steht jetzt schon zweifellos fest, dass die nun angebrochene, erneute Herrschaft der Taliban, welche letztlich das Ergebnis von 20 Jahren erfolgloser Besatzung durch die westlichen imperialistischen Staaten darstellt, für den absoluten Großteil der Bevölkerung nur Verschlechterungen, aber keine Verbesserungen zu bieten hat. Die Rücknahme demokratischer Rechte sowie auch die zunehmende Unterdrückung von Frauen und LGBTIAQs zeigte sich bereits in der „Empfehlung“ vonseiten der Taliban-Administration an Frauen, aufgrund der Sicherheitslage zuhause zu bleiben wie auch in der brutalen Niederschlagung der spontanen Frauendemonstrationen gegen die Herrschaft der Taliban. [1]

2.: Wie ist die Situation von Jugendlichen vor Ort?

Auch und insbesondere für die Jugend in Afghanistan sieht die aktuelle Lage nicht viel besser aus. Während sie ebenfalls von der Einschränkung demokratischer Rechte betroffen ist und die Hälfte von ihnen, nämlich die Frauen, voraussichtlich zunehmend aus den Bildungseinrichtungen verdrängt wird, ist die Jugendarbeitslosigkeit mit offiziell 17% nach wie vor verhältnismäßig hoch [2]. Es ist damit zu rechnen, dass diese in Zukunft weiter ansteigen wird, da die afghanische Wirtschaft zum Großteil an Kapital- und Warenströme aus und in die Besatzerstaaten gekoppelt war. Vor allem aber wird die Unterdrückung der Jugendlichen, die Entmündigung und Ankettung an die Eltern (oder vielmehr den Vater), sich unter den Taliban weiter verschärfen. Besuch von Discos, Videospiele oder „westliche“ Musik? Fehlanzeige. Die Pädagogik, Möglichkeit zur Entfaltung der Persönlichkeit, das Kulturangebot uvm. werden unter der Herrschaft der feudalen Talibanbande ihrer rückwärtsgewandten Gesellschaftsvorstellung untergeordnet werden. Die bis dahin zumindest in den Großstädten gängige Lebensweise, Arbeitsmöglichkeiten auch für Frauen, Menschenrechte, das Versammlungsrecht und die Meinungsfreiheit gehören mit der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan der Vergangenheit an.

3.: War der Abzug der Bundeswehr ein Fehler?

Vor diesem Hintergrund könnte man schnell zu dem Schluss kommen, dass der Abzug der Bundeswehr und der NATO-Truppen aus Afghanistan ein Fehler war. Dieser Schein trügt jedoch, da er ausblendet, dass erst die Besatzung Afghanistans durch die Bundeswehr und ihrer Verbündeten ein verwüstetes Land und zigtausende zivile Opfer hinterlassen hat. Die politischen Verhältnisse in Afghanistan sind nicht zu verstehen, ohne die nicht enden wollende Kette der Einmischung anderer Staaten zu betrachten. Angefangen bei der kolonialen Ausbeutung, über die sowjetische Besatzung und der Finanzierung der Mudschahedin durch die USA, bis hin zur NATO-Invasion. Rund 80% der Bevölkerung gelten heute als arbeitslos oder unterbeschäftigt, 60% der Kinder leiden schon jetzt an Hunger und Unterernährung [3]. Der von der NATO-Militärkoalition geführte Krieg gegen Afghanistan war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Ziel war mitnichten die vorgegebene Demokratisierung und der Export von Menschenrechten, sondern hatte vielmehr die Verfolgung geostrategischer und ökonomischer Interessen zum Ziel. Wie schon im Kolonialismus tarnen die Besatzer ihre ökonomischen und militärischen Interessen unter dem Deckmantel des Kampfes für „Menschenrechte“ und „zivilisatorische Werte“. Die Form der Führung dieses ungleichen Krieges und der überstürzte Abzug, die bloße Ausplünderung des Landes und Verwüstung dessen, das Zurücklassen der Ortskräfte uvm. zeigen mehr als deutlich auf, dass Interventionen des imperialistischen Westens keine Lösung, sondern viel mehr die Ursache des Problems sind. Die Befreiung vom Joch der Unterdrückung können nur die unterdrückten Klassen Afghanistans selbst bewerkstelligen, in Kooperation und internationaler Solidarität mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten weltweit. Darüber reden wir in der fünften Frage noch genauer. Schon jetzt ist aber klar, dass wir auch weiterhin fest gegen alle imperialistischen Auslandseinsätze und Waffenexporte stehen!

