Was geht eigentlich ab?

REVOLUTION, November 2022

Auf unserer jährlichen Sektionskonferenz haben wir als gesamte deutsche Sektion von REVOLUTION uns die Köpfe darüber heiß diskutiert, wie wir eigentlich die Lage der Welt aktuell einschätzen. Dabei spielten Fragen wie die Folgenden eine Rolle: Wird es einen neuen Weltkrieg geben? Was wird aus der Inflation? Schlittern wir in die nächste Wirtschaftskrise? Gibt es ein internationales Roll-Back gegen Trans-Menschen? Wird die EU die kommende Krise überleben? Wie ist die Lage des Kapitals in Deutschland? Was wird aus der sogenannten „Zeitenwende“ (Olaf Scholz 2022)? Wird sich die Linkspartei auflösen? Was waren die Probleme der Klimabewegung?

Antworten auf das alles und noch viel mehr gibt’s im folgenden Text!

Weltlage

1. Die Welt, in der wir Leben beugt sich der kapitalistischen Ordnung, welche seit Jahren durch Krisen geprägt ist. In jedem Fall stehen wir aber an einem Wendepunkt der Entwicklung des globalen Kapitalismus, also inmitten einer Phase des globalen Klassenkampfes, die entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung nehmen wird – und zwar auf verschiedenen Ebenen:

2. Das weltweite Wirtschaftswachstum wird 2022 nach Schätzungen des IWF wahrscheinlich nur 3,6% betragen. Die Prognose musste wegen der Inflation, den Lockdowns in China und dem Ukrainekrieg gegenüber Januar 2022 um 0,8 % gesenkt werden. Besonders betroffen von dieser Entwicklung ist die EU. Für 2023 rechnet der IWF nur noch mit einem Wachstum von 3 %, allerdings auch nur unter der Voraussetzung, dass sich der Ukrainekrieg nicht ausweitet, es in China weniger Lockdowns gibt und auch sonst keine neuen Konflikte und Krisen ausbrechen. Für ein Drittel aller Länder (vor alle europäischen Länder, allen voran Deutschland) sagt der IWF sogar eine Rezession (also ein Schrumpfen der Wirtschaft in zwei aufeinanderfolgenden Jahresvierteln) voraus. Wir stehen also anscheinend vor einer Stagflation (einer Kombination aus stagnierendem Wirtschaftswachstum und Inflation). Wenn weitere Krisen (politisch, gesundheitlich, wirtschaftlich usw.) ausbrechen oder sich die bestehenden verstärken, kann die Weltwirtschaft schnell in eine ausgewachsene Rezession rutschen.

3. Eine gemeinsame Antwort der führenden imperialistischen Mächte auf die globale ökonomische Krise kann, anders als nach der großen Finanzmarktkrise 2008 und der darauffolgenden Rezession, faktisch ausgeschlossen werden.

4. Das verschärft nicht nur die zyklische ökonomische Krise in einzelnen Staaten, sondern auch die innerimperialistischen Gegensätze, die Tendenzen zur „Deglobalisierung“, zur Fragmentierung des Weltmarktes, zur Blockbildung sowie zur Abwälzung der Krisenkosten auf die halb-koloniale Welt. Der Krieg um die Ukraine und die wechselseitigen, beide Seiten massiv treffenden Sanktionen wirken krisenverschärfend, sowie die Krise die gegenseitige Konkurrenz und die Kriegsgefahr erhöht. 

5. All dies befeuert die katastrophenhafte Zuspitzung weiterer grundlegender Probleme der Menschheit, vor allem die ökologischen Katastrophen (nicht nur Klima, sondern auch andere wie Artensterben) und die Probleme der kapitalistische Landwirtschaft in Bezug auf ökologische und soziale Grenzen. Die Pandemie, die Millionen Tote gefordert hat, sowie die Hungerkrise und die drohende Vertreibung von einer Milliarde Klimaflüchtlingen im kommenden Jahrzehnt sind Ausdruck dieser Entwicklung. Die Kombination aus der ökonomischen Krise und dem innerimperialistischen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt wird die Krise des Verhältnisse zwischen der Menschheit und dem Planeten weiter massiv verschärfen.

6. Die Krise geht notwendigerweise mit Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse, die Bauernschaft, die Jugend, die unteren und ärmeren Teil des Kleinbürgertum und der Mittelschichten einher. Heute stehen Preissteigerungen und Inflation im Zentrum der Angriffe auf die Einkommen und Lebensbedingungen der Massen. Mit der Entwicklung der Krise könnte dies jedoch in Deflation umschlagen, die mit Massenentlassungen, Betriebsschließungen, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung einhergehen, wie diese heute schon für bedeutende Teile der Halbkolonien gilt.  

7. Auch wenn die Weltwirtschaftskrise 2008-2010 etliche vor allem Halbkoloniale Länder, wie Griechenland, in den Ruin trieben, konnte die imperialistische Bourgeoisie durch eine Politik des billigen Geldes dem entgegenwirken. Dies führte zu einer Begrenzung des eigentlich notwendigen Vernichtens überschüssigen Kapitals in den imperialistischen Zentren und konnte das Finanzkapital schützen. Mit der Corona Pandemie verschärfte sich die schon vorher aufkommende neue Krise, denn durch die Pandemie kam es zu einen massiven Produktionseinbruch, welches die Länder mit voller Wucht traf. Jedoch sind beide Krisen nicht gleich zu setzen. So haben sich die Gewichte der Weltwirtschaft weiter verschoben, welches auch zu einer Verschiebung innerhalb der globalen Konkurrenz führte und den damit einhergehenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

8. Dies sind leider auch keine guten Umstände für die Arbeiter_Innenklasse, denn auch hier befinden wir uns vor einer anderen Lage als nach der Weltwirtschaftskrise 2008-10. Nach der damaligen Krise befand sich die Bourgeoisie in einer ideologischen Defensive. Die arabischen Revolutionen und die vor-revolutionäre Zuspitzung in Griechenland verdeutlichten das Potential einer Wende im Klassenkampf und stellten über mehrere Jahre eine Inspiration der Arbeiter_Innenklasse und der Massen weltweit dar. Deren Ansturm erfolgte trotz einer schon damals tiefen Krise und verdeutlicht, das spontan revolutionäre Potential der Arbeiter_Innenklasse – aber auch dessen Grenzen. Die Niederlagen dieser Bewegungen offenbarten nicht nur die Tiefe der Führungskrise des Proletariats, sie hatten, zusammen mit anderen wichtigen Niederlagen) auch nachhaltige globale Auswirkungen auf die Moral, Kampfbereitschaft und das Bewusstsein der Arbeiter_Innenklasse. Dies hat heute noch eine große Auswirkung auf die Kämpfe der Arbeiter_Innen, und dessen Auswüchsen. Wir können immer mehr erkennen, dass viele einer politischen Alternative zwischen populistischen Rechten und „demokratischer“ Mitte hinterher laufen. Auch wenn wir in dem letzten Jahre mehrere kämpferische und spontane Bewegungen erkennen konnten (Frauenstreiks, BLM), waren auch diese stark geprägt durch kleinbürgerliche und neo-reformistische Ideen Identitätspolitik, Individualismus, Linkspopulismus, Transformationsstrategie).

9. Das Blatt kann sich jedoch schnell wenden. Mächtige Streikbewegungen in England und auch in Frankreich zeigen, wie schnell sich die Arbeiter_Innenklasse aufraffen und als Macht auftreten kann (ohne dadurch natürlich schon die Führungskrise zu lösen). In Russland gab es bereits Proteste gegen den Krieg und die Zwangsrekrutierungen. Im Falle Russlands besteht dabei die Aufgabe die „liberale“ bürgerliche Opposition als kaum bessere Alternative zu Putin zu entlarven. In der Halbkolonialen Welt machen die Proteste im Iran momentan die meisten Hoffnungen. Eine Revolution hätte Auswirkungen auf die kurdische Frage, auf die national unterdrückten Belutschen, welche im Iran und in Pakistan leben, aber auch auf die Lage der Frauen in Afghanistan, um nur die direktesten Einflüsse auf die Nachbarländer zu nennen. Sicher ist, dass uns auch in der Zukunft noch weitere spontane Massenmobilisierungen und Kämpfe erwarten werden, auf welche wir nicht nur reagieren müssen, sondern durch Interventionen versuchen müssen diese mit anzuleiten und in eine revolutionäre Richtung zu bewegen.

Weltwirtschaftslage

10. Die Globalisierungsperiode, die Anfang der 1990er Jahre begann, hat den Kapitalismus zweifellos auf einer qualitativ neuen Ebene internationalisiert. Die Produktion, die Dienstleistungen, der Handel, die Finanzströme, die Kommunikation und  die Wissenschaft haben alle ein neues Niveau der internationalen Organisation erreicht, das auf den Fortschritten der Produktivkräfte und einer Internationalisierung der  WeltArbeiter_Innenklasse beruht und eine expansive Bewegung der globalen Kapitalakkumulation ermöglicht. Diese neue Periode der Kapitalakkumulation setzte eine Wiederherstellung der Profitraten in den imperialistischen Zentren als Ergebnis wesentlicher Niederlagen der jeweiligen Arbeiter_Innenklassen voraus. Diese ermöglichten die Deregulierung der Arbeitsbedingungen, Offshoring, Investitionen in privatisierte Sektoren, eine Ausweitung des Welthandels, den Aufbau internationaler Produktionsketten usw. Unterstützt wurde dies durch eine massive Expansion neuer Formen des Finanzkapitals, das neu gegründete globale Unternehmen dominiert und eine verstärkte Kontrolle über Industrien und Nationalstaaten ausübt. Während diese Finanzkonzerne als internationale Agenturen agieren, ist die Quelle des von ihnen investierten Kapitals immer noch überwiegend die imperialistische Bourgeoisie Nordamerikas, die reichen europäischen Länder und in geringerem Maße die neue Bourgeoisie in China und Russland.

11. Nach der schwachen Erholung nach der „Corona“-Rezession, den überraschend niedrigen Wachstumsraten in China, der tiefen Krise mehrerer „Schwellenländer“ und den wirtschaftlichen Schockwellen nach dem Ukraine-Krieg kommt die Mehrheit der Wirtschaftskommentatoren zu dem Schluss, dass die Weltwirtschaft erneut auf eine globale Rezession zusteuert

12. Dies ist nicht nur auf zufällige oder kontingente globale Ereignisse zurückzuführen (Corona, Ukraine-Krieg). Diese Ereignisse trafen die Weltwirtschaft zu einem Zeitpunkt, an dem die eigentlichen Tendenzen zur Wirtschaftskrise bereits akut waren und die Endphase der Globalisierung ankündigten. Der globale Kapitalismus war nicht in der Lage, die Pandemie auf der notwendigen globalen Ebene zu bewältigen, was ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen hinauszögerte. Dadurch das der Kapitalismus scheiterte internationale Institutionen zu schaffen,  führte dies zu einem Widerspruch zwischen den realen staatlichen handlungsmöglichkeiten un den „demokratischen“ Versprechen des bürgerlichen parlamentarismus. Dies trug auch in den imerpialistischen Staaaten dazu bei, dass es zu einer Krise der Demokratie kam.

13. Die zunehmende Konkurrenz zwischen den imperialistischen Blöcken führte zu politischen und bewaffneten Konfrontationen  zwischen ihnen – und damit zu einer weiteren Vertiefung der wirtschaftlichen Krise der Globalisierung. Diese kontingenten Ereignisse dienten also als Katalysatoren, die die Krisentendenzen noch schneller und tiefer wirken lassen, so dass die kommende Rezession die Frage aufwerfen wird, wie eine kapitalistische Weltwirtschaft nach dem Ende der aktuellen Periode neu gestaltet werden kann. In den immer mehr miteinander konkurrierenden imperialistischen Staaten zählt Europa aktuell zu den schwächeren Teilen der Herrschenden.

14. Vor allem nach der Weltwirtschaftskrise 2008-10 konnte noch damals das deutsche Kapital  die EU als Instrument für den Aufbau eines Systems von Produktionsketten in Ost und Südeuropa nutzen, während das britische Kapital zusammen mit dem US amerikanischen Finanzsektor vor allem daran interessiert war, sich finanzielle  Investitionsmöglichkeiten in Europa zu sichern. Frankreich und Deutschland förderten die „Lissabon-Agenda“, die Perspektive der EU als wichtiger Konkurrent im imperialistischen  System. Dies erforderte jedoch ein stärkeres Bündnis mit dem russischen Imperialismus, um sowohl dessen große Energie- und Rohstoffmonopole als auch die großen, mit Russland verbundenen Märkte in Zentralasien zu nutzen. Russland, das aufgrund einer schleppenden Weltwirtschaft unter niedrigen Energiepreisen litt, wandte sich einer noch autoritäreren und aggressiveren Politik zu, um das Regime zu stabilisieren. In der Zwischenzeit verließen sich die osteuropäischen Länder mehr und mehr auf rechtspopulistische Regime als Sicherheitsventil gegen soziale Unruhen. Die meisten von ihnen lehnten auch die“schwache Position“ von Berlin und Paris gegenüber Russland ab und orientierten sich stark an den USA und deren NATO-Präsenz in Europa. Schließlich war der Brexit ein weiterer Schlag gegen den Aufbau eines starken „europäischen Wettbewerbers“ auf denWeltmärkten. Angesichts dieser politischen Rahmenbedingungen ist es nicht verwunderlich, dass Europa in den 2010er Jahren bei den Wachstumsraten, der Kapitalproduktivität, den Anteilen ihrer Großunternehmen und der Fähigkeit, mit Krisensituationen umzugehen, hinter China und den USA zurückfiel.

15. China, welches noch Anfang des 20. Jahrhunderts zu den „aufsteigenden“ Ländern gehörte, hat im 21. Jahrhundert die Konkurrenz um die Welthegemonie der USA strittig gemacht. Aber auch in China gelten die Gesetze der kapitalistischen Akkumulation. Als dynamischster Faktor der Weltwirtschaft in den 2010er Jahren mit einem immer höheren Ausmaß an kapitalistischer Rationalisierung ist es daher nicht verwunderlich, dass China  die kapitalistische Volkswirtschaft war, die den charakteristischsten Rückgang der Profitraten aufwies, insbesondere nach 2015, verbunden mit einer Verlängerung des Wachstums der absoluten Profitmassen – und damit einer Fortsetzung der hohen Wachstumsraten für einige Zeit. Dies führte zwangsläufig zu einer Überakkumulation, was sich in wachsenden Schwierigkeiten im Verhältnis von Neuinvestitionen zum bestehenden Kapitalstock zeigt. Die Schwierigkeiten bei der Finanzierung von weiterem Wachstum und Investitionen in einem politischen Wirtschaftssystem, das von hohen Wachstumsraten ausgeht, führten zwangsläufig zu Problemen im fragilen Finanzsystem, die sich in  mehreren Blasen-Krisen äußerten. Staatliche Eingriffe konnten das System zwar bisher stabilisieren, führten aber zu höheren Spannungen zwischen Bourgeoisie und Staatsapparat, die nur durch eine zunehmend autoritäre Form des Bonapartismus an der Spitze des Staates beruhigt werden können. Je mehr die kapitalistische Krise an die Oberfläche kommt, desto aggressiver muss dieser Bonapartismus auf die inneren und äußeren Spannungen reagieren. Vor allem die strikten Corona-Maßnahmen im Land mit Lockdowns in mehr als 45 Städten in den vergangenen Monaten führte zu einer weiteren Schwächung der Wirtschaft.

16. Diese Analyse zeigt, dass wir weit davon entfernt sind, uns in einer neuen Periode der steigenden Kapitalakkumulation zu befinden. Die nächsten Jahre werden weiterhin von der Krise des gegenwärtigen Akkumulationsregimes geprägt sein. Anders als zu Beginn der Globalisierung gibt es keine entscheidenden neuen Niederlagen der Arbeiter_Innenklasse, die zu noch höheren Ausbeutungsraten führen könnten. Die Profitraten aller imperialistischen Volkswirtschaften haben sich auf einem niedrigen Niveau angeglichen. China ist selbst eher zu einem Krisenfaktor als zu einem Motor der globalen Akkumulationsdynamik geworden. Alle Krisenfaktoren: Energie und Ökologie, Pandemie, Verschuldung, Inflationsgefahr, Zusammenbruch von Zombie Unternehmen, die aussichtslose Krise fast aller halbkolonialen Regionen, insbesondere der Absturz der Schwellenländer, die wachsende Kriegs- und Aufrüstungsgefahr – all das macht einen reibungslosen Übergang zu einer neuen Investitionswelle in klimaneutrale und intelligente Technologien (Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Industrie 4.0 etc.) höchst unwahrscheinlich. Die Phänomene der „Deglobalisierung“, wie der Rückgang der Direktinvestitionen, das geringere Gewicht globaler Wertschöpfungsketten, die Schwächung des Welthandels, zum Beispiel durch neue Zölle, sind ein Zeichen der Krise, kein Merkmal einer neuen Periode. Auch wenn die „Globalisierung“ nicht mehr dynamisch voranschreitet, wird es dem Kapitalismus sehr schwer fallen, sich von seinem neuen Internationalisierungsgrad zurückzuziehen. In der gegenwärtigen Krisenzeit bedeutet dies, dass auch die Krise eine viel internationalere und globalere Dynamik annimmt.

Kampf um die Neuaufteilung der Welt

17. Die russische Invasion in der Ukraine hat ein neues Kapitel in den internationalen Beziehungen aufgeschlagen, das erhebliche Auswirkungen auf die globale Wirtschaftsordnung hat. Der Ukrainekrieg hat sicherlich Bewegung in die Blockbildung (also der außenpolitischen Ausrichtung der Staaten) gebracht. Die hirntot geglaubt NATO ist plötzlich wieder erwacht, die USA und die EU fanden wieder zueinander und die Beziehungen zwischen der EU und Russland scheinen ein für alle mal zerbrochen. Die Integration von Schweden und Finnland in die Nato verdeutlicht dies zusätzlich und verschärft die Konfrontation mit Russland, welches nun tausende weitere Kilometer eine direkte Grenze mit einem NATO-Staat teilt.

18. Durch die Sanktionen wird die EU unabhängig von Russland, besonders von Öl und Gas. Doch der westliche Block wurde durch den Krieg nicht nur gestärkt. Außer der EU, USA, Kanada, Australien, Japan und Neuseeland hat sich kein Land den Sanktionen gegen Russland angeschlossen. Diese Länder wollen die Tür hinter sich nicht zuschlagen. Indien (traditionell ein Handelspartner Russlands, z.B. als Waffenimporteur) kauft massenweise billiges russisches Öl. Durch ihre gemeinsamen Neutralität zum Ukrainekrieg haben Indien und China ihr Beziehungen verbessert und versuchen gerade ihre Grenzstreitigkeiten zu lösen.
Aber das beispiellose Sanktionsregime der G7 haben wegen der Unterbrechung der Getreide-, Gas- und Ölversorgung Folgen weit über Europa hinaus. Russland und die Ukraine produzieren 19 % der weltweiten Gerste, 14 % 459 des Weizens und 4 % des Mais. Sie sind die Hauptlieferanten von Raps für den Rest der Welt und liefern 52 % des weltweiten Sonnenblumenöls. Die Blockade bedroht die  Ernährungssicherheit von etwa 50 Ländern in Afrika und Asien. Die Lebensmittelpreise sind 2020 um 28 % und 2021 um 23 % gestiegen; in diesem Jahr sind sie allein zwischen Februar und März um 17 % in die Höhe geschnellt. Hungersnöte und Hungergskrisen sind damit vorprogrammiert. Westliche Beschränkungen für russische Gas- und Ölexporte tragen ebenfalls zum Inflationsdruck bei und bringt heute schon, vor allem in Großbritannien die Arbeiter_Innen auf die Straße. Massive Preissteigerungen führen zu Hunger und Not und treiben die Inflation in Ländern  an, die weit vom Schauplatz des Konflikts entfernt sind.

19. Es wird deutlich welche Rolle Europa in diesem Konflikt einnimmt und welche Interessen damit verteidiget werden sollen. Deutschland, als ein Land welches gute wirtschafltliche Beziehungen zu Russland pflegte, liegt aktuell gänzlich auf der Linie der USA, Russland weiter zu stärken. Die USA schlugen auch deshalb einen Konfrontationskurs mit Russland ein, um so nicht nur den russischen Imperialismus, sondern vor allem auch eine Allianz Deutschlands (und Frankreichs) mit Russland zu verhindern. . Mit dem Krieg um die Ukraine haben die USA dieses Ziel erreicht und jede  absehbare Hoffnung von Teilen der europäischen Bourgeoisie auf eine Allianz mit Russland  für die nächste Zukunft zunichte gemacht. Unter der Vorherrschaft der USA rüsten die EU Staaten massiv auf und sind zu einer gewissen militärischen und politischen Konzentration gezwungen, die zur Zeit von den USA wesentlich mitbestimmt wird, später aber auch eigenständige europäische, von den USA unabhängige und mit ihnen rivalisierende Institutionen werden könnten

20. Vor allem aber treibt der Krieg zugleich Russland in die Armee des viel stärkeren chinesischen Imperialismus. Da Russland und China heute den Kern der riesigen eurasischen Landmasse beherrschen, stellen sie gemeinsam eine langfristige Bedrohung für die Welthegemonie der USA dar. Wenn sie die „Freundschaft“, die Wladimir Putin und Xi Jinping bei den Olympischen Winterspielen am Vorabend der russischen Invasion in der Ukraine in herzlichen Umarmungen zum Ausdruck brachten, in ein wirtschaftliches und  militärisches Bündnis umwandeln können, dann wird sich eine neue Vorkriegszeit eröffnen, die in mancher Hinsicht derjenigen der 1870er, 1910er und 1930er Jahre ähnelt.

21. Die Weltordnung findet ihren größten Widerspruch jedoch im Gegensatz zwischen USA und China. Er ist es, der der Weltlage maßgeblich bestimmt, auch wenn mit dem Ukrainekrieg der Fokus momentan auf der EU und Russland liegt. Diese Imperialismen spielen jedoch wirtschaftlich und militärisch nur die zweite Geige. Die USA ist mit knapp $20 Billionen BIP die größte Wirtschaftsmacht, China folgt mit $12 Billionen dahinter. Bei dem momentan stattfindenden Wettrüsten stehen USA und China an der Spitze und versuchen sich mit neuen Technologien und der Produktion der alten Techniken auszustechen. Auch der Kampf um Einfluss wie z.B. in Pakistan, Indien, Sri Lanka oder den Philippinen wird zwischen den imperialistischen Hauptmächten ausgefochten. Hier werden besonders asiatische Staaten erwähnt, weil sich viele davon noch nicht endgültig entschieden haben auf welcher der beiden Seiten sie stehen wollen. Zudem ist zwischen Süd- und Ostasien ein Großteil der Weltbevölkerung konzentriert. Dort stehen sich auch USA und China direkt gegenüber; Nur getrennt durch den Pazifischen Ozean.

22. Wir können Putins Gräueltaten in der Ukraine und Xi‘ Jinpings Vorgehen gegen die Uiguren in Xinxiang, seine Unterdrückung in Hongkong oder seine Drohung, in Taiwan einzumarschieren, die nicht im Geringsten gerechtfertigt sind, nicht übersehen oder relativieren. Wir müssen mit ihren Opfern sympathisieren und uns mit ihnen solidarisieren, nicht mit ihren Unterdrückern, aber ohne dem Westen einen demokratischen Heiligenschein zu verpassen, der nur zu Sozialimperialismus führen kann. Revolutionäre werden all diese Handlungen als typisch für imperialistische Mächte erkennen, auch wenn sie rivalisieren

EU und innere Krise

23. Nachdem sich die führenden EU-Mächte zu Beginn des Jahrtausends aufgemacht hatten, die  größte und führende Volkswirtschaft der Welt zu werden, erlebten das EU-Projekt, die kapitalistische Einigung, der EURO und andere Institutionen eine Reihe von Krisen und Rückschlägen – sei es die Ablehnung der Europäischen Verfassung, sei es die permanente Schuldenkrise, die Flüchtlingskrise und als vorläufiger Höhepunkt der Brexit Großbritanniens.

24. Der Krieg um die Ukraine bedeutet für die nahe Zukunft, dass die EU-Staaten (und auch Großbritannien) politisch von den USA geführt werden, dass die USA den geostrategischen Takt unter den westlichen imperialistischen Mächten vorgeben. Eine wirtschaftliche oder gar politische Annäherung an Russland, wie sie von Deutschland und Frankreich seit langem angestrebt wird, ist faktisch unmöglich geworden, solange es keinen Regimewechsel in Russland gibt. Die USA konnten auch eine Umverteilung der Kosten der NATO und ihrer Osterweiterung durchsetzen. Der Brexit und der Krieg um die Ukraine haben die Bewegungen und Kräfte für einen schnellen Austritt in der EU teilweise zur Besinnung gebracht. Keine bedeutende Kapitalfraktion in den führenden imperialistischen Staaten der EU (Deutschland, Frankreich, Italien) will einen. Deshalb treten wichtige EU-skeptische rechtsextreme, rassistische Parteien (RN in Frankreich, Fratelli d’Italia) nicht mehr für einen Austritt aus der EU ein, sondern wollen „nur“ die Spielregeln in Brüssel zugunsten ihrer Nation ändern. Dieser Sinneswandel hat sicher auch damit zu tun, dass die EU-Staaten bei der Bewältigung ihrer Schuldenkrisen immer abhängiger von der EZB geworden sind. Hinzu kommt, dass Deutschland in den letzten Jahren seine Blockade gegen eine gemeinsame Verschuldung und eine wichtige Rolle der EZB faktisch aufgegeben hat. Das hat nicht nur mit dem Druck der Ereignisse während der Pandemie und der Rezession zu tun, sondern auch damit, dass ein Flügel des deutschen Kapitals (vor allem die Grünen, die SPD, aber auch Teile der Union) glaubt, dass die Überwindung der inneren Widersprüche der EU möglich ist, wenn die EU und ihre Institutionen eine treibende Rolle bei der Umstrukturierung und Bildung eines europäischen Kapitals spielen, das wiederum natürlich vom deutschen Kapital dominiert werden soll. Die zunehmende wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit bedeutet nicht, dass die internen Probleme der EU überwunden sind. Um im Wettbewerb mit den USA und China bestehen zu können, ist ein „positives“ europäisches Projekt erforderlich. Der Green Deal stellt einen solchen Versuch dar. Der Ukraine-Krieg ermöglicht es, die gemeinsame Rüstungs-, Militär- und Außenpolitik stärker ideologisch als Kampf für die Demokratie zu rechtfertigen. Die derzeit weit verbreitete Einigkeit unter den Gegnern sollte jedoch nicht vergessen lassen, dass die EU nach wie vor von historischen Antagonismen imperialistischer Mächte durchdrungen ist, die allein keine den USA oder China gleichwertige Rolle ausfüllen können, die aber andererseits bereit sein müssen, untereinander einen neuen Modus vivendi zu finden, eine Partnerschaft unter deutscher, manchmal französischer Führung, und Europa in ihrem Interesse zu organisieren. Darüber hinaus können sie dies nicht in einem Vakuum tun. Derselbe Wettbewerb, dieselben Krisen, die sie zur Einigung drängen (was eigentlich dem Entwicklungstrend der Produktkräfte entsprechen würde), bringen auch jene Kräfte hervor, die einer Überwindung der nationalen Fragmentierung des Kontinents im Wege stehen. Hinzu kommt, dass die USA und China selbst Akteure im europäischen Spiel sind. Wie in den letzten Jahrzehnten wird die Frage des Verhältnisses zwischen Deutschland, Frankreich und – in geringerem Maße – Italien letztlich entscheidend für die Zukunft der EU sein

Halbkoloniale Welt

25. Die gegenwärtige wirtschaftliche und ökologische Krise trifft die halbkoloniale Welt natürlich besonders dramatisch. Gleichzeitig bedeuten die Entwicklung einzelner großer halbkolonialer Volkswirtschaften in den letzten Jahren, die Schwächung der US-Hegemonie und der zunehmende Kampf um die Neuaufteilung der Welt auch, dass wichtige Regionalmächte versuchen, in diesem Kampf ihre eigene Position innerhalb der imperialistischen Weltordnung zu verbessern. Dies gilt für eine Reihe von Staaten, wie Indonesien, Indien, Pakistan, die Türkei, Saudi-Arabien, Iran, Südafrika, Brasilien, um nur einige zu nennen. Es wäre impressionistisch, diese Länder als imperialistisch zu bezeichnen, auch wenn einige von ihnen ihre eigenen Finanzkapitale entwickelt haben (insbesondere Indien) und zu wichtigen regionalen Mächten geworden sind oder dies anstreben.

