Streiks gegen die Krise in Europa

Von Jonathan Frühling

Seit Beginn der Pandemie Anfang 2020 sind 130 Millionen Menschen in totale Armut abgerutscht. Die Inflation erhöht diese Zahl momentan noch einmal massiv. Die Entwicklung umfasst nicht einzelne Länder und Branchen, sondern den gesamten Planeten. Deshalb formiert sich überall Widerstand von Menschen, die nicht hinnehmen wollen, dass sich die herrschende Klasse ihrer Länder immer noch weiter bereichert. Beispielhaft soll hier genannt werden, dass das Vermögen der 2755 Milliardär_Innen in der Coronapandemie von 4 auf 12 Billionen US-$ gestiegen ist. Deshalb werden momentan weltweit Abwehrkämpfe geführt, in denen die Arbeiter_Innen und Bäuer_Innen versuchen zu verhindern, die Kosten der vielen Krisen zahlen zu müssen. Wir haben uns für euch exemplarisch Bewegungen in Europa angeschaut und Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet und versuchen eine Perspektive zu formulieren.

Streiks Europaweit

Norwegen

In Norwegen streikten Anfang Juli Arbeiter_Innen in der Gasindustrie für mehr Lohn, sodass die Gasförderung auf drei Förderplattformen eingestellt werden musste. Relevant war das auch für Deutschland, welches mehr als 30 % seines Gases aus Norwegen bezieht. Die Regierung schritt allerdings nur wenige Stunden nach dem Ausbrechen des Streikes ein und brachte ihn vor ein Schlichtungsgremium, was nach norwegischem Recht legal ist. Begründet wurde das mit den Gasengpässen in Europa und dem Krieg zwischen Ukraine und Russland. Die Gewerkschaften akzeptierten diese Entscheidung

Deutschland

In sechs deutschen Häfen haben die Arbeiter_Innen im Juni und Juli Warnstreiks durchgeführt und damit erreicht, dass Waren nicht umgeschlagen werden konnten. Die Gewerkschaft fordert 14% mehr Lohn in einem Jahr, die Kapitalseite bot 12,5 % in zwei Jahren. Das Angebot liegt damit unter der Inflation und wird von der Gewerkschaft daher richtigerweise abgelehnt.

Die Kapitalseite denkt in Form von „Arbeitgeberpräsident“ Reiner Dulger desweilen laut darüber nach, mit Notstandsgesetzen das Streikrecht zu brechen. So könnte sichergestellt werden, dass die Industrie auf Kosten der Lohnabhängigen ununterbrochen weiterläuft. Das wäre natürlich ein brutaler Angriff auf ein langerkämpftes Streikrecht.

Spanien

Auch in Spanien gibt es momentan Streiks. Hier sind es die Kabinenarbeiter_Innen der Billig-Airlines Easyjet und Ryanair, die der Arbeiter_Innenklasse ein Beispiel geben. Beide Unternehmen sind für ihre schlechten Arbeitsbedingungen bekannt. Die Streiks haben natürlich Auswirkungen in ganz Europa, da die Airlines ausschließlich innereuropäische Flüge durchführen. Zudem kommt hinzu, dass die Branche unter Personalmangel zu kämpfen hat, welcher auch zum Teil auf die niedrigen Löhne zurückzuführen ist.

Großbritannien

Besondere Strahlkraft hatten die Eisenbahner_Innenstreiks der Gewerkschaft RMT in England Ende Juni 2022. Es waren mit 50.000 Streikenden die größten Streiks der Branche seit 30 Jahren und brachten ca. 80 % des Schienenverkehrs auf der Insel zum Stehen. Ziel ist es auch hier, für höhere Löhne, Arbeitsplatzsicherheit und bessere Renten zu kämpfen, denn die Post-Brexit Gesellschaft wird von Inflation und wirtschaftlichen Problemen besonders hart getroffen. Teile des Staatsapparates haben bereits gewarnt, dass ein Erfolg der Bewegung die Arbeiter_Innenbewegung motivieren kann ähnliche Forderungen in anderen Sektoren zu stellen. Da die britische Regierung gerade zerfällt, ist es eine besonders gute Situation, um den Druck zu erhöhen und weiter Sektoren der Klassen in den Kampf zu führen.

Schwächen der Streiks

Alle genannten Beispiele zeigen, dass es eine Schwäche der Streiks gibt, die zu deren Scheitern oder zumindest zu für die Arbeiter_Innen schlechten Abschlüssen führt. Überall verhandelt nicht die Arbeiter_Innenklasse selbst, sondern stellvertretend eine bürokratische Schicht von Gewerkschaftsfunktionär_Innen. Diese haben aber sowieso einen gut bezahlten und recht sicheren Job, weshalb sie vom Interesse der Arbeiter_Innen losgelöst handeln. Ihnen geht es vor allem darum, ihre eigene Stellung durch schnelle Schlichtungen und einen guten Draht zu Regierung zu sichern, statt die Kämpfe zu eskalieren und so z.B. mehr Lohn für die Arbeiter_Innen zu erkämpfen.

Deshalb liegen die Lohnforderungen, wenn überhaupt, knapp über dem Inflationsausgleich, die Abschlüsse sogar meist darunter! Außerdem sind 1-3-tägige Streiks, die oftmals sogar auf mehrere Wochen verteilt sind, nicht genug, um den Druck wirklich zu erhöhen. Diese Taktik ist nur dafür geeignet, die Bewegung totlaufen zu lassen. Es braucht Forderungen von mindestens 8-10 % mehr Lohn bei 12 Monaten Laufzeit. Diese Ziele können aber nur umgesetzt werden, wenn es einen unbefristeten Streik gibt. Ein kämpferisch geführter Streik erhöht außerdem fast automatisch die Mitgliederbasis der Gewerkschaft. Nur wenn sich die Arbeiter_Innen des Streiks bemächtigen und selbst die Kontrolle darüber haben wann, wo und wofür gestreikt wird und vor allem wann der Streik beendet wird, können sie dem Kapital und der Regierung das Fürchten lehren.

Eine weitere Schwäche ist die Zersplitterung der Kämpfe. Der Grund, wieso die Regierungen und Kapitalist_Innen hier in Europa schnell und entschlossen gegen die Streiks vorgehen wollen, ist überall derselbe: Die Europäische Union und der gesamte Kapitalismus ist in einer Krise, in die uns die Regierungen selbst geführt haben. Kürzlich wurde das durch ihre wirtschaftlichen Angriffe gegen Russland z.B. mittels Sanktionen deutlich. Grund genug für uns gemeinsam auch politische Forderungen aufzustellen, um die Krise in unserem Sinne zu lösen. Damit ist z.B. das Abschaffen der Sanktionen gemeint, die vor allem der Entflechtung und Stabilisierung der europäischen Wirtschaft dienen sollen und in Russland selber eher der Arbeiter_Innenklasse als den Kapitalist_Innen schaden. Auch zur Zahlung der Coronaschulden muss das Kapital zur Kasse gebeten werden. Statt Geld für Rüstung brauchen wir Geld für Krankenhäuser, Schulen, Renten. Natürlich muss die gesamte Infrastruktur dafür wieder in öffentliche Hand geführt werden.

Dies alles sind aber politische Forderungen, die nicht in nationalen Tarifverhandlungen geklärt werden können. Die Arbeiter_Innenklasse muss endlich wieder die politische Bühne betreten und beweisen, dass sie eine gesamtgesellschaftliche Perspektive formulieren kann. Alle hier erwähnten Bewegungen sind defensive Abwehrkämpfe, die dafür sorgen sollen, den Verfall des Lebensstandards aufzuhalten. Wir müssen aber selbst in die Offensive gehen. Oft wird argumentiert, dass in Zeiten von Krisen alle den Gürtel enger schnallen müssen. Aber gerade jetzt zeigt sich, wie unbrauchbar der Kapitalismus geworden ist, um für Wachstum und Wohlstand zu sorgen. Wenn sich die Kämpfe verbinden und ausweiten können wir uns, wie Marx es einst formulierte: „den ganzen alten Dreck vom Hals schaffen.“




G7-Proteste – eine nüchterne Bilanz ist nötig

Wilhelm Schulz und Jaqueline Katharina Singh

Olaf Scholz und Co. feierten den G7-Gipfel der westlichen Staats- und Regierungschefs als harmonische, geradezu weltoffene Veranstaltung für Demokratie, Menschenrechte, soziale und ökologische Vorsorge. Ganz zu offen war es dann natürlich doch nicht. Knapp 18.000 Polizist:innen wurden zum Schutz des G7-Gipfels in der Region Werdenfelser Land (Oberbayern) stationiert. Es glich einem Belagerungszustand. Mit Maschinenpistolen ausgestattete Polizist:innen standen hinter Nato-Stacheldrahtzäunen, ständig erfolgten Polizeikontrollen, Geschäfte mussten für den Protest schließen, Autobahnabsperrungen wurden verfügt. Mindestens 170.000.000 Euro soll allein der Polizeieinsatz gekostet haben.

Dessen Umfang entspricht dem von 2015, dem letzten G7-Gipfel in Elmau. Trotz ähnlicher Anzahl erschien die Polizeipräsenz angesichts der schwachen Mobilisierung stärker.

Allerdings besaß die Präsenz eine größere Akzeptanz in der Öffentlichkeit. Schon während der Pandemie wurde polizeiliche Überwachung zunehmend und weit über deren Bekämpfungsmaßnahmen hinaus verstärkt. Der Krieg in der Ukraine dient zusätzlich als Rechtfertigung dieses Zustandes, zumal die Politik von G7 und NATO zu einem „demokratischen“ Eingreifen verklärt wird.

Eine verschärftes Polizeiaufgabengesetz, ständige Kontrollen, Einschränkungen der Versammlungsfreiheit bis hin zu abstrusen Fahnenregeln, Flyerverboten, Angriff wegen Verknüpfung von Transparenten, Polizeipräsenz bei linken Veranstaltungen im Vorfeld gehören mittlerweile schon fast zum „Normalzustand“ der deutschen Demokratie, und zwar nicht nur in Bayern oder bei G7-Gipfeln.

Sicherlich schüchterte die schon im Vorfeld angedrohte massive Repression Menschen ein und wirkte demobilisierend. Das erklärt aber keineswegs die enttäuschend geringe Beteiligung an allen Aktionen. Im Folgenden wollen wir auf einzelne eingehen, um am Ende die Frage zu beantworten, worin die zentralen Gründe für die schwache Mobilisierung lagen.

Großdemo mit 6.000 Teilnehmer:innen?

Die von den NGOs angekündigte „Großdemo“ mit Start und Ziel auf der Münchener Theresienwiese blieb am Samstag, den 25. Juni, weit unter den Erwartungen. Die Mehrheit der rund 6.000 Teilnehmer:innen wurde von verschiedenen antikapitalistischen, antiimperialistischen, sozialistischen und kommunistischen Gruppierungen mobilisiert. Die Masse der NGOs blieb aus.

Dabei hatten diese im Vorfeld die politische Ausrichtung der Demonstration am 25. Juni an sich gerissen, alle politischen Parteien und radikaleren Gruppierungen aus dem Träger:innenkreis, der Festlegung des Aufrufes und auch weitestgehend aus der Mobilisierung zur Demo gedrängt.

Dieses bürokratische und undemokratische Manöver hatte nicht nur die Gesamtmobilisierung erheblich geschwächt und behindert. Der Verzicht auf eine grundlegende Ablehnung der G7, das Ausweichen vor der Kriegsfrage und die Anbiederung an die Mächte der Welt, die im Aufruf deutlich wurde, erwiesen sich als politischer Rohrkrepierer.

Einige der NGOs und Gruppen der sog. Zivilgesellschaft dürften schon im Vorfeld ihre Mobilisierung faktisch eingestellt haben. Andere wie Fridays For Future scheinen sich selbst im Spannungsverhältnis zwischen Pressuregroup der grünen Regierungspartei und sozialem Faktor auf der Straße zu zerlegen. So konzentrierte sich FFF auf eine Kleinstdemo am Freitag mit einigen 100 Teilnehmer:innen, die unabhängig von anderen Protesten stattfand, und war kaum sichtbar auf der Großdemo.

FFF mutierte von einer Streikbewegung zu einer Eventorganisation. Obwohl es auf dem Papier Unterstützer:in der Gegenproteste war, konnte kaum von einer öffentlichen Mobilisierung die Rede sein. Bis auf einzelne bekannte Gesichter am Samstag und eine kleine eigene Aktion am Freitag mit knapp 300 Teilnehmer:innen war FFF nicht präsent. Scheinbar liegt der Fokus aktuell auf einer Unterstützung der Embargos gegen den russischen Imperialismus, anstatt die eigene Regierung und ihre zerstörerische Umweltpolitik anzugreifen.

Auffällig war nicht nur, dass die NGOs zahlenmäßig gering vertreten waren, sondern auch die Abwesenheit anderer Parteien, die sonst auf solchen Protesten anzutreffen waren. Während bei den letzten Gipfelprotesten auch Teile der Grünen und sogar der SPD teilnahmen, so ist ihr Fernbleiben einfach durch die Einbeziehung in die Ampelkoalition sowie die Unterstützung deren Kurses zu erklären. Ähnliches gilt auch für die Gewerkschaften. Der sozialpartner:innenschaftlichen Anbindung an die SPD wurde durch die Pandemie kein Abbruch getan und auch jetzt werden die Kosten des Krieges auf dem Rücken der Lohnabhängigen stumm mitgetragen. Vereinzelt sah man ver.di- und GEW-Mitglieder aus München, aber eigene Blöcke oder gar Lautsprecherwagen waren nicht zu finden. Dies ist nicht verwunderlich, da diese bereits während der Vorbereitung mit Abwesenheit glänzten.

Die NGOs haben in diesem Jahr die Spaltung der Gegenproteste erreicht. Sie weigerten sich mit fadenscheinigen Argumenten, gemeinsam mit sämtlichen Parteien und allen subjektiv revolutionären Organisationen sie zu organisieren. Als NGOs dürften sie keinen Widerstand gegen den Staat organisieren. Solche Argumente tauchen inmitten einer Krise der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf!

Warum galten diese Einwände bei vergangenen Gipfelprotesten nicht? Sie stellen nichts anderes dar als den Versuch, den Widerstand konform zu lenken und jene, die nach einer Perspektive gegen und nicht mit den G7 suchen, ruhigzustellen. Gesagt, getan. Das Ergebnis war ein doppeltes. Einerseits wurde die Desorganisation der Linken dadurch befeuert, andererseits die Aussicht auf eine größere Mobilisierung bewusst aufs Spiel gesetzt. Die Entscheidung, dass die G7 zu beraten statt zu bekämpfen sind, liefert die Erklärung für diese Entwicklung. Die NGOs haben sich so als Erfüllungsgehilfinnen einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklungstendenz präsentiert. Die „Zivilgesellschaft“, für die sie einzustehen versuchen, stellt eben nichts weiter als einen Hofstaat jener Klassengesellschaft voller sozialer Gegensätzlichkeiten dar. Ebenjene ist es, die im letzten Jahrzehnt nach rechts rückte. Sich in ihrer Mitte zu positionieren, erzwingt die Bekämpfung oder zumindest das Ausbremsen radikaler Kräfte. Der Fördertropf an dem sie hängen, bildet die materielle Hintergrundfolie einer ideologischen Kapitulation.

Wie verliefen die Aktionen?

Während die Hoffnungen im Vorhinein nicht allzu groß waren, so geriet die Realität mit nur 6.000 Teilnehmer:innen noch bitterer. Als positives Moment bleibt zu bemerken, dass sich die Demonstrierenden trotz ihrer inhaltlichen Differenzen gegenüber der Polizeirepression solidarisch verhielten. Als die Cops ohne ernsthaften Grund bei der Abschlusskundgebung den antikapitalistischen Block angriffen, solidarisierten sich die Sprecher:innen von der Bühne dagegen und riefen die Polizei auf, sich zurückzuziehen. Sie akzeptierten die Spaltung in „gute“ und „schlechte“ Demonstrierende nicht.

Man würde sich an der Stelle mehr wünschen, aber viel Besseres gibt es auch nicht zu berichten.

Leider blieben auch die Aktionen in Garmisch selbst deutlich hinter jenen von 2015 zurück. Dabei haben viele Genoss:innen und Aktivist:innen ihre gesamte Energie dafür aufgebracht, ein Camp mit geringsten Ressourcen auf die Beine zu stellen. Sie haben gekocht, Nachtwachen afgestellt, ein Workshop- und Kulturprogramm organisiert und einiges mehr. Doch leider blieben Tausende fern. Das Camp trug eher den Charakter eines alpinen Urlaubsprogramms als einer Koordinationszentrale des Kampfes gegen den G7-Gipfel. Wenige hundert Menschen übernachteten vor Ort.

Die größte Aktion, die von ihm ausging, war die Demonstration am 26. Juni. Das Bündnis „Stopp G7 Elmau“ rief dazu auf. Etwa 1.500 Teilnehmer:innen folgten dem Aufruf. Dominiert wurde die Demonstration von verschiedensten antiimperialistischen Kräften. Ihre Überrepräsentanz ist dabei nicht in erster Linie Ausdruck ihrer Stärke, sondern, wie beschrieben, einer allgemeinen Defensive. Teile der Demonstration wurden von der Polizei durchgehend im Spalier „begleitet“. Bereits vor Beginn wurde deutlich, dass der Protest zu nicht viel mehr als einem Ausdruck symbolischen Widerstands gegen den Gipfel des Kapitals geraten würde.

Noch deutlicher wurde dieser rein symbolische Charakter am Montag, dem 27. Juni. An dem Tag nahmen zusätzlich 50 Personen unter Polizeigeleit an einer kleinen Protestkundgebung außerhalb der Hör- und Sichtweite des Gipfels statt. Die Polizei führte erniedrigende Leibesvisitationen bei den Teilnehmer:innen durch und agierte dabei übergriffig, konfiszierte Gegenstände wie Marker, die mit Sicherheit keinerlei Bewaffnungen oder Ähnliches darstellen. Ebenso fand ein Sternmarsch statt. Aufgeteilt auf eine Wanderroute und Fahrradtour nahmen 100 Teilnehmer:innen den Marsch in die oberbayrischen Alpen auf.

Linke, Krise Globalisierung

Doch die zahlenmäßig schwachen Proteste gegen den G7-Gipfel sind freilich nur die Spitze des Eisbergs. Unter dem Wasserspiegel verbirgt sich der desaströse Zustand der Linken und Arbeiter:innenbewegung in der heutigen Zeit, die enorm zugespitzte proletarische Führungskrise eben.