  1. Was bedeutet die Herrschaft der Taliban? Sollten wir sie gegen den Imperialismus unterstützen?

Den Taliban schwebt die Errichtung eines theokratischen Gottesstaates, eines afghanischen Kalifats vor. Die Herrschaft der Taliban bedeutet in erster Linie eine Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für die breiten Massen, die Einschränkung demokratischer Rechte, Rücknahme von Frauenrechten, die Verbannung von Frauen aus der Öffentlichkeit und Verdrängung in die Reproduktionssphäre, die verschärfte Unterdrückung von Frauen, LGBTQIA+-Menschen, Jugendlichen und nationaler Minderheiten. Mädchenschulen werden voraussichtlich dichtgemacht, Frauen von der Teilhabe an Bildung nach und nach ausgeschlossen und ihnen wird vermutlich auch wieder verboten werden, die eigene Wohnung ohne männliche Begleitung zu verlassen. Die Verfolgung politischer Gegner, von Journalist_Innen und Menschenrechtsaktivist_Innen, Folter und Mord werden künftig zum repressiven Alltag der Afghan_Innen gehören. Durch die Sanktionen und die zu erwartende, weitestgehende Isolation Afghanistans wird sich die ohnehin schon miserable Versorgungslage für weite Teile der Bevölkerung aller Voraussicht nach massiv verschlechtern.

Alleine aus den bereits genannten Gründen wird klar, warum eine Unterstützung der Taliban gegen den Imperialismus im Sinne der antiimperialistischen Einheitsfront für uns ausgeschlossen ist. Hinzu kommt, dass alle Linken, SozialistInnen, MarxistInnen, AnarchistInnen usw. sich in Afghanistan fortan in der Illegalität organisieren müssen und von der verschärften Unterdrückung unter der Talibanherrschaft nicht verschont bleiben. Der Versuch, eine kommunistische Jugendorganisation und eine unabhängige Arbeiter_Innenpartei mit revolutionärem Programm aufzubauen, würde also zweifelsohne durch die Taliban mit allen Mitteln bekämpft werden, ein solcher Aufbau kann bestenfalls unter dem Vorzeichen der Illegalität stattfinden.

Weiterhin stehen die Taliban nicht für die Unabhängigkeit vom Imperialismus, sondern es zeigt sich viel mehr, dass diese offen für die Kooperation mit dem russischen, vor allem aber mit dem chinesischen Imperialismus sind. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in den anhaltenden diplomatischen Treffen der Taliban mit Vertreter_Innen Russlands und Chinas und der öffentlich verlautbarten Bereitschaft zur Anerkennung der Herrschaft der Taliban. Die Taliban werden versuchen, die Isolation durch den westlichen Imperialismus zu durchbrechen, indem diese sich zumindest die Gunst des russischen und chinesischen Imperialismus sichern wollen. Russland und China werden die Einladung, das durch den Abzug der NATO hinterlassene Machtvakuum in Afghanistan zu füllen, dankend annehmen. Schließlich verfolgen beide Staaten ihre eigenen geostrategischen und ökonomischen Interessen. Nicht zuletzt steht auch Pakistan weiterhin mehr oder weniger offen an der Seite der Taliban. Es gibt Berichte, wonach die Eroberung der bis zuletzt Widerstand leistenden Provinz des Pandschir-Tals durch die Taliban durch Angriffe der Luftwaffe Pakistans unterstützt wurde. Dass insbesondere der pakistanische Geheimdienst beste Verbindungen zu den Taliban unterhält und diese seit jeher finanziert und aufgebaut hat, ist kein Geheimnis. Hieran wird deutlich, dass auch Pakistan bei dem Kampf um die Neuordnung Afghanistans versucht, seinen Einfluss als Regionalmacht geltend zu machen. Für uns stellt sich daher gar nicht die Frage, ob wir die Taliban im Kampf gegen den Imperialismus unterstützen. In diesem Stellvertreterkonflikt zwischen den imperialistischen Blöcken kann die einzig richtige Position nur die Parteinahme für die Unabhängigkeit vom Imperialismus, für den Aufbau einer internationalen, antiimperialistischen Bewegung und für die Befreiung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten sein. Der Kampf gegen den Imperialismus kann also nicht mit den Taliban, sondern nur gegen diese erfolgreich geführt werden.