26. Generell kann man sagen, dass einige dieser Staaten, allen voran Indien, in den letzten Jahrzehnten einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt haben. Andere sind eher im Niedergang begriffen, vor allem Südafrika, aber auch Länder wie Brasilien und die meisten anderen lateinamerikanischen Staaten. Länder wie Pakistan, die Türkei und der Iran (in gewissem Maße auch die Golfstaaten) sind dagegen durch eine extreme Form der ungleichen Entwicklung gekennzeichnet. Pakistan und Iran beispielsweise befinden sich in einer fast ständigen Wirtschaftskrise. Andererseits verschaffen ihnen die Schwächung der US-Hegemonie und der Aufstieg Chinas einen gewissen Spielraum – nicht zuletzt, weil sie ihren Einfluss auch in Ländern wie Afghanistan oder dem Irak ausbauen konnten.

27. In der nächsten Periode werden sie alle mit massiven internen wirtschaftlichen und sozialen Krisen konfrontiert sein, allerdings unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen. Während sich das Modi-Regime und in geringerem Maße auch das von Erdogan auf eine breite Basis in der herrschenden Klasse stützen können und die traditionellen bürgerlichen Kräfte (Kongress und Kemalismus) erfolgreich ersetzt haben, befinden sich die bürgerlichen Parteien und Institutionen in Ländern wie Pakistan selbst in einem massiven inneren Konflikt. Generell können wir aber davon ausgehen, dass die Arbeiter:innenklasse, die in der Globalisierungsperiode in Asien massiv gewachsen ist, vor einer Art Bewährungsprobe steht, die auch die Möglichkeiten des Aufbruchs und der Entstehung neuer Organisationen und politischer Parteien der Klasse eröffnet.

28. Im Nahen Osten und in Nordafrika, und noch mehr in Afrika, ist die Situation eindeutig anders. Hier ist die Konterrevolution nach den Niederlagen des Arabischen Frühlings eindeutig gestärkt. Die Krise der US-Hegemonie und die Konfrontation mit Russland und China bedeutet, dass Länder wie Saudi-Arabien und Israel im Inneren weitgehend freie Hand haben. Das gilt im Grunde auch für Erdogan gegenüber dem kurdischen Volk und der Enklave Rojava. Die Mobilisierungen wie kürzlich im Irak oder auch revolutionäre Bewegungen wie im Sudan sind durch eine extreme Führungskrise gekennzeichnet. In Lateinamerika erleben wir auch die Auswirkungen der Pandemie und jetzt der Inflation. Politisch ist der Kontinent jedoch nach wie vor von bedeutenden Klassenkämpfen geprägt, einer Konfrontation zwischen reformistischen und links-populistischen Kräften auf der einen Seite und neoliberalen, autoritären bis bonapartistischen Kräften auf der andern.

Reaktionäre auf dem Vormarsch – Frauen- und LGBTIA-Unterdrückung

29. Die Lage von Fraune und LGBTIA Menschen verschlächtert sich in der aktuellen Phase immer mehr. Weltweit verdienen Frauen im Durchschnitt 23% weniger als Männer und dabei leisten sie jeden Tag 12,5 Milliarden Stunden unbezahlte Arbeit (Reproduktionsarbeit, Hausarbeit usw.). Es bleibt jedoch nicht nur bei der ungleichen oder keinen Bezahlung, weltweit haben weniger als die hälfte der Frauen einen Job.

30. In Zuge der Verschärfung der Krisen werden Rechte die durch die Arbeiter_Innen erkämpft wurden, Schritt für Schritt zurück genommen und es findet weltweit, bis auf einige Länder ein Rollback von veralteten Frauenrollen und LGBTIA-Feindlichkeit und dem konservativen Familienbild statt. Die USA hat dabei in den meisten Staaten das Abtreibungsrecht komplett gelöscht oder immer weiter verschärft. Aber auch hier in Europa nehmen Reaktionäre Frauen- und LGBTIA Feindliche Politik fahrt auf. Polen und Ungarn sind dabei die Länder, in welchen in den Letzen Jahren und Monaten das Abtreibungsrecht verschärft wurde und auch die Rechte von LGBTIA Menschen eingeschränkt wurden oder ihre Existenz gänzlich abgelehnt wurde. Das spielt immer mehr den Rechten in die Hände mit ihren konservativen Familinivorstellungen. Es häufen sich immer mehr Angriffe und gezielte Morde an Frauen- und LGBTIA, sowie in Bratislava.

Die Rechte von LGBTIA und insbesondere trans Personen stehen international vor noch massiveren Angriffen. Besonders in den USA und in Großbritannien spitzt die Lage sich zunehmend zu. In den ersten drei Monaten von 2022 wurden in den USA nicht weniger als 240 Gesetzesentwürfe eingereicht, die LGBTIA-Rechte einschränken. Etwa die Hälfte davon bezieht sich ausschließlich und spezifisch auf Menschen, die transgender sind, allen voran Jugendliche und Kinder, eine fast verschwindend kleine und massiv vulnerable Minderheit. Ein Gesetze schränkt z.B. die Aufklärung über LGBTIA-Themen im Unterricht und Unterstützung von LGBTIA-Jugendlichen durch Schulpersonal sowie das bloße thematisieren von z.B. zwei Vätern ein, weil queere Menschen essentiell sexualisiert werden. Ein weiteres verlangt, dass ein Arzt das Geschlecht von trans Jugendlichen feststellt, bevor diese (meist geschlechtlich falsch eingeordnet) am Schulsport teilnehmen dürfen. In Texas konnte es kurzzeitig als Kindeswohlgefährdung ausgelegt werden, wenn Eltern ihre trans Kinder unterstützen, was Familien dazu bewogen hat umzuziehen. Das wurde allerdings nach Protesten von trans Personen und Unterstützer_Innen zurückgenommen. Ähnliches sehen wir in Großbritannien, wo seit dem Gerichtsprozess der detransitionierten Keira Bell medizinische Notwendigkeiten für trans Personen massiv erschwert wurden und der öffentliche Diskurs über transgender Menschen zutiefst reaktionär ist. In Ungarn sind Personenstandsänderungen unmöglich gemacht worden. Die Proteste, die sich gegen diese zugespitzten Angriffe richten, verbleiben meist eher klein, lokal, von LGBTIA Personen vor Ort getragen und überwiegend defensiv. Hintergrund der steigenden Angriffe auf trans-Personen ist der aktuelle gesellschaftliche Rechtsruck, der in Krisenzeiten eine Stärkung traditioneller Familien- und Geschlechterordnungen propagiert. Dieser Rechtsruck findet auch im Feminismus durch eine Stärkung liberaler Feminist_innen (wie Annalena Baerbock) oder TERFs (Trans Exclusionary Radical Feminists) seinen Ausdruck. In Großbritannien und den USA erleben wir auch zunehmend, dass sich diese „Feminist_Innen“ im Angesicht der „bedrohlichen Gefahr durch die Gender-Ideologie“ auf Querfronten mit zutiefst konservativen und rechtsradikalen Kräften einlassen. In Deutschland sehen wir diese Dynamik bisher nicht in der Form, es ist aber nicht auszuschließen, dass die Angriffe hier eine ähnliche Entwicklung vollziehen werden. Bereits aktuell finden sich Argumente von TERFS nicht nur in rechten Kreisen sondern auch vereinzelt und zunehmend in linken Organisationen und Bewegungen. Die Debatten um trans Frauen im Profisport und das von der Ampel vorgeschlagene Selbstbestimmungsgesetz (das das erniedrigende Transsexuellengesetz ersetzen soll) werden mit dehumanisierenden und transphoben Argumenten geführt, mit der Vorgabe, „echte Frauen zu schützen“. Es gilt also weiterhin und umso mehr, LGBTIA und v.a. trans Menschen vor Angriffen auf ihre Rechte zu schützen und den Argumenten von scheinfeministischen Transfeind_Innen entschlossen entgegenzutreten.

31. Das Austreten der Türkei aus den Frauenrechtskonvention war ein weiterer Einschnitt in die Frauenrechte und macht die internationale Stimmung um die Frage noch einmal deutlich. Durch die Pandemie verschärfte sich außerdem die (häusliche-) Gewalt gegenüber Frauen und LGBTIA Menschen und verschlimmerte damit ihre Lage immer mehr. Durch die Lockdowns waren viele Menschen gezwungen mehr als zuvor sich in den Häusern/Wohnungen mit ihren Partner_Innen aufzuhalten, der Schutz vor häuslicher und sexualisierter Gewalt war kaum noch vorhanden. Durch die Schließung von Schulen/Kindertagesstätten etc. stieg auch da die Doppelbelastung auf weibliche Personen, die dies kompensieren mussten. Dies führte auch zu einer weiteren Verstärkung der Rollenverteilung.

32. Außerdem sind weltweit 70% des Personals in sozialen und Pflegeberufen Frauen. Gerade diese Einrichtungen waren darauf fokussiert die Folgen der Pandemie zu bekämpfen, ohne eine faire Bezahlung geschweigeden angemessenen Arbeitsbedingungen. Erste Betroffene in der Entlastungswelle während der Pandemie waren vor allem Frauen und LGBTIA Personen, welche unteranderem im Niedriglohnsektor und in präkern/schlecht und informell Bezahtlten Jobs ihren Unterhalt verdienen. Alleine in Europa verloren in den ersten Monaten der Pandemie 70% der in informellen Sektor arbeitenden Frauen ihr Einkommen. Diese ökonomischen Folgen, machen Frauen und LGBTIA Personen immer mehr von ihrem männlichen Vormund/Ehemann/Vater etc. abhängig und drängt sie wieder zurück in die familiären und patriarchalen Strukturen.

33. Es gibt jedoch auch einige positive Beispiele die aufzeigen, was fortschrittliche Politik verändern kann, so wurde in Spanien nicht nur das Abtreibungsrecht ausgebaut, sondern es gibt immer mehr Rechte die Sexuelle Vergehen bestragen und es auch als solche anerkennen. Und noch immer spielen Frauen in internationalen Protesten eine große Rolle, sei es in der aktuellen Revolte im Iran oder in der Umweltbewegung, wo Frauen führende Rollen übernehmen.

Die derzeitigen Proteste im Iran werden international mit (formellen) Solidaritätsbekundungen beantwortet. Statt einer bedingungslosen Aufnahme aller Geflüchteten und internationalem Zusammenschluss der Frauenbewegung in Solidarität wird nun u.a. in Deutschland über Sanktionen gegen das Regime nachgedacht. Diese müssen verhindert werden, da sie in erster Linie die Protestierenden selber treffen werden. Die Bewegungen zeigen sich jedoch stark, sie werden von Frauen angeführt und richten sich gegen die massiv frauenfeindliche Gesetzgebung und das Regime. Zunehmend werden die Aufstände auch durch breite Streiks begleitet und immer mehr werden die Proteste explizit klassenkämpferisch. Sollten die Bewegungen nicht an der fehlenden Führung, ihrem Pluralismus oder den massiven Repressionen und der Gewalt von Regierung und Militär zerbrechen, könnte ihr Erfolg nicht nur positive Auswirkungen auf die Region, sondern auch auf die internationale Frauenbewegung haben. Ein Sturz des extrem frauenfeindlichen Regimes im Iran könnte zum Vorbild und Anstoß für internationale Kämpfe gegen die aktuellen reaktionären Angriffe werden.

Die Lage der Jugend in halbkolonialen Ländern

34. Mit der Verschärfung der Krisen, dessen Auswirkungen auf die Halbkolonialen Welt, verschläft sich auch die Lage der Jugend drastischer und an viele Stellen auch mehr als für den Großteil der Arbeiter_Innenklasse. Aufgrund dessen das sie weniger im Arbeitsmarkt vertreten sind, oder nur die prekären Jobs ausüben, werden sie in Krisen Situationen als erstes entlassen und haben oft nicht mal die Möglichkeit dazu, sich Gewerkschaftlich zu organisieren. Dabei wächst aber der Druck auf sie seitens der Familien immer mehr, denn Jugendlichen wird oft aufgezwungen für die Familien mit aufzukommen. Die Arbeitslosenquote steigt innerhalb der Halbolonialen Welt auch bei Jugendlichen weiter an, so haben zum Beispiel Länder wie Südafrika eine Jugendarbeitslosenquote von 61,4%, welches damit im Listenende steht. Die meisten Jugendarbeitslosenquoten der Halbkolonialen Welt liegen zwischen 30 und 15%, was bedeutet, dass jeder 3. bis 5. Jugendliche arbeitslos ist. Und diese Zahlen werden weiter ansteigen, je mehr sich die Krisen verschärfen.

35. In Europa sieht die Lage dabei nicht besser aus, Griechenland, welches schon durch die Weltwirtschaftskrise 2008-10 zu dem großen Verlieren gehörte, verzeichnet die höchste Jugendarbeitslosigkeit (28,6%) in Europa. Die Jugend kommt in eine Phase, in welcher die Zukunft in der sie lebt so ungewiss ist wie noch nie zu vor, die Zeiten einer „Besseren Welt, die auf uns warten“ sind Real für viele vorbei und nur noch ein trauriges Gespenst aus alten Filmen. Das führt vermehrt dazu, dass Jugendliche nicht nur an der Spitze von aufkommenden Protesten stehen, da sie es sind mit dem Interesse an eine bessere Zukunft und mehr Perspektiven, sondern auch der Teil der Arbeiter_Innenklasse darstellen, der immer weniger Hoffnungen in die staatlichen Strukturen hat, in denen sie leben. Dies bedeutet einerseits, dass Jugendliche eine treibende Kraft in Massenprotesten sein können, andererseits aber auch, dass viele aufgrund der Perspektivlosigkeit und dessen das sie zwar an Spitzen von Bewegungen stehen aber kein eigenes Sprachrohr besitzen, die Perspektive in den Ländern, in denen sie leben nicht mehr sehen. Die Frage der Flucht und Migration stellt sich vor allem hier den Jugendlichen, denn oft haben sie dann noch Hoffnung in einem imperialistischen Land von all der Unterdrückung und Ausbeutung zu entkommen. Für die Jugend ist nicht nur die Frage der Führungslosigkeit ein großes Problem, sondern auch die der Organisierung. Dies kann in spontan aufkommenden Massen dazu führen, dass sie eher mundtot gemacht werden. Es fehlt an Organisation außerhalb von meist zeitlich begrenzten Bewegungen, Verbindung von Kämpfen und einer übergreifenden Organisation zur Interessenvertretung von Schüler_Innen.

Die Ampelkoalition als Organisatorin der „Zeitenwende“ für das deutsche Kapital

36. Kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine verkündete der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz eine „Zeitenwende“. Was er damit gemeint hat, wird von Woche zu Woche deutlicher: Es bilden sich neue globale Blöcke und die Kosten der Krise werden auf die Arbeiter_innenklasse abgewälzt. Die Krise ist dabei 3-facher Art: Eine globale Klimakrise bedroht die Fortexistenz des Menschen auf diesem Planeten. Mit über 4500 Hitzetoten in Deutschland zählt die vergangene Hitzewelle zu den tödlichsten Sommern überhaupt. Überschwemmungen, Artensterben, Dürren und Waldbrände machen den Klimawandel lassen den Klimawandel als ein Problem erscheinen, welches längst nicht mehr nur die halbkoloniale Welt betrifft. Auch wenn die Coronakrise als weniger gefährlich dargestellt und in neoliberaler Manier auf die individuelle „Eigenverantwortung“ gepocht wird, hat das Virus in der vergangenen Periode 153 000 Menschen in Deutschland das Leben gekostet. Die dritte Krise ist eine Wirtschaftskrise samt hohen Inflationsraten, welche durch historisch niedrige Kapitalverwertung, die Tendenz zur De-Globalisierung und die Verschuldungskrise ausgelöst wurde und durch den Zusammenbruch globaler Lieferketten infolge der Coronakrise und des Ukraine-Krieges verschärft wird.

37. Wir erwarten eine wirtschaftliche Rezession als Folge der Inflation. Aktuell sagt das Institut für Wirtschaftsforschung noch relativ optimistisch eine Schrumpfung des deutschen BIPs um 0,7 Prozent voraus. Auch das deutsche Kapital selbst blickt laut dem ifo-Geschäftsklimaindex vom Oktober 2022 pessimistisch in die eigene Zukunft. Der Zusammenbruch globaler Lieferketten, das Sinken des globalen Konsumniveaus sowie der Stopp des Zufluss von billigen Rohstoffen aus Russland haben das deutsche Exportkapital schwer getroffen.

38. Während das deutsche Kapital in der vergangenen Konferenzperiode noch damit geliebäugelt hat, durch eine Stärkung der EU und seiner eigenen Führungsrolle darin sowie den Ausbau der Beziehungen zu Russland (siehe Nordstream 2) und China eine eigene globale Konkurrenzrolle in der Liga der imperialistischen Staaten einzunehmen, wurde es durch die Taktik der USA Russland international zu isolieren quasi in die Rolle des Juniorpartners der USA gezwungen.

39. Im Spektrum der bürgerlichen Parteien verkörperten insbesondere die Grünen, aber auch die FDP und die Mehrheit der CDU diese transatlantische Linie. Konflikte gibt es dabei mit den Kapitalfraktionen, die dadurch ihre Profite bedroht sehen, verkörpert durch die Minderheit in der CDU, die AfD und die schwankende Position der SPD. Die Ampel-Koalition erfüllt für das Kapital dabei den allgemeinen Zweck seine Interessen nach innen (durch Einbindung der Arbeiter_innenklasse und Gewerkschaften in Form eines SPD-geführten Innen- und Arbeitsministeriums) und nach außen (durch ein grün-transatalantisch geführtes Außenministerium) zu vertreten. Dabei hat es mit dem FDP-geführten Finanzministerium eine starke Lobby, die dafür sorgt, dass die Krisenkosten zu gering wie möglich für das Kapital gehalten und auf die Lohnabhängigen abgewälzt werden (siehe Pläne für Bildungskürzungen). Eine wichtige Aufgabe der Ampel es ist, den deutschen Monopolkonzernen finanzielle Verluste in großem Maßstab zu bezahlen (Gaspreisdeckel, Einstieg bei Uniper etc.) und Energiesichert zu gewährleisten (panische Reisen von Habeck und halbgare Blitzverträge mit Qatar).

Die Ampelkoalition ist das Ende der Merkel-Ära und vorerst auch das der Zeiten der GroKo. Als solches bestand neben dem Kleinbürger_Innentum auch in Teilen der Arbeiter_Innenklasse eine Hoffnung in die neue Regierung als Organisatorin einer „Zeitenwende“ v.a. bezüglich der Sozial- Wirtschafts- und Außenpolitik. Diese Wende findet auf mehreren Ebenen statt, allerdings als Angriff und Rollback, untermauert mit der ideologischen Rechtfertigung durch Krieg und Krise. Es ist eine „Zeitenwende“, aber keine im Sinne derer, die dieser Koalition mit Hoffnung entgegengeblickt haben. Dass dieser Verrat an der eigenen Basis und dem eigenen Programm durch v.a. SPD und Grüne nun als alternativlos dargestellt wird, muss angegriffen und gegenüber der Arbeiter_Innenklasse, die ihre Hoffnung immer noch in die SPD setzt, (anhand ihrer tatsächlichen Politik) entlarvt werden.

Krieg und „Nationale Einheit“

40. Das politische Bewusstsein der Arbeiter_innenklasse in Deutschland steht mehrheitlichim Zeichen der nationalen Einheit, was nicht heißt, dass das Land nicht politisch tief gespalten ist. Diese Spaltung erfolgt jedoch nicht anhand einer Klassenlinie zwischen Arbeit und Kapital. Vielmehr ordnet sich die Arbeiter_innenklasse den 2 bürgerlich geführten Blöcken unter: Auf der einen Seite befindet sich der vom Exportkapital dominierte Block, der für einen Green New Deal, gemäßigte Coronaschutzmaßnahmen, Migration von Fachkräften, mehr europäische Integration etc. eintritt (SPD, Grüne, Mehrheit der CDU, FDP, „Die Vernünftigen“), während auf der andere Seite der Block des kleineren, auf den deutschen Binnenmarkt orientierten Kapitals besteht, der durch seine in der globalen Konkurrenz in Bedrängnis geratene Position gegen Umweltschutzmaßnahmen, gegen Coronaschutzmaßnahmen, gegen Migration und gegen die EU wettert (AfD, Minderheit in der CDU, „die Unvernünftigen“).

41. Zuerst die Coronakrise und nun der Ukraine-Krieg haben trotz der großen sozialen Verwerfungen und Deklassierung durch das Anbiedern von SPD, Linkspartei und DGB die Bildung eines Bewusstseins der „nationalen Einheit“ begünstigt. Dies führt dazu, dass die Arbeiter_innenklasse in Deutschland Angriffe billigend in Kauf nimmt (siehe „Frieren für den Frieden“, Verzicht auf Lohnforderungen bei IGBCE, IG-Metall und verdi). Dabei konnte das Kapital seine Aufrüstungspläne (,die schon vor dem Ukraine-Krieg in Form von Floskeln für „Mehr Übernahme internationaler Verantwortung“ auf dem Tisch lagen,) nahezu widerstandslos durchsetzen. Die über 50 000 Unterschriften-starke Kampagne gegen die Grundgesetzänderung zur Aufrüstung ist praktisch ohne Konsequenzen geblieben. Dem Kapital ist es damit gelungen, die historisch gewachsene Aufrüstungssekpsis in der deutschen Bevölkerung (3 Millionen Menschen auf Demo gegen den Irakkrieg 2003) zu zerschlagen. Die Grünen, welche das Vertrauen vieler Pazifist_innen genossen, bildeten dabei die Sperrspitze.

42. Die wichtigsten Kriegsinstrumente stellen aktuell großzügige Waffenlieferungen und Wirtschaftssanktionen in historisch nie dagewesenem Ausmaß dar. Die zunächst zögerliche und abwartende Haltung der SPD konnte auf Druck der Grünen, der CDU und der konservativen Medien schnell gebrochen werden. Ziel ist es dabei Russland kriegsunfähig zu machen und es durch eine nachhaltige Schwächung seiner Wirtschaft aus der Liga der imperialistischen Staaten zu verbannen (siehe bereits 2014 Rausschmiss Russlands aus G8-Runde).

43. Die Ampel versucht die aktuelle Kriegssituation ferner für ein klimaschädliches Rollback zu nutzen. Die mühsam erkämpften Erfolge der Anti-AKW-Bewegung (Atomausstieg 2011) und der Klimabewegung (Kohleausstieg 2038) sollen wieder zurückgenommen werden. Während sich die AfD und der rechte Flügel der CDU als Vorreiterinnen für ein Zurück zur vermeintlich (!!) sauberen Atomkraft präsentieren, dient das grüne Energieministerium Habecks dem Kapital dazu, den Kohleausstieg noch weiter nach hinten zu verschieben, Öl aus Qatar und Frackinggas aus den USA zu besorgen und durch die Integration der Klimabewegung Widerstand dagegen zu verhindern.

44. Eine der wichtigsten Tagesforderungen ist es, jede Fortführung des Krieges, ob durch russische Panzer oder westliche Sanktionen und Waffenlieferungen, abzulehnen! Eine größere Friedensbewegung ist jedoch aus den anfänglichen Großmobilisierungen gegen den Krieg nicht entstanden. Ein Großteil der Kriegsgegner_innen vertritt die Regierungslinie und betrachtet Sanktionen und Waffenlieferungen als einzige Mittel zur Beendigung des Krieges. Das wesentlich kleinere Lager aus traditionell pro-russischer Friedensbewegung, Stalinist_innen und AfD erkennt der Bevölkerung in der Ukraine unter dem Slogan „Frieden mit Russland“ ein Recht auf Selbstverteidigung ab. Das kleinste aber progressivste Lager hat es nicht geschafft den einzig richtigen Slogan „No Nato- No Putin“ in größere bundesweite Aktionen unter Einbindung von Klassenorganisationen zu übersetzen. Auch Versuche von Sozialverbänden, Linkspartei und Gewerkschaftsgliederungen eine Bewegung gegen die Aufrüstungsvorhaben der Ampel aufzubauen, ist aufgrund dem Ausweichen oder der Abwesenheit einer Positionierung zum Ukraine-Krieg insgesamt gescheitert.

45. Waffenproduktion und -lieferungen müssen durch politische Streiks der Beschäftigten in Rüstungs- und Transportindustrie unterbunden werden. In der kommenden Periode gilt es außerdem die unpopuläre Forderung nach einem Stopp der Sanktionen in die Linke zu tragen (Nur noch 53% der Deutschen unterstützen die Sanktionen gegen Russland, wenn dies persönlichen Verzicht für sie bedeutet). Dabei müssen wir uns jedoch stark von der AfD oder dem Wagenknecht-Flügel der Linkspartei abgrenzen, denn wir lehnen die Sanktionen nicht wie diese Kräfte ab, weil sie auch dem deutschen Kapital und Kleinbürgertum schaden, sondern weil sie der russischen Arbeiter_innenklasse schaden und ein Mittel der imperialistischen Kriegsführung darstellen, welches der NATO-Block für sich nutzt, um RU als imperialistischen Konkurrenten auszuschalten und den USA nutzt, um Europa stärker an sich zu binden und seinen Hauptkonkurrenten China weiter zu isolieren. Es gilt jedoch ebenso aufzuzeigen, dass eine Widereröffnung von „Nordstream2“ und der Ausbau fossiler Energieträger angesichts der Flutkatastrophe in Pakistan, die über 30 Mio. Menschen in tiefste Not gestützt hat, ein Verbrechen darstellt. Wir treten weiterhin für den schnellstmöglichen Ausstieg aus fossiler Energiegewinnung unter Arbeiter_innenkontrolle ein. Wir lehnen die zynische Doppelmoral im Umgang mit ukrainischen Geflüchteten, russischen Deserteur_innen und muslimischen Geflüchteten ab. Stattdessen fordern wir offene Grenzen sowie Arbeitserlaubnisse, Mindestlohn und Privatwohnungen für alle Geflüchteten! Zur Beendigung der Kriegshandlungen fordern wir einen sofortigen Waffenstillstand. Gleichzeitig lehnen wir jedoch jede „diplomatische Lösung“ kategorisch ab, denn diese stellen nur zeitweilige Kompromisse zwischen imperialistischen Mächten (die gerade keine Möglichkeit mehr sehen, anderweitig mehr für ihre Interessen rauszuschlagen) dar, sind meistens nur temporär und nie im Sinne der Arbeiter_innenklasse. Unsere Alternative ist eine unabhängige Position der Arbeiter_innenklasse: ein revolutionärer Defätismus auf der Basis internationaler Klassensolidarität.