Dieser wurde mittels Fokussierung auf Eventmobilsierungen wie „Blockupy“, „Castor schottern“ oder „Tag X“ versucht zu überdecken. Angesichts der heutigen Lage waren dies reine Heerschauen und Selbstbeweihräucherung linker Organisationen, die sich in Stärkeposition wähnten. Sie waren reine Symbolproteste. Aktivist:innen konnten sich an ihren Symbolen stärken oder scheitern, aber sie erkämpften keine realen Verbesserungen für die Klasse und schafften es nicht, inhaltliche Differenzen innerhalb der Radikalen Linken zu klären. Vielmehr formten diese Stunts eine Fassade, die den Zustand der Ratlosigkeit zu überdecken versuchte. Prominente Beispiele dafür bilden Interventionistische Linke und vor allem die Linkspartei.

Über Jahre blieben in der Deutschen Linken ernsthafte programmatisch-strategische Debatten zu den Aufgaben gegen den vorherrschenden Rechtsruck, den erstarkenden Nationalismus angesichts des aufkochenden Kampfes um die Neuaufteilung der Welt und der Krise aus. So wie viele während der Pandemie darauf hofften, dass diese an ihnen vorbeiginge, ohne darauf eine politische Antwort geben zu müssen, so flehen andere wiederum, dass der Krieg um die Neuaufteilung der Welt bald vorbei sein möge.

Fast schon folgerichtig war die Interventionistische Linke auf keiner einzigen Blockade oder Demonstration als Kraft sichtbar. Die Linkspartei schaffte es, ihren Krisenparteitag parallel zum Gipfel stattfinden zu lassen und nur in kleinster Form ihres bayrischen Landesverbandes aufzutreten. Selbst dieser war ein Schatten seiner selbst.

Während manche Kräfte das Fernbleiben dieser Akteur:innen als Fortschritt feiern, das den Protest „radikal“ erscheinen lasse, ist die Realität doch eine andere. Durch die geringe Mobilisierung droht der Gegenprotest, in die Bedeutungslosigkeit zu schwinden und mit ihr die Debatte um den Inhalt.

Für eine Strategie- und Aktionskonferenz

Das Fernbleiben dieser Kräfte ist dabei Resultat ihrer eigenen Schwäche. Die unzählbaren Krisen, die Veränderung unserer Kampfbedingungen in Zeiten der Pandemie und Kriegseuphorie zeigen auf, dass die reine Fokussierung auf einzelne Aspekte reine Feuerwehrpolitik bleibt. Sie weicht der Frage aus, wie dieser Totalität des Elends ein Ende gesetzt werden kann. Noch schlimmer: Sie leugnet deren Notwendigkeit. Somit kam und kommt es zum Unterordnen unter die jeweiligen Führungen der Bewegungen, seien es bürgerliche Kräfte bei der Umweltbewegung bzw. gegen Rechtsruck oder ökonomistische Nachtrabpolitik bei gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen.

Damit wurde nicht nur verpasst, Kämpfe erfolgreich zu führen, sondern auch aus Niederlagen zu lernen.

Angesichts dieser schwachen Mobilisierung ist zu diskutieren, welche Aufgaben sich Internationalist:innen, Antiimperialist:innen und Antikapitalist:innen in dieser Zeitenwende stellen, um zumindest größere Teile der Avantgarde der Arbeiter:innenklasse gegen die Neuorientierung der westlichen Imperialismen im Kampf gegen die russischen und chinesischen Widersacher programmatisch und praktisch in Stellung zu bringen. Es ist Aufgabe der teilnehmenden Organisationen, einen offenen Austausch um die Kampfperspektive inmitten der Defensive zu führen. Wir brauchen eine Strategie- und Aktionskonferenz im kommenden Herbst. Wir richten diesen Appell insbesondere, aber natürlich nicht nur an jene Kräfte, die an der Demonstration teilgenommen haben: DKP, SDAJ, MLPD, REBELL, Föderation klassenkämpferischer Organisationen, Zora, Perspektive Kommunismus, Atik, Young Struggle, Neue Demokratische Jugend, Partizan, Atif, Kuhle Wampe, Karawane, Klasse gegen Klasse, die Sozialistische Alternative.




Die Rückkehr der Inflation

Bei Inflation geht es um eine allgemeine und längerfristige Steigerung der Preise, die nicht nur einen bestimmten Sektor, sondern wesentliche Bereiche sowohl für den Massenkonsum als auch für Investitionsgüter betrifft. Die Preissteigerungen fressen ein tiefes Loch in unsere Geldbeutel oder Konten. Längst können die geringen Lohnzuwächse und Rentenerhöhungen die Einkommensverluste nicht mehr auffangen. Betraf hohe Inflation bis vor der Pandemie und der globalen Rezession vor allem die Menschen in den Ländern des „globalen Südens“, also den von den führenden kapitalistischen Mächten und deren Kapitalen beherrschten Staaten, so ist sie längst zum Alltag für die gesamte Arbeiter_Innenklasse auch in den imperialistischen Ländern geworden. Der Krieg um die Ukraine wirkt dabei als Brandbeschleuniger.

Die bisherigen Zahlen

Die Preise für Waren insgesamt erhöhten sich von März 2021 bis März 2022 um 12,3 %. Damit liegen sie höher als der Verbraucherpreisindex. Besonders stark stiegen die Preise für Energieprodukte, die im März 2022 um 39,5 % über dem Niveau des Vorjahresmonats lagen. Den zweiten Faktor, der zur aktuellen Inflation beiträgt, sind die Preise für Nahrungsmittel. Sie erhöhten sich im März 2022 gegenüber dem Vorjahresmonat um 6,2 %. Besonders betroffen sind Gemüse und Speiseöle.

Wieso gab es bis vor kurzem scheinbar keine Inflation?

In den 2000er Jahren sank die Produktivität der Weltwirtschaft, was sich u.a. in der Bildung von Finanzblasen (beispielsweise im Immobilienmarkt) auszeichnete. Als diese Blase 2008 platzte und eine weltweite Finanzkrise auslöste, konnte diese nur mit einer extremen Senkung der Zinsen abgefangen werden. Eine Ausdehnung der Kredite und damit der Geldmenge führt normalerweise zu einer Inflation. Dies war aber in den 2010er Jahren aus folgenden Gründen nicht der Fall:

  • Senkung des Werts der Waren infolge von Produktivitätssteigerung, Ausdehnung des Welthandels und des Kapitalexportes (Stichwort: Wachstumsmotor China)
  • Stagnation der Löhne und Einkommen während der „Antikrisenpolitik“ auch in den kapitalistischen Zentren.
  • Sicherung der Anlagen überschüssigen Finanzkapitals in den imperialistischen Zentren und damit schon vor der Coronakrise Abfluss aus den sog. Schwellenländern.

Der letzte genannte Punkt sorgte dafür, dass die Inflation in Ländern außerhalb der kapitalistischen Zentren bereits vor der Coronakrise voll da war.

Inflation is here to stay

Doch die der Inflation entgegenwirkenden Faktoren sind aus mehreren Gründen praktisch erschöpft. Erstens hat sich der Weltmarktzusammenhang weiter verändert. Die infolge von Corona synchronisierte globale Rezession hat nicht nur massive Finanzmittel erfordert und die Verschuldung von Staaten und Unternehmen dramatisch gesteigert. Das Ausbleiben eines raschen und deutlichen Aufschwungs führt nun dazu, dass die Verschuldung und auch Ausdehnung von Unternehmen, die ohne Finanzhilfen eigentlich längst bankrott sein müssten, die gesamtwirtschaftliche Produktivität und damit auch die Profitraten und die Akkumulation drücken.

Hinzu kommt, dass infolge von Corona bis heute Zulieferketten unterbrochen sind, Mangel an Rohstoffen und Vorprodukten beeinträchtigen zusätzlich die Produktion und dämpfen damit die Profite. China fällt als Wachstumsmotor aus, Handelskriege und Protektionismus werden ebenso zur Normalität, wie die Zurückverlegung von Produktionsketten in die imperialistischen Kernländer. Der Krieg um die Ukraine, der Kampf um die Neuaufteilung der Welt und die Tendenz zur Blockbildung (Deglobalisierung) wirken unmittelbar verschärfend auf diese Entwicklung.

Sollte es nicht zu einem raschen und starken Wachstum, fußend vor allem auf steigenden Investitionen, kommen, droht tatsächlich auch in den imperialistischen Zentren die Rückkehr der Stagflation (Kombination von Stagnation und Inflation, die einander wechselseitig verstärken).

Für die Massen führt die sinkende Kaufkraft zu einer Einschränkung ihrer Konsummöglichkeiten. Die ärmeren, schlechter bezahlten und sozial unterdrückten Teile der Klasse sind hiervon besonders hart und rasch betroffen, also prekär und/oder Teilzeitbeschäftigte, Aufstocker_Innen, Arbeitslose, Rentner_Innen, Jugend, Frauen, Migrant_Innen, Geflüchtete. Wenn nicht erfolgreiche Lohnkämpfe geführt werden, kann die Kapitalist_Innenklasse ohne den Lohn auf dem Papier senken zu müssen eine Erhöhung der Ausbeutungsrate durchsetzen.

Deutsche Gewerkschaften und ihre Antwort

Hier machen sich die geringen Abschlüsse – also faktisch Lohnverzicht – der letzten Jahre und in der Regel extrem lange Laufzeiten von 2 Jahren und mehr dramatisch bemerkbar. Noch dramatischer ist jedoch die Lage für alle Lohnabhängigen, die nicht beschäftigt sind: Die Renten sind mit 5,5 % weniger als die Inflation gestiegen. Gleiches gilt für Sozialleistungen oder den Mindestlohn.

Die Gewerkschaftsbürokratie gibt ebenso wie die Spitzen von SPD und Linkspartei auf diese Entwicklung keine Antwort. Ihr ganzes politisches Repertoire besteht darin, leere Appelle an den Staat und die „Sozialpartner_Innen“ zu richten. Vom Bruch mit der Routine des Tarifrundenrituals, selbst von der allgemeinen und koordinierten Aufkündigung der bestehenden Verträge, wollen sie nichts wissen – schon gar nicht von einem politischen Kampf und politischen Streiks für alle Lohnabhängigen. Und das, obwohl (oder weil?) die allgemeine Preissteigerung die Unzulänglichkeit und Untauglichkeit der sozialpartnerschaftlichen und rein tarifpolitischen Antwort des Gewerkschaftsapparates offenbart. Für die Masse der Arbeiter_Innenklasse führt sie unwillkürlich zu Verzicht und massivem Verlust an Kaufkraft.

Welche Antwort?

Dabei käme den Gewerkschaften eigentlich eine Schlüsselrolle im Kampf gegen die Preissteigerungen zu. Die Millionen organisierten Arbeiter_Innen stellen jene unverzichtbare Kraft dar, die ein Programm durchsetzen kann, das verhindert, dass die Inflation auf die Lohnabhängigen abgewälzt wird. Dazu müssen folgende Forderungen erkämpft werden:

  • Automatische Anpassung der Löhne, Gehälter, Einkommen an die Preissteigerung. Diese muss von Kontrollausschüssen der Beschäftigten, Gewerkschaften, Rentner:innen und Erwerbslosen kontrolliert werden.
  • Finanzierung durch massive Besteuerung von Vermögen und Unternehmensgewinnen. Alle Enteignungen müssen entschädigungslos und unter Arbeiter_Innenkontrolle stattfinden zur Reorganisation der Produktion im Interesse der Massen und ökologischer Nachhaltigkeit.

Tarifkämpfe sollten als Mittel genutzt werden, um massive Entgelterhöhungen möglichst branchenübergreifend durchzusetzen und Kampforgane aufzubauen. Doch sie reichen nicht. Sie müssen als Mittel verstanden werden, alle Lohnabhängigen für einen gemeinsamen politischen Klassenkampf, letztlich für einen politischen Massenstreik zu sammeln. Diese Bewegung muss sich auf Aktionskomitees in den Betrieben, Büros, aber auch in den Stadtteilen und Gemeinden stützen, um auch Arbeitslose und Rentner_Innen, Jugendliche und Studierende zu einer Kampfeinheit zu formieren.

Inflation, Stagnation und Krise gehen Hand in Hand. Ihre Lösung erfordert die Verbindung der Mobilisierung gegen Preissteigerungen mit der Eigentumsfrage und der sozialistischen Umwälzung. In diesem Rahmen erst ergeben Übergangsforderungen wie die gleitende Skala der Löhne (automatische Anpassung an die Inflation) und Arbeiter_Innenkontrolle ihren eigentlichen Sinn – als Schritte im Kampf für eine zukünftige Gesellschaft.




Markiert der Ukrainekrieg wirklich eine Zeitenwende der kapitalistischen Gesellschaft?

Von Jonathan Frühling

Olaf Scholz verkündet in seiner Grundsatzrede am 27. Februar 2022 vor dem Bundestag, dass mit dem Ukrainekrieg eine Zeitenwende unserer Gesellschaft und Wirtschaft eingeleitet wurde. Doch was meint er damit, bzw. was meinen Revolutionär_Innen, wenn sie heute davon sprechen, dass der Kapitalismus in eine neue Phase eingetreten ist?

Grundlagen

Zunächst einmal ein paar grundsätzliche Dinge: Wir leben im Kapitalismus, d.h. einer Wirtschafts- und Gesellschaftsform, in der die Produktionsmittel (Firmen, Grund und Boden und Immobilien) in Privatbesitz sind. Diese Privatbesitzer_Innen lassen Arbeiter_Innen an ihren Produktionsmitteln arbeiten und beuten diese so für ihren Profit aus. Der Staat organisiert und verteidigt dieses System. Seit Konzerne international agieren und die gesamte Welt untereinander aufgeteilt haben, sind wir zudem mit Weltwirtschaftskrisen und Weltkriegen konfrontiert. Die Phase des Imperialismus war angebrochen. Daran hat sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts nichts wesentlich geändert.

Trotzdem ist die Behauptung, dass es Krieg und Krise ja schon immer gegeben habe und sich alles schon wieder verbessern werde, falsch und gefährlich. Natürlich bewegt sich das kapitalistische System in dem hier angedeuteten Rahmen. Jedoch bleibt die Zeit natürlich nicht stehen. Vielmehr unterliegt der Kapitalismus als ein System von extremen Widersprüchen zwangsläufig einer Entwicklung (wenn auch nicht zum Guten). Die Entwicklung in der momentanen Phase soll hier verdeutlicht werden.

Inflation

Inflation bezeichnet die langfristige Steigerung der Preise in den meisten Sektoren der Wirtschaft. Während Inflation in den Halbkolonien schon lange ein Problem ist, schien sie in den imperialistischen Ländern lange Zeit verschwunden zu sein.

Diese Entwicklung ist jedoch endgültig vorbei. Durch die Rezession (Rückgang der Wirtschaftsleistung) zu Beginn der Coronapandemie stieg die Staats- und Unternehmensverschuldung. Das Ausbleiben eines Booms danach sorgt jetzt dafür, dass die Verschuldung die Wirtschaft allgemein hemmt. Zudem sind die Lieferketten nach wie vor beeinträchtigt, weshalb Produkte nicht zum selben Preis wie vor Corona gefertigt werden können. Auch China fällt diesmal, anders als nach der letzten Wirtschaftskrise (2007/8) aufgrund von Coronaausbrüchen und eigenen wirtschaftlichen Problemen als Wachstumsmotor aus. Handelskriege, Protektionismus und Blockbildung (z.B. in Folge des Ukrainekrieges) sorgen für eine De-Globalisierung, welche zusätzlich verschärfend auf die Inflation wirkt.

Wahrscheinlich stehen wir am Anfang einer Stagflation, also einer Kombination von Stagnation (Stopp des Wirtschaftswachstums) und Inflation, welche sich gegenseitig verschärfen. Für die Masse der Bevölkerung führt die Inflation zu einer massiven Senkung ihrer Kaufkraft. Arme Menschen werden davon besonders stark betroffen. Die Folge ist eine massive Verarmung von Millionen von Menschen weltweit.

Der Ukrainekrieg und die politischen und wirtschaftlichen Folgen

Der schwindende Einfluss Russlands in Osteuropa durch die Nato-Osterweiterung und den pro-westlichen Putsch in der Ukraine haben den russischen Imperialismus dazu motiviert, mit militärischen Mitteln das Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten zu verändern. Aus dem schnellen Sieg wurde jedoch nichts und es entwickelte sich ein verlustreicher Krieg für beide Seiten. Zwar kämpfen keine Nato-Soldat_Innen in der Ukraine, allerdings ist die Nato mit der Lieferung von Waffen im Wert von über 100 Mrd. US$, der Ausbildung der ukrainischen Armee und der Bereitstellung von Satellitenbildern und Geheimdienstinformationen und der Verhängung tiefgreifender Sanktionen längst zu einer kriegführenden Partei geworden.

Die Sanktionen haben weitreichende Folgen für beide imperialistische Blöcke. Zum einen heizen sie die Inflation weiter an, da für beide Seiten Rohstoffe und Produkte ausfallen, die nicht zum selben Preis ersetzt werden können. Zum anderen findet eine wirtschaftliche Entflechtung zwischen den beiden Blöcken statt. Westliche Firmen stellen ihr Russlandgeschäft ein und umgekehrt. Die Länder werden dadurch wirtschaftlich unabhängiger voneinander. Das wiederum macht eine direkte militärische Konfrontation in Zukunft wahrscheinlicher, da die wirtschaftlichen Kosten eines solchen Kampfes damit leichter für die kriegführenden Länder zu kompensieren sind.

Auch sicherheitspolitisch hat der Krieg Europa in Bewegung gesetzt. So wollen die vormals blockfreien Staaten Finnland und Schweden nun im Eilverfahren der Nato beitreten. Der EU- und Nato-Beitritt der Ukraine wurde zwar schon lange diskutiert, gilt nach einem ukrainischen Sieg nun aber als sehr sicher.

Doch nicht nur in Europa hat der Ukrainekrieg die Blockbildung verschärft. Durch die Isolation Russlands versucht beispielsweise Kasachstan (ein traditioneller Verbündeter Russlands) unabhängiger von Russland zu werden, weil das Land Angst hat, durch die enge Verbindung mit Russland selbst isoliert zu werden. Indien (ein Feind Chinas und deswegen in den letzten Jahren immer engerer Verbündeter der USA, aber traditionell auch ein Partner Russlands) wird von den USA gedrängt, gegen Russland Position zu beziehen.

Umweltkrise – Point of no return

Besonders prominentes Thema der vielfältigen Umweltkrisen ist natürlich die Klimaerwärmung. Trotz diverser Lippenbekenntnisse steigen jedoch die CO2-Emissionen und verschärfen das Problem. Der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und Atomkraft rückt durch den Ukrainekrieg in Europa in noch weitere Ferne. In der Folge werden Ökosysteme zerstört und Land aufgrund von Wassermangel unfruchtbar. Verarmung, Gewalt um die verbleibenden Quellen und die Destabilisierung ganzer Regionen hat deshalb (vor allem in Afrika) massiv zugenommen.

Auch das Artensterben erreicht riesige Ausmaße, die Abholzung von Wald, Umweltverschmutzung, die Störung des Nitratkreislaufes, Überfischung usw. usw. haben bedrohliche Ausmaße angenommen. Das alles ist zwar nicht neu, allerdings werden mittlerweile Millionen Menschen davon direkt betroffen, was durchaus eine neue Etappe in der Entwicklung des Problems darstellt.