5. Was können wir hier vor Ort tun?

Für uns als revolutionäre Marxist_Innen ist klar, dass der Kampf gegen die Herrschaft der Taliban, der Kampf für demokratische Rechte und soziale Verbesserungen mit dem Kampf gegen den Imperialismus verknüpft werden muss. Weiterhin darf der Kampf für demokratische Rechte auch nicht vom Ziel der sozialistischen Revolution getrennt gesehen werden. Vielmehr kann eine solche Vorstellung von einer „demokratischen Etappe“ als strikt zu trennende Vorbedingung für die soziale Revolution nur den Besitzenden in Afghanistan und dem Imperialismus in die Hände spielen. Stattdessen müssen die Unterdrückten selbst die Macht ergreifen und die Erkämpfung demokratischer Rechte mit der Errichtung einer sozialistischen Räterepbulik verbinden – nicht nur in Afghanistan, sondern auch darüber hinaus.

In Afghanistan selbst müssen Revolutionär_Innen aktuell vor allem ums Überleben kämpfen und sich in der Illegalität organisieren. Es bedarf des Aufbaus von demokratisch kontrollierten Selbstverteidigungskomitees und einer im Untergrund gedruckten revolutionären Presse. Diese muss das afghanische Proletariat zu politischen Streiks gegen die Taliban-Regierung und zur Gründung von Betriebs-, Gemeinde- Soldatenräten aufrufen. Dabei gilt es auch die afghanische Exilbevölkerung, die Teil des Proletariats der umliegenden Länder ist, zu organisieren und in diesen Ländern mit Demonstrationen und Streiks für offene Grenzen und gegen jegliche militärische, wirtschaftliche und politische Unterstützung der Taliban-Regierung zu kämpfen.

Auch hier in Europa gilt es jetzt vor allem, politischen Druck aufzubauen und internationale Solidarität zu organisieren. Die Luftbrücke-Demonstrationen waren ein guter Ansatz, um die NATO-Mitgliedsstaaten in die Pflicht zu nehmen, unbürokratisch afghanische Geflüchtete aufzunehmen. Doch dabei allein darf es nicht bleiben. Wir Jugendlichen müssen gemeinsam mit der Arbeiter_Innenklasse eine internationale Bewegung aufbauen, welche nicht nur für legale Fluchtwege kämpft, sondern auch für die dezentrale Unterbringung, die Versorgung mit Arbeitsplätzen und Wohnungen, volle StaatsbürgerInnenrechte und offene Grenzen für alle, einen Stopp von Waffenexporten und aller Auslandseinsätze fordert. In Deutschland fällt uns dabei insbesondere die Aufgabe zu, Widerstand zu organisieren gegen die Beziehungen zwischen dem deutschen Kapital und den die Taliban unterstützenden Kräften wie Pakistan, das zu den fünf größten Handelspartnern des deutschen Imperialismus gehört. Ebenso wäre es denkbar, dass eine entstehende unabhängige Widerstandsbewegung von der deutschen und internationalen Arbeiter_Innenklasse Waffen oder andere materielle Unterstützung erhält.

Am Ende müssen wir uns revolutionär organisieren, eine internationale kommunistische Jugendorganisation und eine neue revolutionär-marxistische Internationale aufbauen, um den Imperialismus und Kapitalismus, aber mit diesen auch jede Form reaktionär-theokratischer Herrschaft hinwegzufegen.




Über Islamophobie und die Frage, ob es eine religiöse Revolutionärin geben kann

von Dilara Lorin

Antimuslimischer Rassismus, sogenannte Islamophobie ist in den letzten Jahren so dauerpräsent geworden, dass man irgendwie das Gefühl hat, er gehöre zum „guten Ton“ der spätkapitalistischen Gesellschaft. Gerade aktuell ist in den Medien die Debatte wieder aufgeflammt: „Ist der Islam an sich rückschrittlich?“. Wir wollen daher die Gelegenheit nutzen, um mit diesem, wie mit anderen Mythen mal wieder ein wenig aufzuräumen.