Rechtsruck vorbei?

Im Zuge der Verschärfung der Krise nimmt auch der Rechtsruck weiter zu, allerdings teilweise in anderen Formen und mit neuen Dynamiken, es ist wichtig diese zu verstehen um diesen neuen Rechtsruck, der sich nicht mehr auf das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte jenseits des klassischen Konservativismus und daraus folgend, dessen langsames Wandern nach Rechts beschränkt, sondern die komplette bürgerliche Politik gravierend verändert, zu bekämpfen. So sind es im Moment vor allem die Teile des bürgerlich-liberalen Lagers, die sich traditionell als links und progressiv betrachten, die extrem stark nach rechts driften, das Beispiel der Grünen in Deutschland zeigt dies besonders eindrucksvoll. Eine Partei die über lange Zeit in ihrem Selbstverständnis Pazifismus vertreten hat, treibt nun das imperialistische Säbelrasseln und die größte Aufrüstung Deutschlands seit 1945 voran und fordert die kompromisslose Bekämpfung des imperialistischen Rivalen Russlands. Der starke Rechtsruck der Grünen in den Außenpolitik kommt mit Verzögerung auch in anderen politischen Feldern an. So trieben die Grünen aktiv voran, dass das Dorf Lützerath im Rheinischen Braunkohlerevier doch noch abgebaggert wird, einzig und alleine um RWE mehr Profit ermöglichen zu können, biedert sich den reaktionärsten Regimen, wie Katar, Aserbaidschan oder der Türkei an, und lehnt Entlastungen für die Bevölkerung oder Besteuerung von Krisenprofiten ab.

Innerhalb der Grünen hat sich bereits mit ihrer Regierungsbeteiligung 1998 der Flügel durchgesetzt, der die Partei von sämtlichen pazifistischen und sozialen Altlasten aus ihrem politischen Entstehungskontext befreien wollte. So organisierte die Partei mit dem Kosovo[1]Krieg den ersten deutschen Kriegseinsatz nach dem zweiten Weltkrieg, versetzte der Arbeiter_innenklasse mit der Agenda 2010 einen historischen Schlag und stimmte den imperialistischen Kriegseinsätzen in Afghanistan und Mali zu. Seither unternehmen die Grünen den Versuch, von der kleinbürgerlichen Partikularpartei zur vorherrschenden bürgerlichen Kraft aufzusteigen. Durch ihre konsequente transatlantische Ausrichtung, ihre Bereitschaft zur Militarisierung Deutschlands im Zeichen des „Schutzes demokratischer Werte“ sowie die Perspektive einer industriell-technischen Erneuerung des deutschen Kapitals (Stichwort „Green New Deal“) auf Kosten der Arbeiter_innenklasse präsentierte sich die Partei im Bundestagswahlkampf 2021 als moderne alternative für die exportorientierten Kapitalfraktionen (laut einer Umfrage der deutschen Bank von 2021 wünschte sich die Mehrheit der Entscheider in 200 deutschen Industrieunternehmen eine grüne Regierungsbeteiligung). Der reaktionäre Charakter des grünen Programms wird in dem Maße deutlicher, indem sich der Kampf um die Neuaufteilung der Welt zuspitzt.

Auch beträchtliche Teile der sozialdemokratischen bis links-reformistischen Linken schließen sich diesem bürgerlichen Rechtsruck an und stimmen, ganz in alter Burgfrieden Manier, zu, dass man sich nun hinter den „freiheitlich demokratischen“ Westen stellen müsse um diesen gegen den viel übleren russischen Imperialismus zu verteidigen, und das man dafür nun einmal auch in Kauf nehmen muss, dass die Bedingungen für die Arbeiter:Innenklasse sich verschlechtern. Während das ehemals links-liberale Bürgertum nach rechts wandert und dabei teilweise traditionell konservative Kräfte überholt, sehen wir bei den rechtspopulistischen Kräften Europas eine fast schon entgegengesetzte Tendenz, diese Kräfte integrieren sich fester in den bürgerlichen Staat und die bürgerliche Politik und werden zum akzeptierten und integrierten Teil dieser. Besonders stark wird dies deutlich in Frankreich, wo der ehemalige Front National nun als Rassemblement National viele seiner rechtsradikalen Positionen entschärft um als rechts-konservative Partei breite Achtung und Akzeptanz der bürgerlichen Gesellschaft zu erhalten sowie in Italien, wo die Faschistin Meloni sich nun als ganz normale rechts-konservative Politikerin darstellt und auch von der breiten Masse der bürgerlichen Politik Europas so gesehen wird. In Deutschland ist dieser Trend noch nicht so deutlich zu sehen, was wohl einerseits mit der deutschen Geschichte zusammenhängt, vor allem aber mit einem anderen Faktor: Dem Verhältnis der Partei zum imperialistischen Konkurrenten Russland.

Eine andere Entwicklung der Rechten in Europa ist nämlich die Spaltung in zwei Lager: pro-ukrainische und pro-russische Kräfte. Diese Spaltung ist jedoch keineswegs ideologisch begründet, sondern im Grunde eine rein taktische. Während nämlich pro-russische Rechte wie AfD oder Rassemblement National dass Interesse der Teile ihrer nationalen Bourgeoisie vertreten, die sich statt des Bündnis mit dem US-Imperialismus, der als Hegemonialmacht über den NATO-Block auftritt, ein gleichberechtigtes Bündnis mit dem russischen Imperialismus wünschen, ist dies für die italienische Rechte nicht sinnvoll, da ihre Bourgeoisie nicht stark genug ist ein gleichberechtigtes Bündnis mit einem anderen Imperialismus aufzubauen und es für sie das beste ist sich in EU und NATO zumindest noch ein paar Stücke des westlich-imperialistischen Kuchens zu sichern, weshalb sich auch Melonis Fratelli D’Italia hinter EU, NATO und Ukraine stellen. Diese Spaltung hat allerdings, trotz ihres rein taktischen Charakters, durchaus das Potential, die Kooperation rechter Kräfte in Europa einzuschränken, so ist das jahrelang stabile Bündnis der Rechtsregierungen Ungarns und Polens durch unterschiedliche Positionen zum Krieg in der Ukraine auseinander gebrochen, während Polen klar und entschieden an der Seite der Ukraine gegen seinen historischen nationalen Feind Russland steht, sympathisiert Ungarn, das selber Anspruch auf eine ukrainische Provinz erhebt, nach wie vor mit Putin. Eine Dynamik hingegen zieht sich durch alle bürgerlichen Kräfte, ganz gleich ob pro-russisch oder pro-ukrainisch, liberal, konservativ oder rechtspopulistisch: Der Trend in der Krise zu einer autoritären Politik zu greifen. Aufrüstung nach außen geht meistens auch mit einer Aufrüstung nach innen einher. So greift der ukrainische Staat im Kriegszustand auf ein Verbot jeglicher politischer Opposition zurück, während Russland versucht, jedes Aufkommen einer Antikriegsbewegung durch scharfe Repression im Keim zu ersticken. In Deutschland und anderen westlichen EU-Ländern pocht das Kapital stattdessen angesichts einer sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Arbeiter_innenbewegung auf die „Nationale Einheit“: die Bevölkerung soll für die deutschen Kriegspläne frieren und die Gewerkschaften sollen ihre Lohnforderungen so gering wie möglich ansetzen. Die harte Repression gegen kämpferischere Streiks wie derjenige der Hamburger Hafenarbeiter_innen oder gegen die Klimabewegung macht jedoch deutlich, wie das Kapital vorzugehen gedenkt, wenn die Arbeiter_innenklasse sich weigert, die Krisenkosten zu zahlen. So lassen sich bereits auf Länderebene Verschärfungen der Polizeigesetze erkennen, deren bundesweite Ausweitung bei einem Anstieg von Protesten wahrscheinlich ist.

Inflation ohne Ende?

46. Die Inflationsrate in Deutschland lag im September bei rund 10 Prozent. Die stärksten Preisanstiege finden sich bei Lebensmitteln (insbesondere Obst, Gemüse und Milchprodukte), Energiekosten, Mieten, sowie Freizeitkonsumgütern. Die massiven Teurungsraten stellen deshalb  längst nicht mehr nur tiefe Einschnitte im Alltag von Jugendliche und Geringverdiener_innen dar, sondern auch bei mittleren Einkommen und der Arbeiter_innenaristokratie und dem Kleinbürgertum.

47. Während die Bevölkerung für den Frieden frieren und verzichten soll, sorgt die Ampelkoalition dafür, dass Verluste der großen Unternehmen so gering wie möglich ausfallen. Obwohl die „Entlastung der Gering- und Mittelverdiener“ von Anfang an in aller Munde war, stellten Gasumlage und Tankrabatt lediglich Subventionen an die Energieindustrie dar. Des Weiteren wurden mehrere milliardenschwere Entlastungspakete auf den Weg gebracht, die gesamte Gesellschaft nach dem „Gießkannenprinzip“ entlasten sollten. Selbst laut Rechnungen des bürgerlichen Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung kamen jedoch 70 Prozent der 10 Milliarden € des 3. Entlastungspaketes lediglich den oberen 30 Prozent der höchsten Gehaltsklassen zugute.

48. Anhaltende Proteste haben die Ampel bereits stark unter Druck gesetzt und zu kleinen Nachbesserungen sowie zur Rücknahme der Gasumlage veranlasst. Das Potenzial des „heißen Herbstes“ eine soziale Massenbewegung zu werden, wird jedoch aktuell vor allem von Rechts genutzt. Besonders bildlich wurde dies beispielsweise am 8.10. in Berlin, als sich unter dem Slogan „Löhne rauf – Preise runter“ ca. 120 Menschen in Berlin-Wedding versammelten, während ca. 15 000 Menschen unter Führung der AfD mit Slogan „Unser Land zuerst“ durch das Stadtzentrum zogen. Während linke Kräfte daran scheitern, eine klare Position zum Krieg einzunehmen und die Ampel für ihre unsoziale Kriegstreiberpolitik anzugreifen erscheinen die rechten durch ihre konsequente Ablehnung der Sanktionen als glaubwürdigste Vorkämpfer gegen die soziale Verwerfungen der Inflation.

49. Da wir 2 Ortsgruppen in Ostdeutschland haben, soll an dieser Stelle noch einmal ein Blick auf die spezielle Lage vor Ort geworfen werden. Laut dem INSA-Meinungstrend vom 26.9. ist die AfD stärkste Kraft in Ostdeutschland. Zehntausende sind dort im Zuge der aktuellen Proteste unter offener Beteiligung von Faschist_innen wie dem III. Weg oder den Freien Sachsen auf der Straße gegangen. In Ostdeutschland sind aufgrund der Deindustrialisierung nach der Annektion der DDR mehr Menschen prekär, fühlen sich abgehengt und fremdbestimmt. Der Braunkohleausstieg, die Inflation sowie die ungeklärte Zukunft der Ölraffinieren verbreiten eine nicht unberechtigte Angst vor einer Deklassierung 2.0. Zudem ist die Wirtschaft traditionell stärker strukturell auf Russland ausgerichtet (siehe zum Beispiel PCK-Raffinerie in Schwedt, selbst die CDU-Sachsen vertritt viel pro-russischeren Kurs als die Bundespartei). Auch ideologisch wird Russland aufgrund der DDR-Sozialisierung weniger als Feind betrachtet.

50. Angesichts der rechten Führung über die sozialen Proteste trauen viele den großen breiten Gegenprotesten von Unteilbar etc. hinterher. Wir sehen aktuell jedoch deutlich, dass der Slogan „einfach alle zusammen solidarisch und ,unteilbar‘ gegen die AfD“ in Krisensituationen bei Abwesenheit einer klaren eigenen linken Perspektive nicht mehr funktioniert. Die Trägheit und Vorsicht der Linken eine eigene Perspektive aufzuwerfen, überlässt den Rechten das Feld. Ähnlich haben wir es bereits in der Corona-Krise erlebt, als die Abwesenheit einer kämpferischen und gegen die Regierung gerichteten Zero-Covid-Bewegung eine politische Lücke eröffnet hat, die Querdenken füllen und sich als Fundamentalopposition präsentieren konnte.

51. Aktuelle Ansätze in der radikalen Linken wie die „Dont Pay“-Kampagne (á la klauen im Supermarkt und den Armen geben) verurteilen wir zwar nicht moralisch aber politisch als individualistisch und kleinbürgerlich. Darüber hinaus kommen lokale linke Kleinstbündnisse in einigen Städten kaum dazu, unter zaghafter Beteiligung einzelner lokaler Gewerkschaftsgliederungen über ihre eigenen Unterstützer_innenkreise hinaus zu mobilisieren.

Die Genug ist Genug Kampagne sieht sich selbst als eine Plattform, welche als „Brücke“ zwischen Straßenprotesten und Gewerkschaften fungieren will. Angeführt wird die Kampagne in Deutschland vom reformistischen Jacobin-Magazin und Teilen des Ver.di Gewerkschaftsapparats. Auch wenn die Kampagne bisher nicht über Internetaktivismus, lokale Rallyes, Arbeitsgruppen zur Verbreiterung der Initiative und reformistische Minimalforderungen hinausgeht (zum Beispiel werden die Fragen nach Arbeiter:innenkontrolle des Energiesektors, der Positionierung zum Krieg und den Sanktionen bewusst ausgeklammert), bietet sie aufgrund ihrer Einbindung von Gewerkschaften und ihres internationalen Charakters im Vergleich zu anderen Antikrisenbündnissen bisher das größte Potential für den Ansatz des Aufbaus einer linken Antikrisenbewegung. Sie könnte sich in Zukunft in eine vielversprechende Richtung entwickeln, ist es zum jetzigen Punkt jedoch nicht. Entscheidungen werden mit Teilen des Gewerkschaftsapparats geheim und undemokratisch gehalten. Während sie auf den Rallys mit starken, klassenkämpferischen Reden glänzten (in Berlin rief der BSR (Stadtreinigung) für die kommende Tarifrunde beispielsweise zum Generalstreik auf) hält sich die Führung mit so etwas bewusst zurück. Mehr noch als das: interessierte, potentielle Aktivist_innen werden bis jetzt in ineffektiven Organizing-Arbeitsgruppen verheizt, wodurch der tatsächliche Aufbau einer Antikrisenbewegung sogar noch erschwert wird. Aktuell scheint die Kampagne in Deutschland also nicht an ihre Erfolge in UK anknüpfen zu können. Im Gegensatz zu den Protesten in UK stützt sie sich hierzulande nämlich nicht auf kämpferische Streiks, sondern wird lediglich von Gewerkschaftsfunktionär_innen aus verdi und GEW unterstützt, die die Kampagne ihren Mitgliedern gegenüber als Feigenblatt für Aktionismus gegen die Inflation nutzen.

Revolutionäre müssen mit dem Slogan einer europaweiten Antikrisenkonferenz in die Kampagne intervenieren und diese nach links treiben, bei gleichzeitiger Integration weiterer Gewerkschaftsgliederungen. In den Gewerkschaften müssen wir erkämpfen, dass diese die Forderungen von „Genug ist genug“ nicht nur dem Papier unterstützen, sondern ihre Betriebsgruppen aktiv über die Vertrauensleute mobilisieren. Unsere wichtigen Forderungen zur Inflation sind die Einführung Preisdeckeln unter Arbeiter_innenkontrolle, die gleitende Skala zur Anpassung von Löhnen und Sozialleistungen an die Inflation, die Öffnungd er Geschäftsbücher und eine Übergewinnsteuer sowie die Enteignung der Energiekonzerne unter Arbeiter_innenkontrolle.

Diesen allgemeinen Forderungen müssen sich für die Jugend spezifische Forderungen anschließen, da Inflation und damit verbundene Krisen sich Jugendlichen gegenüber besonders hart und aussichtslos zeigen. Einige zentrale Punkte hierbei sind: kostenloses Mittagessen an Schulen und Kontrolle von Schüler*innen über Auswahl und Preise des Mensasortimentes, finanzielle Unterstützung von Jugendlichen (z.B. für Freizeitangebote), besondere Unterstützung von Familien, der Inflation angepasste und faire Löhne sowie garantierte Übernahme für Azubis, außerdem die Forderung nach kostenlosem ÖPNV und einer starken Jugendbewegung, die an der Seite der Arbeiter_Innen gegen Krieg und Krise kämpft.

Gewerkschaften in der Krise

52. Der DGB fungiert aktuell nicht als Organ des Klassenkampfes, sondern durch seine Politik der Sozialpartnerschaft (kooperativer Ausgleich der Interessen von Kapital und Arbeit) als Stütze der bürgerlichen Herrschaft. Sowohl in der Coronakrise, in der Klimakrise, im Ukraine-Krieg und zur Inflation nimmt er keine fundamentale Oppositionshaltung zur Politik der Bundesregierung ein. Die Beteiligung des DGB an der „konzentrierten Aktion“, in der ein Konsens mit Unternehmer_innenverbänden zur Bekämpfung der Inflation gefunden werden soll, ist nur ein Ausdruck davon. Ebenso die Tatsache, dass der DGB seine historisch gewachsene antimilitaristische Haltung gegenüber dem Aufrüstungsvorhaben der Ampel aufgegeben hat. Es gab keine Ablehnung dessen von Seiten des DGB, lediglich den müden Verweis, dass die Aufrüstung nicht zulasten von Sozialem, Gesundheit und Bildung finanziert werden dürfe. Auf hohe Lohnforderungen wird zugunsten des Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland und aufgrund der angeblichen Gefahr einer „Lohn-Preis-Spirale“ ebenso verzichtet, wie auf politische Streiks angesichts der vielfachen Krisenlagen. Stattdessen gibt es Einmalzahlungen (siehe Abschluss IGBCE und müde Lippenbekenntnisse gegen den Klimawandel).

53. Diese staatstragende Haltung des DGB bringt die Mitgliedsgewerkschaften angesichts sich zuspitzender Krisenlagen in den Lebenswelten der Gewerkschaftsmitglieder in eine fundamentale Krise. Viel zu lange hat sich der DGB als verlässlicher Partner für das Kapital präsentiert, die Mitgliedschaft ruhiggestellt und dafür in wirtschaftlichen Aufschwungperioden Tariferhöhungen für Kernsektoren und Stammbelegschaften (= Arbeiter_innenaristokratie) herausgeholt. In Krisenzeiten, in denen es jedoch selbst für die sogenannten Kernsektoren kaum noch etwas abzuschöpfen gibt, gerät diese Politik in akute Bedrängnis. Zusätzlich geraten die Gewerkschaftsbürokraten der großen DGB-Gewerkschaften durch kämpferisch auftretendere Spartengewerkschaften unter Druck (siehe Cockpit oder GDL). Als Folge erlebt der DGB aktuell einen massiven Mitgliederschwund. Im Jahr 2021 (aktuellste Zahlen) verließen über 2 Prozent der Gesamtmitgliedschaft ihre jeweiligen Gewerkschaften (am meisten bei IG Metall und verdi). Gleichzeitig gehen die Rechten immer aggressiver auf Stimmenfang unter Gewerkschafter_innen, sodass die AfD in einigen Betrieben sogar bereits eine absolute Mehrheit unter Gewerkschaftsmitgliedern verzeichnen kann. Der Apparat versucht sich deshalb mit verzweifelten und halbherzig geführten „Organizing“-Kampagnen zu erneuern und Mitglieder zu gewinnen.

54. Dabei braucht es auch über rein tarifliche Forderungen hinausgehende Forderungen der Gewerkschaften, da die aktuellen Krisen (Corona, Klima, Krieg, Inflation) und die Tiefe mit der sie sich auf den Alltag von Lohnabhängigen auswirken, die traditionelle ökonomistische Selbstbeschränkung der Gewerkschaften in Frage stellen. Ferner liegen für die kommenden Tarifauseinandersetzungen von IG-Metall und verdi aktuell nur Forderungen auf dem Tisch, die knapp über der aktuellen Inflationsrate liegen. Nach den Verhandlungen sind also Reallohnverluste zu erwarten. Der kämpferische Streik der Hamburger Hafenarbeiter_innen konnte die Bürokratie dagegen zeitweise vor sich hertreiben und bildete dabei eine Ausnahme. Es wird immer deutlicher, dass der bürokratische Gewerkschaftsapparat das eigentliche Problem ist, der, um seine eigene privilegierte Stellung zu erhalten, gewerkschaftliche Kämpfe ausbremst. Was wir brauchen ist deshalb kein Organizing für einen erneuerten Gewerkschaftsapparat, sondern eine kämpferische Gewerkschaftsopposition, gestützt auf basisdemokratische Betriebsgruppen, die selbst über Forderungen und Kampfmittel entscheiden, sowie Wähl- und Abwählbarkeit von Delegierte entsenden. Verknüpft werden muss dies mit einem gewerkschaftlichen Aktionsprogramm des Klassenkampfes (statt Sozialpartnerschaft) gegen die Abwälzung der Krisenkosten und der kommenden Rezession auf die Beschäftigte. Die VKG bildet einen ersten Ansatzpunkt dafür.

War’s das mit der Linkspartei?

55. Die traurige Lage der Linkspartei ist geprägt von massiven Wahlverlusten bei der Bundestagswahl. Mit 5 Prozent und über 4 Prozent Stimmverlust ist sie noch knapp in den Bundestag eingezogen. Ähnlich schlecht sind die Ergebnisse bei den vergangenen Landtagswahlen. Hauptgrund dafür ist ihre reformistische Ausrichtung und ihre falschen Analyse des bürgerlichen Staates, die es ihr verwehrt einen radikale Kampf gegen die Angriffe der Regierung zu führen. Zusätzlich ist die Partei durch den inneren Kampf ihrer Flügel gelähmt.

56. Kurzzeitige Hoffnung machte die Proklamation des „Heißen Herbsts gegen soziale Kälte“, bei dem die Linkspartei in Leipzig ca. 4000 Menschen mobilisierte. Diese Aktion blieb jedoch der vereinzelte Höhepunkt der „Kampagne“, da die Positionen der jeweiligen Flügel zum Krieg und seinen Folgen zu unterschiedlich sind, um einen gemeinsamen Kurs vorzuschlagen. Der Flügel der sogenannten „Regierungssozialist_innen“ will dabei nur verhalten Opposition spielen, um sich weiterhin als verlässlicher Koalitionspartner zu präsentieren. Forderungen nach einem Ende der Sanktionen, die ihm von links unter Druck setzen könnten, versucht er dabei als „Rechtsoffenheit“ und „Putinverständnis“ zu denunzieren. Der linkspopulistische „Aufstehen“-Flügel um Sarah Wagenknecht versucht dagegen aktiv Proteste gegen die Inflation zu organisieren. Praktisch scheint der Flügel dabei zu testen, wie viel Basis er tatsächlich hat, um den Erfolg eines Bruchs mit der Linkspartei abschätzen zu können. Dabei strebt er eine Volksfront von Arbeiter_innenklasse und kleineren Unternehmen an, um die Lasten der Krise abzufedern. Seine Kritik an Sanktionen und der Abwälzung der Krisenkosten formuliert er jedoch nicht aufgrund von internationaler Klassensolidarität. „Aufstehen“ kämpft für ein „sozialeres Deutschland“, dessen durch Frieden mit Russland florierende Wirtschaft mehr Spielraum für Umverteilungspolitik hätte. Die Bewegungslinke will zwar laut eigenen Aussagen zwar eine Massenbewegung gegen die Regierung aufbauen, traut sich jedoch nicht die nötige Konfrontation mit anderen Flügeln einzugehen. Obwohl sie eine Mehrheit im Parteivorstand stellt, hat sie bisher nichts von ihren eigentlich fortschrittlichen Forderungen umgesetzt. Im Ernstfall haben ihre Mitglieder bisher auf den Parteitagen mit den Regierungssozialist_innen gestimmt und damit offenbart, dass sie keinen Kampf um die Partei für ein sozialistisches und „bewegungsorientiertes“ Programm führen wollen.

57. Die Anzeichen, dass der Wagenknecht-Flügel die Partei verlässt, nehmen dabei zu. Dies sieht man an den Streitereien innerhalb des Hamburger Landesverbandes oder beispielsweise dem Schreiben des NRW Landesvorstandes, bei dem der gesamte Vorstand sich nicht zur Wiederwahl bereit erklärte und ihre Erklärung zuerst der Presse zuschickte und dann den eigenen Strukturen. Vertreter wie Dieter Dehm, der zwar nicht 100% dem Wagenknecht-Flügel zu zuordnen ist, erklärten zudem öffentlich die Notwendigkeit einer neuen linken Initiative mit den Worten„Es muss eine Kraft antreten, die diesem Abbruchunternehmen da drüben im Karl-Liebknecht-Haus eine Alternative entgegensetzt“. So kann es sein, dass gerade im Hinblick auf die Europa-Wahl 2024 sich dieser Teil aus der Linkspartei verselbständigt um sich dort eigene Posten zu sichern. Sollte der Flügel rund um Wagenknecht und Populäre Linke die Partei im aktuellen Zustand verlassen, wird dies die Zersetzungserscheinungen beschleunigen. Praktisch bedeutet das ein weiteres Schrumpfen der Linkspartei, da schon jetzt mehr und mehr Aktivist:innen durch die andauernde öffentliche Schlammschlacht zwischen Parteiführung und Bundestagsfraktion bei gleichzeitigen Ausbleiben von Erfolgen demoralisiert sind, von Wähler:innen ganz zu schweigen.

Der interne Machtkampf ist dabei von der Idee geprägt, dass der „stärkere“ Flügel den anderen in Schach hält, da viele – inbesondere Vertreter:innen der Bewegungslinken (und M21-Mitglied) wie Christine Buchholz, der Idee nachhängen, dass eine weitere Spaltung zur Irrelevanz der Partei führen würde. Dies stimmt nur bedingt. Hätte es früher eine klare Abtrennung der populistischen Politik gegeben, verbunden mit einem Rausschmiss Wagenknechts hätte so eine Handlungsfähigkeit der Partei unter einem positiven Vorzeichen hergestellt werden können. Dies wäre auch jetzt noch möglich, nur setzt man eher auf Blockaden statt inhaltlicher Diskussion und gemeinsame Mobilisierungen aus Angst mehr Leute an das gegnerische Lager zu verlieren wie man an der Praxis in Leipzig sehen konnte. Dort iniitierte Sören Pellmann (einer der drei Gründe warum die Linke überhaupt noch im Bundestag ist) Anfang September einen Protest gegen die Inflation, nur um im Oktober bei der Aktion organisiert von Juliane Nagel und Katharina König-Preuss nicht reden zu dürfen.