Fazit

Es lässt sich darüber streiten, ob der Krieg in der Ukraine eine Zeitenwende markiert. Jedoch ist der Kapitalismus eindeutig in eine neue, noch krisenhaftere Phase eingetreten. Zwar haben viele Entwicklungen schon vorher ihren Anfang genommen, der Ukrainekrieg hat sie jedoch verschnellert und verstärkt. Das lässt sich vor allem über die Blockbildung sagen, die manche Bündnisse festigt, andere zerstört, wieder andere neu bildet. Das geht auch mit einer massiven, weltweiten Aufrüstung einher, bei der das 100 Mrd.Paket Deutschlands und sein Ziel, 2 % der Wirtschaftsleistung für das Militär auszugeben, stellvertretend gesehen werden sollte.

(Handels-)Kriege und die immer noch ungelöste Coronakrise heizen die Inflation weiter an und zerstören die Lebensgrundlage von Millionen von Menschen. Viele Staaten, vor allem Halbkolonien, werden dadurch extrem instabil, wie sich z.B. am Libanon oder an Sri Lanka zeigt. Zudem werden die wirtschaftlichen Probleme des Kapitalismus immer schwerwiegender und die Mittel, diese zu bekämpfen immer unbrauchbarer. Die Diskussion zwischen niedrigen Leitzinsen (Zinsen, zu denen sich die Banken bei den Zentralbanken Geld leihen können), welche die Inflation anheizen, und hohen Leitzinsen, die zu einer Rezession führen können, zeigen an, wie eng der Spielraum für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation im Kapitalismus ist. Zudem wird die irreparable Zerstörung unserer Umwelt durch die kapitalistische Wirtschaft immer augenscheinlicher.

Das Alles macht eine revolutionäre Lösung auf all diese Probleme notwendig. Das Handeln der Zentralbanken, die Beschlüsse der UN-Klimagipfel oder die kapitalistische „Krisenlösung“ haben sich längst als eine Fortsetzung der Katastrophen entpuppt. Wir müssen international gegen das Kapital und ihre Regierungen vorgehen. Wie kann das besser gehen, als mit der Klasse der Lohnabhängigen, die überall dieselbe Unterdrückung erleidet, aber auch überall die Macht hat, diese zu bekämpfen? Wieso lokale symbolische Aktionen machen, wenn heute schon weltweit Arbeiter_Innen demonstrieren und streiken, um die Krise in ihrem Interesse zu lösen? Nur eine international geeinte Arbeiter_Innenbewegung, die lokale Kämpfe mit sozialistischem Internationalismus verbindet, hat die Macht etwas zu verändern!




Frauen – Verliererinnen der Pandemie

Lucretia Ramunkel (REVOLUTION, Österreich)/Katharina Wagner (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland)

Seit Beginn der Pandemie hat sich einiges geändert, vor allem für Frauen und zwar nicht zum Besseren.

Die globale Wirtschaftskrise, die sich auch schon vor der Pandemie abzeichnete, wurde durch sie deutlich verstärkt und synchronisiert. Auch wenn in den imperialistischen Nationen deren Auswirkungen teilweise mithilfe von Konjunkturpaketen, Kurzarbeiter:innengeld oder Corona-Hilfen abgefedert werden konnten, so sieht es in halbkolonialen Ländern deutlich anders aus. In allen Ländern führten die Maßnahmen zur massiven Zunahme der Verschuldung. Gleichzeitig ging die Entwicklung mit einer Zuspitzung der innerimperialistischen Konflikte einher.

Die Pandemie hat in vielerlei Hinsicht das Leben für geschlechtlich unterdrückte Personen verschlechtert, etwa durch den Verlust von Verdienstmöglichkeiten, den Anstieg an sexueller Gewalt und die erhöhte Belastung durch die Sorgearbeit, um nur einige zu nennen.

Arbeitslosigkeit und Einkommen

Schon ein Blick auf die Entwicklung von Arbeitslosigkeit und Einkommen verdeutlicht, wie viel stärker Frauen von Krise und Pandemie betroffen sind. Einem UN-Bericht aus dem Jahr 2021 (https://www.un.org/depts/german/millennium/SDG%20Bericht%202021.pdf) zufolge stiegen 2020 die Arbeitslosenzahlen um 33 Millionen auf 220 Millionen. Weitere 81 Millionen schieden aus dem Arbeitsmarkt aus. 5 % aller beschäftigten Frauen verloren ihren Arbeitsplatz (gegenüber 3,9 % der Männer).

Die Einbußen konnten teils in imperialistischen Nationen durch Kurzarbeiter:innengeld abgemildert und somit einige Entlassungen auch verhindert werden. Jedoch sieht das für den globalen Süden anders aus. So verloren in Indien 47 % aller Frauen während des ersten Lockdowns im Jahr 2020 ihre Jobs (während nur 7 % der männlichen Arbeitskräfte dasselbe Schicksal teilen) (Quelle: https://www.thehindu.com/news/national/tamil-nadu/more-women-lost-jobs-in-the-pandemic-in-india-compared-to-men-says-expert/article38417389.ece).

In vielen Ländern haben die Menschen keinen Zugang zu staatlichen Hilfen. Frauen sind auch überdurchschnittlich häufig von Entlassungen betroffen, da ein großer Teil im sogenannten informellen Sektor tätig ist. Das bedeutet, sie haben keinerlei Anspruch auf Entlohnung im Falle von Krankheit oder dem Verlust ihres Jobs. So arbeiten z. B. im südlichen Afrika rund 92 % aller weiblichen Erwerbstätigen ohne jegliche Absicherungsmaßnahmen wie Kündigungsschutz oder Lohnfortzahlung bei Krankheit.

Ökonomische Folgen

Ungleiche Bezahlung der Geschlechter ist kein Symptom der Pandemie. Jedoch wird der Einkommensunterschied durch diese vergrößert und damit die ökonomische Abhängigkeit in Partnerschaften. Frauen sind vor allem in Sektoren überrepräsentiert, die besonders hart von der Pandemie getroffen wurden und traditionell schlechter bezahlt werden: Gastgewerbe, Einzelhandel, Tourismusbranche. Außerdem sind sie im sogenannten informellen Sektor und in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig. So haben sie in informellen Beschäftigungsverhältnissen während des ersten Monats der Pandemie 70 % ihres Einkommens verloren. Zudem kommt, dass viele Frauen teilzeit- oder in Mini-Jobs beschäftigt sind, da sie sich um den Haushalt und die Kinder kümmern müssen. Selbst wenn man das Glück hat, in einem Land zu leben, das die Einkommensausfälle abmildert, so haben viele Frauen keinen Anspruch auf Gelder oder bekommen sehr viel weniger als Männer. So hat in Deutschland beispielsweise nur jemand Anrecht auf Kurzarbeiter:innengeld, der/die in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, was bei Leuten nicht zutrifft, die im informellen Sektor arbeiten. In Europa sind mehr als 30 % der Frauen teilzeitbeschäftigt, was bedeutet, dass sie weniger Arbeit„nehmer“:innenrechte, Gesundheitsschutz und Zugang zu grundlegenden Leistungen genießen.

Auch Schließungen von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen wirken sich negativ auf das Einkommen von Frauen aus. Die Gesellschaft, die auf einer traditionellen Rollenverteilung beruht und Politik für die klassische Kernfamilie macht, bringt eine massive Mehrbelastung für die Frau während der Pandemie mit sich. So sind es Frauen, die vor allem die Kinderbetreuung, das Homeschooling und die Haushaltstätigkeiten während der Ausgangsbeschränkungen übernommen haben. Die Mehrbelastung durch die Sorgearbeit führte in vielen Fällen dazu, dass es ihnen nicht mehr möglich war, ihrer Lohnarbeit in vollem Umfang nachzugehen. Auf Grund der geringeren Lohnarbeitszeit und Sozialleistungen, die auf das Kernfamilienmodell ausgelegt sind, sind überdurchschnittlich häufig Frauen von Altersarmut bedroht.

Kein Wunder also, dass die Einkommensunterschiede zwischen den Geschlechtern während der Pandemie weiter massiv zugenommen haben. Laut WEF (Weltwirtschaftsforum) verdienen Frauen weltweit durchschnittlich nur 68 % dessen, was Männer für dieselbe Arbeit erhalten würden. In Ländern mit der geringsten Kaufkraftparität sind es sogar nur 40 %. Und auch hier hat die Pandemie die Situation für Frauen deutlich verschlechtert. Erste Untersuchungen deuten bereits darauf hin, dass das Lohn- und Gehaltsgefälle sich im Zuge der Pandemie um 5 % vergrößert hat.

Gesundheitsbereich und Care-Arbeit

Auch wenn Frauen ihre Erwerbsarbeit nicht verlieren, ist das ein zweifelhaftes Glück. Bekanntlich stellt der Sozial- und Pflegebereich einen wichtigen Beschäftigungssektor für Frauen dar. Weltweit stellen sie etwa 70 % des Personals in diesen Bereichen. Da sie es meistens sind, die sich bezahlt oder unbezahlt um Kranke und Pflegebedürftige kümmern, sind sie dem Virus stärker ausgesetzt. Die Mängel, die schon vor der Pandemie im Pflegebereich sichtbar waren, haben sich durch ihr Andauern und die unzureichende Zuwendung seitens der Politik massiv verschärft. Die schlechte Bezahlung im Pflegebereich und die fehlende Anerkennung hatte auch schon vor der Pandemie einen Fachkräftemangel nach sich gezogen. Durch die psychische und physische Belastung, der ständigen Angst vor einer Ansteckung und der schwierigen Vereinbarkeit von Beruf und Familie haben viele Pflegekräfte in den letzten Pandemiejahren gekündigt. Hinzu kommt die Anfeindung durch Coronaleugner:innen und Impfgegner:innen. So denkt in Deutschland mittlerweile jede 3. Person von den 1,8 Millionen Menschen, die in der Pflege beschäftigt sind, über einen Berufswechsel nach.

Da ein großer Teil der Kapazitäten im Gesundheitsbereich mit der Bekämpfung von Covid-19 ausgelastet ist, ist in vielen Teilen der Welt der Zugang zu reproduktiver medizinischer Versorgung für Frauen noch weiter eingeschränkt. Ein Anstieg der Mütter- und Kindersterblichkeit ist klar zu erkennen. Dies sieht man vor allem in halbkolonialen Ländern. In Bangladesch, Nigeria und Südafrika wurde 2021 ein Anstieg von 30 % bei der Sterblichkeit von Müttern und Neugeborenen verzeichnet. Auch die Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen haben sich vielerorts aufgrund mangelnder Ausstattung und personeller Kapazitäten verringert. Durch Lockdowns sind Angebote dafür wie für Familienplanung deutlich eingeschränkt. Seit Beginn der Pandemie und damit einhergehenden Schließungen von Schulen und Anlaufstellen ist der Zugang zu Aufklärung, Verhütungsmitteln und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen deutlich eingeschränkt. In Gauteng beispielsweise, Südafrikas bevölkerungsreichster Provinz, ist seit Beginn der Pandemie die Anzahl der Kinder, die von jugendlichen Müttern geboren wurden, um 60 % gestiegen.

Gewalt gegen Frauen

Verdienstausfälle und dadurch geschaffene existenzielle Sorgen sowie Quarantäne und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit haben einen massiven Anstieg an häuslicher Gewalt mit sich gebracht. Allein in der EU wurde in den ersten Monaten der Pandemie eine Zunahme von Notrufen wegen häuslicher Gewalt um 60 % registriert. Die ökonomische Abhängigkeit und eingeschränkte Bewegungsfreiheit erschwert es davon Betroffenen, dem zu entkommen. Auch die Angebote von Schutzräumen, welche trotz der Istanbul-Konvention schon vor der Pandemie unzureichend waren, wurden in vielen Ländern eingeschränkt oder ganz gestrichen.

Mit dem Anstieg häuslicher und sexistischer Gewalt geht auch einer an Femiziden einher. In Mexiko beispielsweise wurden 2021 922 Morde an Frauen als Femizid eingestuft. 2020 waren es 893 Frauen. Auch Schulschließungen ziehen drastische Folgen mit sich. Denn das Risiko, dadurch geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt zu , steigt dramatisch. In Somalia beispielsweise nahm durch die Pandemie die Zahl der weiblichen Genitalverstümmelungen um 31 % zu(Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen) erlitten haben.

Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung

Die Ursachen für all diese Verschlechterungen müssen im Kontext der kapitalistischen Produktionsweise und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung betrachtet werden, bei der die Frau auf die Tätigkeit in der sogenannten Reproduktionsarbeit fixiert ist, auf Aufgaben zur Erhaltung des unmittelbaren Lebens wie Kindererziehung, Pflege von Familienangehörigen oder Hausarbeit im privaten Umfeld. In den allermeisten Fällen handelt es sich hierbei um unbezahlte und aus Sicht des Kapitals unproduktive Arbeit, da sie keinen Mehrwert generiert. Demgegenüber übernimmt der Mann die produktiven Arbeiten. Mit Entstehung der bürgerlichen Familie als Norm, welche sowohl ideologisch als auch repressiv gegenüber anderen modernen Formen durchgesetzt und verteidigt wird, reproduziert sich die eben angesprochene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bis heute weiter.

Der Kapitalismus hat sich diese lange vorher existierende zunutze gemacht, indem der Mann einen sogenannten „Familienlohn“ erhält und die Frau quasi als „Zuverdienerin“ das familiäre Haushaltsvermögen aufstockt. Dies erklärt den weiterhin herrschenden Lohnunterschied (Gender Pay Gap) zwischen Männern und Frauen. Global betrachtet stimmt dieses Modell schon lange nicht mehr mit der Realität überein. In vielen Fällen ist nämlich die Frau mittlerweile Hauptverdienerin und ein Lohn oft nicht ausreichend, um das Überleben der Familie zu sichern. Dennoch trägt auch dieser Umstand weiterhin zur Festigung der bürgerlichen Familie und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung bei.

Reserve

Denn Frauen werden von Kapitalist:innen als sogenannte Reservearmee gesehen, was auch ihre stärkere Betroffenheit in Krisenzeiten erklärt. Sie besteht aus Menschen, die in konjunkturell starken Phasen eingestellt und in Krisenzeiten wieder schnell entlassen werden können. Dann wird auch gerne die Reproduktionsarbeit aus Kostengründen zurück ins private Umfeld und somit unentgeltlich verlagert. Dadurch entsteht wiederum eine stärkere Doppelbelastung aus Erwerbs- und Sorgearbeit für Frauen. Einher geht auch eine zunehmende Abhängigkeit vom Partner, was es oftmals unmöglich macht, diesen Rollen zu entkommen. Auch in der Pandemie ist dieser Rollback deutlich zu sehen.

Diese veralteten Rollenbilder reproduzieren und verstärken eine Spaltung zwischen Mann und Frau zugunsten des Kapitals. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Frauen härter von den Folgen der Pandemie betroffen sind. Deshalb darf ihre Lage nicht losgelöst vom kapitalistischen System betrachtet werden, in dem wir uns befinden. Ein System, das von der Ausbeutung profitiert, kann niemals die Lösung für eben jene Problematik liefern. Denn für Marxist:innen handelt es sich beim Kapitalismus nicht nur um ein Produktions-, sondern ein Gesellschaftssystem, welches alle Lebensbereiche durchdringt und unser Denken und Handeln bestimmt. Das ist klar erkennbar in den Geschlechterrollen, die uns zugeschrieben, uns anerzogen werden und sich dadurch weiter reproduzieren.

Wofür kämpfen?

Da in einem System, das auf Ausbeutung beruht, keine Geschlechtergerechtigkeit möglich ist muss der Kampf um Verbesserungen als Teil eines umfassenderen um vollständige Befreiung verstanden werden. Er muss international organisiert sein und mit dem gegen den Kapitalismus verknüpft werden. Selbst wenn sich die Lage der Frau von Land zu Land deutlich unterscheidet, müssen einige Forderungen international aufgestellt werden.

Wir fordern gleiche Löhne für gleichwertige Arbeit und einen Mindestlohn, der zum Überleben reicht. Die Abschaffung des informellen Sektors muss auf die Tagesordnung gesetzt werden. Solche und andere prekäre Arbeitsverhältnisse müssen durch Einführung von Tariflöhnen und Kollektivverträgen verschwinden, die Beschäftigten voll in solche „Normalarbeitsverhältnisse“ integriert werden. Die Kontrolle über die Umsetzung dieser Maßnahmen und die Sicherung der Gehälter muss in der Hand der Arbeiter:innenklasse und der Gewerkschaften liegen. In einer Pandemie wie dieser ist es auch wichtig, einen Entlassungsstopp und bei Schließungen ganzer Branchen die Auszahlung voller Löhne zu fordern. Außerdem brauchen wir einen weitläufigen Ausbau des Gesundheitssystems, der Altersvorsorge, von Kitas und Schulen als Teil eines Programms gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Kontrolle der Lohnabhängigen, bezahlt aus den Profiten der Unternehmen.

Um Frauen vor psychischer und physischer Gewalt zu schützen, bedarf es dringend des Ausbaus von Schutzräumen und von Selbstverteidigungsstrukturen. Wir fordern ebenso eine rechtliche Gleichheit und ein Recht auf Scheidung sowie auf sichere, durch Krankenkassen bzw. den Staat bezahlte Abtreibung und körperliche Selbstbestimmung. Auch der kostenlose Zugang zu Verhütungsmitteln, Aufklärung und medizinischer Versorgung muss gewährleistet sein.

Der Kampf gegen die Folgen von Pandemie und Krise, von denen lohnabhängige Frauen besonders hart getroffen werden, hat aber auch zu vielen Abwehrkämpfen und Bewegungen geführt, wo Arbeiterinnen an vorderster Front standen. Diese zeigen, dass Frauen nicht in erster Linie Opfer und Betroffene, sondern vor allem Kämpferinnen sind. Die Frauen*streiks der letzten Jahre, die Bewegungen im Gesundheitssektor und Frauen, die in Afghanistan unter extremen Bedingungen ihre Rechte verteidigen – sie alle zeigen, dass vor unseren Augen auch die Basis für eine neue internationale proletarische Frauenbewegung entsteht.

Lasst uns gemeinsam für die Abschaffung des Kapitalismus und für eine vollständige Frauenbefreiung kämpfen! Für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung!




Solidarität mit den Arbeiter_Innen und Jugendlichen in Kasachstan!

Artikel von der Gruppe Arbeiter_innenmacht zu den Protesten in Kasachstan

Seit Jahresbeginn erschüttern Massenproteste das Land. Sie begannen am Sonntag, den 2. Januar, in Schangaösen inmitten der westlichen Region Mangghystau, das das Zentrum der für die Wirtschaft des Lands entscheidenden Öl- und Gasindustrie bildet. Getragen wurden die Aktionen und die Bewegung von den Beschäftigten (und zehntausenden Arbeitslosen) dieser Industrie.