Vorab
sei bemerkt, dass bei der Betrachtung von antimuslimischem Rassismus
auch die Frage, was eigentlich „Islamismus“ sei, eine große
Rolle spielt, der wir jedoch in dieser Zeitung nicht den angemessenen
Platz einräumen können und die wir daher in der nächsten Ausgabe
behandeln wollen.

Was
ist Islamophobie?

Islamophobie ist laut Wörterbucheintrag die Abneigung gegen den Islam (und seine Anhänger_Innen) und die negative, feindliche Einstellung gegenüber Muslim_Innen. Politisch diente das Schüren von Islamophobie dazu jedes imperialistische Eingreifen und sogar Besetzung und Kriege in der muslimischen Welt zu rechtfertigen, ebenso wie den staatlichen Rassismus im eigenen Land, d.h. repressive Gesetze und sonstige Unterdrückung gegen nationale oder religiöse Minderheiten. Antimuslimischer Rassismus ist im Spätkapitalismus ein Hauptbestandteil imperialistischer Ideologie geworden. Ihm bedienen sich auch rechtspopulistische Kräfte wie AfD, Marine Le Pen, FPÖ und andere, die ihn nutzen um ihre rassistischen Propaganda darauf aufzubauen. Auch wenn Islamophobie als relativ neues Phänomen erscheint, wurzeln viele der heute präsenten Bilder tief in der europäischen Geschichte. Darstellungen des Orients als primitiv, rückständig und despotisch im Vergleich zum modernen und aufgeklärten Westen oder das in Europa verbreitete Schreckbild des expandierenden Osmanischen Reiches als Bedrohung des christlichen Abendlands haben eine lange Geschichte und werden im modernen antimuslimischen Rassismus oftmals wieder aufgegriffen und auf die „Rasse“, „Natur“ oder „Kultur“ der Betroffenen zurückgeführt. In Westeuropa und Nordamerika führt er zu rassistischer Agitation gegen Immgirant_Innen aus dem Nahen Osten, dem indischen Subkontinent und Ostafrika geworden.

Er
führt dazu, dass Grenzen geschlossen werden, Überwachung der
Bevölkerung zunimmt, Attentate auf Migrant_Innen zunehmen und vieles
mehr.

Wie
auch andere Spielarten von Rassismus hat Islamophobie in
imperialistischen Ländern die Funktion, dass ein Teil der
Arbeiter_Innenklasse noch schlechter bezahlt wird als die anderen und
daher als Lohndrücker_Innen wirkt. Darüber hinaus werden die
Arbeiter_Innen gegeneinander ausgespielt, anstatt gemeinsam für ihre
Interessen einzustehen.

Hintergrund
in den Weltordnung

Schauen
wir uns die heutigen Staaten im Nahen/Mittleren Osten an, erkennen
wir schnell, dass sie von westlichen Medien als zurückgeblieben,
barbarisch angesehen werden und diese Zuschreibung auch immer
einhergeht mit einer islamfeindlichen Anschauung. So als würde
gerade der Islam diese Zurückgebliebenheit der Regionen verursachen.
Dabei sind diese Staaten, weil sie Halbkolonien sind, wirtschaftlich
künstlich unterentwickelt, d.h. die imperialistischen Staaten, von
denen sie abhängen, wollen erst gar nicht, dass sie sich weiter
entwickeln und am Ende noch wirtschaftlich unabhängig machen. Mit
der wirtschaftlichen Abhängigkeit, können auch die Staaten gar
nicht selber entscheiden worin sie investieren, wird die Korruption
erhöht und vor allem die Arbeiter_Innen, Jugendliche und Frauen
leiden darunter und müssen unter unmenschlichen Lebensbedingungen
leben und arbeiten und werden dabei systematisch ausgebeutet. Diese
Perspektivlosigkeit, diese künstlich unterentwickelte Wirtschaft hat
dabei nichts mit dem Islam zu tun, so wie es viele konservative,
Rechte aber auch Bürgerliche behaupten, sondern schlicht und einfach
mit der wirtschaftlichen Ausbeutung und dem imperialistischen
Machtgefüge.