Klimabewegung in der Sackgasse

58. In den letzten Jahren gab es gewaltige internationale Proteste der Klimabewegung. Trotzdem wurden keine relevanten politischen Verbesserungen erreicht. Der Ausstoß von Treibhausgasen hat sich sogar erhöht (abgesehen von dem Lockdownjahr 2020). Folglich befindet sich die Klimabewegung in einer Sackgasse. Alle bisher angewandeten Methoden waren anscheinend unzureichend, um etwas zu verändern. NGO´s und die Grünen haben sich spätestens seit dem Kohleverlängerungsgesetz als unfähig gezeigt wirklich etwas für das Klima zu tun. Die freitäglichen Schulstreiks von FFF gibt es schon lange nicht mehr, die Aktionstage werden immer kleiner. Auch die Waldbesetzungen haben sich als symbolische Aktionen einer scheinradikalen Minderheit ohne größere Bedeutung entpuppt. Das Gleiche gilt im Grunde genommen für das Bündnis Ende Gelände, welches nicht über ein reformistisches Programm und symbolisches Eventhopping hinausging. Die Aktionen von „die letzte Generation“ oder XR konnten nur Arbeiter_Innen ärgern, die zur Arbeit wollten, nicht jedoch die Regierungen zum Umdenken bewegen. Keine der genannten Bewegungen und Organisationen hat eine Verbindung zur Arbeiter_Innenklasse gesucht, obwohl ihre Streikmacht alleine Druck auf Regierung und Kapital ausüben kann. Zum Teil wurde ein Schulterschluss zur Klasse sogar abgelehnt, obwohl er sich aufgedrängt hat, wie z.B. rund um die Ende Gelände Proteste in Hamburg, die parallel zu dem beeindruckenden Streik im Hamburger Hafen stattfanden.

59. Die Ampelkoalition, bürgerliche Medien und Teile der kleinbürgerlich geprägten Umweltbewegungen nutzen den Ukrainekrieg und die Wirtschaftskrise als Grund, um Investitionen in grüne Technologien, Green New Deal und Umweltfragen in den Hintergrund zu schieben. Während es massive Investitionen in Aufrüstung und zur Unterstützung von Unternehmen gibt, wird uns weisgemacht, diese Depriorisierung von Klimafragen wäre alternativlos, weil andere Krisen im Vordergrund stünden. So kommt es, dass Atomkraft wieder im Gespräch ist und Kohlekraftwerke länger laufen sollen, als bisher geplant, während ein Aufschrei der Klimabewegung und große Mobilisierungen ausbleiben. Teile der Umweltbewegung gehen auch so weit, den Kurs der Regierung nicht nur passiv mitzutragen, sondern den Krieg des Westens gegen Russland zu unterstützen und ihn als Chance eines Ausstieges aus fossilen Brennstoffen zu sehen (z.B. in Teilen von FFF). Das Dogma von Luise Neubauer: „Wir haben eben Krieg, dann gibt es halt eine unpopuläre Politik“, setzt sich durch.

Radikale Linke und Klimabewegung

60. Das Mobilisierungspotenzial der radikalen Linken stagniert weiterhin. Hauptgrund dafür ist die Abwesenheit von klaren Positionen (oder gar Kampagnen) zu den drängenden Fragen der Zeit: Ob Corona-Krise, Klimakrise, Krieg, Rassismus, Inflation oder Frauenbefreiung. Eine Hauptursache stellt dabei die Führungskrise der Arbeiter_innenklasse und ihre Abwesenheit als ein in den Verlauf der Geschichte eingreifendes Subjekt dar. Vorherrschende reformistische oder postmoderne Ansätze bieten keine Antworten auf die drängenden Krisen und machen die Gruppen der radikalen Linken unfähig, über isolierte Großmobilisierungen hinaus eine Bewegung aufzubauen (siehe Black Lives Matter, EG, Frauen*streik, …).

61. Die Interventionistische Linke steckt als größte „linksradikale“ Organisation in einer tiefen Krise (3 Ortsgruppen sind ausgetreten), die auf andere sich an ihr orientierende kleinere Gruppen abfärbt. Ihr pluralistisches Aufbaukonzept und ihre Taktik der „breiten zivilgesellschaftlichen Bündnisse“ scheinen angesichts der aktuellen Herausforderungen nicht mehr zeitgemäß und unfähig, praktisch in das Geschehen einzugreifen. Ferner hat sich ihre politische Erwartung der Herausbildung eines weltumspannenden Empires (siehe Antonio Negri) angesichts der Blockbildung, der Deglobalisierungstendenz und verschärfter bürgerlicher Angriffe nicht bewahrheitet, was die Organisation auch in eine programmatisch-politische Bedrängnis gebracht hat.

62. Das traditionell-stalinistische Milieu (SDAJ, DKP, MLPD) wurde empirisch in seiner Proklamation der friedliebenden Ambitionen Putins widerlegt (DKP-Slogan im Januar 2022: „Denkst du der Russe will Krieg?“) und hat Schwierigkeiten angesichts der neuen globalen Kräftekonstellation eine Position herauszubilden. Die Kommunismuskonferenz der Kommunistischen Organisation blieb mit 200 Teilnehmer_innen hinter den Erwartungen einen Umgruppierungsprozess anzustoßen zurück, sollte jedoch weiter beobachtet werden. Die traditionell maoistisch ausgerichteten Migrant_innenorganisationen haben noch wie vor eine große Mobilisierungskraft in den jeweiligen Diaspora-Communities. Sie stehen jedoch vor dem Problem, dass gerade das Bewusstsein von Jugendliche stärker durch ihre Klassenlage und die damit verknüpfen Alltagsprobleme bestimmt wird, als die Diasporapolitik der Organisationen ihrer Eltern.

63. Positiv zeichnet sich ab, dass die Forderung nach Vergesellschaftung von Unternehmen an Popularität gewonnen hat (siehe: 800 Menschen bei Vergesellschaftungskonferenz). Der erfolgreiche Volksentscheidung von „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ in Berlin hat sicherlich dazu beigetragen und zeigt zugleich dessen Probleme auf. So gilt es in der kommenden Konferenzperiode einen ideologischen Kampf um die Frage zu führen, ob diese Vergesellschaftung über Art. 15 des Grundgesetzes vor dem Gericht erstritten oder über politische Streiks in den betreffenden Betrieben durchgesetzt werden muss. Ebenso, ob die Kontrolle über die Vergesellschaftung in der Hand einer „Anstalt öffentlichen Rechts“ oder den Beschäftigten liegt. Die Forderung nach einer Vergesellschaftung des Energiesektors gewinnt aktuell in der Klimabewegung an Popularität und bildet ein vielversprechendes Bindeglied zur Antikrisen- bzw. Anti-Inflationsbewegung.

Lage der Jugend in Deutschland

64. Die Inflationsrate ist für Jugendliche bis zu 4 mal höher. Jugendliche haben in den meisten Fällen kein oder nur ein sehr geringes Einkommen. Bereits im Zuge der Pandemie haben viele ihre Nebenjobs verloren oder werden sie Blick auf die zu erwartende Rezession verlieren. Gleichzeitig sind die Preise von Waren, die verstärkt von Jugendlichen konsumiert werden, besonders stark angestiegen. Beispielsweise sind die Preise für linierte Blöcke (brauch man in der Schule) um 13% angestiegen. Viele können sich das Mensaessen nicht mehr leisten oder müssen auf Brötchen mit Ketchup zurückgreifen. Da neben sinkenden Einkommen und teureren Konsumgütern ebenso Mieten und Nebenkosten drastisch angestiegen sind, werden Jugendliche in Deutschland in der kommenden Konferenzperiode noch stärker an den elterlichen Haushalt gebunden bleiben.

65. Dies trifft noch stärker auf migrantisierte Jugendliche zu, die zudem teilweise in prekären und repressiven Familienstrukturen gezwungen sind, die eigene Familie noch finanziell durch Nebenjobbing zu unterstützen. Polizeigewalt ist ferner weiterhin ein Thema, was nicht aus den Leben migrantisierter Jugendlicher wegzudenken ist. Allein im August 2022 haben rassistische Polizist_innen sogar 4 migrantisierte Menschen erschossen. Jugendliche mit russischem Migrationshintergrund werden in der Schule oder in Peergroups verstärkt bloßgestellt und in Rechtfertigungsdruck für einen Krieg gebracht, für den sie nichts können.

66. Schüler_innen werden angesichts der geplanten Bildungskürzungen in einigen Bundesländern besonders am Anwachsen der Klassengrößen sowie am Ausfall von Unterricht bei gleichbleibenden Leistungserwartungen durch den Lehrer_innenmangel zu leiden haben. Ferner ist zu erwarten, dass die Schulen im Winter von einer erneuten Covid-Welle erfasst werden, zur starken Belastung für die Jugendlichen und ihre Familien werden wird. Dabei ist Long-Covid eine Folgeerkrankung auf eine Covid-Infektion von der viele Jugendliche betroffen sind, auf die in der Schule aber keinerlei Rücksicht genommen wird.

67. Auch die Einkommen von Azubis und Studierenden werden weiter durch die Inflation schrumpfen, da weder BAföG noch Mindestauszubildendenvergütung an die Inflation angepasst werden. Gleichzeitig werden sie beim Berufseinstieg mehr Schwierigkeiten haben, da Unternehmen mit Blick auf eine Rezession weniger Menschen einstellen oder geringere Löhne zahlen. Für Azubis sinken dabei die Übernahmechancen massiv ab.

68. All dies hat erhebliche Auswirkungen auf das Bewusstsein von Jugendlichen. Politisierte Jugendliche aus der Generation Z und jünger kennen eigentlich keine Welt mehr ohne existenzbedrohende Krisen und wurden zwischen Klimakrise, Corona-Krise, Ukrainekrieg und Wirtschaftskrisen sozialisiert. Laut einer Studie des Forsa Meinungsforschungsinstituts haben 72 Prozent der unter 30 Jährigen große Angst vor der Inflation. Damit sind sie die Altersgruppe, der die Inflation die meisten Sorgen bereitet. Die Coronapandemie bereitet laut der Studie dagegen nur 30% Sorgen, was vermutlich an einer Gewöhnung an den Krisenzustand sowie der Angst vor weiteren Schulschließungen liegt. Der Ukraine-Krieg und die Klimakrise bereiten jeweils 50 % der befragten Jugendlichen Sorgen. Über 50 % lehnen jedoch eine stärkere Einmischung Deutschlands in den Krieg ab. Wachsende Ängste, Einschnitte durch die Coronapandemie, eine verschärfte Konkurrenz um Arbeitsplätze, Schulnoten und soziales Prestige sowie gestiegene Leistungserwartungen verursachen einen Anstieg von psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen um über 20 Prozent. In dieser dauerhaft krisenhaften und oft hoffnungs- und perspektivlosen Lage gilt es, Perspektiven aufzuzeigen und Antworten auf bestehende Probleme und Krisen zu bieten, auch solche, die sofortige Verbesserung der Lage bewirken.




4 Fragen und 4 Antworten zur aktuellen Inflation: Woher sie kommt und was wir dagegen tun müssen

Von Romina Summ

Unser Alltag ist seit den letzten Monaten von andauernden Preissteigerungen geprägt. Früher konnte man sich in der Mittagspause mal einen Döner für 3,50 € holen, mittlerweile bekommt man für unter 5 € kaum noch ein Mittagessen am Imbiss nebenan. Genauso sieht es mit den meisten Lebensmittelkosten und sonstigen Lebensunterhaltungskosten aus. Alles wird teurer. Das stellt für fast alle lohnabhängigen Menschen, aber besonders auch für uns junge Menschen ohne festes Einkommen ein riesiges Problem dar.

Welche Ursachen hat die aktuelle Inflation?

Preisschwankungen können verschiedene Ursachen haben. Die Preise auf kapitalistischen Märkten sind im Grund immer und zu jeder Zeit gewissen Preisschwankungen ausgesetzt. Oft sind zum Beispiel Preise gerade am Anfang des Monats höher als am Ende des Monats. Das liegt daran, dass am Anfang des Monats nach Gehaltszahlungen mehr Geld bei den arbeitenden Menschen vorhanden ist und mehr konsumiert werden kann. Gegen Ende des Monats sinkt dann die Nachfrage, womit ein Überschuss an Waren auf dem Markt ist. Um diese Waren überhaupt noch loszuwerden, muss der Preis sinken. Schließlich ist es für das Kapital besser eine Ware etwas billiger zu verkaufen als gar nicht.

Preisschwankungen können jedoch auch auf eine Veränderung von Angebot oder Nachfrage zurückgehen. Wenn zum Beispiel die Menge an angebotenen Produkten auf dem Markt zurückgeht (z.B. wegen Lieferengpässen), kann dieses Angebot die gleichbleibende Nachfrage nicht bedienen. Es kommt zu einer Steigerung des Preises, wodurch sich nun weniger Leute die Produkte leisten können und die Nachfrage zurückgeht und sich so dem Angebot angepasst hat. Die derzeitige Inflation hat ihre Ursachen genau in einem solchen Rückgang des Angebotes. Wenn also weniger Waren angeboten werden, steigen die Preise, da das Weniger an Waren stärker nachgefragt wird. Die Ursachen für die aktuelle Inflation liegen in den globalen Krisen, die gerade unser Leben bestimmen. Angefangen hat es damit, dass durch pandemiebedingte Lockdowns globale Lieferketten unterbrochen wurden, was zu einer mangelnden Auslastung der Produktionskapazitäten führte. Viele Rohstoffe oder Vorprodukte konnten nicht geliefert werden oder nur mit starken Verzögerungen. Die Auswirkungen zeigen sich bis heute noch und haben zu einem Angebotsschock geführt. Die gleichbleibende Nachfrage ist auf ein extrem sinkendes Angebot gestoßen. Das hat die Preise zunächst in die Höhe getrieben.

Als im Februar der Angriffskrieg auf die Ukraine von russischer Seite begann, antworten die Regierungen der NATO-Staaten mit historisch unvergleichbar harten Sanktionen, welche das Angebot weiter reduzierten. Diesmal beim Gas. Außerdem legte der Krieg die Wirtschaft in der Ukraine, ein Land, welches einen großen Teil der Welt mit Getreide versorgt, (10 % des weltweiten Getreidemarktes, 15 % des Maismarktes) lahm. Dies hatte Auswirkungen auf das Angebot von Lebensmittelpreisen, wodurch auch hier die Preise in die Höhe schießen. Dass sich die Preissteigerungen aber mittlerweile auf fast alle Produkte bei uns niederschlagen, liegt daran, dass für die Produktion Energie benötigt wird. Die gestiegenen Energiekosten schlagen sich somit auf die Endprodukte nieder und spiegeln sich im Preis wider. Dadurch dass die meisten Energiekonzerne und Mineralölkonzerne eine Monopolstellung im Markt inne haben, können sie leichter Preise heben, da es wenig Konkurrenz gibt, die günstiger anbietet. Daher zeichnen sich in dieser Branche in den letzten Monaten Rekordgewinne ab, während immer mehr Menschen verarmen.

Gab es auch vor Pandemie und Ukraine-Krieg schon Inflation?

Die Ursachen der Inflation dürfen jedoch nicht losgelöst von der wirtschaftlichen Entwicklung im letzten Jahrzehnt betrachtet werden. Denn bereits vor der Corona-Pandemie gab es Inflationstendenzen, welche anhand von 3 Faktoren, 1. der niedrigen Kapitalverwertung, 2. der steigenden Verschuldung und 3. der Tendenz zur Deglobalisierung deutlich wurden. Schon seit den 2000er Jahren sank die Produktivität der Weltwirtschaft, was letztlich auch zur großen Finanzkrise im Jahr 2008 geführt hat. Erholen konnte sich die Wirtschaft davon nie wirklich und die Verwertung von Kapital blieb bis heute niedrig. Das bedeutet, dass aus investiertem Kapital durchschnittlich nur niedrige Gewinne abflossen. Dadurch gingen Investitionen und Handel zurück und führten zu einer stagnierenden Kapitalakkumulation (Anhäufung von Kapital durch Investitionen) und niedrigen Profitraten.

Auch die hohe Verschuldung von Staaten und Unternehmen begünstigt in diesem Zusammenhang die Inflationstendenz. Zu Beginn der Coronakrise lag die Verschuldung bei dem 2,6-fachen des Welt-GDP (Bruttoinlandsprodukt aller Länder), mittlerweile sind wir beim über 3-fachem. Schulden sind allerdings nur dann inflationstreibend, wenn die Verwertung der aufgenommenen Kredite nicht mehr produktiv ist. Einfache Verbraucherkredite hingegen führen nicht zur Inflation. Beispiel: Wenn ein Land oder Unternehmen Kredite zu einer Kondition von 7 % Zinsen aufnimmt, aber dieses Geld im Verwertungsprozess (Investition in Produktion, Verkauf von produzierten Waren, Gewinnabschöpfung) nur 3 % Gewinn abwirft, ist die Produktivität geringer und es würde durch die Aufnahme von Krediten nur eine weitere Verschuldung stattfinden. Eine solche Schuldenentwicklung, wie sie sich in Ländern wie Italien zeigt, treibt die Inflation voran.

Zuletzt ist es die Entwicklung zur Deglobalisierung, die die Inflation, am schlimmsten in den abhängigen halbkolonialen Ländern vorantreibt. Weg von der Globalisierung geht der Trend hin zur Verlagerung der Produktion aus den halbkolonialen Ländern zurück in die imperialistischen Länder. Mit entsprechend schlimmen Folgen für die abhängigen Länder: Durch den Abzug von imperialistischem Kapital sinkt der Handel vor Ort, was wiederum dazu führt, dass die lokale Währung nicht mehr so gefragt ist und verfällt. Hinzu kommt, dass durch den Abzug von Fabriken und Kapital mehr importiert werden muss und die Arbeitslosigkeit steigt. Sowohl der Verfall der Währung als auch die teureren Importe feuern die Inflation besonders in diesen abhängigen Ländern an und führen zu einer Verelendung der Menschen. Aufgrund dieser Entwicklung hat sich schon vor dem Krieg und vor der Coronapandemie in vielen südlichen Ländern eine starke Inflation abgezeichnet. Wir sehen also, dass es direkte Ursachen für die aktuelle Inflation im Krieg und in der Pandemie gibt. Diese Aspekte haben aber eine schon dagewesene Krise des Wirtschaftssystems mit inflationären Tendenzen verschärft.

Was bedeutet das für uns?

In genau diesen Ländern ist die Krise nun besonders drastisch und führt teilweise zur Hyperinflation. In Argentinien sind die Menschen teilweise aufgrund der Inflation von knapp 80 % zum Tauschhandel übergegangen. Im Sudan liegt die Inflationsrate sogar bei über 200 %. Der Hunger und der Kampf ums tägliche Überleben bekommen gerade in diesen Ländern eine immer wichtigere Bedeutung. Doch auch hierzulande sind die Auswirkungen der massiven Preisanstiege insbesondere für Menschen ohne festes Einkommen, wie Jugendliche, Studierende oder Arbeitslose, ziemlich verheerend. Alles wird teurer, aber Geld ist sowieso nicht vorhanden. Viele von uns haben bereits vorher schon am Existenzminimum gelebt und haben keine Ersparnisse, sodass wir nun nicht wissen, mit welchem Geld wir die Preissteigerungen bezahlen sollen. Ebenso haben auch Arbeiter_Innen mit einem festen Einkommen bereits große Probleme. Auch ihnen droht durch die Inflation Verarmung. Durch die höheren Preise verlieren sie immer größere Teile ihres Lohns. Die Gewerkschaften hätten die Möglichkeit höhere Löhne, die nicht sofort wieder von der Inflation aufgefressen werden, für die Arbeiter_Innen zu erkämpfen. Anstatt in die Offensive zu gehen, halten sie sich jedoch in den aktuellen Tarifverhandlungen (IG-Metall fordert lediglich 8% Lohnerhöhung) viel zu stark zurück.

Und während die Armut weltweit größer wird, werden die Gewinne einiger Konzerne, vor allem die der Ölkonzerne, immer größer. Besteuerung oder Umverteilung? Fehlanzeige! Die Regierung hat zwar drei Entlastungspakete auf den Weg gebracht, doch diese beinhalten unzulängliche Einmalzahlungen für Heiz- und Energiekosten, für Empfänger_Innen von Sozialleistungen und Arbeitslosengeld und die Anhebung von Kindergeld. Das ist jedoch angesichts der eben beschriebenen Probleme nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Selbst das eher unternehmerfreundliche Institut für Wirtschaftsforschung hat berechnet, dass von 10 Milliarden Euro des 3. Entlastungspaketes ganze 70% an die oberen 30% der Gesellschaft gehen. Die Armen gehen also weiterhin ziemlich leer aus. Das liegt nicht daran, dass die deutsche Regierungskoalition zu unfähig ist, sich effektive Entlastungsmaßnahmen auszudenken, sondern daran, dass ihre Politik in erster Linie die Profite der Unternehmen sichern soll, um der deutschen Wirtschaft ihren Ruf als „Exportweltmeister“ zu erhalten. Die geplante Gasumlage war ein gutes Beispiel dafür. Nur durch massiven Druck von der Straße konnte ihre Umsetzung letztlich verhindert werden.

Was können wir tun?

Nicht wir sollen für diese Krise zahlen, sondern diejenigen, die sie selbst verursacht haben. Vorschläge wie die Einführung einer Übergewinnsteuer gehen dabei schon einmal in die richtige Richtung. Dabei sollen Unternehmen, die besonders hohe Profite durch die Krise gemacht haben, stärker besteuert werden, um Sozialleistungen für Lohnabhängige, Arbeitslose, Jugendliche und Rentner_Innen zu finanzieren. In Spanien wurde eine solche Steuer bereits eingeführt und damit ein kostenloser ÖPNV finanziert. Maßnahmen wie diese müssen wir unterstützen, auch wenn sie noch nicht weit genug gehen. Mit einer kurzzeitig höheren Besteuerung können zwar die Symptome der Inflation ein wenig abgefedert werden, jedoch bleiben ihre Ursachen unangetastet. Dafür müssen wir die Energiekonzerne enteignen und unter demokratische Kontrolle der Konsument_Innen und Beschäftigten stellen. Nur so können wir sicherstellen, dass die Unternehmen ihre Verluste nicht zu Lasten ärmerer Länder ausgleichen und dabei eine ökologische Transformation weg von fossiler Energiegewinnung organisieren. Eine Umgestaltung der Wirtschaft, hin zu einem ausgeglichenen Kreislauf zwischen Mensch und Natur, kann jedoch letztlich nur in einer demokratischen Planwirtschaft erfolgen, in der nicht der Profit, sondern die Bedürfnisse von Mensch und Natur die Produktion bestimmen. Um dahin zu kommen, müssen wir im Hier und Jetzt Forderungen aufwerfen, die eine Antwort auf die sozialen Verwerfungen der Inflationskrise geben und zugleich den Massen aufzeigen, dass sie selbst die Macht erobern müssen, um der Barbarei zu entkommen.

Wir fordern:

  • Lehrmittelfreiheit! Schulbücher, Hefte, Stifte, digitale Endgeräte und auch das Schulessen müssen kostenlos für alle sein!
  • Eine Erhöhung des Mindestlohns und der Renten! Für ein elternunabhängiges Grundeinkommen für Jugendliche von 1600 € monatlich!
  • 9€-Ticket vorbei? Macht den ÖPNV endlich kostenlos!
  • Für eine gleitende Skala der Löhne, die automatisch an die steigende Inflationsrate angepasst wird!
  • Stoppt die Preisexplosionen! Sofortige Preisdeckel für Energie, Lebensmittel und Mieten!
  • Für eine stärkere Besteuerung derjenigen, die an der Krise verdienen! Legt ihre Geschäftsbücher offen und enteignet die, die sich weigern, die Steuer zu bezahlen!
  • Geld für Soziales, Bildung und Gesundheit statt 100 Milliarden für die Bundeswehr!

Diese Forderungen werden sich nicht von selbst umsetzen. Wir müssen schon selbst dafür kämpfen, dass die Krise nicht auf unserem Rücken ausgetragen wird. Dabei müssen wir auch klar machen, dass wir den hinterhältigen Angriff Russlands auf die Ukraine klar ablehnen, jedoch in den Sanktionen kein Mittel sehen, das den Krieg aufhält. Vielmehr versuchen imperialistische Staaten wie die USA oder Deutschland mit den Sanktionen eine missliebige Konkurrenz wie Russland zu schwächen, und das auf dem Rücken der Ukraine, der russischen Arbeiter_Innen und von uns. Was wir brauchen ist internationale Klassensolidarität unter dem Slogan „No Putin, No NATO“.

Auch wenn die Positionen der Organistor_Innen zum Ukraine-Krieg weit auseinandergehen, gibt es bundesweit bereits regelmäßig Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Folgen der Inflation. Verschiedene Bündnisse wie „Genug ist genug“ oder „Brot, Heizung, Frieden“ versuchen linke Initiativen und Organisationen hinter gemeinsamen Forderungen zu vereinen. Zentral ist dabei, ob sie es schaffen werden, die Gewerkschaften und auch linke Teile der SPD und der Linkspartei für sich zu gewinnen und diese zur Mobilisierung ihrer Mitgliedschaft zu bewegen. Nur mit Massendemonstrationen und Streiks werden sich diese Forderungen auch tatsächlich durchsetzen lassen. Jedoch wäre das nicht die erste soziale Bewegung, in der SPD, Linkspartei und Gewerkschaften am Start waren, und die Bewegung jedoch vielmehr ins System integriert anstatt im Kampf gegen das System unterstützt haben. Deshalb müssen wir Aktionskomitees in unseren Schulen, Unis, Stadtteilen und Betrieben aufbauen, uns von unten organisieren und verhindern, dass die Reformist_Innen die Führung an sich reißen. Aktuell bleibt jedoch noch offen, ob der viel beschworene „Heiße Herbst“ eine rechte oder linke Richtung annehmen wird. Mit bürgerlichen Forderungen nach einem Wiedereinstieg in die Atomenergie oder einer Verschiebung des Kohleausstieges versuchen die Rechtspopulist_Innen die sozialen Verwerfungen für sich zu nutzen. Auch Forderungen nach Aufhebung der Sanktionen gegen Russland finden sich bei den Rechten. Ihnen geht es dabei jedoch nicht um internationale Klassensolidarität, sondern um’s „deutsche Volk“. Es geht ihnen darum, deutsche Kleinunternehmen, die durch die Sanktionen in Bedrängnis geraten sind, wieder zahlungsfähig zu machen. Es liegt an uns, die Rechten von unseren Demos zu schmeißen und eine klarere und entschiedenere Perspektive von links aufzuzeigen, wollen wir die Folgen der Inflation abfedern und aus dieser Defensive in die revolutionäre Offensive übergehen!




Soziale Proteste müssen internationalistisch sein!

Gemeinsame Stellungnahme von REVOLUTION, Gruppe ArbeiterInnenmacht, SDAJ, DKP, MLPD, Zora, Internationale Jugend und Handala zu dem Angriff auf palästinensische Genoss:innen in Leipzig

Was ist passiert?

Am 15.10.22 organisierte das Bündnis „Jetzt reicht’s!“ eine Demonstration gegen die Teuerungen. Gemeinsam als Internationale Jugend, Solidaritätsnetzwerk, ZORA, Revolution, GAM und der palästinensischen Gruppe Handala organisierten wir hierfür einen klassenkämpferischen Block. Dem Aufruf folgten einige Palästinenser:innen, die die Krisenpolitik in Deutschland mit Antikriegspositionen, internationaler Solidarität und dem eigenen Kampf gegen die Unterdrückung durch den Staat Israel verbanden. Auf einem Pappschild wurde das Ende der Besatzung palästinensischer Gebiete gefordert und die Landkarte in den Farben Palästinas gezeigt.