Bereits am 3. Januar wurde die gesamte Region Mangghystau von einem Generalstreik erfasst, der auch auf die Nachbarregion Atyrau übergriff. Innerhalb weniger Stunden und Tage inspirierten und entfachten sie Massenproteste in anderen städtischen Zentren  wie Almaty (ehemals Werny, danach Alma-Ata), der größten Stadt des Landes, und selbst in der neuen Hauptstadt Nur-Sultan (vormals Astana). Diese nahmen die Form lokaler spontaner Aufstände an.

Unmittelbar entzündet hat sich die Massenbewegung, die sich, ähnlich wie die Arabischen Revolutionen, rasch zu einem beginnenden Volksaufstand entwickelten, an der Erhöhung der Gaspreise zum Jahreswechsel, da deren bis dahin geltende Deckelung aufgehoben wurde. Die Ausgaben für Gas, das von der Mehrheit der Bevölkerung für Autos, Heizung und Kochen verwendet wird, verdoppelten sich praktisch über Nacht.

Die Bewegung entwickelt sich innerhalb kurzer Zeit von Streiks und Protesten gegen die drastischen Erhöhungen der Preise zu einer gegen die autoritäre kapitalistische Regierung. Von Beginn an spielten die Lohnabhängigen der zentralen Industrien eine Schlüsselrolle im Kampf, letztlich das soziale und ökonomische Rückgrat der Bewegung. So berichtet die Sozialistische Bewegung Kasachstans nicht nur sehr detailliert über die Ausweitung der Streikbewegung in einer Erklärung zur Lage im Lande (http://socialismkz.info/?p=26802; englische Übersetzung auf: https://anticapitalistresistance.org/russian-hands-off-kazakhstan/), sondern auch über eine Massenversammlung der ArbeiterInnen, wo erstmals die Forderung nach dem Rücktritt des Präsidenten erhoben wurde:

„In Schangaösen selbst formulierten die ArbeiterInnen auf ihrer unbefristeten Kundgebung neue Forderungen – den Rücktritt des derzeitigen Präsidenten und aller Nasarbajew-Beamten, die Wiederherstellung der Verfassung von 1993 und der damit verbundenen Freiheit, Parteien und Gewerkschaften zu gründen, die Freilassung der politischen Gefangenen und die Beendigung der Unterdrückung. Der Rat der Aksakals wurde als informelles Machtorgan eingerichtet.“ (ebda.)

Zuckerbrot und Peitsche

Die Staatsführung unter dem seit zwei Jahren amtierenden Präsidenten Tokajew reagierte auf die Protestbewegung mit Zuckerbrot und Peitsche, mit Zugeständnissen und brutaler Repression.

Um die Bevölkerung zu beschwichtigen, wurden die Erhöhungen der Gaspreise schon zurückgenommen. Außerdem traten die Regierung und bald danach auch der Vorsitzende des Sicherheitsrates, der ehemalige Präsident Nursultan Nasarbajew zurück. Diese Veränderungen sind jedoch rein kosmetischer Art. Nachdem der Regierungschef Askar Mamin abgedankt hat, werden die Amtsgeschäfte von dessen ehemaligem Stellvertreter  Alichan Smailow weitergeführt. Nasarbajew, der das Land rund 30 Jahre autokratisch regiert hat und weiter Vorsitzender der regierenden Partei Nur Otan (Licht des Vaterlandes) ist, die über eine Dreiviertelmehrheit im Parlament verfügt (76 von 98 Sitzen), trat zwar vom Amt des Vorsitzenden des Sicherheitsrates, einer Art Nebenpräsident, zurück. Diese Funktion übernahm nun jedoch auch sein Nachfolger Tokajew.

Vor allem aber reagierte der Präsident auf die anhaltenden Massenproteste, auf die Besetzung öffentlicher Gebäude und die drohende Entwicklung eines Aufstands zum Sturz der herrschenden Elite auch mit massiver Repression.

Die Proteste in Städten wie Almaty, die von Beginn an viel mehr den Charakter von Emeuten hatten, wurden brutal unterdrückt. Mehrere Dutzend Menschen wurden getötet. Die Regierung selbst spricht davon, dass bis zum 6. Januar 26 „bewaffnete Kriminelle“ liquidiert worden seien. Mehr als 3 000 wurden festgenommen, Tausende verletzt.

Damit gibt das Regime nicht nur selbst zu, dass es über Leichen geht, um seine Macht, seine „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen. Es tut auch, was alle kapitalistischen Regierungen, alle repressiven Regime anstellen, wenn ihre Macht gefährdet ist: Diffamierung der Massenbewegung als „Kriminelle“, „TerroristInnen“ und legitimiert damit die Verhängung des Ausnahmestandes (vorerst bis 19. Januar), den Einsatz von Schusswaffen gegen Protestierende, die Abschaltung von Messengerdiensten wie Signal und WhatsApp und von Internetseiten. Die sog. Antiterroreinsätze sollen laut Präsident Tokajew bis zur „kompletten Auslöschung der Kämpfer“ dauern. Um diese Operation auch mit aller Brutalität durchziehen zu können, ruft er die große imperialistische Schutzmacht Russland zu Hilfe. Und die kommt prompt mit 3000 SoldatInnen, die im Rahmen der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS) helfen sollen, die „verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherzustellen. Sie sollen Regierungsgebäude und kritische Infrastruktur schützen und haben auch das Recht, ihre Schusswaffen einzusetzen.

Ursachen der politischen Krise

Angesichts dieser Zusammenballung der Kräfte des Regimes, seines Staatsapparates und seiner Verbündeten droht eine brutale Unterdrückung der Massenbewegung. Dies wäre nicht das erste Mal in der Geschichte des Landes. Über Jahrzehnte regierte Nasarbajew mit eiserner Hand. Die politische Macht wurde faktisch bei einer kleinen Oligarchie konzentriert, die das Wirtschaftsleben des Landes kontrolliert, darunter die reichen Öl- und Gasfelder, große strategische, wichtige weitere Rohstoffvorkommen wie auch den Finanzsektor.

Seine Macht stützt das Regime auf die Kontrolle des Staatsapparates, die Staatspartei Nur Otan, die faktische Ausschaltung unabhängiger Medien und jeder nennenswerten Opposition. Selbst die sog. Kommunistische Partei wurde 2015 gerichtlich verboten.

Neben der Repression stützte sich die kasachische Pseudodemokratie aber auch jahrelang auf ein Wachstum der Wirtschaft. Der Öl- und Gasexport bildet bis heute ihr Rückgrat. Hinzu gesellt sich der Bergbau. Kasachstan ist mittlerweile der größte Uranproduzent der Welt und verfügt über weitere wichtige Rohstoffvorkommen (Mangan, Eisen, Chrom und Kohle).

Über Jahre expandierte die kasachische Ökonomie und galt als wenn auch autoritäres Wirtschaftswunderland unter den ehemaligen Sowjetrepubliken, was nicht nur den Ausbau wirtschaftlicher, politischer und militärischer Beziehungen zu Russland und China zur Folge hatte, sondern auch große westliche InvestorInnen gerade in der Öl- und Gasindustrie anzog (z. B. Exxon, ENI). Letztlich stellt das Land jedoch einen wichtigen halbkolonialen Verbündeten Russlands dar, das keinesfalls einen Sturz dieses Regimes zulassen kann.

Doch die globale Finanzkrise traf das Land schon recht hart, weil Kasachstan auch ein im Vergleich zu anderen halbkolonialen Ländern gewichtiges Finanzzentrum in Almaty hervorbrachte. 2014/15 machten sich jedoch vor allem die sinkenden Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt bemerkbar. Die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts brachen ein. Das Land macht im Grunde eine Phase der wirtschaftlichen Stagnation seit Mitte der 2010er Jahre durch, während der Pandemie und Krise schrumpfte das BIP.

Wie in vielen Ländern, deren Staatseinnahmen wesentlich aus Rohstoffexporten und der Grundrente stammen, ging die Entwicklung des kasachischen Kapitalismus mit einer extremen Form der sozialen Ungleichheit einher. Die aus der ehemaligen Staatsbürokratie stammende, neue Schicht von KapitalistInnen monopolisierte faktisch den Reichtum des Landes. Jahrelang ging diese Bereicherung jedoch auch mit Investitionen in andere Sektoren (z. B. Ausbau der Infrastruktur, von Verkehrswegen) einher und einer Alimentierung der Massen, deren Lebenshaltungskosten z. B. über die Deckelung der Gaspreise relativ gering gehalten wurden.

Doch seit Jahren wird dies für den kasachischen Kapitalismus immer schwieriger aufrechtzuerhalten. Die Herrschenden wollen keinen Cent an die Armen abgeben. Im Gegenteil, sie drängen im Chor mit westlichen WirtschaftsexpertInnen darauf, deren „Privilegien“ (!) zu streichen und die Wirtschaft weiter zu liberalisieren. Dafür versprechen sie Investitionen in der Öl- und Gasindustrie oder im Bergbau, um veraltete Anlagen zu erneuern oder neue Abbaustätten zu erschließen.

Besonders drastisch stellt sich daher die soziale Ungleichheit im Land gerade dort dar, wo der Reichtum geschaffen, produziert wird. Während sich die ChefInnen der kasachischen Energie- und Bergbauunternehmen und die Staatsführung regelrechte Paläste bauen lassen, schuften die Beschäftigten auf den Öl- und Gasfeldern – und das oft unter lebensgefährlichen Bedingungen. Viele warten oft monatelang auf ihre Löhne, zehntausende ArbeiterInnen in der Öl- und Gasindustrie sind mittlerweile arbeitslos.

Dass die Bewegung in den Regionen Westkasachstans ihren Ausgang in Form einer gigantischen Streikwelle nahm, ist kein Zufall. Schon 2011 kam es zu einer riesigen Streikwelle der ÖlarbeiterInnen, die blutig niedergeschlagen wurde. Dabei kamen Menschenrechtsorganisationen zufolge 70 Streikende ums Leben, 500 wurden zum Teil schwer verletzt. Doch trotz dieser extremen Repression hielten sich unabhängige, illegale oder halblegale Strukturen der ArbeiterInnenklasse in diesen Regionen. Aufgrund drohender Entlassungen, der Nichtauszahlung von Löhnen nahmen auch in den letzten Monaten des Jahres 2021 Streiks und Arbeitskämpfe in der Öl- und Gasindustrie zu.

Daraus erklären sich auch die Unterschiede zwischen der Bewegung in den industriellen Zentren in Westkasachstan, die von den Lohnabhängigen getragen werden und die sich des Streiks – und damit kollektiven Aktionen der ArbeiterInnenklasse – als Hauptkampfmittel bedienen, und an anderen Orten. Von größter Bedeutung ist jedoch, dass deren Forderungen mittlerweile längst über betriebliche und gewerkschaftliche Fragen hinausgegangen sind und auch einen politischen Charakter – Rücktritt des Präsidenten, Freilassung der politischen Gefangenen – angenommen haben.

Zum Teil schwappen diese auch in andere Regionen über. In anderen städtischen Zentren entwickelte sich die Bewegung viel stärker als eine Art Straßenaufstand, als Aufruhr  verarmter Schichten, von Jugendlichen, aber auch Lohnabhängigen, die aus ländlichen Regionen in die Zentren migrierten. Diese Wut und Empörung nimmt gerade, weil diese Schichten weniger organisiert sind, auch einen politisch unklareren, diffusen Charakter an. Dennoch ist diese Bewegung auch ein genuiner Ausdruck der Massenempörung gegen ein despotisches, autoritäres kapitalistisches Regime. Dass solche Emeuten auch mit Formen des Vanadalismus einhergehen, dass sich auch deklassierte, unpolitische Elemente oder gar staatliche ProvokateurInnen „anschließen“, ist nichts Ungewöhnliches für solche scheinbar spontanen, in Wirklichkeit jedoch sich schon lange vorbereitenden Eruptionen des Volkszorns. Entscheidend ist hier, ob diese Wut zu einer organisierten Kraft werden kann – und das hängt vor allem davon ab, ob die ArbeiterInnenklasse, allen voran die Öl- und GasarbeiterInnen, dieser eine politische Führung geben können.

Blutige Abrechnung droht

Die wirklichen „Kriminellen“ sind jedoch nicht auf den Straßen von Nur-Sultan oder anderen städtischen Zentren zu finden, sondern in Palästen der Reichen und BürokratInnen, in den Generalstäben der Armee und Repressionskräften, die eine blutige Abrechnung mit den Aufständischen und vor allem auch mit den streikenden und kämpfenden ArbeiterInnen vorbereiten.

Leute wie Nasarbajew und Tokajew haben sich längst entschieden, wie sie die Krise zu lösen gedenken. Der Präsident spricht von 20.000 „Banditen“, die auszumerzen gelte, Armee und Polizei wurde der Schießbefehl erteilt. Die Herrschenden wollen die Bewegung in Blut ertränken – und zwar nicht nur den Aufruhr in den Städten, sondern auch, ja vor allem die Streiks und Strukturen der ArbeiterInnenklasse in den Industrieregionen. Schließlich wissen sie nur zu gut, dass sich hier eine soziale Kraft, eine Klassenbewegung formiert, die ihnen wirklich gefährlich werden kann.

Die ArbeiterInnen der großen Industrieregionen und andere Schichten der Lohnabhängigen (z. B. TransportarbeiterInnen) können das Land lahmlegen. Sie können so auch die Repressionsmaschinerie zum Stoppen bringen – und möglicherweise auch untere Teile des Repressionsapparates, einfache SoldatInnen zum Wechsel der Seiten verlassen oder paralysieren. Auch diese Gefahr drängt das Regime zum Handeln und erklärt auch, warum es russische Truppen angefordert hat, deren bloße Anwesenheit auch die Disziplin potentiell „unsicherer“ kasachischer Repressionskräfte, von PolizistInnen oder SoldatInnen, sicherstellen soll.

Daher werden die nächsten Tage auch für die Bewegung von größter Bedeutung sein. Um die Repressionsmaschinerie zu stoppen, braucht es einen landesweiten Generalstreik. Dazu müssen wie in den Regionen der Öl- und Gasindustrie Vollversammlungen der Beschäftigten, aber auch in den Wohnvierteln organisiert und ArbeiterInnenkomitees gewählt werden, die den Kampf organisieren und zu einem Aktionsrat auf kommunaler, regionaler und landesweiter Ebene verbunden werden.

Angesichts der Repression müssen sie Selbstverteidigungsstrukturen bilden, die diesen Räten untergeordnet und in der Lage sind, die bisher unorganisierten Emeuten in Städten wie Nur-Sultan durch organisierte, in den Betrieben und Wohnvierteln verankerte Strukturen zu lenken.

Zugleich braucht es unter den einfachen SoldatInnen, den unteren Rängen der Polizei eine Agitation, sich dem Einsatz gegen die Bevölkerung zu verweigern, eigene Ausschüsse zu wählen und dem mörderischen Regime die Gefolgschaft aufzukünden. Die kasachischen und russischen Repressionskräfte müssen aus den Städten und ArbeiterInnenbezirken zurückgezogen werden. Die OVKS-Truppen sollen das Land verlassen, die Gefangenen der letzten Tage müssen auf freien Fuß gesetzt werden.

Ein solcher Generalstreik und eine Bewegung, die ihn stützt, würde zugleich unwillkürlich die Machtfrage in Kasachstan aufwerfen.

Das bedeutet auch, dass die Streik- und Massenbewegung und deren Koordinierungsorgane selbst zu einem alternativen Machtzentrum werden müssen, das das oligarchische Regime stürzen und durch eine ArbeiterInnenregierung ersetzen kann – eine Regierung, die nicht nur die despotische Pseudodemokratie abschafft, sondern auch die kapitalistische Klasse enteignet, in deren Interesse dieses Regime regiert. Dazu bedarf es der Enteignung der großen Industrie, der Öl- und Gasfelder, der Bergwerke, der Finanzinstitutionen unter ArbeiterInnenkontrolle und der Errichtung eines demokratischen Notplans zur Reorganisation der Wirtschaft und zur Sicherung der Grundbedürfnisse der Massen.

Nein zu jeder imperialistischen Einmischung! Internationale Solidarität jetzt!

Die Massenbewegung rückte Kasachstan auch ins Zentrum einer Weltöffentlichkeit, die die Verbrechen des Regimes Nasarbajew und seines Nachfolgers Tokajew über Jahrzehnte faktisch totgeschwiegen hatte. Was bedeutet schon die Unterdrückung und Ermordung von Streikenden, wenn dafür Profite reichlich in die Taschen, kasachischer, russischer, chinesischer, aber auch US-amerikanischer, italienischer, deutscher und britischer Konzerne fließen?

Das kasachische Regime mag demokratische Rechte verletzt, JournalistInnen und die Opposition unterdrückt haben – das wichtigste „Menschen“recht, das auf freien Handel und Wirtschafts„reformen“ brachte das Regime sehr zum Wohlgefallen aller ausländischen Mächte voran.

Natürlich war und ist Kasachstan vor allem eine Halbkolonie Russlands – zumal eine, die über Jahrzehnte nicht nur politisch eng verbunden war, sondern von deren Markt und Ressourcen der wirtschaftlich schwache russische Imperialismus sogar ökonomisch profitieren konnte. Hinzu kommen die Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und der OVKS und die Bedeutung Baikonurs (in Südkasachstan) für die russische Raumfahrt. Darüber hinaus macht die geostrategische Lage des Landes es zu einem wichtigen Schild Russlands vor einer weiteren Destabilisierung in Zentralasien. Kein Wunder also, dass dieses voll in den Chor der „Terrorbekämpfung“ einstimmt und seinem Verbündeten beispringt.

Ironischerweise verfolgten und verfolgen aber nicht nur China, sondern auch die meisten westlichen imperialistischen Länder ein Interesse an der Stabilität Kasachstans – sei es zur Sicherung ihrer ökonomischen Interessen, ihrer Investitionen, aber auch zur Stabilisierung des Landes gegen „islamistischen Terror“. Der ehemalige britischer Regierungschef Blair fungierte gar über Jahre als Berater Nasarbajews im Umgang mit westlichen Medien, insbesondere für den Fall von Aufstandsbekämpfung. Außerdem kooperierte Kasachstan jahrelang bei der US/NATO-Besatzung Afghanistans.