Es
ist daneben kein Zufall, dass das Aufleben der Islamophobie im 21.
Jahrhundert zeitlich mit der Intervention der USA in ölreiche aber
muslimisch geprägte Regionen wie z.B. der Irak zusammenfällt. Die
traditionelle islamische Kultur wurde so ein Brennpunkt
US-imperialistischer Kritik – mit arroganten Aufforderungen, sich
selbst zu modernisieren, d.h. zu verwestlichen. Doch genau das ist
ein überhebliches, ekliges und unmögliches Verfangen. Denn Staaten
die der Imperialismus von sich abhängig macht, können sich nicht
aus den Fesseln befreien, unabhängig werden und entwickeln um
„westlichen“ Standards zu entsprechen.

Religion
nur Opium fürs Volk?

Wenn
man sich vor Augen führt wie die Mehrheit der Menschen auf dieser
Welt leben, meist ohne eine Zukunft, mit Krieg, Armut, Unterdrückung
und Leid als ständigen Begleiter ist, steht für viele von Ihnen der
Glaube an eine höhere Macht, an Gerechtigkeit und an ein besseres
Leben nach dem Tod nicht weit. Es ist diese Hoffnung und die Kraft,
die es ihnen ermöglicht das Leid zu ertragen. Darum dürfen wir als
Revolutionär_Innen den religiösen, an einem Gott/Allah glaubenden
Teilen der Arbeiter_Innenklasse nicht uninteressiert entgegenstehen.

Als
Kommunist_Innen ist gleichzeitig der dialektische Materialismus
unsere philosophische Grundlage, die daher im Widerspruch zu allen
religiös-idealistischen Erklärungsansätzen steht. Das heißt
jedoch nicht, dass nicht auch ein_e ehrliche_r Revolutionär_In sich
rekreativ religiösen Ritualen widmen kann, wenn er_sie daraus Kraft
schöpft. Religion bleibt also Privatsache, und wir sollten keine_n
entschlossene_n Klassenkämpfer_In wegen seiner religiösen
Vorstellungen zurückweisen.

Wofür
wir aber einstehen und kämpfen müssen,

ist
die unbedingte Trennung von Religion und Staat, egal ob man
Atheist_In, oder religiös ist, das heißt: keine
religiös inspirierten Gesetze, keine Finanzierung von religiösen
Schulen, kein verpflichtender Religionsunterricht, keine
Zurschaustellung religiöser Symbole durch öffentliche Einrichtungen
(wie zum Beispiel Kreuze in Schulen) und die Offenlegung aller
Finanzquellen von religiösen Institutionen. Trotz freier
Religionsausübung darf niemand in seinen demokratischen Rechten
eingeschränkt werden. Wir verteidigen jede Person, die auf Grund
ihrer Religion diskriminiert wird und stellen uns gegen jede
Diskriminierung, die mit religiöser Überzeugung gerechtfertigt
wird.

Wir
verteidigen das Recht von Muslim_Innen, ihre Religion auszuüben und
Moscheen zu erbauen. Ebenso haben Frauen das Recht, sich zu
verschleiern, auch mit einer Burka, wenn sie es wollen. Dass wir für
diese Freiheit zur Ausübung ihres Glaubens eintreten, geht für uns
darüberhinaus Hand in Hand damit, gegen den Zwang zu kämpfen, dass
sich Frauen und Jugendliche diesen oder jenen religiösen
Vorstellungen wider eigenen Willens unterwerfen müssen.

In
unserem Kampf, den wir gemeinsam führen, verfallen wir nicht
islamfeindlichen Gedanken, sondern rufen die Arbeiter_Innenbewegung
dazu auf ihren muslimischen Geschwistern beizustehen, wo sie
unterdrückt werden. Auf diese Weise kann die Arbeiter_Innenbewegung
den Einwander_Innen und religiösen Minderheiten in den
imperialistischen Ländern demonstrieren, dass sie die
demokratischste und fortschrittlichste Kraft ist und kann dadurch
auch dem Islam seine Führungsrolle streitig machen.