Daraufhin wurde der klassenkämpferische Block umzingelt, bedrängt und mit der Parole: „Kannibalismus gehört zu unsern Riten – esst mehr Antisemiten!“ beschallt, was mit palästinasolidarischen Parolen beantwortet wurde. Aufgrund der zunehmend aggressiver werdenden Stimmung, stellte sich der Block schützend um „Handala“ auf. Anschließend erschienen auch mehrere Polizist:innen, wohl von den Ordner:innen gerufen. Nach kurzer Zeit und einigen Diskussionen schnitt Handala die Landkarte aus der Pappe heraus und hielt das angepasste Schild nach oben, inzwischen konform mit dem „Demokonsens“. Juliane Nagel (Die Linke) reichte das allerdings nicht aus. „Verpisst euch!“, „Ich hol die Polizei!“, „Ihr nutzt meine Strukturen aus!“ waren nur einige der von ihr getroffenen Aussagen. Unsere Kommunikationspersonen verhielten sich jederzeit deeskalierend und gingen nicht weiter auf die Aussagen ein.
Dabei blieb es jedoch nicht. Juliane Nagel drang in den Block ein, schubste Genoss:innen zur Seite und entriss dem palästinensischen Genossen gewaltsam die Pappe, mit dem Ziel diese zu zerstören. Teilnehmer:innen des Blocks wurde außerdem aggressiv und aus nächster Nähe eine Handykamera vors Gesicht gehalten. Auf die Bitte, das zu unterlassen, argumentierte einer der filmenden Personen, Marco Dos Santos, lediglich mit der „Pressefreiheit“, die dieses Verhalten rechtfertigen würde. Letztlich konnten wir durchsetzen, alle gemeinsam, auch mit unseren palästinensischen Freund:innen, einen sichtbaren und lautstarken Block auf der Demo zu bilden und gemeinsam gegen Krieg und Krise zu kämpfen.

Das Argument mit dem Demokonsens

Auf der Demonstration gab es den Demokonsens, dass keine Nationalfahnen gezeigt werden dürfen. Palästina ist jedoch, genauso wie Rojava, kein Staat, was einen qualitativen Unterschied bedeutet. Es ist ein Unterschied, ob man die Fahne kapitalistischer Unterdrückerstaaten zeigt oder die Fahnen von nationalen Freiheitsbewegungen wie in Rojava oder Palästina. Außerdem ist es nicht verhältnismäßig, einen Demokonsens wegen einer kleinen Pappe mit solchen aggressiven Maßnahmen durchzusetzen. Trotzdem wurden die palästinensischen Farben von unseren Genoss:innen zur Deeskalation aus der Pappe herausgeschnitten. Und siehe da: es wurde weiter aggressiv und gewaltsam gegen uns vorgegangen. Der Demokonsens war also nur ein vorgeschobenes Argument. Es ging ganz offensichtlich um etwas anderes: Migrantische, israelkritische Stimmen sollten zum Schweigen gebracht und sozialer Protest von internationalen Kämpfen künstlich getrennt werden.

„Das Thema hat hier nichts zu suchen!“

Wer internationale Kämpfe, Antikriegskämpfe, antirassistische Kämpfe und antikoloniale Kämpfe von sozialen Protesten „im eigenen Land“ trennt, hat es offensichtlich nicht geschafft, die Wirtschaftskrise in einen globalen Kontext zu setzen. Krise und Krieg hängen unweigerlich miteinander zusammen und gehören zum kleinen Einmaleins einer linken Analyse, die über die eigenen Staatsgrenzen hinaus reicht. Das ist genau das, was uns von reaktionären Kräften unterscheidet, die mit ihrem Nationalismus die Arbeiter:innenbewegung spalten möchten. „Internationalismus“ bedeutet das Kontextualisieren und Verbinden von verschiedenen globalen Kämpfen der Ausgebeuteten und Unterdrückten!

Gerade linke Gruppen sind es doch, die Mantra mäßig fordern, die Kämpfe gegen den Kapitalismus zu verbinden und vor allem auch marginalisierte Gruppen miteinzubeziehen! Die Geschehnisse von Samstag beweisen allerdings: Manche Organisationen und Personen haben wohl keinerlei Interesse an bestimmten internationalistischen und migrantischen Perspektiven in ihrem Aktivismus. Der palästinensische Befreiungskampf wird kategorisch ausgeschlossen und zusätzlich als „Antisemitismus“ diffamiert. Dadurch werden zum einen migrantische Stimmen unterdrückt und zum anderen die Bewegung gespalten und geschwächt. Das nützt alleine der Rechten und dem Kapital!

Anstatt sich also darüber zu freuen, dass Palästinenser:innen Teil der Bewegung gegen die Krise in Deutschland sein möchten, wird unterstellt, dass das Thema „Palästina/Israel“ keinen Bezug zu dem Motto der Demonstration gehabt hätte. Dabei sind es gerade die Länder des globalen Südens, die durch die Ausbeutung und Unterdrückung durch imperialistische Staaten, wie z.B. Deutschland, von der aktuellen Krise in viel schlimmerem Ausmaß getroffen werden. Sie haben jedes Recht dagegen aufzubegehren, auch und gerade in Deutschland. Die Gruppe „Handala“ hat auf ihrer Instagramseite eine genauere Ausführung dazu, was ihr Kampf mit den sozialen Protesten auch in Deutschland zu tun hat.

Der Kampf der Palästinenser:innen und die fehlende Solidarität deutscher Linker

Dass deutsche Linke von palästinensischen Symboliken bis hin zur äussersten Aggressivität getriggert werden, ist ein bekanntes Muster und überrascht uns nicht. Dennoch müssen wir die Heuchelei offenlegen, die die Ereignisse von vergangenem Samstag zeigen. Die Heuchelei einer deutschen Linken, die am laufenden Band die internationale Solidarität mit Befreiungskämpfen verrät und diffamiert, wenn sie nicht in die eigenen Vorstellungen passen. Denn die internationalen Kämpfe im Iran, in Rojava und in Palästina hängen zusammen und lassen sich nicht von den sozialen Kämpfen in Deutschland isolieren. Während erstere Kämpfe von diesen Gruppen ohne Vorbehalt unterstützt werden, ignorieren sie bewusst die Besetzung und Unterdrückung Palästinas.

Wir stehen zum palästinensischen Befreiungskampf!

Für uns internationalistische und antikapitalistische Gruppen in Leipzig ist dieser Angriff auf unsere palästinensischen Freund:innen nicht akzeptabel! Wir werden auch in Zukunft solidarisch mit der palästinensischen Befreiungsbewegung bleiben und dafür sorgen, dass deren Kampf in Leipzig weiterhin präsent ist und mit dem Kampf gegen die Krise des Kapitalismus verbunden wird. Alle Kräfte, die den ernsthaften Anspruch haben internationalistische Politik zu praktizieren, rufen wir dazu auf, sich mit den angegriffenen Menschen zu solidarisieren und Stellung zu dem Vorfall zu beziehen!




Streiks gegen die Krise in Europa

Von Jonathan Frühling

Seit Beginn der Pandemie Anfang 2020 sind 130 Millionen Menschen in totale Armut abgerutscht. Die Inflation erhöht diese Zahl momentan noch einmal massiv. Die Entwicklung umfasst nicht einzelne Länder und Branchen, sondern den gesamten Planeten. Deshalb formiert sich überall Widerstand von Menschen, die nicht hinnehmen wollen, dass sich die herrschende Klasse ihrer Länder immer noch weiter bereichert. Beispielhaft soll hier genannt werden, dass das Vermögen der 2755 Milliardär_Innen in der Coronapandemie von 4 auf 12 Billionen US-$ gestiegen ist. Deshalb werden momentan weltweit Abwehrkämpfe geführt, in denen die Arbeiter_Innen und Bäuer_Innen versuchen zu verhindern, die Kosten der vielen Krisen zahlen zu müssen. Wir haben uns für euch exemplarisch Bewegungen in Europa angeschaut und Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet und versuchen eine Perspektive zu formulieren.

Streiks Europaweit

Norwegen

In Norwegen streikten Anfang Juli Arbeiter_Innen in der Gasindustrie für mehr Lohn, sodass die Gasförderung auf drei Förderplattformen eingestellt werden musste. Relevant war das auch für Deutschland, welches mehr als 30 % seines Gases aus Norwegen bezieht. Die Regierung schritt allerdings nur wenige Stunden nach dem Ausbrechen des Streikes ein und brachte ihn vor ein Schlichtungsgremium, was nach norwegischem Recht legal ist. Begründet wurde das mit den Gasengpässen in Europa und dem Krieg zwischen Ukraine und Russland. Die Gewerkschaften akzeptierten diese Entscheidung

Deutschland

In sechs deutschen Häfen haben die Arbeiter_Innen im Juni und Juli Warnstreiks durchgeführt und damit erreicht, dass Waren nicht umgeschlagen werden konnten. Die Gewerkschaft fordert 14% mehr Lohn in einem Jahr, die Kapitalseite bot 12,5 % in zwei Jahren. Das Angebot liegt damit unter der Inflation und wird von der Gewerkschaft daher richtigerweise abgelehnt.

Die Kapitalseite denkt in Form von „Arbeitgeberpräsident“ Reiner Dulger desweilen laut darüber nach, mit Notstandsgesetzen das Streikrecht zu brechen. So könnte sichergestellt werden, dass die Industrie auf Kosten der Lohnabhängigen ununterbrochen weiterläuft. Das wäre natürlich ein brutaler Angriff auf ein langerkämpftes Streikrecht.

Spanien

Auch in Spanien gibt es momentan Streiks. Hier sind es die Kabinenarbeiter_Innen der Billig-Airlines Easyjet und Ryanair, die der Arbeiter_Innenklasse ein Beispiel geben. Beide Unternehmen sind für ihre schlechten Arbeitsbedingungen bekannt. Die Streiks haben natürlich Auswirkungen in ganz Europa, da die Airlines ausschließlich innereuropäische Flüge durchführen. Zudem kommt hinzu, dass die Branche unter Personalmangel zu kämpfen hat, welcher auch zum Teil auf die niedrigen Löhne zurückzuführen ist.

Großbritannien

Besondere Strahlkraft hatten die Eisenbahner_Innenstreiks der Gewerkschaft RMT in England Ende Juni 2022. Es waren mit 50.000 Streikenden die größten Streiks der Branche seit 30 Jahren und brachten ca. 80 % des Schienenverkehrs auf der Insel zum Stehen. Ziel ist es auch hier, für höhere Löhne, Arbeitsplatzsicherheit und bessere Renten zu kämpfen, denn die Post-Brexit Gesellschaft wird von Inflation und wirtschaftlichen Problemen besonders hart getroffen. Teile des Staatsapparates haben bereits gewarnt, dass ein Erfolg der Bewegung die Arbeiter_Innenbewegung motivieren kann ähnliche Forderungen in anderen Sektoren zu stellen. Da die britische Regierung gerade zerfällt, ist es eine besonders gute Situation, um den Druck zu erhöhen und weiter Sektoren der Klassen in den Kampf zu führen.

Schwächen der Streiks

Alle genannten Beispiele zeigen, dass es eine Schwäche der Streiks gibt, die zu deren Scheitern oder zumindest zu für die Arbeiter_Innen schlechten Abschlüssen führt. Überall verhandelt nicht die Arbeiter_Innenklasse selbst, sondern stellvertretend eine bürokratische Schicht von Gewerkschaftsfunktionär_Innen. Diese haben aber sowieso einen gut bezahlten und recht sicheren Job, weshalb sie vom Interesse der Arbeiter_Innen losgelöst handeln. Ihnen geht es vor allem darum, ihre eigene Stellung durch schnelle Schlichtungen und einen guten Draht zu Regierung zu sichern, statt die Kämpfe zu eskalieren und so z.B. mehr Lohn für die Arbeiter_Innen zu erkämpfen.

Deshalb liegen die Lohnforderungen, wenn überhaupt, knapp über dem Inflationsausgleich, die Abschlüsse sogar meist darunter! Außerdem sind 1-3-tägige Streiks, die oftmals sogar auf mehrere Wochen verteilt sind, nicht genug, um den Druck wirklich zu erhöhen. Diese Taktik ist nur dafür geeignet, die Bewegung totlaufen zu lassen. Es braucht Forderungen von mindestens 8-10 % mehr Lohn bei 12 Monaten Laufzeit. Diese Ziele können aber nur umgesetzt werden, wenn es einen unbefristeten Streik gibt. Ein kämpferisch geführter Streik erhöht außerdem fast automatisch die Mitgliederbasis der Gewerkschaft. Nur wenn sich die Arbeiter_Innen des Streiks bemächtigen und selbst die Kontrolle darüber haben wann, wo und wofür gestreikt wird und vor allem wann der Streik beendet wird, können sie dem Kapital und der Regierung das Fürchten lehren.

Eine weitere Schwäche ist die Zersplitterung der Kämpfe. Der Grund, wieso die Regierungen und Kapitalist_Innen hier in Europa schnell und entschlossen gegen die Streiks vorgehen wollen, ist überall derselbe: Die Europäische Union und der gesamte Kapitalismus ist in einer Krise, in die uns die Regierungen selbst geführt haben. Kürzlich wurde das durch ihre wirtschaftlichen Angriffe gegen Russland z.B. mittels Sanktionen deutlich. Grund genug für uns gemeinsam auch politische Forderungen aufzustellen, um die Krise in unserem Sinne zu lösen. Damit ist z.B. das Abschaffen der Sanktionen gemeint, die vor allem der Entflechtung und Stabilisierung der europäischen Wirtschaft dienen sollen und in Russland selber eher der Arbeiter_Innenklasse als den Kapitalist_Innen schaden. Auch zur Zahlung der Coronaschulden muss das Kapital zur Kasse gebeten werden. Statt Geld für Rüstung brauchen wir Geld für Krankenhäuser, Schulen, Renten. Natürlich muss die gesamte Infrastruktur dafür wieder in öffentliche Hand geführt werden.

Dies alles sind aber politische Forderungen, die nicht in nationalen Tarifverhandlungen geklärt werden können. Die Arbeiter_Innenklasse muss endlich wieder die politische Bühne betreten und beweisen, dass sie eine gesamtgesellschaftliche Perspektive formulieren kann. Alle hier erwähnten Bewegungen sind defensive Abwehrkämpfe, die dafür sorgen sollen, den Verfall des Lebensstandards aufzuhalten. Wir müssen aber selbst in die Offensive gehen. Oft wird argumentiert, dass in Zeiten von Krisen alle den Gürtel enger schnallen müssen. Aber gerade jetzt zeigt sich, wie unbrauchbar der Kapitalismus geworden ist, um für Wachstum und Wohlstand zu sorgen. Wenn sich die Kämpfe verbinden und ausweiten können wir uns, wie Marx es einst formulierte: „den ganzen alten Dreck vom Hals schaffen.“




G7-Proteste – eine nüchterne Bilanz ist nötig

Wilhelm Schulz und Jaqueline Katharina Singh

Olaf Scholz und Co. feierten den G7-Gipfel der westlichen Staats- und Regierungschefs als harmonische, geradezu weltoffene Veranstaltung für Demokratie, Menschenrechte, soziale und ökologische Vorsorge. Ganz zu offen war es dann natürlich doch nicht. Knapp 18.000 Polizist:innen wurden zum Schutz des G7-Gipfels in der Region Werdenfelser Land (Oberbayern) stationiert. Es glich einem Belagerungszustand. Mit Maschinenpistolen ausgestattete Polizist:innen standen hinter Nato-Stacheldrahtzäunen, ständig erfolgten Polizeikontrollen, Geschäfte mussten für den Protest schließen, Autobahnabsperrungen wurden verfügt. Mindestens 170.000.000 Euro soll allein der Polizeieinsatz gekostet haben.

Dessen Umfang entspricht dem von 2015, dem letzten G7-Gipfel in Elmau. Trotz ähnlicher Anzahl erschien die Polizeipräsenz angesichts der schwachen Mobilisierung stärker.

Allerdings besaß die Präsenz eine größere Akzeptanz in der Öffentlichkeit. Schon während der Pandemie wurde polizeiliche Überwachung zunehmend und weit über deren Bekämpfungsmaßnahmen hinaus verstärkt. Der Krieg in der Ukraine dient zusätzlich als Rechtfertigung dieses Zustandes, zumal die Politik von G7 und NATO zu einem „demokratischen“ Eingreifen verklärt wird.

Eine verschärftes Polizeiaufgabengesetz, ständige Kontrollen, Einschränkungen der Versammlungsfreiheit bis hin zu abstrusen Fahnenregeln, Flyerverboten, Angriff wegen Verknüpfung von Transparenten, Polizeipräsenz bei linken Veranstaltungen im Vorfeld gehören mittlerweile schon fast zum „Normalzustand“ der deutschen Demokratie, und zwar nicht nur in Bayern oder bei G7-Gipfeln.

Sicherlich schüchterte die schon im Vorfeld angedrohte massive Repression Menschen ein und wirkte demobilisierend. Das erklärt aber keineswegs die enttäuschend geringe Beteiligung an allen Aktionen. Im Folgenden wollen wir auf einzelne eingehen, um am Ende die Frage zu beantworten, worin die zentralen Gründe für die schwache Mobilisierung lagen.

Großdemo mit 6.000 Teilnehmer:innen?

Die von den NGOs angekündigte „Großdemo“ mit Start und Ziel auf der Münchener Theresienwiese blieb am Samstag, den 25. Juni, weit unter den Erwartungen. Die Mehrheit der rund 6.000 Teilnehmer:innen wurde von verschiedenen antikapitalistischen, antiimperialistischen, sozialistischen und kommunistischen Gruppierungen mobilisiert. Die Masse der NGOs blieb aus.

Dabei hatten diese im Vorfeld die politische Ausrichtung der Demonstration am 25. Juni an sich gerissen, alle politischen Parteien und radikaleren Gruppierungen aus dem Träger:innenkreis, der Festlegung des Aufrufes und auch weitestgehend aus der Mobilisierung zur Demo gedrängt.

Dieses bürokratische und undemokratische Manöver hatte nicht nur die Gesamtmobilisierung erheblich geschwächt und behindert. Der Verzicht auf eine grundlegende Ablehnung der G7, das Ausweichen vor der Kriegsfrage und die Anbiederung an die Mächte der Welt, die im Aufruf deutlich wurde, erwiesen sich als politischer Rohrkrepierer.

Einige der NGOs und Gruppen der sog. Zivilgesellschaft dürften schon im Vorfeld ihre Mobilisierung faktisch eingestellt haben. Andere wie Fridays For Future scheinen sich selbst im Spannungsverhältnis zwischen Pressuregroup der grünen Regierungspartei und sozialem Faktor auf der Straße zu zerlegen. So konzentrierte sich FFF auf eine Kleinstdemo am Freitag mit einigen 100 Teilnehmer:innen, die unabhängig von anderen Protesten stattfand, und war kaum sichtbar auf der Großdemo.

FFF mutierte von einer Streikbewegung zu einer Eventorganisation. Obwohl es auf dem Papier Unterstützer:in der Gegenproteste war, konnte kaum von einer öffentlichen Mobilisierung die Rede sein. Bis auf einzelne bekannte Gesichter am Samstag und eine kleine eigene Aktion am Freitag mit knapp 300 Teilnehmer:innen war FFF nicht präsent. Scheinbar liegt der Fokus aktuell auf einer Unterstützung der Embargos gegen den russischen Imperialismus, anstatt die eigene Regierung und ihre zerstörerische Umweltpolitik anzugreifen.

Auffällig war nicht nur, dass die NGOs zahlenmäßig gering vertreten waren, sondern auch die Abwesenheit anderer Parteien, die sonst auf solchen Protesten anzutreffen waren. Während bei den letzten Gipfelprotesten auch Teile der Grünen und sogar der SPD teilnahmen, so ist ihr Fernbleiben einfach durch die Einbeziehung in die Ampelkoalition sowie die Unterstützung deren Kurses zu erklären. Ähnliches gilt auch für die Gewerkschaften. Der sozialpartner:innenschaftlichen Anbindung an die SPD wurde durch die Pandemie kein Abbruch getan und auch jetzt werden die Kosten des Krieges auf dem Rücken der Lohnabhängigen stumm mitgetragen. Vereinzelt sah man ver.di- und GEW-Mitglieder aus München, aber eigene Blöcke oder gar Lautsprecherwagen waren nicht zu finden. Dies ist nicht verwunderlich, da diese bereits während der Vorbereitung mit Abwesenheit glänzten.

Die NGOs haben in diesem Jahr die Spaltung der Gegenproteste erreicht. Sie weigerten sich mit fadenscheinigen Argumenten, gemeinsam mit sämtlichen Parteien und allen subjektiv revolutionären Organisationen sie zu organisieren. Als NGOs dürften sie keinen Widerstand gegen den Staat organisieren. Solche Argumente tauchen inmitten einer Krise der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf!

Warum galten diese Einwände bei vergangenen Gipfelprotesten nicht? Sie stellen nichts anderes dar als den Versuch, den Widerstand konform zu lenken und jene, die nach einer Perspektive gegen und nicht mit den G7 suchen, ruhigzustellen. Gesagt, getan. Das Ergebnis war ein doppeltes. Einerseits wurde die Desorganisation der Linken dadurch befeuert, andererseits die Aussicht auf eine größere Mobilisierung bewusst aufs Spiel gesetzt. Die Entscheidung, dass die G7 zu beraten statt zu bekämpfen sind, liefert die Erklärung für diese Entwicklung. Die NGOs haben sich so als Erfüllungsgehilfinnen einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklungstendenz präsentiert. Die „Zivilgesellschaft“, für die sie einzustehen versuchen, stellt eben nichts weiter als einen Hofstaat jener Klassengesellschaft voller sozialer Gegensätzlichkeiten dar. Ebenjene ist es, die im letzten Jahrzehnt nach rechts rückte. Sich in ihrer Mitte zu positionieren, erzwingt die Bekämpfung oder zumindest das Ausbremsen radikaler Kräfte. Der Fördertropf an dem sie hängen, bildet die materielle Hintergrundfolie einer ideologischen Kapitulation.

Wie verliefen die Aktionen?

Während die Hoffnungen im Vorhinein nicht allzu groß waren, so geriet die Realität mit nur 6.000 Teilnehmer:innen noch bitterer. Als positives Moment bleibt zu bemerken, dass sich die Demonstrierenden trotz ihrer inhaltlichen Differenzen gegenüber der Polizeirepression solidarisch verhielten. Als die Cops ohne ernsthaften Grund bei der Abschlusskundgebung den antikapitalistischen Block angriffen, solidarisierten sich die Sprecher:innen von der Bühne dagegen und riefen die Polizei auf, sich zurückzuziehen. Sie akzeptierten die Spaltung in „gute“ und „schlechte“ Demonstrierende nicht.

Man würde sich an der Stelle mehr wünschen, aber viel Besseres gibt es auch nicht zu berichten.

Leider blieben auch die Aktionen in Garmisch selbst deutlich hinter jenen von 2015 zurück. Dabei haben viele Genoss:innen und Aktivist:innen ihre gesamte Energie dafür aufgebracht, ein Camp mit geringsten Ressourcen auf die Beine zu stellen. Sie haben gekocht, Nachtwachen afgestellt, ein Workshop- und Kulturprogramm organisiert und einiges mehr. Doch leider blieben Tausende fern. Das Camp trug eher den Charakter eines alpinen Urlaubsprogramms als einer Koordinationszentrale des Kampfes gegen den G7-Gipfel. Wenige hundert Menschen übernachteten vor Ort.

Die größte Aktion, die von ihm ausging, war die Demonstration am 26. Juni. Das Bündnis „Stopp G7 Elmau“ rief dazu auf. Etwa 1.500 Teilnehmer:innen folgten dem Aufruf. Dominiert wurde die Demonstration von verschiedensten antiimperialistischen Kräften. Ihre Überrepräsentanz ist dabei nicht in erster Linie Ausdruck ihrer Stärke, sondern, wie beschrieben, einer allgemeinen Defensive. Teile der Demonstration wurden von der Polizei durchgehend im Spalier „begleitet“. Bereits vor Beginn wurde deutlich, dass der Protest zu nicht viel mehr als einem Ausdruck symbolischen Widerstands gegen den Gipfel des Kapitals geraten würde.

Noch deutlicher wurde dieser rein symbolische Charakter am Montag, dem 27. Juni. An dem Tag nahmen zusätzlich 50 Personen unter Polizeigeleit an einer kleinen Protestkundgebung außerhalb der Hör- und Sichtweite des Gipfels statt. Die Polizei führte erniedrigende Leibesvisitationen bei den Teilnehmer:innen durch und agierte dabei übergriffig, konfiszierte Gegenstände wie Marker, die mit Sicherheit keinerlei Bewaffnungen oder Ähnliches darstellen. Ebenso fand ein Sternmarsch statt. Aufgeteilt auf eine Wanderroute und Fahrradtour nahmen 100 Teilnehmer:innen den Marsch in die oberbayrischen Alpen auf.

Linke, Krise Globalisierung

Doch die zahlenmäßig schwachen Proteste gegen den G7-Gipfel sind freilich nur die Spitze des Eisbergs. Unter dem Wasserspiegel verbirgt sich der desaströse Zustand der Linken und Arbeiter:innenbewegung in der heutigen Zeit, die enorm zugespitzte proletarische Führungskrise eben.

Dieser wurde mittels Fokussierung auf Eventmobilsierungen wie „Blockupy“, „Castor schottern“ oder „Tag X“ versucht zu überdecken. Angesichts der heutigen Lage waren dies reine Heerschauen und Selbstbeweihräucherung linker Organisationen, die sich in Stärkeposition wähnten. Sie waren reine Symbolproteste. Aktivist:innen konnten sich an ihren Symbolen stärken oder scheitern, aber sie erkämpften keine realen Verbesserungen für die Klasse und schafften es nicht, inhaltliche Differenzen innerhalb der Radikalen Linken zu klären. Vielmehr formten diese Stunts eine Fassade, die den Zustand der Ratlosigkeit zu überdecken versuchte. Prominente Beispiele dafür bilden Interventionistische Linke und vor allem die Linkspartei.

Über Jahre blieben in der Deutschen Linken ernsthafte programmatisch-strategische Debatten zu den Aufgaben gegen den vorherrschenden Rechtsruck, den erstarkenden Nationalismus angesichts des aufkochenden Kampfes um die Neuaufteilung der Welt und der Krise aus. So wie viele während der Pandemie darauf hofften, dass diese an ihnen vorbeiginge, ohne darauf eine politische Antwort geben zu müssen, so flehen andere wiederum, dass der Krieg um die Neuaufteilung der Welt bald vorbei sein möge.

Fast schon folgerichtig war die Interventionistische Linke auf keiner einzigen Blockade oder Demonstration als Kraft sichtbar. Die Linkspartei schaffte es, ihren Krisenparteitag parallel zum Gipfel stattfinden zu lassen und nur in kleinster Form ihres bayrischen Landesverbandes aufzutreten. Selbst dieser war ein Schatten seiner selbst.

Während manche Kräfte das Fernbleiben dieser Akteur:innen als Fortschritt feiern, das den Protest „radikal“ erscheinen lasse, ist die Realität doch eine andere. Durch die geringe Mobilisierung droht der Gegenprotest, in die Bedeutungslosigkeit zu schwinden und mit ihr die Debatte um den Inhalt.

Für eine Strategie- und Aktionskonferenz

Das Fernbleiben dieser Kräfte ist dabei Resultat ihrer eigenen Schwäche. Die unzählbaren Krisen, die Veränderung unserer Kampfbedingungen in Zeiten der Pandemie und Kriegseuphorie zeigen auf, dass die reine Fokussierung auf einzelne Aspekte reine Feuerwehrpolitik bleibt. Sie weicht der Frage aus, wie dieser Totalität des Elends ein Ende gesetzt werden kann. Noch schlimmer: Sie leugnet deren Notwendigkeit. Somit kam und kommt es zum Unterordnen unter die jeweiligen Führungen der Bewegungen, seien es bürgerliche Kräfte bei der Umweltbewegung bzw. gegen Rechtsruck oder ökonomistische Nachtrabpolitik bei gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen.