Daher fallen die westlichen Stellungnahmen zur Lage in Kasachstan bisher vergleichsweise verhalten aus. So erklärte der US-Außenminister Antony Blinken in einem Gespräch mit dem kasachischen Amtskollegen Mukhtar Tleuberdi „die volle Unterstützung der Vereinigten Staaten für die verfassungsmäßigen Institutionen Kasachstans und die Medienfreiheit“. Aus der EU kommt wie oft der unverbindliche Aufruf zur „Mäßigung“ auf allen Seiten. Klarer ist hier schon der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft und dessen Vorsitzender Oliver Hermes, der gegenüber der Presse erklärte: „Eine schnelle Beruhigung der Lage ist unabdingbar, um weiteres Blutvergießen, eine Destabilisierung des Landes und damit auch eine Beschädigung des Wirtschafts- und Investitionsstandorts Kasachstan abzuwenden.“ (https://www.fr.de/politik/kasachstan-unruhen-tote-demonstration-gas-preise-proteste-flughafen-putin-russland-news-aktuell-zr-91219297.html) Über deutsche Waffenexporte im Wert von rund 60 Millionen, die im letzten Jahrzehnt an das Regime geliefert wurden und jetzt auch gegen die Massen eingesetzt werden, hüllen sich die Regierung und UnternehmerInnen in Schweigen.

Die relative Zurückhaltung des Westens lässt sich freilich nicht nur ökonomisch erklären. Sicherlich spielt dabei auch ein geostrategisches Tauschkalkül eine Rolle. Russland kann in Kasachstan die blutige Niederschlagung der Aufständischen unterstützen (und damit auch westliche InvestorInnen absichern). Zugleich verlangt man dafür ein „Entgegenkommen“ in der Ukraine oder wenigstens Stillschweigen zu deren weiterer Aufrüstung und Zurückhaltung bei einem möglichen NATO-unterstützten Angriffe der Ukraine auf die Donbass-Republiken.

Umso dringender ist es, dass die internationale ArbeiterInnenklasse und die Linke ihre Solidarität mit der Massenbewegung in Kasachstan auf die Straße tragen.

  • Nein zur Niederschlagung gegen die Massenbewegung! Sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes und aller Einschränkungen demokratischer Rechte! Freilassung aller politischen Gefangenen!
  • Nein zur russischen Intervention! Sofortiger Abzug aller OVKS-Truppen! Stopp aller Waffenliegerungen!
  • Internationale Solidarität mit der ArbeiterInnenklasse und Protestbewegung!



Die Weltlage und Aufgaben der Arbeiter_Innenklasse

Jaqueline Katherina Singh

In den vergangenen zwei Jahren sah sich die Welt mit einer Reihe von miteinander verknüpften Krisen konfrontiert. An erster Stelle steht eine weltweite Gesundheitskrise. Covid-19 hat die Regierungen und Gesundheitssysteme überrascht, obwohl Epidemiolog_Innen und die WHO vor einer wahrscheinlichen zweiten SARS-Epidemie gewarnt und die Gewerkschaften des Gesundheitspersonals darauf hingewiesen hatten, dass ihre Krankenhäuser und Kliniken für eine solche nicht gerüstet sind. Covid-19 hat weltweit mehr als fünf Millionen Todesopfer gefordert, wütet mit seinen Delta- und Omikron-Varianten immer noch – und bricht in Ländern wieder aus, die überzeugt waren, die Krankheit unter Kontrolle zu haben und ihre Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.

Die Schlagzeilen der letzten beiden Jahre beherrschten aber auch die sich häufenden extremen Wetterereignisse – Überschwemmungen, Waldbrände, Dürren -, die rund um den Globus wüten und die Aussicht auf einen katastrophalen Klimawandel unbestreitbar machen. Im krassen Gegensatz zu den Gefahren endete der Weltklimagipfel einmal mehr im – Nichts. Die wichtigsten Staaten blockierten jede feste Verpflichtung zur Reduzierung von CO2-Emissionen. Wieder einmal wurden die halbkolonialen Länder, vor allem in den bereits stark geschädigten Tropenzonen, um die Milliarden betrogen, die sie zur Bekämpfung der Auswirkungen benötigen. Stattdessen wurden ihnen weitere Kredite angeboten.

Im Jahr 2020 verursachte Covid den stärksten Einbruch der Weltwirtschaft seit den 1930er Jahren. Auch wenn die globale Ökonomie schon davor im Niedergang war, so synchronisiert die Pandemie die Rezession und diese prägt auch den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung und die Maßnahmen der Regierungen. Die Lockdowns zwangen die großen imperialistischen Staaten, mit den neoliberalen Dogmen über die Staatsausgaben zu brechen. Die Zinssätze, die jahrelang bei null lagen, um die zur Stagnation neigenden Volkswirtschaften anzukurbeln, erlaubten es den Staaten nun, Billionen zu leihen und in den imperialistischen Kernländern die Auswirkungen der Krise auf die Massen abzumildern. Die Unterbrechung der Versorgungsketten, der Weltmärkte und die wiederholten Aussperrungen haben enorme Verluste verursacht, auch wenn deren volles Ausmaß erst nach Beendigung der Pandemie deutlich werden wird. Auch wenn in einigen Ländern ein kurzfristiger Konsumboom möglich sein mag, wenn sich die Wirtschaften etwas erholen, so wird dieser eher einem Strohfeuer denn einer ernsten Erholung gleichkommen.

Ökonomische Auswirkungen

Mit Beginn der Pandemie stand ab Ende Februar 2020 die Wirtschaft still und internationale Produktionsketten lagen brach. Viele bürgerliche Forschungsinstitute und Konjunkturprognosen übten sich trotzdem in den letzten beiden Jahren in Sachen Optimismus. In Vorhersagen wurde  festgehalten, dass die Erholung schnell erfolgen und munter weitergehen wird – schließlich sei die Pandemie nur ein externer Faktor.

Die ganze Realität bildet das allerdings nicht ab. Nach dem Einbruch der weltweiten Wirtschaftsleistung 2020 um 3,2 % folgte in diesem Jahr zwar eine Erholung. In seinem vierteljährlichen Bericht ging der IWF im April 2021 noch von einer Steigerung der globalen Wirtschaftsleistung von 6,4 % aus – und musste diese Prognose nur um 0,4 % nach unten korrigieren. Begründet wurden die optimistischen Prognosen mit dem Beginn der Impfungen, der damit verbundenen Erwartung eines Endes der Pandemie sowie den Konjunkturpaketen.

So ist es auch kein Wunder, dass vor allem die imperialistischen Zentren Erholung verzeichnen, während die Länder, die sich weder Impfstoff noch Konjunkturpakete leisten können, zurückbleiben. Genauer betrachtet ist das Wachstum in den imperialistischen Zentren jedoch langsamer als erhofft und begleitet von Inflation. Die Gründe dafür sind vielfältig: Der Stillstand der Handels- und Produktionsketten hat einen länger anhaltenden Einfluss, wie man beispielsweise an der Halbleiterproduktion betrachten kann. Hinzu kommen gestiegene Energie- und Rohstoffpreise. So meldete das deutsche statistische Bundesamt, dass die Erzeugerpreise im September 2021 um 14,2 % im Vergleich zum Vorjahr nach oben gingen – die stärkste Steigerung seit der Ölkrise 1974. Die Energiekosten sind laut Bundesamt zusätzlich um 20,4 % teurer geworden. Auch Arbeitskräftemangel in bestimmten Sektoren sowie Inflation verlangsamen das Wachstum. Zentral sind aber niedrige Investitionsraten, die zwar durch die massiven Konjunkturpakete angekurbelt werden, aber vor allem im privaten Sektor gering ausfallen.

Ebenso darf bei der Betrachtung nicht vergessen werden, dass die Folgen der Finanzkrise 2007/08 noch längst nicht ausgelöffelt sind. Vielmehr hat sich die internationale Schuldenlast massiv erhöht und auch die Niedrigzinspolitik lief die letzte Dekade munter weiter.

Letztlich erfordern kapitalistische Krisen eine Vernichtung überschüssigen Kapitals. In der Rezession 2009 fand diese jedoch nicht annähernd in dem Maße statt, das notwendig gewesen wäre, um einen neuen Aufschwung der Weltökonomie zu ermöglichen. Staatdessen war das letzte Jahrzehnt weitgehend eines der Stagnation.

Die Politik des billigen Geldes in den imperialistischen Zentren verhinderte dabei nicht nur die Vernichtung überschüssigen Kapitals, sondern führte auch zu einem massiven Anstieg der öffentlichen wie privaten Schuldenlast; neue spekulative Blasen bildeten sich. Die Coronamaßnahmen vieler imperialistischer Regierungen haben diese Lage noch einmal befeuert. So wurden zwar befürchtete große Pleiten vorerst verhindert – gleichzeitig gilt ein bedeutender Teil der Unternehmen mittlerweile als „Zombiefirmen“, also Betriebe, die selbst wenn sie Gewinn machen, ihre Schulden nicht mehr decken können und eigentlich nur künstlich am Leben erhalten werden.

Hinzu kommen weitere Faktoren, die deutlich machen, dass in den kommenden Jahren mit keiner Erholung der Weltwirtschaft, sondern allenfalls mit konjunkturellen Strohfeuern zu rechnen ist. Erstens fällt China anders als nach 2008 als Motor der Weltwirtschaft aus. Zweitens verschärfen zunehmende Blockbildung wie auch Fortdauer der Pandemie die wirtschaftliche Lage selbst und können nicht nur als vorübergehende Faktoren betrachtet werden. Drittens reißt die aktuelle Lage schon jetzt wichtige Halbkolonien in die Krise. Ländern wie Argentinien, der Türkei oder Südafrika drohen Insolvenz und Zusammenbruch ihre Währungen. Indien und Pakistan befinden sich ebenfalls ganz oben auf der Liste von Ländern, die IWF und Weltbank als extrem krisengefährdet betrachten.

Zusammengefasst heißt das: Die Folgen der Finanzkrise 2007/08 wurden noch abgefedert. Jetzt erleben wir eine erneute Krise von größerem Ausmaß, die diesmal fast alle Länder gleichzeitig erfasst. Doch der Spielraum der herrschenden Klasse ist dieses Mal geringer.

Auswirkungen auf das Weltgefüge

Somit ist klar, dass die Coronapandemie und ihre Folgen die Welt noch für einige Zeit in Schach halten werden. Nicht nur, weil wir mit Mutationen rechnen müssen, gegen die die Impfstoffe unwirksamer sind, sondern die Pandemie ist längst kein „externer“ Faktor mehr, sondern ihrerseits eng mit den globalen wirtschaftlichen Entwicklungen und deren politischen Folgen verwoben. Ein einfaches Zurück zur „Vor Corona“-Zeit ist somit nicht möglich.

Bereits vorher war die internationale Lage zwischen den imperialistischen Kräften angespannt. Der  Handelskrieg zwischen USA und China bestimmt zwar nicht mehr die Schlagzeilen in den Zeitungen, aber die aktuelle Krise verschärft die innerimperialistische Konkurrenz erneut auf allen Ebenen. Die massive Überakkumulation an Kapital spitzt nicht nur die ökonomische Konkurrenz zu, sondern  wird auch das Feuer der innerimperialistischen politischen Querelen weiter anfachen. Schließlich will niemand die Kraft sein, auf deren Kosten die anderen ihr Kapital retten. Praktisch bedeutet das: weitere harte Handels- und Wirtschaftskonflikte, zunehmende ökonomische Tendenz zur Blockbildung und Kampf um die Kontrolle etablierter oder neuer halbkolonialer Wirtschaftsräume. Die USA und China, aber auch Deutschland und die EU verfolgen dies mit zunehmender Konsequenz.

Dies hat nicht nur ökonomische, sondern auch politische Folgen, darunter die zunehmende Militarisierung sowie eine weitere Eskalation kriegerischer Auseinandersetzungen. Hinzu kommt, dass die Pandemie den Trend zum Nationalprotektionismus verschärft hat und ein widersprüchliches Moment in sich trägt. Wie wir an Lieferengpässen sehen, sind die Produktionsketten mittlerweile extrem verschränkt. Ein einfaches Entflechten gemäß dem Ideal, „alles was man braucht“, im eigenen Staat zu produzieren, ist schlichtweg nicht möglich. Dennoch kann es infolge von vermehrten ökonomischen und politischen Konflikten zur Erhebung weiterer Zölle, wechselseitigen Sanktionen etc. kommen. Auch wenn dies die Weltwirtschaft selbst in Mitleidenschaft ziehen wird, so werden solche Konflikte zunehmen. Das Kräftemessen kann zugleich auch deutlich machen, welche Länder das schwächste Glied in der imperialistischen Kette bilden, und seinerseits innere Konflikte zuspitzen und ganze Staaten destabilisieren.

Die Aussichten sind also nicht besonders rosig. Schon das letzte Jahrzehnt war von einer Zunahme autoritärer, rechtspopulistischer und bonapartistischer Tendenzen geprägt, die sich unter dem gesellschaftlichen Ausnahmezustand der Pandemie verschärft haben. Um in kommenden Auseinandersetzungen mögliche Proteste in Schach zu halten, ist damit zu rechnen, dass wir eine Verstärkung von Rechtspopulismus, Autoritarismus, Bonapartismus erleben werden.

Angesichts diese krisenhaften Lage erheben sich zentrale Fragen: Wer wird zur Kasse gebeten, um die Rettungs- und Konjunkturpakete zu finanzieren? Wer wird die Kosten der Krise zahlen? Welche Klasse prägt die zukünftige Entwicklung?

Bedeutung für die Arbeiter_Innenklasse

Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig. Nicht die Herrschenden wollen den Kopf hinhalten und so werden die bürgerlichen Regierungen natürlich versuchen, die Last vor allem auf die Arbeiter_Innenklasse, die Bauern-/Bäuerinnenschaft und die Mittelschichten abzuwälzen, wie dies im Grunde schon während der Coronakrise der Fall war. Fast überall arbeiteten die jeweiligen Gesundheitssysteme an ihren Grenzen und Gewalt, insbesondere gegen Frauen, hat gesamtgesellschaftlich stark zugenommen. Allein die unmittelbaren Folgen des Stillstands wie Massenentlassungen, Verelendung und massiver Zuwachs an Armut sind global schnell sichtbar geworden. So erwartet der Internationale Währungsfonds, dass die Pandemie den Fortschritt in der Bekämpfung der globalen Armut seit den 1990er Jahren annulliert sowie die Ungleichheit weiter verstärkt.

Die größten Auswirkungen sind in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen zu verzeichnen. Dort beträgt deren Verlust mehr als 15 Prozent. Genau diese Länder haben zudem die schwächsten Sozialsysteme. Hinzu kommt die steigende Inflation, die die Lebenshaltungskosten in Ländern wie der Türkei oder dem Libanon und vielen anderen in die Höhe treibt. Das Festhalten der imperialistischen Länder an den Patenten zugunsten der Profite sorgt dafür, dass die Lage sich nicht in absehbarer Zeit verbessern wird.

Nicht allzu viel besser sieht die Situation in den imperialistischen Zentren aus. Auch hier gab es zahlreiche Entlassungen. So hatten die USA 2020 ihr historisches Hoch. Die Konjunkturpakete oder Hilfen wie das Kurzarbeiter_Innengeld in Deutschland federn zwar die Auswirkungen der Krise ab, aber auch hier ist die Inflation deutlich in der Tasche zu spüren.

Was kommt?

Aufgrund des konjunkturellen Aufschwungs in den USA und in etlichen europäischen Staaten werden die kurzfristigen Auswirkungen hier andere sein als für große Teile der Massen in den Halbkolonien. Letztere werden von einer Dauerkrise der Wirtschaft, der Pandemie und auch ökologischen Katastrophen geprägt sein. Das heißt, dass in den halbkolonialen Ländern der Kampf für ein Sofortprogramm gegen die akute Krise und Pandemie eine zentrale Rolle spielen wird, das die verschiedenen ökonomischen und sozialen Aspekte umfasst. Grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass der Klassenkampf in diesen Ländern aufgrund der zugespitzten sozialen und politischen Lage eine weit explosivere Form annehmen wird.

Die Extraprofite des imperialistischen Kapitals in den Metropolen sowie der aktuelle konjunkturelle Aufschwung in etlichen Ländern erlauben in diesen Staaten mehr Spielraum für gewerkschaftliche und soziale Umverteilungskämpfe. Ebenso kann es sein, dass teilweise reformistische oder linkspopulistische Kräfte an Aufwind gewinnen. Schließlich hat die Gesundheitskrise in den Augen von Millionen verdeutlicht, dass massive Investitionen, Verstaatlichungen und Neueinstellungen in diesem Bereich wie auch in anderen Sektoren nötig sind (Wohnung, Verkehr … ). Bürgerliche wie reformistische Kräfte versuchen, dem verbal entgegenzukommen und die Spitze zu nehmen. So beinhalten das Programm Bidens wie auch der Green Deal der EU Versprechen, die ökologischen Probleme zu lösen und soziale Ungleichheit zu reduzieren. In der Realität werden sich diese Reformversprechen als Quadratur des Kreises entpuppen.

In Wirklichkeit sind es Programme zur Erneuerung des Kapitals, nicht der Gesellschaft. Der Arbeiter_Innenklasse und den Unterdrückten wird nichts geschenkt, schon gar nicht in der Situation zunehmenden Wettbewerbs. Während die wirtschaftliche Lage in den imperialistischen Ländern jedoch kurzfristig einen gewissen Verteilungsspielraum eröffnen kann, der von der Arbeiter_Innenklasse genutzt werden muss, besteht dieser in den halbkolonialen Ländern praktisch nicht. Dort können und werden sich selbst Kämpfe um soziale, ökonomische und demokratische Verbesserungen viel rascher zum Kampf um die politische Macht zuspitzen, wie z. B. der Sudan zeigt.

Auch wenn die Situation in imperialistischen Ländern und Halbkolonien bedeutende Unterschiede birgt, so sind alle wichtigen Auseinandersetzungen unserer Zeit – der Kampf gegen die Pandemie, die drohende ökologische Katastrophe,  die Folgen der Wirtschaftskrise und die zunehmende Kriegsgefahr – Fragen des internationalen Klassenkampfes. Sie können auf nationaler Ebene letztlich nicht gelöst werden.

Wo aber beginnen?

Zuerst ist es wichtig zu verstehen, dass die verschlechterte Situation der arbeitenden Klasse nicht automatisch Proteste mit sich bringt. Diese gibt es zwar, ebenso wie Streiks und Aufstände, jedoch sind sie erstmal nur Ausdruck der spontanen Unzufriedenheit der Massen. Zu glauben, dass aus ihnen mehr erwachsen muss oder sie von alleine zu einer grundlegenden Lösung führen werden, ist falsch, ein passiver Automatismus. Streiks befördern natürlich das Bewusstsein der Arbeiter_Innenklasse, dass sie sich kollektiv zusammenschließen muss, um höhere Löhne zu erkämpfen. Nicht mehr und nicht weniger. Ihr spontanes Bewusstsein im ökonomischen Kampf ist jedoch selbst noch eine Form bürgerlichen Bewusstseins, weil es auf dem Boden des Lohnarbeitsverhältnisses steht. Es stellt insbesondere in Friedenszeiten nicht das kapitalistische System in Frage, sondern fordert erstmal nur mehr Lohn ein. Ähnliches gilt für Proteste beispielsweise aufgrund von Hunger. Beide – Streiks und spontane Proteste – tragen jedoch in sich das Potenzial, zu mehr zu werden. Allerdings nur, wenn es geschafft werden kann, die Grundlage der Misere aufzuzeigen, zu vermitteln, dass die Spontaneität der Proteste noch nicht automatisch die Lösung bringt, sondern es einen organisierten Umsturz braucht, um dieses System erfolgreich zu zerschlagen. Es ist Aufgabe von Revolutionär_Innen, dieses Verständnis, dieses Bewusstsein in die Klasse zu tragen und die dazu notwendigen Schritte zu vermitteln. Dies ist jedoch leichter geschrieben als getan, denn ein Blick auf die aktuelle Lage zeigt, dass es viele Widerstände gibt, die man zu überwinden wissen muss.