Damit wurde nicht nur verpasst, Kämpfe erfolgreich zu führen, sondern auch aus Niederlagen zu lernen.

Angesichts dieser schwachen Mobilisierung ist zu diskutieren, welche Aufgaben sich Internationalist:innen, Antiimperialist:innen und Antikapitalist:innen in dieser Zeitenwende stellen, um zumindest größere Teile der Avantgarde der Arbeiter:innenklasse gegen die Neuorientierung der westlichen Imperialismen im Kampf gegen die russischen und chinesischen Widersacher programmatisch und praktisch in Stellung zu bringen. Es ist Aufgabe der teilnehmenden Organisationen, einen offenen Austausch um die Kampfperspektive inmitten der Defensive zu führen. Wir brauchen eine Strategie- und Aktionskonferenz im kommenden Herbst. Wir richten diesen Appell insbesondere, aber natürlich nicht nur an jene Kräfte, die an der Demonstration teilgenommen haben: DKP, SDAJ, MLPD, REBELL, Föderation klassenkämpferischer Organisationen, Zora, Perspektive Kommunismus, Atik, Young Struggle, Neue Demokratische Jugend, Partizan, Atif, Kuhle Wampe, Karawane, Klasse gegen Klasse, die Sozialistische Alternative.




Die Rückkehr der Inflation

Bei Inflation geht es um eine allgemeine und längerfristige Steigerung der Preise, die nicht nur einen bestimmten Sektor, sondern wesentliche Bereiche sowohl für den Massenkonsum als auch für Investitionsgüter betrifft. Die Preissteigerungen fressen ein tiefes Loch in unsere Geldbeutel oder Konten. Längst können die geringen Lohnzuwächse und Rentenerhöhungen die Einkommensverluste nicht mehr auffangen. Betraf hohe Inflation bis vor der Pandemie und der globalen Rezession vor allem die Menschen in den Ländern des „globalen Südens“, also den von den führenden kapitalistischen Mächten und deren Kapitalen beherrschten Staaten, so ist sie längst zum Alltag für die gesamte Arbeiter_Innenklasse auch in den imperialistischen Ländern geworden. Der Krieg um die Ukraine wirkt dabei als Brandbeschleuniger.

Die bisherigen Zahlen

Die Preise für Waren insgesamt erhöhten sich von März 2021 bis März 2022 um 12,3 %. Damit liegen sie höher als der Verbraucherpreisindex. Besonders stark stiegen die Preise für Energieprodukte, die im März 2022 um 39,5 % über dem Niveau des Vorjahresmonats lagen. Den zweiten Faktor, der zur aktuellen Inflation beiträgt, sind die Preise für Nahrungsmittel. Sie erhöhten sich im März 2022 gegenüber dem Vorjahresmonat um 6,2 %. Besonders betroffen sind Gemüse und Speiseöle.

Wieso gab es bis vor kurzem scheinbar keine Inflation?

In den 2000er Jahren sank die Produktivität der Weltwirtschaft, was sich u.a. in der Bildung von Finanzblasen (beispielsweise im Immobilienmarkt) auszeichnete. Als diese Blase 2008 platzte und eine weltweite Finanzkrise auslöste, konnte diese nur mit einer extremen Senkung der Zinsen abgefangen werden. Eine Ausdehnung der Kredite und damit der Geldmenge führt normalerweise zu einer Inflation. Dies war aber in den 2010er Jahren aus folgenden Gründen nicht der Fall:

  • Senkung des Werts der Waren infolge von Produktivitätssteigerung, Ausdehnung des Welthandels und des Kapitalexportes (Stichwort: Wachstumsmotor China)
  • Stagnation der Löhne und Einkommen während der „Antikrisenpolitik“ auch in den kapitalistischen Zentren.
  • Sicherung der Anlagen überschüssigen Finanzkapitals in den imperialistischen Zentren und damit schon vor der Coronakrise Abfluss aus den sog. Schwellenländern.

Der letzte genannte Punkt sorgte dafür, dass die Inflation in Ländern außerhalb der kapitalistischen Zentren bereits vor der Coronakrise voll da war.

Inflation is here to stay

Doch die der Inflation entgegenwirkenden Faktoren sind aus mehreren Gründen praktisch erschöpft. Erstens hat sich der Weltmarktzusammenhang weiter verändert. Die infolge von Corona synchronisierte globale Rezession hat nicht nur massive Finanzmittel erfordert und die Verschuldung von Staaten und Unternehmen dramatisch gesteigert. Das Ausbleiben eines raschen und deutlichen Aufschwungs führt nun dazu, dass die Verschuldung und auch Ausdehnung von Unternehmen, die ohne Finanzhilfen eigentlich längst bankrott sein müssten, die gesamtwirtschaftliche Produktivität und damit auch die Profitraten und die Akkumulation drücken.

Hinzu kommt, dass infolge von Corona bis heute Zulieferketten unterbrochen sind, Mangel an Rohstoffen und Vorprodukten beeinträchtigen zusätzlich die Produktion und dämpfen damit die Profite. China fällt als Wachstumsmotor aus, Handelskriege und Protektionismus werden ebenso zur Normalität, wie die Zurückverlegung von Produktionsketten in die imperialistischen Kernländer. Der Krieg um die Ukraine, der Kampf um die Neuaufteilung der Welt und die Tendenz zur Blockbildung (Deglobalisierung) wirken unmittelbar verschärfend auf diese Entwicklung.

Sollte es nicht zu einem raschen und starken Wachstum, fußend vor allem auf steigenden Investitionen, kommen, droht tatsächlich auch in den imperialistischen Zentren die Rückkehr der Stagflation (Kombination von Stagnation und Inflation, die einander wechselseitig verstärken).

Für die Massen führt die sinkende Kaufkraft zu einer Einschränkung ihrer Konsummöglichkeiten. Die ärmeren, schlechter bezahlten und sozial unterdrückten Teile der Klasse sind hiervon besonders hart und rasch betroffen, also prekär und/oder Teilzeitbeschäftigte, Aufstocker_Innen, Arbeitslose, Rentner_Innen, Jugend, Frauen, Migrant_Innen, Geflüchtete. Wenn nicht erfolgreiche Lohnkämpfe geführt werden, kann die Kapitalist_Innenklasse ohne den Lohn auf dem Papier senken zu müssen eine Erhöhung der Ausbeutungsrate durchsetzen.

Deutsche Gewerkschaften und ihre Antwort

Hier machen sich die geringen Abschlüsse – also faktisch Lohnverzicht – der letzten Jahre und in der Regel extrem lange Laufzeiten von 2 Jahren und mehr dramatisch bemerkbar. Noch dramatischer ist jedoch die Lage für alle Lohnabhängigen, die nicht beschäftigt sind: Die Renten sind mit 5,5 % weniger als die Inflation gestiegen. Gleiches gilt für Sozialleistungen oder den Mindestlohn.

Die Gewerkschaftsbürokratie gibt ebenso wie die Spitzen von SPD und Linkspartei auf diese Entwicklung keine Antwort. Ihr ganzes politisches Repertoire besteht darin, leere Appelle an den Staat und die „Sozialpartner_Innen“ zu richten. Vom Bruch mit der Routine des Tarifrundenrituals, selbst von der allgemeinen und koordinierten Aufkündigung der bestehenden Verträge, wollen sie nichts wissen – schon gar nicht von einem politischen Kampf und politischen Streiks für alle Lohnabhängigen. Und das, obwohl (oder weil?) die allgemeine Preissteigerung die Unzulänglichkeit und Untauglichkeit der sozialpartnerschaftlichen und rein tarifpolitischen Antwort des Gewerkschaftsapparates offenbart. Für die Masse der Arbeiter_Innenklasse führt sie unwillkürlich zu Verzicht und massivem Verlust an Kaufkraft.

Welche Antwort?

Dabei käme den Gewerkschaften eigentlich eine Schlüsselrolle im Kampf gegen die Preissteigerungen zu. Die Millionen organisierten Arbeiter_Innen stellen jene unverzichtbare Kraft dar, die ein Programm durchsetzen kann, das verhindert, dass die Inflation auf die Lohnabhängigen abgewälzt wird. Dazu müssen folgende Forderungen erkämpft werden:

  • Automatische Anpassung der Löhne, Gehälter, Einkommen an die Preissteigerung. Diese muss von Kontrollausschüssen der Beschäftigten, Gewerkschaften, Rentner:innen und Erwerbslosen kontrolliert werden.
  • Finanzierung durch massive Besteuerung von Vermögen und Unternehmensgewinnen. Alle Enteignungen müssen entschädigungslos und unter Arbeiter_Innenkontrolle stattfinden zur Reorganisation der Produktion im Interesse der Massen und ökologischer Nachhaltigkeit.

Tarifkämpfe sollten als Mittel genutzt werden, um massive Entgelterhöhungen möglichst branchenübergreifend durchzusetzen und Kampforgane aufzubauen. Doch sie reichen nicht. Sie müssen als Mittel verstanden werden, alle Lohnabhängigen für einen gemeinsamen politischen Klassenkampf, letztlich für einen politischen Massenstreik zu sammeln. Diese Bewegung muss sich auf Aktionskomitees in den Betrieben, Büros, aber auch in den Stadtteilen und Gemeinden stützen, um auch Arbeitslose und Rentner_Innen, Jugendliche und Studierende zu einer Kampfeinheit zu formieren.

Inflation, Stagnation und Krise gehen Hand in Hand. Ihre Lösung erfordert die Verbindung der Mobilisierung gegen Preissteigerungen mit der Eigentumsfrage und der sozialistischen Umwälzung. In diesem Rahmen erst ergeben Übergangsforderungen wie die gleitende Skala der Löhne (automatische Anpassung an die Inflation) und Arbeiter_Innenkontrolle ihren eigentlichen Sinn – als Schritte im Kampf für eine zukünftige Gesellschaft.




Markiert der Ukrainekrieg wirklich eine Zeitenwende der kapitalistischen Gesellschaft?

Von Jonathan Frühling

Olaf Scholz verkündet in seiner Grundsatzrede am 27. Februar 2022 vor dem Bundestag, dass mit dem Ukrainekrieg eine Zeitenwende unserer Gesellschaft und Wirtschaft eingeleitet wurde. Doch was meint er damit, bzw. was meinen Revolutionär_Innen, wenn sie heute davon sprechen, dass der Kapitalismus in eine neue Phase eingetreten ist?

Grundlagen

Zunächst einmal ein paar grundsätzliche Dinge: Wir leben im Kapitalismus, d.h. einer Wirtschafts- und Gesellschaftsform, in der die Produktionsmittel (Firmen, Grund und Boden und Immobilien) in Privatbesitz sind. Diese Privatbesitzer_Innen lassen Arbeiter_Innen an ihren Produktionsmitteln arbeiten und beuten diese so für ihren Profit aus. Der Staat organisiert und verteidigt dieses System. Seit Konzerne international agieren und die gesamte Welt untereinander aufgeteilt haben, sind wir zudem mit Weltwirtschaftskrisen und Weltkriegen konfrontiert. Die Phase des Imperialismus war angebrochen. Daran hat sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts nichts wesentlich geändert.

Trotzdem ist die Behauptung, dass es Krieg und Krise ja schon immer gegeben habe und sich alles schon wieder verbessern werde, falsch und gefährlich. Natürlich bewegt sich das kapitalistische System in dem hier angedeuteten Rahmen. Jedoch bleibt die Zeit natürlich nicht stehen. Vielmehr unterliegt der Kapitalismus als ein System von extremen Widersprüchen zwangsläufig einer Entwicklung (wenn auch nicht zum Guten). Die Entwicklung in der momentanen Phase soll hier verdeutlicht werden.

Inflation

Inflation bezeichnet die langfristige Steigerung der Preise in den meisten Sektoren der Wirtschaft. Während Inflation in den Halbkolonien schon lange ein Problem ist, schien sie in den imperialistischen Ländern lange Zeit verschwunden zu sein.

Diese Entwicklung ist jedoch endgültig vorbei. Durch die Rezession (Rückgang der Wirtschaftsleistung) zu Beginn der Coronapandemie stieg die Staats- und Unternehmensverschuldung. Das Ausbleiben eines Booms danach sorgt jetzt dafür, dass die Verschuldung die Wirtschaft allgemein hemmt. Zudem sind die Lieferketten nach wie vor beeinträchtigt, weshalb Produkte nicht zum selben Preis wie vor Corona gefertigt werden können. Auch China fällt diesmal, anders als nach der letzten Wirtschaftskrise (2007/8) aufgrund von Coronaausbrüchen und eigenen wirtschaftlichen Problemen als Wachstumsmotor aus. Handelskriege, Protektionismus und Blockbildung (z.B. in Folge des Ukrainekrieges) sorgen für eine De-Globalisierung, welche zusätzlich verschärfend auf die Inflation wirkt.

Wahrscheinlich stehen wir am Anfang einer Stagflation, also einer Kombination von Stagnation (Stopp des Wirtschaftswachstums) und Inflation, welche sich gegenseitig verschärfen. Für die Masse der Bevölkerung führt die Inflation zu einer massiven Senkung ihrer Kaufkraft. Arme Menschen werden davon besonders stark betroffen. Die Folge ist eine massive Verarmung von Millionen von Menschen weltweit.

Der Ukrainekrieg und die politischen und wirtschaftlichen Folgen

Der schwindende Einfluss Russlands in Osteuropa durch die Nato-Osterweiterung und den pro-westlichen Putsch in der Ukraine haben den russischen Imperialismus dazu motiviert, mit militärischen Mitteln das Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten zu verändern. Aus dem schnellen Sieg wurde jedoch nichts und es entwickelte sich ein verlustreicher Krieg für beide Seiten. Zwar kämpfen keine Nato-Soldat_Innen in der Ukraine, allerdings ist die Nato mit der Lieferung von Waffen im Wert von über 100 Mrd. US$, der Ausbildung der ukrainischen Armee und der Bereitstellung von Satellitenbildern und Geheimdienstinformationen und der Verhängung tiefgreifender Sanktionen längst zu einer kriegführenden Partei geworden.

Die Sanktionen haben weitreichende Folgen für beide imperialistische Blöcke. Zum einen heizen sie die Inflation weiter an, da für beide Seiten Rohstoffe und Produkte ausfallen, die nicht zum selben Preis ersetzt werden können. Zum anderen findet eine wirtschaftliche Entflechtung zwischen den beiden Blöcken statt. Westliche Firmen stellen ihr Russlandgeschäft ein und umgekehrt. Die Länder werden dadurch wirtschaftlich unabhängiger voneinander. Das wiederum macht eine direkte militärische Konfrontation in Zukunft wahrscheinlicher, da die wirtschaftlichen Kosten eines solchen Kampfes damit leichter für die kriegführenden Länder zu kompensieren sind.

Auch sicherheitspolitisch hat der Krieg Europa in Bewegung gesetzt. So wollen die vormals blockfreien Staaten Finnland und Schweden nun im Eilverfahren der Nato beitreten. Der EU- und Nato-Beitritt der Ukraine wurde zwar schon lange diskutiert, gilt nach einem ukrainischen Sieg nun aber als sehr sicher.

Doch nicht nur in Europa hat der Ukrainekrieg die Blockbildung verschärft. Durch die Isolation Russlands versucht beispielsweise Kasachstan (ein traditioneller Verbündeter Russlands) unabhängiger von Russland zu werden, weil das Land Angst hat, durch die enge Verbindung mit Russland selbst isoliert zu werden. Indien (ein Feind Chinas und deswegen in den letzten Jahren immer engerer Verbündeter der USA, aber traditionell auch ein Partner Russlands) wird von den USA gedrängt, gegen Russland Position zu beziehen.

Umweltkrise – Point of no return

Besonders prominentes Thema der vielfältigen Umweltkrisen ist natürlich die Klimaerwärmung. Trotz diverser Lippenbekenntnisse steigen jedoch die CO2-Emissionen und verschärfen das Problem. Der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und Atomkraft rückt durch den Ukrainekrieg in Europa in noch weitere Ferne. In der Folge werden Ökosysteme zerstört und Land aufgrund von Wassermangel unfruchtbar. Verarmung, Gewalt um die verbleibenden Quellen und die Destabilisierung ganzer Regionen hat deshalb (vor allem in Afrika) massiv zugenommen.

Auch das Artensterben erreicht riesige Ausmaße, die Abholzung von Wald, Umweltverschmutzung, die Störung des Nitratkreislaufes, Überfischung usw. usw. haben bedrohliche Ausmaße angenommen. Das alles ist zwar nicht neu, allerdings werden mittlerweile Millionen Menschen davon direkt betroffen, was durchaus eine neue Etappe in der Entwicklung des Problems darstellt.

Fazit

Es lässt sich darüber streiten, ob der Krieg in der Ukraine eine Zeitenwende markiert. Jedoch ist der Kapitalismus eindeutig in eine neue, noch krisenhaftere Phase eingetreten. Zwar haben viele Entwicklungen schon vorher ihren Anfang genommen, der Ukrainekrieg hat sie jedoch verschnellert und verstärkt. Das lässt sich vor allem über die Blockbildung sagen, die manche Bündnisse festigt, andere zerstört, wieder andere neu bildet. Das geht auch mit einer massiven, weltweiten Aufrüstung einher, bei der das 100 Mrd.Paket Deutschlands und sein Ziel, 2 % der Wirtschaftsleistung für das Militär auszugeben, stellvertretend gesehen werden sollte.

(Handels-)Kriege und die immer noch ungelöste Coronakrise heizen die Inflation weiter an und zerstören die Lebensgrundlage von Millionen von Menschen. Viele Staaten, vor allem Halbkolonien, werden dadurch extrem instabil, wie sich z.B. am Libanon oder an Sri Lanka zeigt. Zudem werden die wirtschaftlichen Probleme des Kapitalismus immer schwerwiegender und die Mittel, diese zu bekämpfen immer unbrauchbarer. Die Diskussion zwischen niedrigen Leitzinsen (Zinsen, zu denen sich die Banken bei den Zentralbanken Geld leihen können), welche die Inflation anheizen, und hohen Leitzinsen, die zu einer Rezession führen können, zeigen an, wie eng der Spielraum für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation im Kapitalismus ist. Zudem wird die irreparable Zerstörung unserer Umwelt durch die kapitalistische Wirtschaft immer augenscheinlicher.

Das Alles macht eine revolutionäre Lösung auf all diese Probleme notwendig. Das Handeln der Zentralbanken, die Beschlüsse der UN-Klimagipfel oder die kapitalistische „Krisenlösung“ haben sich längst als eine Fortsetzung der Katastrophen entpuppt. Wir müssen international gegen das Kapital und ihre Regierungen vorgehen. Wie kann das besser gehen, als mit der Klasse der Lohnabhängigen, die überall dieselbe Unterdrückung erleidet, aber auch überall die Macht hat, diese zu bekämpfen? Wieso lokale symbolische Aktionen machen, wenn heute schon weltweit Arbeiter_Innen demonstrieren und streiken, um die Krise in ihrem Interesse zu lösen? Nur eine international geeinte Arbeiter_Innenbewegung, die lokale Kämpfe mit sozialistischem Internationalismus verbindet, hat die Macht etwas zu verändern!




Frauen – Verliererinnen der Pandemie

Lucretia Ramunkel (REVOLUTION, Österreich)/Katharina Wagner (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland)

Seit Beginn der Pandemie hat sich einiges geändert, vor allem für Frauen und zwar nicht zum Besseren.

Die globale Wirtschaftskrise, die sich auch schon vor der Pandemie abzeichnete, wurde durch sie deutlich verstärkt und synchronisiert. Auch wenn in den imperialistischen Nationen deren Auswirkungen teilweise mithilfe von Konjunkturpaketen, Kurzarbeiter:innengeld oder Corona-Hilfen abgefedert werden konnten, so sieht es in halbkolonialen Ländern deutlich anders aus. In allen Ländern führten die Maßnahmen zur massiven Zunahme der Verschuldung. Gleichzeitig ging die Entwicklung mit einer Zuspitzung der innerimperialistischen Konflikte einher.

Die Pandemie hat in vielerlei Hinsicht das Leben für geschlechtlich unterdrückte Personen verschlechtert, etwa durch den Verlust von Verdienstmöglichkeiten, den Anstieg an sexueller Gewalt und die erhöhte Belastung durch die Sorgearbeit, um nur einige zu nennen.

Arbeitslosigkeit und Einkommen

Schon ein Blick auf die Entwicklung von Arbeitslosigkeit und Einkommen verdeutlicht, wie viel stärker Frauen von Krise und Pandemie betroffen sind. Einem UN-Bericht aus dem Jahr 2021 (https://www.un.org/depts/german/millennium/SDG%20Bericht%202021.pdf) zufolge stiegen 2020 die Arbeitslosenzahlen um 33 Millionen auf 220 Millionen. Weitere 81 Millionen schieden aus dem Arbeitsmarkt aus. 5 % aller beschäftigten Frauen verloren ihren Arbeitsplatz (gegenüber 3,9 % der Männer).

Die Einbußen konnten teils in imperialistischen Nationen durch Kurzarbeiter:innengeld abgemildert und somit einige Entlassungen auch verhindert werden. Jedoch sieht das für den globalen Süden anders aus. So verloren in Indien 47 % aller Frauen während des ersten Lockdowns im Jahr 2020 ihre Jobs (während nur 7 % der männlichen Arbeitskräfte dasselbe Schicksal teilen) (Quelle: https://www.thehindu.com/news/national/tamil-nadu/more-women-lost-jobs-in-the-pandemic-in-india-compared-to-men-says-expert/article38417389.ece).

In vielen Ländern haben die Menschen keinen Zugang zu staatlichen Hilfen. Frauen sind auch überdurchschnittlich häufig von Entlassungen betroffen, da ein großer Teil im sogenannten informellen Sektor tätig ist. Das bedeutet, sie haben keinerlei Anspruch auf Entlohnung im Falle von Krankheit oder dem Verlust ihres Jobs. So arbeiten z. B. im südlichen Afrika rund 92 % aller weiblichen Erwerbstätigen ohne jegliche Absicherungsmaßnahmen wie Kündigungsschutz oder Lohnfortzahlung bei Krankheit.

Ökonomische Folgen

Ungleiche Bezahlung der Geschlechter ist kein Symptom der Pandemie. Jedoch wird der Einkommensunterschied durch diese vergrößert und damit die ökonomische Abhängigkeit in Partnerschaften. Frauen sind vor allem in Sektoren überrepräsentiert, die besonders hart von der Pandemie getroffen wurden und traditionell schlechter bezahlt werden: Gastgewerbe, Einzelhandel, Tourismusbranche. Außerdem sind sie im sogenannten informellen Sektor und in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig. So haben sie in informellen Beschäftigungsverhältnissen während des ersten Monats der Pandemie 70 % ihres Einkommens verloren. Zudem kommt, dass viele Frauen teilzeit- oder in Mini-Jobs beschäftigt sind, da sie sich um den Haushalt und die Kinder kümmern müssen. Selbst wenn man das Glück hat, in einem Land zu leben, das die Einkommensausfälle abmildert, so haben viele Frauen keinen Anspruch auf Gelder oder bekommen sehr viel weniger als Männer. So hat in Deutschland beispielsweise nur jemand Anrecht auf Kurzarbeiter:innengeld, der/die in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, was bei Leuten nicht zutrifft, die im informellen Sektor arbeiten. In Europa sind mehr als 30 % der Frauen teilzeitbeschäftigt, was bedeutet, dass sie weniger Arbeit„nehmer“:innenrechte, Gesundheitsschutz und Zugang zu grundlegenden Leistungen genießen.

Auch Schließungen von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen wirken sich negativ auf das Einkommen von Frauen aus. Die Gesellschaft, die auf einer traditionellen Rollenverteilung beruht und Politik für die klassische Kernfamilie macht, bringt eine massive Mehrbelastung für die Frau während der Pandemie mit sich. So sind es Frauen, die vor allem die Kinderbetreuung, das Homeschooling und die Haushaltstätigkeiten während der Ausgangsbeschränkungen übernommen haben. Die Mehrbelastung durch die Sorgearbeit führte in vielen Fällen dazu, dass es ihnen nicht mehr möglich war, ihrer Lohnarbeit in vollem Umfang nachzugehen. Auf Grund der geringeren Lohnarbeitszeit und Sozialleistungen, die auf das Kernfamilienmodell ausgelegt sind, sind überdurchschnittlich häufig Frauen von Altersarmut bedroht.

Kein Wunder also, dass die Einkommensunterschiede zwischen den Geschlechtern während der Pandemie weiter massiv zugenommen haben. Laut WEF (Weltwirtschaftsforum) verdienen Frauen weltweit durchschnittlich nur 68 % dessen, was Männer für dieselbe Arbeit erhalten würden. In Ländern mit der geringsten Kaufkraftparität sind es sogar nur 40 %. Und auch hier hat die Pandemie die Situation für Frauen deutlich verschlechtert. Erste Untersuchungen deuten bereits darauf hin, dass das Lohn- und Gehaltsgefälle sich im Zuge der Pandemie um 5 % vergrößert hat.

Gesundheitsbereich und Care-Arbeit

Auch wenn Frauen ihre Erwerbsarbeit nicht verlieren, ist das ein zweifelhaftes Glück. Bekanntlich stellt der Sozial- und Pflegebereich einen wichtigen Beschäftigungssektor für Frauen dar. Weltweit stellen sie etwa 70 % des Personals in diesen Bereichen. Da sie es meistens sind, die sich bezahlt oder unbezahlt um Kranke und Pflegebedürftige kümmern, sind sie dem Virus stärker ausgesetzt. Die Mängel, die schon vor der Pandemie im Pflegebereich sichtbar waren, haben sich durch ihr Andauern und die unzureichende Zuwendung seitens der Politik massiv verschärft. Die schlechte Bezahlung im Pflegebereich und die fehlende Anerkennung hatte auch schon vor der Pandemie einen Fachkräftemangel nach sich gezogen. Durch die psychische und physische Belastung, der ständigen Angst vor einer Ansteckung und der schwierigen Vereinbarkeit von Beruf und Familie haben viele Pflegekräfte in den letzten Pandemiejahren gekündigt. Hinzu kommt die Anfeindung durch Coronaleugner:innen und Impfgegner:innen. So denkt in Deutschland mittlerweile jede 3. Person von den 1,8 Millionen Menschen, die in der Pflege beschäftigt sind, über einen Berufswechsel nach.

Da ein großer Teil der Kapazitäten im Gesundheitsbereich mit der Bekämpfung von Covid-19 ausgelastet ist, ist in vielen Teilen der Welt der Zugang zu reproduktiver medizinischer Versorgung für Frauen noch weiter eingeschränkt. Ein Anstieg der Mütter- und Kindersterblichkeit ist klar zu erkennen. Dies sieht man vor allem in halbkolonialen Ländern. In Bangladesch, Nigeria und Südafrika wurde 2021 ein Anstieg von 30 % bei der Sterblichkeit von Müttern und Neugeborenen verzeichnet. Auch die Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen haben sich vielerorts aufgrund mangelnder Ausstattung und personeller Kapazitäten verringert. Durch Lockdowns sind Angebote dafür wie für Familienplanung deutlich eingeschränkt. Seit Beginn der Pandemie und damit einhergehenden Schließungen von Schulen und Anlaufstellen ist der Zugang zu Aufklärung, Verhütungsmitteln und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen deutlich eingeschränkt. In Gauteng beispielsweise, Südafrikas bevölkerungsreichster Provinz, ist seit Beginn der Pandemie die Anzahl der Kinder, die von jugendlichen Müttern geboren wurden, um 60 % gestiegen.

Gewalt gegen Frauen

Verdienstausfälle und dadurch geschaffene existenzielle Sorgen sowie Quarantäne und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit haben einen massiven Anstieg an häuslicher Gewalt mit sich gebracht. Allein in der EU wurde in den ersten Monaten der Pandemie eine Zunahme von Notrufen wegen häuslicher Gewalt um 60 % registriert. Die ökonomische Abhängigkeit und eingeschränkte Bewegungsfreiheit erschwert es davon Betroffenen, dem zu entkommen. Auch die Angebote von Schutzräumen, welche trotz der Istanbul-Konvention schon vor der Pandemie unzureichend waren, wurden in vielen Ländern eingeschränkt oder ganz gestrichen.

Mit dem Anstieg häuslicher und sexistischer Gewalt geht auch einer an Femiziden einher. In Mexiko beispielsweise wurden 2021 922 Morde an Frauen als Femizid eingestuft. 2020 waren es 893 Frauen. Auch Schulschließungen ziehen drastische Folgen mit sich. Denn das Risiko, dadurch geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt zu , steigt dramatisch. In Somalia beispielsweise nahm durch die Pandemie die Zahl der weiblichen Genitalverstümmelungen um 31 % zu(Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen) erlitten haben.

Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung

Die Ursachen für all diese Verschlechterungen müssen im Kontext der kapitalistischen Produktionsweise und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung betrachtet werden, bei der die Frau auf die Tätigkeit in der sogenannten Reproduktionsarbeit fixiert ist, auf Aufgaben zur Erhaltung des unmittelbaren Lebens wie Kindererziehung, Pflege von Familienangehörigen oder Hausarbeit im privaten Umfeld. In den allermeisten Fällen handelt es sich hierbei um unbezahlte und aus Sicht des Kapitals unproduktive Arbeit, da sie keinen Mehrwert generiert. Demgegenüber übernimmt der Mann die produktiven Arbeiten. Mit Entstehung der bürgerlichen Familie als Norm, welche sowohl ideologisch als auch repressiv gegenüber anderen modernen Formen durchgesetzt und verteidigt wird, reproduziert sich die eben angesprochene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bis heute weiter.

Der Kapitalismus hat sich diese lange vorher existierende zunutze gemacht, indem der Mann einen sogenannten „Familienlohn“ erhält und die Frau quasi als „Zuverdienerin“ das familiäre Haushaltsvermögen aufstockt. Dies erklärt den weiterhin herrschenden Lohnunterschied (Gender Pay Gap) zwischen Männern und Frauen. Global betrachtet stimmt dieses Modell schon lange nicht mehr mit der Realität überein. In vielen Fällen ist nämlich die Frau mittlerweile Hauptverdienerin und ein Lohn oft nicht ausreichend, um das Überleben der Familie zu sichern. Dennoch trägt auch dieser Umstand weiterhin zur Festigung der bürgerlichen Familie und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung bei.

Reserve

Denn Frauen werden von Kapitalist:innen als sogenannte Reservearmee gesehen, was auch ihre stärkere Betroffenheit in Krisenzeiten erklärt. Sie besteht aus Menschen, die in konjunkturell starken Phasen eingestellt und in Krisenzeiten wieder schnell entlassen werden können. Dann wird auch gerne die Reproduktionsarbeit aus Kostengründen zurück ins private Umfeld und somit unentgeltlich verlagert. Dadurch entsteht wiederum eine stärkere Doppelbelastung aus Erwerbs- und Sorgearbeit für Frauen. Einher geht auch eine zunehmende Abhängigkeit vom Partner, was es oftmals unmöglich macht, diesen Rollen zu entkommen. Auch in der Pandemie ist dieser Rollback deutlich zu sehen.

Diese veralteten Rollenbilder reproduzieren und verstärken eine Spaltung zwischen Mann und Frau zugunsten des Kapitals. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Frauen härter von den Folgen der Pandemie betroffen sind. Deshalb darf ihre Lage nicht losgelöst vom kapitalistischen System betrachtet werden, in dem wir uns befinden. Ein System, das von der Ausbeutung profitiert, kann niemals die Lösung für eben jene Problematik liefern. Denn für Marxist:innen handelt es sich beim Kapitalismus nicht nur um ein Produktions-, sondern ein Gesellschaftssystem, welches alle Lebensbereiche durchdringt und unser Denken und Handeln bestimmt. Das ist klar erkennbar in den Geschlechterrollen, die uns zugeschrieben, uns anerzogen werden und sich dadurch weiter reproduzieren.

Wofür kämpfen?

Da in einem System, das auf Ausbeutung beruht, keine Geschlechtergerechtigkeit möglich ist muss der Kampf um Verbesserungen als Teil eines umfassenderen um vollständige Befreiung verstanden werden. Er muss international organisiert sein und mit dem gegen den Kapitalismus verknüpft werden. Selbst wenn sich die Lage der Frau von Land zu Land deutlich unterscheidet, müssen einige Forderungen international aufgestellt werden.

Wir fordern gleiche Löhne für gleichwertige Arbeit und einen Mindestlohn, der zum Überleben reicht. Die Abschaffung des informellen Sektors muss auf die Tagesordnung gesetzt werden. Solche und andere prekäre Arbeitsverhältnisse müssen durch Einführung von Tariflöhnen und Kollektivverträgen verschwinden, die Beschäftigten voll in solche „Normalarbeitsverhältnisse“ integriert werden. Die Kontrolle über die Umsetzung dieser Maßnahmen und die Sicherung der Gehälter muss in der Hand der Arbeiter:innenklasse und der Gewerkschaften liegen. In einer Pandemie wie dieser ist es auch wichtig, einen Entlassungsstopp und bei Schließungen ganzer Branchen die Auszahlung voller Löhne zu fordern. Außerdem brauchen wir einen weitläufigen Ausbau des Gesundheitssystems, der Altersvorsorge, von Kitas und Schulen als Teil eines Programms gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Kontrolle der Lohnabhängigen, bezahlt aus den Profiten der Unternehmen.

Um Frauen vor psychischer und physischer Gewalt zu schützen, bedarf es dringend des Ausbaus von Schutzräumen und von Selbstverteidigungsstrukturen. Wir fordern ebenso eine rechtliche Gleichheit und ein Recht auf Scheidung sowie auf sichere, durch Krankenkassen bzw. den Staat bezahlte Abtreibung und körperliche Selbstbestimmung. Auch der kostenlose Zugang zu Verhütungsmitteln, Aufklärung und medizinischer Versorgung muss gewährleistet sein.

Der Kampf gegen die Folgen von Pandemie und Krise, von denen lohnabhängige Frauen besonders hart getroffen werden, hat aber auch zu vielen Abwehrkämpfen und Bewegungen geführt, wo Arbeiterinnen an vorderster Front standen. Diese zeigen, dass Frauen nicht in erster Linie Opfer und Betroffene, sondern vor allem Kämpferinnen sind. Die Frauen*streiks der letzten Jahre, die Bewegungen im Gesundheitssektor und Frauen, die in Afghanistan unter extremen Bedingungen ihre Rechte verteidigen – sie alle zeigen, dass vor unseren Augen auch die Basis für eine neue internationale proletarische Frauenbewegung entsteht.

Lasst uns gemeinsam für die Abschaffung des Kapitalismus und für eine vollständige Frauenbefreiung kämpfen! Für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung!




Solidarität mit den Arbeiter_Innen und Jugendlichen in Kasachstan!

Artikel von der Gruppe Arbeiter_innenmacht zu den Protesten in Kasachstan

Seit Jahresbeginn erschüttern Massenproteste das Land. Sie begannen am Sonntag, den 2. Januar, in Schangaösen inmitten der westlichen Region Mangghystau, das das Zentrum der für die Wirtschaft des Lands entscheidenden Öl- und Gasindustrie bildet. Getragen wurden die Aktionen und die Bewegung von den Beschäftigten (und zehntausenden Arbeitslosen) dieser Industrie.

Bereits am 3. Januar wurde die gesamte Region Mangghystau von einem Generalstreik erfasst, der auch auf die Nachbarregion Atyrau übergriff. Innerhalb weniger Stunden und Tage inspirierten und entfachten sie Massenproteste in anderen städtischen Zentren  wie Almaty (ehemals Werny, danach Alma-Ata), der größten Stadt des Landes, und selbst in der neuen Hauptstadt Nur-Sultan (vormals Astana). Diese nahmen die Form lokaler spontaner Aufstände an.

Unmittelbar entzündet hat sich die Massenbewegung, die sich, ähnlich wie die Arabischen Revolutionen, rasch zu einem beginnenden Volksaufstand entwickelten, an der Erhöhung der Gaspreise zum Jahreswechsel, da deren bis dahin geltende Deckelung aufgehoben wurde. Die Ausgaben für Gas, das von der Mehrheit der Bevölkerung für Autos, Heizung und Kochen verwendet wird, verdoppelten sich praktisch über Nacht.

Die Bewegung entwickelt sich innerhalb kurzer Zeit von Streiks und Protesten gegen die drastischen Erhöhungen der Preise zu einer gegen die autoritäre kapitalistische Regierung. Von Beginn an spielten die Lohnabhängigen der zentralen Industrien eine Schlüsselrolle im Kampf, letztlich das soziale und ökonomische Rückgrat der Bewegung. So berichtet die Sozialistische Bewegung Kasachstans nicht nur sehr detailliert über die Ausweitung der Streikbewegung in einer Erklärung zur Lage im Lande (http://socialismkz.info/?p=26802; englische Übersetzung auf: https://anticapitalistresistance.org/russian-hands-off-kazakhstan/), sondern auch über eine Massenversammlung der ArbeiterInnen, wo erstmals die Forderung nach dem Rücktritt des Präsidenten erhoben wurde:

„In Schangaösen selbst formulierten die ArbeiterInnen auf ihrer unbefristeten Kundgebung neue Forderungen – den Rücktritt des derzeitigen Präsidenten und aller Nasarbajew-Beamten, die Wiederherstellung der Verfassung von 1993 und der damit verbundenen Freiheit, Parteien und Gewerkschaften zu gründen, die Freilassung der politischen Gefangenen und die Beendigung der Unterdrückung. Der Rat der Aksakals wurde als informelles Machtorgan eingerichtet.“ (ebda.)

Zuckerbrot und Peitsche

Die Staatsführung unter dem seit zwei Jahren amtierenden Präsidenten Tokajew reagierte auf die Protestbewegung mit Zuckerbrot und Peitsche, mit Zugeständnissen und brutaler Repression.

Um die Bevölkerung zu beschwichtigen, wurden die Erhöhungen der Gaspreise schon zurückgenommen. Außerdem traten die Regierung und bald danach auch der Vorsitzende des Sicherheitsrates, der ehemalige Präsident Nursultan Nasarbajew zurück. Diese Veränderungen sind jedoch rein kosmetischer Art. Nachdem der Regierungschef Askar Mamin abgedankt hat, werden die Amtsgeschäfte von dessen ehemaligem Stellvertreter  Alichan Smailow weitergeführt. Nasarbajew, der das Land rund 30 Jahre autokratisch regiert hat und weiter Vorsitzender der regierenden Partei Nur Otan (Licht des Vaterlandes) ist, die über eine Dreiviertelmehrheit im Parlament verfügt (76 von 98 Sitzen), trat zwar vom Amt des Vorsitzenden des Sicherheitsrates, einer Art Nebenpräsident, zurück. Diese Funktion übernahm nun jedoch auch sein Nachfolger Tokajew.

Vor allem aber reagierte der Präsident auf die anhaltenden Massenproteste, auf die Besetzung öffentlicher Gebäude und die drohende Entwicklung eines Aufstands zum Sturz der herrschenden Elite auch mit massiver Repression.

Die Proteste in Städten wie Almaty, die von Beginn an viel mehr den Charakter von Emeuten hatten, wurden brutal unterdrückt. Mehrere Dutzend Menschen wurden getötet. Die Regierung selbst spricht davon, dass bis zum 6. Januar 26 „bewaffnete Kriminelle“ liquidiert worden seien. Mehr als 3 000 wurden festgenommen, Tausende verletzt.

Damit gibt das Regime nicht nur selbst zu, dass es über Leichen geht, um seine Macht, seine „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen. Es tut auch, was alle kapitalistischen Regierungen, alle repressiven Regime anstellen, wenn ihre Macht gefährdet ist: Diffamierung der Massenbewegung als „Kriminelle“, „TerroristInnen“ und legitimiert damit die Verhängung des Ausnahmestandes (vorerst bis 19. Januar), den Einsatz von Schusswaffen gegen Protestierende, die Abschaltung von Messengerdiensten wie Signal und WhatsApp und von Internetseiten. Die sog. Antiterroreinsätze sollen laut Präsident Tokajew bis zur „kompletten Auslöschung der Kämpfer“ dauern. Um diese Operation auch mit aller Brutalität durchziehen zu können, ruft er die große imperialistische Schutzmacht Russland zu Hilfe. Und die kommt prompt mit 3000 SoldatInnen, die im Rahmen der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS) helfen sollen, die „verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherzustellen. Sie sollen Regierungsgebäude und kritische Infrastruktur schützen und haben auch das Recht, ihre Schusswaffen einzusetzen.

Ursachen der politischen Krise

Angesichts dieser Zusammenballung der Kräfte des Regimes, seines Staatsapparates und seiner Verbündeten droht eine brutale Unterdrückung der Massenbewegung. Dies wäre nicht das erste Mal in der Geschichte des Landes. Über Jahrzehnte regierte Nasarbajew mit eiserner Hand. Die politische Macht wurde faktisch bei einer kleinen Oligarchie konzentriert, die das Wirtschaftsleben des Landes kontrolliert, darunter die reichen Öl- und Gasfelder, große strategische, wichtige weitere Rohstoffvorkommen wie auch den Finanzsektor.

Seine Macht stützt das Regime auf die Kontrolle des Staatsapparates, die Staatspartei Nur Otan, die faktische Ausschaltung unabhängiger Medien und jeder nennenswerten Opposition. Selbst die sog. Kommunistische Partei wurde 2015 gerichtlich verboten.

Neben der Repression stützte sich die kasachische Pseudodemokratie aber auch jahrelang auf ein Wachstum der Wirtschaft. Der Öl- und Gasexport bildet bis heute ihr Rückgrat. Hinzu gesellt sich der Bergbau. Kasachstan ist mittlerweile der größte Uranproduzent der Welt und verfügt über weitere wichtige Rohstoffvorkommen (Mangan, Eisen, Chrom und Kohle).

Über Jahre expandierte die kasachische Ökonomie und galt als wenn auch autoritäres Wirtschaftswunderland unter den ehemaligen Sowjetrepubliken, was nicht nur den Ausbau wirtschaftlicher, politischer und militärischer Beziehungen zu Russland und China zur Folge hatte, sondern auch große westliche InvestorInnen gerade in der Öl- und Gasindustrie anzog (z. B. Exxon, ENI). Letztlich stellt das Land jedoch einen wichtigen halbkolonialen Verbündeten Russlands dar, das keinesfalls einen Sturz dieses Regimes zulassen kann.

Doch die globale Finanzkrise traf das Land schon recht hart, weil Kasachstan auch ein im Vergleich zu anderen halbkolonialen Ländern gewichtiges Finanzzentrum in Almaty hervorbrachte. 2014/15 machten sich jedoch vor allem die sinkenden Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt bemerkbar. Die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts brachen ein. Das Land macht im Grunde eine Phase der wirtschaftlichen Stagnation seit Mitte der 2010er Jahre durch, während der Pandemie und Krise schrumpfte das BIP.

Wie in vielen Ländern, deren Staatseinnahmen wesentlich aus Rohstoffexporten und der Grundrente stammen, ging die Entwicklung des kasachischen Kapitalismus mit einer extremen Form der sozialen Ungleichheit einher. Die aus der ehemaligen Staatsbürokratie stammende, neue Schicht von KapitalistInnen monopolisierte faktisch den Reichtum des Landes. Jahrelang ging diese Bereicherung jedoch auch mit Investitionen in andere Sektoren (z. B. Ausbau der Infrastruktur, von Verkehrswegen) einher und einer Alimentierung der Massen, deren Lebenshaltungskosten z. B. über die Deckelung der Gaspreise relativ gering gehalten wurden.

Doch seit Jahren wird dies für den kasachischen Kapitalismus immer schwieriger aufrechtzuerhalten. Die Herrschenden wollen keinen Cent an die Armen abgeben. Im Gegenteil, sie drängen im Chor mit westlichen WirtschaftsexpertInnen darauf, deren „Privilegien“ (!) zu streichen und die Wirtschaft weiter zu liberalisieren. Dafür versprechen sie Investitionen in der Öl- und Gasindustrie oder im Bergbau, um veraltete Anlagen zu erneuern oder neue Abbaustätten zu erschließen.

Besonders drastisch stellt sich daher die soziale Ungleichheit im Land gerade dort dar, wo der Reichtum geschaffen, produziert wird. Während sich die ChefInnen der kasachischen Energie- und Bergbauunternehmen und die Staatsführung regelrechte Paläste bauen lassen, schuften die Beschäftigten auf den Öl- und Gasfeldern – und das oft unter lebensgefährlichen Bedingungen. Viele warten oft monatelang auf ihre Löhne, zehntausende ArbeiterInnen in der Öl- und Gasindustrie sind mittlerweile arbeitslos.

Dass die Bewegung in den Regionen Westkasachstans ihren Ausgang in Form einer gigantischen Streikwelle nahm, ist kein Zufall. Schon 2011 kam es zu einer riesigen Streikwelle der ÖlarbeiterInnen, die blutig niedergeschlagen wurde. Dabei kamen Menschenrechtsorganisationen zufolge 70 Streikende ums Leben, 500 wurden zum Teil schwer verletzt. Doch trotz dieser extremen Repression hielten sich unabhängige, illegale oder halblegale Strukturen der ArbeiterInnenklasse in diesen Regionen. Aufgrund drohender Entlassungen, der Nichtauszahlung von Löhnen nahmen auch in den letzten Monaten des Jahres 2021 Streiks und Arbeitskämpfe in der Öl- und Gasindustrie zu.

Daraus erklären sich auch die Unterschiede zwischen der Bewegung in den industriellen Zentren in Westkasachstan, die von den Lohnabhängigen getragen werden und die sich des Streiks – und damit kollektiven Aktionen der ArbeiterInnenklasse – als Hauptkampfmittel bedienen, und an anderen Orten. Von größter Bedeutung ist jedoch, dass deren Forderungen mittlerweile längst über betriebliche und gewerkschaftliche Fragen hinausgegangen sind und auch einen politischen Charakter – Rücktritt des Präsidenten, Freilassung der politischen Gefangenen – angenommen haben.

Zum Teil schwappen diese auch in andere Regionen über. In anderen städtischen Zentren entwickelte sich die Bewegung viel stärker als eine Art Straßenaufstand, als Aufruhr  verarmter Schichten, von Jugendlichen, aber auch Lohnabhängigen, die aus ländlichen Regionen in die Zentren migrierten. Diese Wut und Empörung nimmt gerade, weil diese Schichten weniger organisiert sind, auch einen politisch unklareren, diffusen Charakter an. Dennoch ist diese Bewegung auch ein genuiner Ausdruck der Massenempörung gegen ein despotisches, autoritäres kapitalistisches Regime. Dass solche Emeuten auch mit Formen des Vanadalismus einhergehen, dass sich auch deklassierte, unpolitische Elemente oder gar staatliche ProvokateurInnen „anschließen“, ist nichts Ungewöhnliches für solche scheinbar spontanen, in Wirklichkeit jedoch sich schon lange vorbereitenden Eruptionen des Volkszorns. Entscheidend ist hier, ob diese Wut zu einer organisierten Kraft werden kann – und das hängt vor allem davon ab, ob die ArbeiterInnenklasse, allen voran die Öl- und GasarbeiterInnen, dieser eine politische Führung geben können.

Blutige Abrechnung droht

Die wirklichen „Kriminellen“ sind jedoch nicht auf den Straßen von Nur-Sultan oder anderen städtischen Zentren zu finden, sondern in Palästen der Reichen und BürokratInnen, in den Generalstäben der Armee und Repressionskräften, die eine blutige Abrechnung mit den Aufständischen und vor allem auch mit den streikenden und kämpfenden ArbeiterInnen vorbereiten.

Leute wie Nasarbajew und Tokajew haben sich längst entschieden, wie sie die Krise zu lösen gedenken. Der Präsident spricht von 20.000 „Banditen“, die auszumerzen gelte, Armee und Polizei wurde der Schießbefehl erteilt. Die Herrschenden wollen die Bewegung in Blut ertränken – und zwar nicht nur den Aufruhr in den Städten, sondern auch, ja vor allem die Streiks und Strukturen der ArbeiterInnenklasse in den Industrieregionen. Schließlich wissen sie nur zu gut, dass sich hier eine soziale Kraft, eine Klassenbewegung formiert, die ihnen wirklich gefährlich werden kann.

Die ArbeiterInnen der großen Industrieregionen und andere Schichten der Lohnabhängigen (z. B. TransportarbeiterInnen) können das Land lahmlegen. Sie können so auch die Repressionsmaschinerie zum Stoppen bringen – und möglicherweise auch untere Teile des Repressionsapparates, einfache SoldatInnen zum Wechsel der Seiten verlassen oder paralysieren. Auch diese Gefahr drängt das Regime zum Handeln und erklärt auch, warum es russische Truppen angefordert hat, deren bloße Anwesenheit auch die Disziplin potentiell „unsicherer“ kasachischer Repressionskräfte, von PolizistInnen oder SoldatInnen, sicherstellen soll.

Daher werden die nächsten Tage auch für die Bewegung von größter Bedeutung sein. Um die Repressionsmaschinerie zu stoppen, braucht es einen landesweiten Generalstreik. Dazu müssen wie in den Regionen der Öl- und Gasindustrie Vollversammlungen der Beschäftigten, aber auch in den Wohnvierteln organisiert und ArbeiterInnenkomitees gewählt werden, die den Kampf organisieren und zu einem Aktionsrat auf kommunaler, regionaler und landesweiter Ebene verbunden werden.

Angesichts der Repression müssen sie Selbstverteidigungsstrukturen bilden, die diesen Räten untergeordnet und in der Lage sind, die bisher unorganisierten Emeuten in Städten wie Nur-Sultan durch organisierte, in den Betrieben und Wohnvierteln verankerte Strukturen zu lenken.

Zugleich braucht es unter den einfachen SoldatInnen, den unteren Rängen der Polizei eine Agitation, sich dem Einsatz gegen die Bevölkerung zu verweigern, eigene Ausschüsse zu wählen und dem mörderischen Regime die Gefolgschaft aufzukünden. Die kasachischen und russischen Repressionskräfte müssen aus den Städten und ArbeiterInnenbezirken zurückgezogen werden. Die OVKS-Truppen sollen das Land verlassen, die Gefangenen der letzten Tage müssen auf freien Fuß gesetzt werden.

Ein solcher Generalstreik und eine Bewegung, die ihn stützt, würde zugleich unwillkürlich die Machtfrage in Kasachstan aufwerfen.

Das bedeutet auch, dass die Streik- und Massenbewegung und deren Koordinierungsorgane selbst zu einem alternativen Machtzentrum werden müssen, das das oligarchische Regime stürzen und durch eine ArbeiterInnenregierung ersetzen kann – eine Regierung, die nicht nur die despotische Pseudodemokratie abschafft, sondern auch die kapitalistische Klasse enteignet, in deren Interesse dieses Regime regiert. Dazu bedarf es der Enteignung der großen Industrie, der Öl- und Gasfelder, der Bergwerke, der Finanzinstitutionen unter ArbeiterInnenkontrolle und der Errichtung eines demokratischen Notplans zur Reorganisation der Wirtschaft und zur Sicherung der Grundbedürfnisse der Massen.

Nein zu jeder imperialistischen Einmischung! Internationale Solidarität jetzt!

Die Massenbewegung rückte Kasachstan auch ins Zentrum einer Weltöffentlichkeit, die die Verbrechen des Regimes Nasarbajew und seines Nachfolgers Tokajew über Jahrzehnte faktisch totgeschwiegen hatte. Was bedeutet schon die Unterdrückung und Ermordung von Streikenden, wenn dafür Profite reichlich in die Taschen, kasachischer, russischer, chinesischer, aber auch US-amerikanischer, italienischer, deutscher und britischer Konzerne fließen?

Das kasachische Regime mag demokratische Rechte verletzt, JournalistInnen und die Opposition unterdrückt haben – das wichtigste „Menschen“recht, das auf freien Handel und Wirtschafts„reformen“ brachte das Regime sehr zum Wohlgefallen aller ausländischen Mächte voran.

Natürlich war und ist Kasachstan vor allem eine Halbkolonie Russlands – zumal eine, die über Jahrzehnte nicht nur politisch eng verbunden war, sondern von deren Markt und Ressourcen der wirtschaftlich schwache russische Imperialismus sogar ökonomisch profitieren konnte. Hinzu kommen die Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und der OVKS und die Bedeutung Baikonurs (in Südkasachstan) für die russische Raumfahrt. Darüber hinaus macht die geostrategische Lage des Landes es zu einem wichtigen Schild Russlands vor einer weiteren Destabilisierung in Zentralasien. Kein Wunder also, dass dieses voll in den Chor der „Terrorbekämpfung“ einstimmt und seinem Verbündeten beispringt.

Ironischerweise verfolgten und verfolgen aber nicht nur China, sondern auch die meisten westlichen imperialistischen Länder ein Interesse an der Stabilität Kasachstans – sei es zur Sicherung ihrer ökonomischen Interessen, ihrer Investitionen, aber auch zur Stabilisierung des Landes gegen „islamistischen Terror“. Der ehemalige britischer Regierungschef Blair fungierte gar über Jahre als Berater Nasarbajews im Umgang mit westlichen Medien, insbesondere für den Fall von Aufstandsbekämpfung. Außerdem kooperierte Kasachstan jahrelang bei der US/NATO-Besatzung Afghanistans.

Daher fallen die westlichen Stellungnahmen zur Lage in Kasachstan bisher vergleichsweise verhalten aus. So erklärte der US-Außenminister Antony Blinken in einem Gespräch mit dem kasachischen Amtskollegen Mukhtar Tleuberdi „die volle Unterstützung der Vereinigten Staaten für die verfassungsmäßigen Institutionen Kasachstans und die Medienfreiheit“. Aus der EU kommt wie oft der unverbindliche Aufruf zur „Mäßigung“ auf allen Seiten. Klarer ist hier schon der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft und dessen Vorsitzender Oliver Hermes, der gegenüber der Presse erklärte: „Eine schnelle Beruhigung der Lage ist unabdingbar, um weiteres Blutvergießen, eine Destabilisierung des Landes und damit auch eine Beschädigung des Wirtschafts- und Investitionsstandorts Kasachstan abzuwenden.“ (https://www.fr.de/politik/kasachstan-unruhen-tote-demonstration-gas-preise-proteste-flughafen-putin-russland-news-aktuell-zr-91219297.html) Über deutsche Waffenexporte im Wert von rund 60 Millionen, die im letzten Jahrzehnt an das Regime geliefert wurden und jetzt auch gegen die Massen eingesetzt werden, hüllen sich die Regierung und UnternehmerInnen in Schweigen.