Kämpfe und Kontrolle

Das heißt, dass man in die existierenden Kämpfe intervenieren und diese zuspitzen muss. Beispielsweise durch Forderungen, die weiter gehen als jene, die bereits aufgeworfen werden. Es reicht nicht, nur kommende Angriffe abzuwehren, vielmehr müssen die Abwehrkämpfe mit dem Ziel geführt werden, konkrete Verbesserungen zu erkämpfen, und dabei aufzeigen, was für eine andere Welt möglich wäre. Denn der Illusion anzuhängen, dass es irgendwann genauso wie vor der Pandemie werden kann, ist eine Illusion, wie die obige Diskussion der Weltlage aufzeigt. Zudem war dieser Zustand eh nur für einen sehr geringen Teil der Weltbevölkerung annehmbar. Beispielsweise kann das dafür notwendige Bewusstsein folgendermaßen vermittelt werden:

In Zeiten permanenter Preissteigerungen geraten selbst erfolgreiche Lohnkämpfe an ihre Grenzen. Die Forderung nach höheren Löhnen muss daher mit der nach automatischer Anpassung an die Preissteigerung verbunden werden. Da zur Zeit die Preise für die Konsumgüter der Arbeiter_Innenklasse (Mieten, Heizung, Lebensmittel) stärker steigen, als es die statistische Inflationsrate zum Ausdruck bringt, sollte durch die Gewerkschaften und Verbraucher_Innenkomitees ein Index für die reale Steigerung der Lebenshaltungskosten erstellt und immer wieder aktualisiert werden. An diesen sollten die Löhne und Gehälter angeglichen werden. Damit dies auch wirklich passiert, sollten wir uns nicht auf den Staat (und schon gar nicht auf die Ehrlichkeit der Unternehmen) verlassen, sondern müssen dazu betriebliche Kontrollkomitees – also Formen der Arbeiter_Innenkontrolle – etablieren.

So kann ein konkretes Problem – die Steigerung der Lebenshaltungskosten – für die gesamt Klasse angegangen und mit dem Aufbau von Organen der Arbeiter_Innenkontrolle, also der betrieblichen Gegenmacht, verbunden werden.

Ähnliches lässt sich auch für andere Bereiche zeigen. Die Forderung nach massiven Investitionen in den Gesundheitssektor stellt sich weltweit. Dies muss durch Besteuerung der Reichen passieren unter Kontrolle der Arbeiter_Innen selber. Hier bedarf es neben einer Erhöhung der Löhne auch einer enormen Aufstockung des Personals, um Entlastung zu schaffen.

Hinzu kommt, dass die Arbeit im gesamten Care-Sektor oftmals geringer vergütet wird, da dieser nicht im gleichen Maße Mehrwert produziert – und somit nicht auf gleicher Ebene rentabel ist. Das ist nur einer der Gründe, warum es entscheidend ist, dass die Investitionen unter Kontrolle der Beschäftigten stattfinden. Sie können aufgrund ihrer Berufsqualifikation und -erfahrung wesentlich besser entscheiden, wo Mängel im Joballtag bestehen, und hegen zeitgleich kein materielles Interesse daran, dass der Gesundheitssektor so strukturiert ist, dass er Profite abwirft. Zentral ist allerdings beim Punkt Kontrolle, dass sie nicht einfach so herbeigeführt werden kann. Damit dies nicht nur schöne Worte auf Papier bleiben, sondern sie Realität werden kann, bedarf es Auseinandersetzungen innerhalb der Betriebe, bei denen sich Streik- und Aktionskomitees gründen. Diese stellen Keimformen von Doppelmachtorganen dar, die den Weg zur Arbeiter_Innenkontrolle ebnen. Nur so kann die nötige Erfahrung gesammelt werden sowie sich das Bewusstsein entwickeln, dass die existierende Arbeit kollektiv auf die Arbeitenden aufgeteilt werden kann.

Ebenso müssen wir dafür einstehen, dass die Patente für die Impfstoffe abgeschafft werden. Es wird deutlich, dass das Vorenthalten nicht nur aktiv dafür sorgt, dass Menschen in Halbkolonien an dem Coronavirus sterben, sondern auch durch die Auswirkungen auf die Wirtschaft stärker verarmen. Ausreichend allein ist dies natürlich nicht. Die Freigabe der Patente muss mit der kostenlosen Übergabe von Wissen und den nötigen technischen Ressourcen verbunden werden – ein kleiner Schritt, der dafür sorgt, dass die stetige Abhängigkeit von den imperialistischen Ländern sich an diesem Punkt nicht weiter verfestigt. Nur so kann die Grundlage geschaffen werden, etwaige Mutationen des Virus zu verringern. Falls diese doch entstehen, erlaubt es schnelles Handeln bei der Produktion notwendiger neuer Impfstoffe. Auch dies kann nur geschehen, wenn nicht die Profitinteressen der imperialistischen Länder und Pharmaindustrie vorrangig bedient werden. Deswegen müssen auch hier die Konzerne enteignet und unter Arbeiter_Innenkontrolle gestellt werden.

Doch so einfach ist es nicht …

Dies sind Forderungen, die weltweit ihre Relevanz haben und die Grundlage für eine internationale Antikrisenbewegung legen können. Doch einfacher geschrieben als durchgesetzt. Denn wie bereits zuvor geschrieben: Es gibt Widerstände, auch innerhalb der Klasse.

Niederlagen in den Klassenkämpfen des letzten Jahrzehntes, vor allem des Arabischen Frühlings, aber auch von Syriza in Griechenland trugen eine tiefe, desillusionierende und demoralisierende Auswirkung auf die Massen mit sich. Nicht die Linke, sondern die populistische Rechte präsentierte sich in den letzten fünf Jahren immer wieder als pseudoradikale Alternative zur Herrschaft der tradierten „Eliten“. Diese konnte sich aufgrund der Passivität der Linken innerhalb der Coronakrise profilieren. So kann die Zunahme eines gewissen Irrationalismus‘ in Teilen des Kleinbürger_Innentums, aber auch der Arbeiter_Innenklasse beobachtet werden. Rechte schaffen es, die Bewegung für sich zu vereinnahmen und dort als stärkste Kraft aufzutreten – was Grundlage für ihr Wachstum ist, aber auch ihre Radikalisierung mit sich bringt.

Die Dominanz von Reformist_Innen und Linkspopulist_Innen drückt sich in einer Führungskrise der gesamten Arbeiter_Innenklasse aus. Zwar werden Kämpfe geführt, wenn es sein muss – also wenn es Angriffe gibt. Letztlich läuft die Politik der Gewerkschaftsbürokratien und der Sozialdemokratie – aber schließlich auch der Linksparteien – auf eine Politik der nationalen Einheit mit dem Kapital, auf Koalitionsregierungen und Sozialpartner_Innenschaft in den Betrieben hinaus. Die Politik des Burgfriedens sorgt dafür, dass Proteste im Zaum gehalten werden oder erst gar nicht aufkommen. Somit besteht eine der zentralen Aufgaben von Revolutionär_Innen darin, den Einfluss dieser Kräfte auf die Masse der Arbeiter_Innenklasse zu brechen.

Internationalismus

Dies geschieht jedoch nicht durch alleiniges Kundtun, dass Bürokratie & Co üble Verräter_Innen sind. Sonst wäre es schon längst im Laufe der Geschichte passiert, dass die Massen sich von diesen Kräften abwenden und automatisch zu Revolutionär_Innen werden. Deswegen bedarf es hier der Taktik der Einheitsfront, des Aufbaus von Bündnissen der Arbeiter_Innenklasse für Mobilisierungen um konkrete Forderungen. Aufgabe ist, möglichst große Einheit der Klasse im Kampf gegen Kapital und Staat herzustellen und im Zuge der Auseinandersetzung aufzuzeigen, dass die Gewerkschaftsbürokratie oder reformistische Parteien sich selbst für solche Forderungen nicht konsequent ins Zeug legen.

Entscheidend ist es also, bestehende Kämpfe und Bewegungen zusammenzuführen, die existierende Führung dieser sowie der etablierten Organisationen der Arbeiter_Innenklasse herauszufordern. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass es eine Wiederbelebung der Sozialforen gibt – diesmal jedoch nicht nur als Versammlungen zur unverbindlichen Diskussion, sondern zur beschlussfähigen Koordinierung des gemeinsames Kampfes. Doch ein alleiniges Zusammenführen von ganz vielen verschiedenen Bewegungen reicht nicht. Unterschiedliche Positionierungen, Eigeninteressen und fehlende oder falsche Analysen können zu Stagnation und letztendlich zum Niedergang dieser führen. Es braucht einen gemeinsamen Plan, ein gemeinsames – revolutionäres – Programm, für das die revolutionäre Organisation eintreten muss. Eine solche müssen wir aufbauen – in Deutschland und international.




Corona, Krise und doppelte Belastung der Frauen

Jaqueline Katherina Singh, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung
Nr. 9

Seit mehr als einem Jahr stellt die Pandemie unser Leben auf den
Kopf. Rund 110 Millionen Menschen sind (Stand: Mitte Februar 2021)
offiziell am Corona-Virus erkrankt, beinahe 2,5 Millionen sind
verstorben. Ausgangsbeschränkungen, Atemschutzmasken,
Arbeitslosigkeit – die Liste mit Dingen, die nun zu unserem Alltag
gehören, ist lang. Angst um Freund_Innen, Familie, die eigene
Existenz. Gerade Letzteres stellt sich für viele Arbeitende.

Denn das Corona-Virus hat eine Wirtschaftskrise, die sich bereits
vorher abzeichnete, ausgelöst und massiv verschärft. Unter anderem,
da – anders als bei der Finanzkrise 2007/08 – fast alle Länder
gleichzeitig erfasst wurden. Der Internationale Währungsfonds (IWF)
geht in einem Bericht davon aus, dass die Pandemie alle Fortschritte
in der Bekämpfung der globalen Armut seit den 1990er Jahren
zunichtegemacht hat. Die soziale Ungleichheit hat sich 2020 drastisch
weiter verstärkt. Das bedeutet, dass jene, die schon vorher am
Existenzminimum gelebt haben, noch weniger besitzen sowie kleinere
Verbesserungen, die in den letzten Jahren errungen werden konnten,
verschwinden.

Die Krise heißt Kapitalismus

Als Ergebnis der Finanzkrise 2007/08 konnten wir in den letzten
Jahren eine stetige Zuspitzung von imperialistischen Konflikten
wahrnehmen – ob durch Interventionen in der Ukraine, Syrien, die
stetigen Drohungen gegen den Iran oder den Handelskrieg zwischen den
USA und China. Gerade Letzterer stellt eine direktere Konfrontation
zwischen zwei imperialistischen Mächten dar, bei der es nicht nur um
ein bloßes Kräftemessen geht. Vielmehr ist es die Zuspitzung der
Frage, welche Kraft den Weltmarkt in ihrem Interesse neu gestaltet –
die niedergehende, über Jahrzehnte vorherrschenden USA oder China
als neue, aufstrebende Macht. Die jetzige Krise wird die
Verteilungskrise und den existierenden Machtkampf massiv verstärken.
Die Frage der Verfügbarkeit medizinischer Versorgung, insbesondere
des Impfstoffes, ist in mehrfacher Weise mit dem Kampf um die
Neuaufteilung der Welt verbunden.

Zum Ersten sichern sich alle imperialistischen Mächte einen
privilegierten Zugang zu den Impfstoffen und räumen den Markt
faktisch leer. Hinzu kommt, dass die großen Konzerne, die fast
ausschließlich in den kapitalistischen Zentren angesiedelt sind, für
Jahre enorme Monopolprofite wittern, auf Patentrechten und damit dem
Ausschluss von Milliarden Menschen vom bezahlbaren Zugang zu den
Impfstoffen beharren. Während die Bevölkerung der imperialistischen
Staaten bis Ende 2021 geimpft werden kann, sollen in vielen Ländern
Afrikas, Lateinamerikas und Asiens selbst „optimistischen“
Vorhersagen zufolge nur 20 % diesen Schutz erhalten.

Die dramatisch wachsende globale Verschuldung verschärft die
Ungleichheit noch weiter. Während die USA, China oder auch die EU
mit Milliardenausgaben die unmittelbaren Wirkungen der Krise
kurzfristig mildern und Konjunkturprogramme auf den Weg bringen
können, ist dieser Weg den meisten Ländern des globalen Südens
verschlossen. Sie können allenfalls auf eine kurzfristige Aussetzung
des Schuldendienstes für über den IWF oder andere Institutionen
vermittelte Kredite hoffen. Diese Last wird sie noch mehr von den
Zentren der Weltwirtschaft und des Finanzkapitals abhängig machen –
mit extremen Folgen für Milliarden Lohnabhängige, Bauern und
Bäuerinnen.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass selbst wenn die
imperialistischen Zentren durch Impfungen wieder versuchen, zum
Regelbetrieb zurückzukehren, die Lage sich nicht von alleine
entspannen wird. Während die nationalen Regierungen für größere
Konzerne Rettungspakete schnüren, wird versucht werden, die
entstandenen Kost auf die Arbeiter_Innenklasse abzuwälzen:
Massenentlassungen, Einsparungen im sozialen Bereich neben der
stetigen Gefahr von Mutationen des Virus, die gegen den Impfstoff
resistent sind. Es stellt sich also die Frage: Wer zahlt für die
Kosten der Krise und die Folgen der Pandemie? Und während der
Machtkampf unter den Kapitalfraktionen noch läuft, ist zugleich
klar, dass sie alle versuchen werden, die Kosten auf die
Arbeiter_Innenklasse abzuwälzen. Im Folgenden wollen wir einen
Überblick darüber geben, wie die Belastung für Frauen aus der
ArbeiterInnenklasse seit Ausbruch der Pandemie zugenommen hat,
welchen Problemen sie sich verschärft gegenübersehen, um dann auf
die Ursachen der Unterdrückung und die Frage des Kampfes dagegen
einzugehen. Schließlich stellen sie einen maßgeblichen Teil der
Arbeiter_Innenklasse dar und haben aufgrund ihrer sozialen
Unterdrückung mit spezifischen Angriffen zu kämpfen.

Frauen sind in vielen der am stärksten von Covid-19 betroffenen
Branchen überrepräsentiert, z. B. in der Gastronomie, im
Einzelhandel und in der Unterhaltungsbranche. So arbeiten 40 Prozent
aller erwerbstätigen Frauen – 510 Millionen weltweit – in den am
stärksten betroffenen Branchen, verglichen mit 36,6 Prozent der
erwerbstätigen Männer. International stellen Frauen 70 % des
Personals in sozialen und Pflegeberufen.

Kurzarbeit und Entlassungen

Auch die ersten großen Entlassungswellen betrafen vor allem
Sektoren, in denen Frauen überrepräsentiert sind wie Einzelhandel,
Gastgewerbe und Tourismus. Eine statistische Erhebung aus den USA
zeigt, dass Frauen in verschiedenen Branchen stärker vom
Arbeitsplatzverlust betroffen sind als Männer. Im Freizeit- und
Gastgewerbe waren vor der Pandemie 52 % der Beschäftigten
Frauen, aber 54 % der Entlassenen sind weiblich. Im Bildungs-
und Gesundheitswesen stellten Frauen 77 % der Arbeitskräfte,
aber 83 % der Entlassenen; im Einzelhandel 48 % der
Beschäftigten, 61 % der Arbeitsplatzverluste; in den Kommunal-
und Landesverwaltungen schließlich 58 % der Belegschaften, aber
63 % der Freigesetzten.

Laut Zahlen der ILO verdienten 2018 61 % der globalen
Erwerbsbevölkerung (2 Milliarden Menschen) ihren Lebensunterhalt in
der informellen Wirtschaft, davon sind rund 50 % Frauen. Für
diese Menschen bedeutet das, dass sie über keinen einklagbaren
Arbeitsvertrag, keine Arbeitslosenversicherung oder damit
vergleichbare Absicherung verfügen.

Frauen stellen zwar die Hälfte der Menschen im informellen
Sektor, sie sind aber vor allem im globalen Süden überrepräsentiert.
So arbeiten in Südasien über 80 % aller Frauen außerhalb der
Landwirtschaft im informellen Sektor, in den Ländern südlich der
Sahara 74 %, in Lateinamerika und der Karibik 54 %.

Besonders betroffen von der Krise sind oft WanderarbeiterInnen. So
haben in Indien mindestens 40 Millionen ArbeitsmigrantInnen von heute
auf morgen ihren Job und ihre Unterkunft verloren. Sie müssen 100 –
1.000 Kilometer zurück zu ihren Familien reisen, denen sie meistens
selbst Geld schicken, also die sie eigentlich finanzieren.
Schätzungen gehen davon aus, dass 660.000 bis 1,5 Millionen
MigrantInnen in Lagern untergebracht wurden, wo sie minimale
Essensrationen erhielten.

Frauen sind jedoch nicht nur als überausgebeutete
Lohnarbeiterinnen betroffen. In vielen Ländern der halbkolonialen
Welt waren sie im Zuge von „Entwicklungshilfe“ oft auch
Empfängerinnen sog. Mikrokredite. In Jordanien beispielsweise
erhielten rund 70 % der Frauen solche. Unter den Bedingungen von
Corona und der Krise können viele ihre Raten nicht mehr tilgen, sind
nicht zahlungsfähig, was in manchen Ländern mit Gefängnisstrafe
geahndet werden kann.

Wir sehen anhand dieser Beispiele, dass arbeitende Frauen auch
ökonomisch besonders stark von der Krise betroffen sind – und
diese wird so schnell nicht nachlassen.

Gesundheit

Aufgrund der Pandemie liegt der Fokus des Gesundheitssystems auf
der Bekämpfung der Krankheit. Dies ist an sich sinnvoll. Aber da es
ohnedies schon einen Mangel an medizinischem Personal und
Einrichtungen gibt, bedeutet das auch, dass diese anderswo fehlen. So
können wir aktuell in vielen Ländern einen Anstieg der Mütter- und
Kindersterblichkeit beobachten.