Die relative Zurückhaltung des Westens lässt sich freilich nicht nur ökonomisch erklären. Sicherlich spielt dabei auch ein geostrategisches Tauschkalkül eine Rolle. Russland kann in Kasachstan die blutige Niederschlagung der Aufständischen unterstützen (und damit auch westliche InvestorInnen absichern). Zugleich verlangt man dafür ein „Entgegenkommen“ in der Ukraine oder wenigstens Stillschweigen zu deren weiterer Aufrüstung und Zurückhaltung bei einem möglichen NATO-unterstützten Angriffe der Ukraine auf die Donbass-Republiken.

Umso dringender ist es, dass die internationale ArbeiterInnenklasse und die Linke ihre Solidarität mit der Massenbewegung in Kasachstan auf die Straße tragen.

  • Nein zur Niederschlagung gegen die Massenbewegung! Sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes und aller Einschränkungen demokratischer Rechte! Freilassung aller politischen Gefangenen!
  • Nein zur russischen Intervention! Sofortiger Abzug aller OVKS-Truppen! Stopp aller Waffenliegerungen!
  • Internationale Solidarität mit der ArbeiterInnenklasse und Protestbewegung!



Die Weltlage und Aufgaben der Arbeiter_Innenklasse

Jaqueline Katherina Singh

In den vergangenen zwei Jahren sah sich die Welt mit einer Reihe von miteinander verknüpften Krisen konfrontiert. An erster Stelle steht eine weltweite Gesundheitskrise. Covid-19 hat die Regierungen und Gesundheitssysteme überrascht, obwohl Epidemiolog_Innen und die WHO vor einer wahrscheinlichen zweiten SARS-Epidemie gewarnt und die Gewerkschaften des Gesundheitspersonals darauf hingewiesen hatten, dass ihre Krankenhäuser und Kliniken für eine solche nicht gerüstet sind. Covid-19 hat weltweit mehr als fünf Millionen Todesopfer gefordert, wütet mit seinen Delta- und Omikron-Varianten immer noch – und bricht in Ländern wieder aus, die überzeugt waren, die Krankheit unter Kontrolle zu haben und ihre Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.

Die Schlagzeilen der letzten beiden Jahre beherrschten aber auch die sich häufenden extremen Wetterereignisse – Überschwemmungen, Waldbrände, Dürren -, die rund um den Globus wüten und die Aussicht auf einen katastrophalen Klimawandel unbestreitbar machen. Im krassen Gegensatz zu den Gefahren endete der Weltklimagipfel einmal mehr im – Nichts. Die wichtigsten Staaten blockierten jede feste Verpflichtung zur Reduzierung von CO2-Emissionen. Wieder einmal wurden die halbkolonialen Länder, vor allem in den bereits stark geschädigten Tropenzonen, um die Milliarden betrogen, die sie zur Bekämpfung der Auswirkungen benötigen. Stattdessen wurden ihnen weitere Kredite angeboten.

Im Jahr 2020 verursachte Covid den stärksten Einbruch der Weltwirtschaft seit den 1930er Jahren. Auch wenn die globale Ökonomie schon davor im Niedergang war, so synchronisiert die Pandemie die Rezession und diese prägt auch den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung und die Maßnahmen der Regierungen. Die Lockdowns zwangen die großen imperialistischen Staaten, mit den neoliberalen Dogmen über die Staatsausgaben zu brechen. Die Zinssätze, die jahrelang bei null lagen, um die zur Stagnation neigenden Volkswirtschaften anzukurbeln, erlaubten es den Staaten nun, Billionen zu leihen und in den imperialistischen Kernländern die Auswirkungen der Krise auf die Massen abzumildern. Die Unterbrechung der Versorgungsketten, der Weltmärkte und die wiederholten Aussperrungen haben enorme Verluste verursacht, auch wenn deren volles Ausmaß erst nach Beendigung der Pandemie deutlich werden wird. Auch wenn in einigen Ländern ein kurzfristiger Konsumboom möglich sein mag, wenn sich die Wirtschaften etwas erholen, so wird dieser eher einem Strohfeuer denn einer ernsten Erholung gleichkommen.

Ökonomische Auswirkungen

Mit Beginn der Pandemie stand ab Ende Februar 2020 die Wirtschaft still und internationale Produktionsketten lagen brach. Viele bürgerliche Forschungsinstitute und Konjunkturprognosen übten sich trotzdem in den letzten beiden Jahren in Sachen Optimismus. In Vorhersagen wurde  festgehalten, dass die Erholung schnell erfolgen und munter weitergehen wird – schließlich sei die Pandemie nur ein externer Faktor.

Die ganze Realität bildet das allerdings nicht ab. Nach dem Einbruch der weltweiten Wirtschaftsleistung 2020 um 3,2 % folgte in diesem Jahr zwar eine Erholung. In seinem vierteljährlichen Bericht ging der IWF im April 2021 noch von einer Steigerung der globalen Wirtschaftsleistung von 6,4 % aus – und musste diese Prognose nur um 0,4 % nach unten korrigieren. Begründet wurden die optimistischen Prognosen mit dem Beginn der Impfungen, der damit verbundenen Erwartung eines Endes der Pandemie sowie den Konjunkturpaketen.

So ist es auch kein Wunder, dass vor allem die imperialistischen Zentren Erholung verzeichnen, während die Länder, die sich weder Impfstoff noch Konjunkturpakete leisten können, zurückbleiben. Genauer betrachtet ist das Wachstum in den imperialistischen Zentren jedoch langsamer als erhofft und begleitet von Inflation. Die Gründe dafür sind vielfältig: Der Stillstand der Handels- und Produktionsketten hat einen länger anhaltenden Einfluss, wie man beispielsweise an der Halbleiterproduktion betrachten kann. Hinzu kommen gestiegene Energie- und Rohstoffpreise. So meldete das deutsche statistische Bundesamt, dass die Erzeugerpreise im September 2021 um 14,2 % im Vergleich zum Vorjahr nach oben gingen – die stärkste Steigerung seit der Ölkrise 1974. Die Energiekosten sind laut Bundesamt zusätzlich um 20,4 % teurer geworden. Auch Arbeitskräftemangel in bestimmten Sektoren sowie Inflation verlangsamen das Wachstum. Zentral sind aber niedrige Investitionsraten, die zwar durch die massiven Konjunkturpakete angekurbelt werden, aber vor allem im privaten Sektor gering ausfallen.

Ebenso darf bei der Betrachtung nicht vergessen werden, dass die Folgen der Finanzkrise 2007/08 noch längst nicht ausgelöffelt sind. Vielmehr hat sich die internationale Schuldenlast massiv erhöht und auch die Niedrigzinspolitik lief die letzte Dekade munter weiter.

Letztlich erfordern kapitalistische Krisen eine Vernichtung überschüssigen Kapitals. In der Rezession 2009 fand diese jedoch nicht annähernd in dem Maße statt, das notwendig gewesen wäre, um einen neuen Aufschwung der Weltökonomie zu ermöglichen. Staatdessen war das letzte Jahrzehnt weitgehend eines der Stagnation.

Die Politik des billigen Geldes in den imperialistischen Zentren verhinderte dabei nicht nur die Vernichtung überschüssigen Kapitals, sondern führte auch zu einem massiven Anstieg der öffentlichen wie privaten Schuldenlast; neue spekulative Blasen bildeten sich. Die Coronamaßnahmen vieler imperialistischer Regierungen haben diese Lage noch einmal befeuert. So wurden zwar befürchtete große Pleiten vorerst verhindert – gleichzeitig gilt ein bedeutender Teil der Unternehmen mittlerweile als „Zombiefirmen“, also Betriebe, die selbst wenn sie Gewinn machen, ihre Schulden nicht mehr decken können und eigentlich nur künstlich am Leben erhalten werden.

Hinzu kommen weitere Faktoren, die deutlich machen, dass in den kommenden Jahren mit keiner Erholung der Weltwirtschaft, sondern allenfalls mit konjunkturellen Strohfeuern zu rechnen ist. Erstens fällt China anders als nach 2008 als Motor der Weltwirtschaft aus. Zweitens verschärfen zunehmende Blockbildung wie auch Fortdauer der Pandemie die wirtschaftliche Lage selbst und können nicht nur als vorübergehende Faktoren betrachtet werden. Drittens reißt die aktuelle Lage schon jetzt wichtige Halbkolonien in die Krise. Ländern wie Argentinien, der Türkei oder Südafrika drohen Insolvenz und Zusammenbruch ihre Währungen. Indien und Pakistan befinden sich ebenfalls ganz oben auf der Liste von Ländern, die IWF und Weltbank als extrem krisengefährdet betrachten.

Zusammengefasst heißt das: Die Folgen der Finanzkrise 2007/08 wurden noch abgefedert. Jetzt erleben wir eine erneute Krise von größerem Ausmaß, die diesmal fast alle Länder gleichzeitig erfasst. Doch der Spielraum der herrschenden Klasse ist dieses Mal geringer.

Auswirkungen auf das Weltgefüge

Somit ist klar, dass die Coronapandemie und ihre Folgen die Welt noch für einige Zeit in Schach halten werden. Nicht nur, weil wir mit Mutationen rechnen müssen, gegen die die Impfstoffe unwirksamer sind, sondern die Pandemie ist längst kein „externer“ Faktor mehr, sondern ihrerseits eng mit den globalen wirtschaftlichen Entwicklungen und deren politischen Folgen verwoben. Ein einfaches Zurück zur „Vor Corona“-Zeit ist somit nicht möglich.

Bereits vorher war die internationale Lage zwischen den imperialistischen Kräften angespannt. Der  Handelskrieg zwischen USA und China bestimmt zwar nicht mehr die Schlagzeilen in den Zeitungen, aber die aktuelle Krise verschärft die innerimperialistische Konkurrenz erneut auf allen Ebenen. Die massive Überakkumulation an Kapital spitzt nicht nur die ökonomische Konkurrenz zu, sondern  wird auch das Feuer der innerimperialistischen politischen Querelen weiter anfachen. Schließlich will niemand die Kraft sein, auf deren Kosten die anderen ihr Kapital retten. Praktisch bedeutet das: weitere harte Handels- und Wirtschaftskonflikte, zunehmende ökonomische Tendenz zur Blockbildung und Kampf um die Kontrolle etablierter oder neuer halbkolonialer Wirtschaftsräume. Die USA und China, aber auch Deutschland und die EU verfolgen dies mit zunehmender Konsequenz.

Dies hat nicht nur ökonomische, sondern auch politische Folgen, darunter die zunehmende Militarisierung sowie eine weitere Eskalation kriegerischer Auseinandersetzungen. Hinzu kommt, dass die Pandemie den Trend zum Nationalprotektionismus verschärft hat und ein widersprüchliches Moment in sich trägt. Wie wir an Lieferengpässen sehen, sind die Produktionsketten mittlerweile extrem verschränkt. Ein einfaches Entflechten gemäß dem Ideal, „alles was man braucht“, im eigenen Staat zu produzieren, ist schlichtweg nicht möglich. Dennoch kann es infolge von vermehrten ökonomischen und politischen Konflikten zur Erhebung weiterer Zölle, wechselseitigen Sanktionen etc. kommen. Auch wenn dies die Weltwirtschaft selbst in Mitleidenschaft ziehen wird, so werden solche Konflikte zunehmen. Das Kräftemessen kann zugleich auch deutlich machen, welche Länder das schwächste Glied in der imperialistischen Kette bilden, und seinerseits innere Konflikte zuspitzen und ganze Staaten destabilisieren.

Die Aussichten sind also nicht besonders rosig. Schon das letzte Jahrzehnt war von einer Zunahme autoritärer, rechtspopulistischer und bonapartistischer Tendenzen geprägt, die sich unter dem gesellschaftlichen Ausnahmezustand der Pandemie verschärft haben. Um in kommenden Auseinandersetzungen mögliche Proteste in Schach zu halten, ist damit zu rechnen, dass wir eine Verstärkung von Rechtspopulismus, Autoritarismus, Bonapartismus erleben werden.

Angesichts diese krisenhaften Lage erheben sich zentrale Fragen: Wer wird zur Kasse gebeten, um die Rettungs- und Konjunkturpakete zu finanzieren? Wer wird die Kosten der Krise zahlen? Welche Klasse prägt die zukünftige Entwicklung?

Bedeutung für die Arbeiter_Innenklasse

Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig. Nicht die Herrschenden wollen den Kopf hinhalten und so werden die bürgerlichen Regierungen natürlich versuchen, die Last vor allem auf die Arbeiter_Innenklasse, die Bauern-/Bäuerinnenschaft und die Mittelschichten abzuwälzen, wie dies im Grunde schon während der Coronakrise der Fall war. Fast überall arbeiteten die jeweiligen Gesundheitssysteme an ihren Grenzen und Gewalt, insbesondere gegen Frauen, hat gesamtgesellschaftlich stark zugenommen. Allein die unmittelbaren Folgen des Stillstands wie Massenentlassungen, Verelendung und massiver Zuwachs an Armut sind global schnell sichtbar geworden. So erwartet der Internationale Währungsfonds, dass die Pandemie den Fortschritt in der Bekämpfung der globalen Armut seit den 1990er Jahren annulliert sowie die Ungleichheit weiter verstärkt.

Die größten Auswirkungen sind in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen zu verzeichnen. Dort beträgt deren Verlust mehr als 15 Prozent. Genau diese Länder haben zudem die schwächsten Sozialsysteme. Hinzu kommt die steigende Inflation, die die Lebenshaltungskosten in Ländern wie der Türkei oder dem Libanon und vielen anderen in die Höhe treibt. Das Festhalten der imperialistischen Länder an den Patenten zugunsten der Profite sorgt dafür, dass die Lage sich nicht in absehbarer Zeit verbessern wird.

Nicht allzu viel besser sieht die Situation in den imperialistischen Zentren aus. Auch hier gab es zahlreiche Entlassungen. So hatten die USA 2020 ihr historisches Hoch. Die Konjunkturpakete oder Hilfen wie das Kurzarbeiter_Innengeld in Deutschland federn zwar die Auswirkungen der Krise ab, aber auch hier ist die Inflation deutlich in der Tasche zu spüren.

Was kommt?

Aufgrund des konjunkturellen Aufschwungs in den USA und in etlichen europäischen Staaten werden die kurzfristigen Auswirkungen hier andere sein als für große Teile der Massen in den Halbkolonien. Letztere werden von einer Dauerkrise der Wirtschaft, der Pandemie und auch ökologischen Katastrophen geprägt sein. Das heißt, dass in den halbkolonialen Ländern der Kampf für ein Sofortprogramm gegen die akute Krise und Pandemie eine zentrale Rolle spielen wird, das die verschiedenen ökonomischen und sozialen Aspekte umfasst. Grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass der Klassenkampf in diesen Ländern aufgrund der zugespitzten sozialen und politischen Lage eine weit explosivere Form annehmen wird.

Die Extraprofite des imperialistischen Kapitals in den Metropolen sowie der aktuelle konjunkturelle Aufschwung in etlichen Ländern erlauben in diesen Staaten mehr Spielraum für gewerkschaftliche und soziale Umverteilungskämpfe. Ebenso kann es sein, dass teilweise reformistische oder linkspopulistische Kräfte an Aufwind gewinnen. Schließlich hat die Gesundheitskrise in den Augen von Millionen verdeutlicht, dass massive Investitionen, Verstaatlichungen und Neueinstellungen in diesem Bereich wie auch in anderen Sektoren nötig sind (Wohnung, Verkehr … ). Bürgerliche wie reformistische Kräfte versuchen, dem verbal entgegenzukommen und die Spitze zu nehmen. So beinhalten das Programm Bidens wie auch der Green Deal der EU Versprechen, die ökologischen Probleme zu lösen und soziale Ungleichheit zu reduzieren. In der Realität werden sich diese Reformversprechen als Quadratur des Kreises entpuppen.

In Wirklichkeit sind es Programme zur Erneuerung des Kapitals, nicht der Gesellschaft. Der Arbeiter_Innenklasse und den Unterdrückten wird nichts geschenkt, schon gar nicht in der Situation zunehmenden Wettbewerbs. Während die wirtschaftliche Lage in den imperialistischen Ländern jedoch kurzfristig einen gewissen Verteilungsspielraum eröffnen kann, der von der Arbeiter_Innenklasse genutzt werden muss, besteht dieser in den halbkolonialen Ländern praktisch nicht. Dort können und werden sich selbst Kämpfe um soziale, ökonomische und demokratische Verbesserungen viel rascher zum Kampf um die politische Macht zuspitzen, wie z. B. der Sudan zeigt.

Auch wenn die Situation in imperialistischen Ländern und Halbkolonien bedeutende Unterschiede birgt, so sind alle wichtigen Auseinandersetzungen unserer Zeit – der Kampf gegen die Pandemie, die drohende ökologische Katastrophe,  die Folgen der Wirtschaftskrise und die zunehmende Kriegsgefahr – Fragen des internationalen Klassenkampfes. Sie können auf nationaler Ebene letztlich nicht gelöst werden.

Wo aber beginnen?

Zuerst ist es wichtig zu verstehen, dass die verschlechterte Situation der arbeitenden Klasse nicht automatisch Proteste mit sich bringt. Diese gibt es zwar, ebenso wie Streiks und Aufstände, jedoch sind sie erstmal nur Ausdruck der spontanen Unzufriedenheit der Massen. Zu glauben, dass aus ihnen mehr erwachsen muss oder sie von alleine zu einer grundlegenden Lösung führen werden, ist falsch, ein passiver Automatismus. Streiks befördern natürlich das Bewusstsein der Arbeiter_Innenklasse, dass sie sich kollektiv zusammenschließen muss, um höhere Löhne zu erkämpfen. Nicht mehr und nicht weniger. Ihr spontanes Bewusstsein im ökonomischen Kampf ist jedoch selbst noch eine Form bürgerlichen Bewusstseins, weil es auf dem Boden des Lohnarbeitsverhältnisses steht. Es stellt insbesondere in Friedenszeiten nicht das kapitalistische System in Frage, sondern fordert erstmal nur mehr Lohn ein. Ähnliches gilt für Proteste beispielsweise aufgrund von Hunger. Beide – Streiks und spontane Proteste – tragen jedoch in sich das Potenzial, zu mehr zu werden. Allerdings nur, wenn es geschafft werden kann, die Grundlage der Misere aufzuzeigen, zu vermitteln, dass die Spontaneität der Proteste noch nicht automatisch die Lösung bringt, sondern es einen organisierten Umsturz braucht, um dieses System erfolgreich zu zerschlagen. Es ist Aufgabe von Revolutionär_Innen, dieses Verständnis, dieses Bewusstsein in die Klasse zu tragen und die dazu notwendigen Schritte zu vermitteln. Dies ist jedoch leichter geschrieben als getan, denn ein Blick auf die aktuelle Lage zeigt, dass es viele Widerstände gibt, die man zu überwinden wissen muss.

Kämpfe und Kontrolle

Das heißt, dass man in die existierenden Kämpfe intervenieren und diese zuspitzen muss. Beispielsweise durch Forderungen, die weiter gehen als jene, die bereits aufgeworfen werden. Es reicht nicht, nur kommende Angriffe abzuwehren, vielmehr müssen die Abwehrkämpfe mit dem Ziel geführt werden, konkrete Verbesserungen zu erkämpfen, und dabei aufzeigen, was für eine andere Welt möglich wäre. Denn der Illusion anzuhängen, dass es irgendwann genauso wie vor der Pandemie werden kann, ist eine Illusion, wie die obige Diskussion der Weltlage aufzeigt. Zudem war dieser Zustand eh nur für einen sehr geringen Teil der Weltbevölkerung annehmbar. Beispielsweise kann das dafür notwendige Bewusstsein folgendermaßen vermittelt werden:

In Zeiten permanenter Preissteigerungen geraten selbst erfolgreiche Lohnkämpfe an ihre Grenzen. Die Forderung nach höheren Löhnen muss daher mit der nach automatischer Anpassung an die Preissteigerung verbunden werden. Da zur Zeit die Preise für die Konsumgüter der Arbeiter_Innenklasse (Mieten, Heizung, Lebensmittel) stärker steigen, als es die statistische Inflationsrate zum Ausdruck bringt, sollte durch die Gewerkschaften und Verbraucher_Innenkomitees ein Index für die reale Steigerung der Lebenshaltungskosten erstellt und immer wieder aktualisiert werden. An diesen sollten die Löhne und Gehälter angeglichen werden. Damit dies auch wirklich passiert, sollten wir uns nicht auf den Staat (und schon gar nicht auf die Ehrlichkeit der Unternehmen) verlassen, sondern müssen dazu betriebliche Kontrollkomitees – also Formen der Arbeiter_Innenkontrolle – etablieren.

So kann ein konkretes Problem – die Steigerung der Lebenshaltungskosten – für die gesamt Klasse angegangen und mit dem Aufbau von Organen der Arbeiter_Innenkontrolle, also der betrieblichen Gegenmacht, verbunden werden.

Ähnliches lässt sich auch für andere Bereiche zeigen. Die Forderung nach massiven Investitionen in den Gesundheitssektor stellt sich weltweit. Dies muss durch Besteuerung der Reichen passieren unter Kontrolle der Arbeiter_Innen selber. Hier bedarf es neben einer Erhöhung der Löhne auch einer enormen Aufstockung des Personals, um Entlastung zu schaffen.

Hinzu kommt, dass die Arbeit im gesamten Care-Sektor oftmals geringer vergütet wird, da dieser nicht im gleichen Maße Mehrwert produziert – und somit nicht auf gleicher Ebene rentabel ist. Das ist nur einer der Gründe, warum es entscheidend ist, dass die Investitionen unter Kontrolle der Beschäftigten stattfinden. Sie können aufgrund ihrer Berufsqualifikation und -erfahrung wesentlich besser entscheiden, wo Mängel im Joballtag bestehen, und hegen zeitgleich kein materielles Interesse daran, dass der Gesundheitssektor so strukturiert ist, dass er Profite abwirft. Zentral ist allerdings beim Punkt Kontrolle, dass sie nicht einfach so herbeigeführt werden kann. Damit dies nicht nur schöne Worte auf Papier bleiben, sondern sie Realität werden kann, bedarf es Auseinandersetzungen innerhalb der Betriebe, bei denen sich Streik- und Aktionskomitees gründen. Diese stellen Keimformen von Doppelmachtorganen dar, die den Weg zur Arbeiter_Innenkontrolle ebnen. Nur so kann die nötige Erfahrung gesammelt werden sowie sich das Bewusstsein entwickeln, dass die existierende Arbeit kollektiv auf die Arbeitenden aufgeteilt werden kann.

Ebenso müssen wir dafür einstehen, dass die Patente für die Impfstoffe abgeschafft werden. Es wird deutlich, dass das Vorenthalten nicht nur aktiv dafür sorgt, dass Menschen in Halbkolonien an dem Coronavirus sterben, sondern auch durch die Auswirkungen auf die Wirtschaft stärker verarmen. Ausreichend allein ist dies natürlich nicht. Die Freigabe der Patente muss mit der kostenlosen Übergabe von Wissen und den nötigen technischen Ressourcen verbunden werden – ein kleiner Schritt, der dafür sorgt, dass die stetige Abhängigkeit von den imperialistischen Ländern sich an diesem Punkt nicht weiter verfestigt. Nur so kann die Grundlage geschaffen werden, etwaige Mutationen des Virus zu verringern. Falls diese doch entstehen, erlaubt es schnelles Handeln bei der Produktion notwendiger neuer Impfstoffe. Auch dies kann nur geschehen, wenn nicht die Profitinteressen der imperialistischen Länder und Pharmaindustrie vorrangig bedient werden. Deswegen müssen auch hier die Konzerne enteignet und unter Arbeiter_Innenkontrolle gestellt werden.

Doch so einfach ist es nicht …

Dies sind Forderungen, die weltweit ihre Relevanz haben und die Grundlage für eine internationale Antikrisenbewegung legen können. Doch einfacher geschrieben als durchgesetzt. Denn wie bereits zuvor geschrieben: Es gibt Widerstände, auch innerhalb der Klasse.

Niederlagen in den Klassenkämpfen des letzten Jahrzehntes, vor allem des Arabischen Frühlings, aber auch von Syriza in Griechenland trugen eine tiefe, desillusionierende und demoralisierende Auswirkung auf die Massen mit sich. Nicht die Linke, sondern die populistische Rechte präsentierte sich in den letzten fünf Jahren immer wieder als pseudoradikale Alternative zur Herrschaft der tradierten „Eliten“. Diese konnte sich aufgrund der Passivität der Linken innerhalb der Coronakrise profilieren. So kann die Zunahme eines gewissen Irrationalismus‘ in Teilen des Kleinbürger_Innentums, aber auch der Arbeiter_Innenklasse beobachtet werden. Rechte schaffen es, die Bewegung für sich zu vereinnahmen und dort als stärkste Kraft aufzutreten – was Grundlage für ihr Wachstum ist, aber auch ihre Radikalisierung mit sich bringt.

Die Dominanz von Reformist_Innen und Linkspopulist_Innen drückt sich in einer Führungskrise der gesamten Arbeiter_Innenklasse aus. Zwar werden Kämpfe geführt, wenn es sein muss – also wenn es Angriffe gibt. Letztlich läuft die Politik der Gewerkschaftsbürokratien und der Sozialdemokratie – aber schließlich auch der Linksparteien – auf eine Politik der nationalen Einheit mit dem Kapital, auf Koalitionsregierungen und Sozialpartner_Innenschaft in den Betrieben hinaus. Die Politik des Burgfriedens sorgt dafür, dass Proteste im Zaum gehalten werden oder erst gar nicht aufkommen. Somit besteht eine der zentralen Aufgaben von Revolutionär_Innen darin, den Einfluss dieser Kräfte auf die Masse der Arbeiter_Innenklasse zu brechen.

Internationalismus

Dies geschieht jedoch nicht durch alleiniges Kundtun, dass Bürokratie & Co üble Verräter_Innen sind. Sonst wäre es schon längst im Laufe der Geschichte passiert, dass die Massen sich von diesen Kräften abwenden und automatisch zu Revolutionär_Innen werden. Deswegen bedarf es hier der Taktik der Einheitsfront, des Aufbaus von Bündnissen der Arbeiter_Innenklasse für Mobilisierungen um konkrete Forderungen. Aufgabe ist, möglichst große Einheit der Klasse im Kampf gegen Kapital und Staat herzustellen und im Zuge der Auseinandersetzung aufzuzeigen, dass die Gewerkschaftsbürokratie oder reformistische Parteien sich selbst für solche Forderungen nicht konsequent ins Zeug legen.

Entscheidend ist es also, bestehende Kämpfe und Bewegungen zusammenzuführen, die existierende Führung dieser sowie der etablierten Organisationen der Arbeiter_Innenklasse herauszufordern. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass es eine Wiederbelebung der Sozialforen gibt – diesmal jedoch nicht nur als Versammlungen zur unverbindlichen Diskussion, sondern zur beschlussfähigen Koordinierung des gemeinsames Kampfes. Doch ein alleiniges Zusammenführen von ganz vielen verschiedenen Bewegungen reicht nicht. Unterschiedliche Positionierungen, Eigeninteressen und fehlende oder falsche Analysen können zu Stagnation und letztendlich zum Niedergang dieser führen. Es braucht einen gemeinsamen Plan, ein gemeinsames – revolutionäres – Programm, für das die revolutionäre Organisation eintreten muss. Eine solche müssen wir aufbauen – in Deutschland und international.