Der Zugang zu hygienischen Produkten und Verhütungsmitteln wird
durch Verdienstausfälle erschwert, deren Produktion teilweise
ausgesetzt. In Indien wurden während der ersten Wochen des Lockdowns
Binden nicht als essentiell betrachtet. Mädchen hatten aufgrund der
Schließung von Schulen keinen Zugang. NGOs und Hilfsorganisationen
schätzen, dass allein in Indien mindestens 121 Millionen Frauen
keinen Zugriff auf Güter zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse
hatten, wobei ländliche Regionen und Kleinstädte besonders
betroffen waren.

Zusätzlich wird der ohnedies schon eingeschränkte Zugang zu
Abtreibungen weiter erschwert. UN-Schätzungen zufolge könnte die
Corona-Krise zu 7 Millionen ungewollten Schwangerschaften führen.
Zum einen, da der Zugang zu Verhütungsmitteln erschwert ist, zum
anderen, da die sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen massiv
zugenommen hat und sie noch mehr an die Familie und damit an
Ehemänner gebunden sind. Dort, wo Schwangerschaftsabbrüche legal
sind, wurde der Zugang zu Beratungsgesprächen massiv eingeschränkt,
da viele Praxen und Familienplanungszentren ihr Angebot reduzierten.
In 8 US-Bundesstaaten liefen während des ersten Lockdowns Verfahren,
da Abtreibungen auf die Liste der „nicht dringlichen“
medizinischen Behandlungen gesetzt worden sind.

Gewalt gegen Frauen

Zugleich verschärft sich die Lage der Frauen in Familien und
Beziehungen. Der Bevölkerungsfonds der UN (United Nations Population
Fund, bis 1987: United Nations Fund for Population Activities; UNFPA)
rechnet mit 31 Millionen zusätzlichen Fällen von häuslicher Gewalt
in 6 Monaten des Lockdowns. Wir haben es hier mit einem globalen,
keinesfalls mit einem regionalen Problem zu tun.

In Frankreich nahmen mit der Ausgangssperre 2020 die Fälle
häuslicher Gewalt um 30 Prozent zu. Die französische Regierung
kündigte zudem an, bis zu 20.000 Zimmern in Hotels für Betroffene
zu reservieren, in französischen Einkaufszentren wurden 20
Beratungsstellen eingerichtet.

Allein in den ersten beiden Aprilwochen 2020 gab es im Vergleich
zum Vorjahreszeitraum einen 47 %igen Anstieg der Anrufe bei der
spanischen Hotline für häusliche Gewalt. Die Zahl der Frauen, die
sich per E-Mail oder über soziale Medien an die von der Regierung
als wesentlich eingestuften Unterstützungsdienste wandten, soll um
bis zu 700 % gestiegen sein. Sichtbar wird das Ausmaß des
Problems, wenn man die bestehende Infrastruktur für von Gewalt
betroffene Frauen betrachtet.

So mangelt es in Deutschland seit Jahren an Plätzen in
Frauenhäusern. Bis heute stehen rund 6.800 Plätze zur Verfügung,
obwohl sich Deutschland schon 2017 verpflichtet hat, mindestens
21.400 zu schaffen. Kurzfristig hätte hier durch Nutzung
leerstehenden Wohnraums, wegen der Pandemie nicht belegter Hotels und
Ferienwohnungen etwas Abhilfe geschaffen werden können – doch
Fehlanzeige. Hinzu erschweren die soziale Isolierung und Quarantäne
die Lage der Frauen. Mit Tätern eingeschlossen, kannst du nicht
einfach verschwinden und dich um die Kinder kümmern, die ebenfalls
krasser Gewalt ausgesetzt sind.

Homeoffice und unbezahlte Hausarbeit

Grundsätzlich leisten Frauen nach wie vor weit mehr unbezahlte
Hausarbeit als Männer. Im Zuge von Corona wurden Schulen und
Kindergärten geschlossen, ist Pflegeunterstützung im Haus oft
weggefallen oder reduziert.

Hinzu kommt, dass Homeoffice und Kinderbetreuung nur schwer
vereinbar sind. Das zeigt sich in Deutschland daran, dass 40 %
der Personen mit Kindern unter 14 Jahren die Tätigkeit im Homeoffice
als äußerst oder stark belastend einschätzen gegenüber 28 Prozent
der Befragten ohne Kinder. 1,5 Millionen Alleinerziehende – davon
sind 90 % Frauen – sind noch mal stärker betroffen.

Ein Teufelskreis

Viele Frauen arbeiten im Caresektor und in sog. systemrelevanten
Berufen. Sie sind oft einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt,
gleichzeitig aber auch von Entlassungen am stärksten betroffen. Das
bindet sie ökonomisch stärker an die Familie, macht sie schutzloser
gegenüber häuslicher Gewalt. Zusätzlich steigt die reproduktive
Arbeit, die im Haushalt getätigt werden muss, was die
Doppelbelastung der Frauen erhöht. Sie werden also unter Bedingungen
einer kapitalistischen Krise, die durch die Pandemie verstärkt wird,
mehr in die klassische, reaktionäre Geschlechterrolle gedrängt.
Auch wenn jetzt die Kontaktverbote gelockert werden, wird es keine
Rückkehr zur ohnedies zweifelhaften „Normalität“ geben.
Vielmehr drohen im Zuge der Wirtschaftskrise mehr Entlassungen und
massive Sozialkürzungen.

Warum ist das so?

Um die aktuelle Situation zu verändern, ist es essentiell zu
verstehen, warum Corona sowie die Wirtschaftskrise
Frauenunterdrückung verstärken und woher diese überhaupt kommt.
Dazu gibt es zahlreiche theoretische Ansätze und diverse Lösungen
von verschieden feministischen Strömungen, auf die wir an dieser
Stelle nicht eingehen können. Stattdessen beschäftigen wir uns mit
der Position von Revolutionär_Innen.

Frauenunterdrückung existierte schon lange vor dem Kapitalismus
und nahm in allen Klassengesellschaften eine systematische Form an.
So war z. B. die bäuerliche Familie im Feudalismus Produktions-
und Reproduktionseinheit. Für den Kapitalismus ist freilich typisch,
dass sich die Funktion von Haushalt und Familie für die unterdrückte
Klasse gegenüber früheren Klassengesellschaften ändert. Im
Kapitalismus werden Produktion und Reproduktion getrennt und
natürlich hat die Familie/PartnerInnenschaft für die
ArbeiterInnenklasse und für die besitzenden Klassen auch eine
unterschiedliche Funktion. Für Erstere dient sie in erster Linie zur
Reproduktion der Ware Arbeitskraft, während sie für KapitalistInnen
essentiell für die Vererbung der Produktionsmittel ist.

Auch wenn dieses „Ideal“ der ArbeiterInnenfamilie global
betrachtet oft gar nicht der Realität entspricht, so übernimmt der
Kapitalismus eine schon vorher existierende geschlechtsspezifische
Arbeitsteilung, die dadurch, dass der Lohn des Mannes als
„Familienlohn“ gesetzt wird, während die Frau nur
„dazuverdient“, selbst befestigt und reproduziert wird. Die
bürgerliche Familie, die auch als Norm in der ArbeiterInnenklasse
ideologisch und repressiv durchgesetzt wird gegenüber anderen
Formen, reproduziert die geschlechtliche Arbeitsteilung und diese
verfestigt wiederum die Familie als scheinbar „natürliche“ Form
des Zusammenlebens.

Warum sind Frauen stärker betroffen?

Diese Form der geschlechtlichen Arbeitsteilung bedeutet auch, dass
Frauen oft von Krisen besonders stark betroffen sind. Gerade in
solchen Perioden wird die Reproduktionsarbeit im Kapitalismus
systematisch ins Private gedrängt. Kosten für v. a.
öffentliche Kindererziehung, Kranken- und Altenpflege erscheinen als
unnütze, unproduktive Arbeit, da sie oft keinen Mehrwert für ein
Kapital schaffen. Das heißt nicht, dass es nicht nützliche Arbeiten
sind. Aber da sie sich nicht im gleichen Maßstab wie andere, z. B.
industrielle, verwerten lassen, erscheint z. B. Carearbeit im
öffentlichen Krankenhaus oder die Arbeit der Erzieherin in einer
Kita nur als Kostenfaktor, der gefälligst reduziert oder ganz
eingespart werden soll.

Daher verbleibt auch die individuelle Kindererziehung, Pflege von
Alten in der Familie – und es erziehen und pflegen dabei in erste
Linie Frauen. Dabei kann diese Operation durchaus widersprüchlich
sein, weil eigentlich auch das gesellschaftliche Gesamtkapital unter
bestimmten Bedingungen mehr weibliche Arbeitskraft und damit auch
eine teilweise Vergesellschaftung der Hausarbeit (z. B. durch
mehr Kindergärten, bessere Kantinen …) braucht.

In Krisenzeiten müssen aber Kosten gespart werden durch Absenkung
der Löhne, Verlängerung der Arbeitszeit, Kurzarbeit, Entlassungen,
aber auch und vor allem durch Kürzungen im sozialen Bereich
insgesamt. Frauen fungieren so als „flexible“ Aufstockerinnen,
besonders leicht verschiebbarer Teil der industriellen Reservearmee,
die zuerst ins Private gedrängt werden und sich eher um Familie
kümmern, aber bei besserer Konjunktur auch wieder leicht und
schlechter bezahlt einsetzbar sind.

Wir sehen hier also auch, woher der Gender Pay Gap
(geschlechtsspezifischer Lohn- und Gehaltsunterschied) kommt. Der
Lohn des Mannes wird historisch als Familienlohn gesetzt (der auch
die Kosten zur Reproduktion der Familie einschließt). Die Arbeit der
Frau erscheint dabei nur als „Zuschuss“, als „Aufstocken“.
Das Ganze bildet einen Elendskreislauf, der sich in einem gewissen
Maß selbst reproduziert: Basierend auf der geschlechtlichen
Arbeitsteilung geht der Mann arbeiten, weil er mehr verdient – und
weil der Mann mehr verdient, bleibt die Frau zu Hause. Somit
reproduziert sich die geschlechtliche Arbeitsteilung gleich mit.

Kämpfe der ArbeiterInnen- und der Frauenbewegung haben zwar
wichtige Verbesserungen errungen, aber eine wirkliche Gleichheit
konnte nie erreicht werden, weil die unterschiedlichen Löhne in der
geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und im privaten Charakter der
Hausarbeit wurzeln. Gerade in Krisen stehen wir immer wieder vor der
Gefahr eines Rollbacks.

Forderungen

Auch wenn sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Frauen in
den verschiedenen Ländern und Regionen sehr unterschiedlich
darstellen, so gibt es doch einige gemeinsame Forderungspunkte, die
für eine internationale Bewegung von großer Bedeutung sind:

Gesundheitsschutz für alle!

Kostenloser Zugang für alle, insbesondere auch Frauen aus dem
„globalen Süden“, zu Gesundheitsversorgung sowie zu
Corona-Impfstoffen und -Tests. Die Produktion und Verteilung der
Impfstoffe muss der Kontrolle der privaten Konzerne entzogen werden.
Nein zum Impfstoff-Nationalismus der imperialistischen Staaten, für
die Aufhebung der Patente und einen internationalen Plan zu raschen
Produktion und Verteilung. Streichung der Schulden der Länder der
„Dritten Welt“ und Finanzierung der Gesundheitsversorgung und der
Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung (inklusive der Versorgung bei
Quarantänemaßnahmen) durch einen internationalen Plan, finanziert
von den reichen Ländern und durch die Besteuerung von Vermögen und
Kapital!

Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Dies beinhaltet auch Forderungen wie jene nach einem Mindestlohn
oder nach Abschaffung aller Formen informeller, prekärer Arbeit
durch tarifliche Löhne und Gehälter, verknüpft mit der nach
Kontrolle dieser Maßnahmen durch Komitees der ArbeiterInnenklasse,
insbesondere der Lohnarbeiterinnen. Keine Entlassungen und volle
Bezahlung aller Beschäftigen während der Lockdowns bei Schließung
aller nicht-essentiellen Wirtschaftsbereiche, um eine
Zero-Covid-Strategie durchzusetzen. Anhebung der Renten,
Arbeitslosenunterstützung zumindest auf Höhe des Mindestlohns.
Kontrolle der Gewerkschaften und von Ausschüssen der ArbeiterInnen
über diese Maßnahmen.

Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Diese muss das Recht auf Empfängnisverhütung, die kostenlose,
sichere und frei zugängliche Abtreibung beinhalten. Sie inkludiert
auch den Schutz vor häuslicher Gewalt, Scheidungsrecht, rechtliche
Gleichheit, den massiven Ausbau von Schutzräumen wie Frauenhäusern
sowie den Aufbau von Selbstverteidigungskomitees gegen Gewalt und
Übergriffe, die von der ArbeiterInnenbewegung unterstützt werden.

Kampf gegen Entlassungen, Einbezug ins
Berufsleben!

Der Kampf gegen Entlassungen muss sich auch gegen die von Frauen
richten. Alle rechtlichen Benachteiligungen, alle Formen von Sexismus
und Diskriminierung im Berufsleben müssen offensiv bekämpft werden.
Der Kampf gegen Entlassungen muss mit dem für eine massive
Verkürzung der Arbeitszeit verbunden werden, so dass die Arbeit
unter alle, Männer wie Frauen, aufgeteilt werden kann.

Nein zu Sozialabbau und Privatisierung –
Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Statt weiterer Kürzungen müssen wir für den Ausbau von Schulen,
Bildungseinrichtungen, öffentlichen Krankenhäusern,
Kultureinrichtungen usw. unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse
eintreten. Dies ist absolut notwendig, um dem weiteren Rollback und
der Zunahme privater Hausarbeit entgegenzutreten. Letztlich besteht
die Aufgabe darin, die gesamte Hausarbeit zu vergesellschaften, so
dass lebenswichtige Aufgaben wie Kindererziehung und Sorge um Alte
und Kranke nicht mehr individuelle Last von Frauen bleiben, sondern
kollektiv angepackt werden.

Gegen Sexismus und Chauvinismus!

Beim Aufbau einer internationalen Bewegung gegen Pandemie und
Krise müssen Frauen und ihre Forderungen eine Schlüsselrolle
einnehmen. Doch ihre Unterdrückung in der Gesellschaft findet nur
allzu oft ihre Fortsetzung in der reformistischen und
bürokratisierten ArbeiterInnenbewegung. Daher ist es notwendig, dass
sie sich gegen alle Formen des Sexismus und Chauvinismus in unserer
Klasse auch organisiert zur Wehr setzen können und wie alle anderen
sozial Unterdrückten in Parteien oder Gewerkschaften das Recht auf
eigene Treffen (Caususes) haben. Mit den Frauen*streiks der letzten
Jahre hat sich eine globale Kraft zu formieren begonnen, die das
Potential besitzt, zu einer internationalen proletarischen
Frauenbewegung zu werden. Diese stellt für den gemeinsamen Kampf von
Männern und Frauen der ArbeiterInnenklasse kein Hindernis, sondern
vielmehr eine Voraussetzung zu einem wirklichen, gemeinsamen Kampf
gegen Frauenunterdrückung und Kapitalismus dar.




Russland: Der Fall Nawalny und das Regime Putin

Robert Teller, Infomail 1140, 22. Februar 2021

zuerst veröffentlicht unter: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/02/22/russland-der-fall-nawalny-und-das-regime-putin/

Am 20. Februar schloss der bislang letzte Akt der juristischen Farce um Alexei Nawalny, der Galionsfigur der russischen Opposition. Das Moskauer Babuschkinskij-Gericht wies die Berufung gegen seine Verurteilung zu rund 3,5 Jahren Lagerhaft ab. Im selben Gerichtssaal wurde auch die Strafe von umgerechnet 9.500 Euro wegen Diffamierung eines Kriegsveteranen bestätigt.

Zu 3,5 Jahren Haft war Nawalny schon Anfang Februar verurteilt worden. Das Berufsgericht bestätigte dies, auch wenn die Strafdauer um einige Wochen reduziert wurde.

Überraschend kamen weder die Festnahme Nawalnys am Moskauer Flughafen am 17. Januar, die von der russischen Regierung im Voraus angekündigt war, noch das Urteil, das offensichtlich darauf ausgerichtet ist, die Galionsfigur der bürgerlichen, prowestlichen Opposition gegen Putin zumindest bis zur nächsten Präsidentschaftswahl aus dem Verkehr zu ziehen – sei es durch Anschläge, sein Exil oder eben jederzeit durch willfährige Richter_Innen verlängerte Haft.

Die Begründung der Justiz wirft ein bezeichnendes Licht auf das System Putin. Nawalny hätte, so das Urteil, gegen Bewährungsauflagen verstoßen, die sich aus früheren Strafverfahren ergeben hätten. Als er knapp der Vergiftung – mutmaßlich durch Agent_Innen des russischen Staates – entgangen war, wurde er in Berlin behandelt. Einige Zeit war er komatös. Während dieser Zeit, so das Gericht, hätte er sich nicht an die Bewährungsauflagen gehalten, zu denen u. a. eine zweiwöchentliche Meldung bei den russischen Behörden gehört.

Das Skandalurteil stellt alles andere als einen Einzelfall dar. Russische Oppositionelle – ganz zu schweigen von Angehörigen unterdrückter Nationalitäten oder von regimekritischen Linken – sind seit Jahren solchen Formen staatlicher Unterdrückung ausgesetzt, die selbst nur einen Teil des Herrschaftssystems Putins darstellen.

Tatsächlich trifft die politische Repression Linke im Allgemeinen härter als bürgerliche Rival_Innen. Vor einem Jahr wurde im sog. „Network Case“ eine Gruppe antifaschistischer Aktivist_Innen in der Stadt Penza zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Urteile stützten sich auf erzwungene Geständnisse. Ende Dezember wurde Sergei Udalzow, ein führendes Mitglied der Parteienkoalition „Linksfront“, der bereits eine viereinhalbjährige Haftstrafe wegen seiner Beteiligung an den Protesten 2012 abgesessen hat, verhaftet und wegen einer nicht genehmigten Protestaktion zu 10 Tagen Haft verurteilt.

Massenproteste

Der entscheidende Unterschied zu den unzähligen Fällen politischer Repression, inklusive Skandalurteilen, langjähriger Haft wegen der Ausübung demokratischer Rechte, liegt aber in Folgendem: Über lange Jahre erzielten diese eine abschreckende Wirkung, weil sich das System Putin neben Repression und einer Monopolisierung der Medien auf eine gewisse soziale Stabilität im Inneren stützen konnte.

Diesmal ist es anders. Die Verhaftung und die Verurteilung Nawalnys lösten eine Welle von Massenprotesten im ganzen Land aus. Diese wurden zu den größten der vergangenen Jahre, mit etwa 15.000 Teilnehmer_Innen in Moskau und über 100.000 in 80 oder mehr Städten landesweit. Die Bedeutung der nicht genehmigten Demonstrationen lässt sich auch an der Anzahl verhafteter Demonstrant_Innen ablesen. Laut OVD-Info, einer russischen Menschenrechtsorganisation, wurden allein Mitte Januar mindestens 4.000 Teilnehmer_Innen festgenommen. Gegen viele wurden Strafverfahren eingeleitet oder in Schnellverfahren Geldstrafen oder Administrativhaft verhängt. Auf weiteren Demonstrationen am 31. Januar wurden erneut mindestens 5.600 Teilnehmer_Innen festgenommen. Menschen wurden nicht erst wegen der Teilnahme an Protesten verhaftet, sondern auch wegen des Teilens von nicht genehmigten Protestaufrufen auf Social Media. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, dass die Polizei ohne Anlass brutal gegen Demonstrant_Innen vorgeht. Auch einige linke Organisationen unterstützten die Proteste kritisch, also ohne dabei Nawalnys politischen Zielen Anerkennung zukommen zu lassen. Nach den Verhaftungen vom 23. und 31. Januar ruft Nawalnys Bewegung nun dazu auf, weitere Proteste zu unterlassen und sich stattdessen für die Duma-Wahlen im September bereitzuhalten.

Wie immer die weitere Mobilisierung verlaufen wird, so signalisiert die Bewegung doch eine bedeutende Veränderung der politischen Lage in Russland, die weit über die Frage der Freilassung von Nawalny hinausgeht. Angesichts der ökonomischen und politischen Probleme des russischen Imperialismus kann das Regime Putins selbst ins Wanken geraten. Nawalny und die bürgerlichen, prowestlichen Kräfte hoffen, aus dieser Lage Kapital schlagen zu können. Es ist kein Zufall, dass sie, anders als in früheren Jahren, die Kritik an Putin vor allem auf Korruptionsvorwürfe lenken, auf die Bereicherung durch ihn und seine Unterstützer_Innen. Eine eigens von Nawalny gegründete Antikorruptions-Stiftung veröffentlichte u. a. ein bekannt gewordenes Video über einen teuren Palast am Schwarzen Meer, der Putin zugeschrieben wird und dessen persönliche Bereicherung belegen soll. Mit diesen Enthüllungen versucht er zugleich, sozial heterogene Putin-Gegner_Innen, die von unzufriedenen Lohnabhängigen und Armen über städtische Mittelschichten und Aufsteiger_Innen bis zu unzufriedenen Kapitalist_Innen reichen, anzusprechen, die meinen, im System Putin zu kurz gekommen zu sein.

Nawalny und die rechtsliberale Opposition

Das darf aber nicht über seine politische Ausrichtung hinwegtäuschen. Die Korruptionsvorwürfe sind für Nawalny Mittel zum Zweck und haben darüber hinaus den Vorteil, dass er seine eigentlichen politischen, programmatischen Ziele in den Hintergrund treten lassen kann.

Nawalny ist ein Rechtsliberaler, der Russland vor Putin retten will. Er fand in der Vergangenheit an liberalen wie auch rechtsnationalistischen Gruppierungen und Organisationen Gefallen und hat – durchaus in Übereinstimmung mit Putins Ansichten – „russische Interessen“ gegenüber den demokratischen Ambitionen nichtrussischer Völker und Nationen verteidigt. Von seinen extrem rassistischen Sprüchen – so bezeichnete er 2007 die Menschen aus dem Kaukasus als „Kakerlaken“ – hat er sich zwar nicht distanziert, doch der Rassismusvorwurf scheint nun entweder mit der Zeit verblasst oder durch Märtyrertum getilgt zu sein. Seine rassistischen Ausfälle u. a. gegen Tschetschen_Innen zeigen, dass er der demokratische Weltverbesserer, als den ihn westliche Fans gerne sehen, nicht ist und nicht sein will. Nawalny präsentiert sich als ein Verbesserer der russischen Nation. Beschönigend bezeichnete er sich als „nationalistischen Demokraten“. Als solcher muss er mit Putin um die Gunst der Nation wetteifern und will nicht zurückfallen, wenn es gilt, die „Gefühle“ des Volkes zu bedienen.

Aktuell reduziert Nawalny alles Schlechte in Russland auf eine behauptete Korruptheit der Eliten. Damit knüpft er erstens an die Wahrnehmung vieler Menschen an, ihnen werde „alles geraubt“. Das stimmt zwar, aber die Korruption in Russland ist dabei eher ein Nebenaspekt gegenüber der  formell legalen Privatisierung von ehemaligem Volkseigentum nach der Restauration des Kapitalismus, die unter Putin fortgesetzt wurde. Politisch ist der bloße Korruptionsvorwurf im Übrigen vor allem demagogisch, weil Nawalny als bürgerlicher Populist natürlich nicht die politökonomischen Ursachen kritisiert, die sie hervorbringen, sondern letztlich selbst an die Futtertröge rankommen will.

Zweitens kritisiert Nawalny damit die Eigenschaft des russischen Systems, die Teilhabe sowohl des Volkes als auch von Teilen der herrschenden Klasse an der Gestaltung der politischer Macht zu beschneiden. Dies entspricht nicht seiner Vorstellung einer anständigen kapitalistischen Großmacht, die auf Augenhöhe mit anderen, v. a. westlichen, Großmächten agieren will und über entsprechende politische Strukturen verfügen sollte, in welchen vor allem auch die verschiedenen Teile der Bourgeoisie selbst demokratisch um die politische Vorherrschaft konkurrieren können. Der Zustand des russischen Staates passt in seinen Augen nicht recht zu einem imperialistischen Land, das zu neuem nationalen Selbstbewusstsein gelangt ist.

Und drittens macht ihn dieser Populismus auch für seine deutschen und westeuropäischen Unterstützer_Innen interessant, die die vorliegenden imperialistischen Konflikte mit Russland lieber als Auseinandersetzungen um „Demokratie und Rechtsstaat“ statt um Märkte und imperiale Einflusszonen verstanden haben wollen. Es handelt sich um solche, die insbesondere dort, wo unmittelbar deutsche Geschäftsinteressen in Frage stehen, auch weiterhin „vernünftig“ mit Russland zusammenarbeiten und gleichzeitig ein legitimes, gesittetes, freiheitlich-demokratisches politisches und militärisches Drohpotential schaffen und vergrößern wollen. Um Russlands Illegitimität Putin direkt in die Schuhe schieben zu können, ist es hilfreich, ein Gesicht der Legitimität vorzuführen, einen Anti-Putin. Nawalny reduziert die Ära Putin auf Korruption und Despotismus. Das reicht, um von den Vertreter_Innen des imperialistischen Deutschlands geadelt zu werden.

Nawalnys Politik drückt primär die Interessenlage nicht allzu großer Teile der Bourgeoisie und des städtischen Kleinbürger_Innentums aus, die von einer stärkeren Öffnung zum Westen mehr zu gewinnen als zu verlieren haben. Er findet, wie die Reichweite der Proteste zeigt, aber auch Anklang in der städtischen Jugend, unter Arbeiter_Innen und Mittelschichten, die entweder Illusionen in seine Version eines modernen, aufgeklärten Populismus hegen oder sich trotz Fehlens solcher Illusionen auf gemeinsame Ziele wie die Beseitigung politischer Verfolgung beziehen.

Nawalny konnte lange mit seinem Populismus einen eher beschränkten Kreis an Wähler_Innen und Unterstützer_Innen mobilisieren und diese Basis reichte bei weitem nicht aus, eine ernsthafte Bedrohung für Putin darzustellen. Dies könnte sich jedoch ändern. Bei Wahlen propagiert er die Taktik des sog. „Smart Voting“. Diese besteht darin, stets die aussichtsreichsten Putin feindlichen Kandidat_Innen zu unterstützen, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit oder ihrem Programm. Bisher konnten Putins Leute oft tatsächlich deutliche Stimmenmehrheiten erzielen, was nicht in erster Linie manipulierten Wahlen zugeschrieben werden konnte, sondern auch mit der Zersplitterung und teilweisen Integration der Opposition ins Herrschaftssystem zu tun hatte. Mit seiner Wahltaktik versucht Nawalny gewissermaßen automatisch, alle Anti-Putin-Stimmen für sich zu beanspruchen. Zu den von ihm unterstützten Kandidat_Innen gehören gegebenenfalls auch Angehörige der „systemtreuen Opposition“ wie der KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation) oder der ultrarechten LDPR (Liberaldemokratische Partei Russlands).

Seine begrenzte Massenbasis und die nicht vorhandene Legitimation aus dem Staatsapparat heraus stellt bisher aber auch die Grenze der Figur Nawalny dar – und damit der möglichen Einflussnahme westlicher Mächte. Nawalny biederte sich diesen dadurch an, dass er abgesehen von dem Wunsch nach einer Öffnung zum Westen wesentliche außenpolitische Fragen – wie die der militärischen Interventionen, der Nahostpolitik usw. – offenließ oder mit unverbindlichen Phrasen beantwortete. Umgekehrt verteidigte er auch russische Interessen wie z. B. auf der Krim oder in der Ostukraine.

Auch wenn Nawalnys populistische Methode zu gewissen Wahlerfolgen führen und der Legitimität von Putins System Kratzer zufügen sollte, beinhaltet sie kein politisches Konzept für ein „Russland ohne Putin“. Nawalny mag für manche als authentische und mitreißende Oppositionsfigur erscheinen, weil er seit Jahren einen Gegenpol zu Putin bildet, sein persönliches Schicksal dabei hintenanstellt und sich nicht auf die begrenzten Möglichkeiten der „systemtreuen“ Parteien beschränkt. Letztlich ordnet er aber nicht nur sich selbst, sondern auch die Bewegung auf der Straße seiner Wahltaktik unter.

Nawalnys politisches Programm ist, soweit es überhaupt explizit formuliert wurde, reaktionär. Aber natürlich ist das längst nicht alles, was es über seine Verhaftung und die Protestbewegung zu sagen gibt. Die Verfolgung Nawalnys ist ein bewusster Akt eines bürgerlich-bonapartistischen Regimes, dessen politische Legitimität Risse bekommen hat. Dies spielt sich ab auf dem Boden einer Klassengesellschaft, einer imperialistischen Macht, die in einer wirtschaftlichen Krise steckt und ihre Interessen gegenüber imperialistischen Rival_Innen zu behaupten hat.

Ursprung des Konflikts mit Putin

Die Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen UdSSR hat aus den ehemals vergesellschafteten Industrien, vor allem im Energiesektor, privates Kapital entstehen lassen. Doch die neu entstandene bürgerliche Klasse, die Oligarchie, hatte als solche keine kontinuierliche Geschichte. Sie vermochte nicht, ein gemeinsames gesamtkapitalistisches Interesse zu verfolgen, vielmehr drohte ihre mehr oder minder ungezügelte Aneignung und Plünderung des Volksvermögens, die Wirtschaft zu ruinieren. Die Zukunft Russlands als kapitalistische Großmacht war in den 1990er Jahren ernsthaft in Frage gestellt. Das zeigte sich damals, als Kaugummi und McDonald’s das Land eroberten, es aber unter Jelzin zu zerfallen drohte. Nicht nur an der Peripherie, wo Völker und Nationen neue oder alte Ansprüche auf politische Eigenständigkeit stellten, war der Staat im Zerfall, sondern auch im Innern, wo Oligarch_Innen regionale Regierungen aus dem föderalen System herauskauften und dadurch zeigten, wie wenig „nationales Gesamtinteresse“ sie zu verfolgen beabsichtigten. Der desolate Zustand des politischen Überbaus spiegelte den inneren Zustand der Bourgeoisie wider, einer Klasse, die kein Bewusstsein dafür besaß, welche Herausforderung es bedeutet, sich in der globalen Konkurrenz zu behaupten.

Putin hat in den vergangenen 20 Jahren ein bonapartistisches Regime geschaffen, das sich durch starke zentralistische Machtstrukturen, ein Übergewicht des Sicherheitsapparates und mit diesem historisch verbundener Teile der Bourgeoisie auszeichnet. Putin setzte der drohenden Balkanisierung und Herabstufung Russlands zur Halbkolonie im Zuge der neoliberalen Schocktherapie der 1990er Jahre ein Ende und schuf einen politischen Überbau, mit dem Russland wieder als kapitalistische Großmacht auf der Weltbühne stehen kann. Dieses System funktioniert so, dass ein „nationales Gesamtinteresse“ nicht notwendigerweise durch die, sondern gegebenenfalls und häufig gegen oder über die Köpfe der Bourgeoisie hinweg zur Geltung kommen muss. Die Anerkennung Putins als Repräsentanten des „ideellen Gesamtkapitals“ durch die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie ist nicht ein Resultat, sondern eine Vorbedingung für die politische Repräsentation ihrer Interessen. Oligarch_Innen, die sich dem widersetzten, erhielten entsprechende Lektionen, wie etwa Chodorkowski 2004. Natürlich ist das nicht eine Abweichung von irgendeiner „Idealform“ bürgerlicher Demokratie, sondern ihre spezielle Form unter einer bestimmten historisch bedingten Klassenkonstellation. Der Konflikt, den Nawalny mit Putins Staatsapparat austrägt, ist letztlich ein Resultat der Art und Weise, wie das gesellschaftliche Eigentum der UdSSR privatisiert worden war. Putins „Partei von Räuber_Innen und Halunk_Innen“ entspricht einer Bourgeoisie mit genau diesen Eigenschaften.

Klassenkampf und imperialistische Konfliktlage

Der russische Imperialismus steht vor großen Herausforderungen. Abgesehen von der Rüstungsindustrie verfügt er nicht über starke Exportindustrien, mit denen er die Dominanz über andere Länder sichern kann. Die Extraprofite aus dem Export fossiler Energieträger ermöglichen zwar die Finanzierung des staatlichen Renten- und Gesundheitssystems, das gerade aufgrund der Prekarisierung weiter Teile der Bevölkerung bislang ein wichtiges integratives Element des bonapartistischen Systems darstellt. Die gefallenen Energiepreise gefährden aber das staatliche Distributionssystem und zwangen die Regierung 2018 zu einem historischen Angriff auf die Renten. 2020 brachen die Einnahmen aus dem Gasexport um 39 % und der Gesamtexport um 24 % ein. Der Öl- und Gasexport ist zudem natürlich Gegenstand imperialistischer Rivalität. Die europäischen Hauptabnehmer_Innen sind angesichts des globalen Überangebots an Energieträgern zu einem verstärkten Import aus Russland nur zu für sie vorteilhaften Bedingungen bereit, d. h. bei ihrer Beteiligung an dem dabei erzielten Extraprofit. Die genannten Aspekte beschreiben eine krisenhafte Entwicklung Russlands, die zu politischen Brüchen im Staatsapparat und Opposition innerhalb der herrschenden Klasse führen kann, und damit zu einer Zuspitzung der Verhältnisse. Sie wird zu sozialen Angriffen auf die Massen führen, die Widerstand notwendig machen.

Die schwierige ökonomische Lage geht zugleich mit einer menschenverachtenden Pandemie-Politik und dem weitgehenden Verzicht auf Einschränkungen der Wirtschaft einher – mit fatalen Folgen für die Gesundheit der Massen. Insgesamt hat das Land über 80.000 Tote zu beklagen.

Politische Schlussfolgerungen

Diese aktuelle wirtschaftliche Krise unterhöhlt die soziale Basis des politischen Herrschaftssystems Putins. Das betrifft die Masse der Lohnabhängigen, die Mittelschichten, aber auch die Superreichen und Kapitalist_Innen. Im System Putin überließen sie weitgehend der Staatsbürokratie mit einem bonapartistischen Führer die politische Macht. Im Gegenzug sicherte dieser massive Profite des Großkapitals und die Stabilität der Geschäfte.

Dieser grundlegende gesellschaftliche Krisenprozess bildet auch die Grundlage dafür, dass sich hinter Nawalny tatsächlich eine Massenbewegung formierten könnte, die Putin in Frage stellt. Das Regime ist sich dessen offenbar bewusst und sperrt daher den Oppositionsführer weg. Doch die Repression gegen Nawalny stellt dabei nur die Spitze des Eisbergs dar. Weit über zehntausend Menschen wurden in den letzten Monaten festgenommen, brutal angriffen und warten auf Verfahren.

Auch wenn Nawalny selbst ein bürgerlich-nationalistischer Reaktionär ist, dem Linke keinerlei politische Unterstützung zukommen lassen dürfen und dem gegenüber sich jegliche Illusionen in seine „demokratischen“ Absichten verbieten, so geht es bei seiner fadenscheinigen Aburteilung nicht primär um dessen Person oder Charakter.

Vielmehr geht es darum, dass das russische bürgerlich-bonapartistische Regime ein Exempel statuieren will, um jedes Aufbegehren, jede Opposition einzuschüchtern, um diese im Keim zu ersticken. Daher auch tausende weitere Festnahmen.

Die Arbeiter_Innenklasse und Revolutionär_Innen können und dürfen der staatlichen Repression nicht gleichgültig gegenüberstehen, weil die Durchsetzung dieser Urteile und willkürlichen Festnahmen die Staatsgewalt stärkt und sich nicht nur gegen Nawalny, sondern auch gegen jeden zukünftigen linken Widerstand, gegen jede Arbeiter_Innenaktion richtet.

Revolutionär_Innen müssen daher für Nawalnys Freilassung und die aller Festgenommen eintreten sowie die Einstellung aller Verfahren gegen diese fordern. Sofern Demonstrationen zu seiner Freilassung einen Massencharakter annehmen, sollten Linke auch an diesen Protesten teilnehmen und dort mit ihren eigenen Losungen und Bannern auftreten.

Außerdem wäre es falsch, eine politische Zuspitzung innerhalb des bürgerlichen Lagers links liegenzulassen. Die Auseinandersetzung unterstreicht, dass Putins Bonapartismus entgegen seinem äußeren Anschein zur Zeit ein politisch geschwächtes und instabiles Regime darstellt, das von Klassenkämpfen erschüttert werden kann. Die politische Schwäche der Arbeiter_Innenbewegung und die bonapartistische Herrschaftsform sind zwei Faktoren, die dazu beitragen, dass ein bürgerlicher Populist und Nationalist zur Ikone werden konnte, wie es auch in den Massenprotesten 2011/2012 der Fall war. Die Lösung der „demokratischen Frage“ liegt aber nicht in den Händen der liberalen Bourgeoisie, sondern der Arbeiter_Innenklasse. Sie braucht ihr eigenes Programm, das weder auf ein reformiertes Putin-Regime setzt, wie es die KPRF und die mit ihr verbundenen Gewerkschaften tun, noch auf ein besseres Russland unter einem Anti-Putin hofft. Die klassenkämpferische und radikale Linke muss vielmehr versuchen, die Lohnabhängigen aus dem Lager der Opposition politisch herauszubrechen, indem sie den Kampf für demokratische Rechte mit der sozialen Frage verbindet, mit dem Aufbau kampfstarker, vom Regime unabhängiger Gewerkschaften und sozialer Bewegungen sowie einer von Putin und Nawalny unabhängigen revolutionären Arbeiter_Innenpartei.




#ZeroCovid – Stop the Curve!

Internationale Resolution von Revolution

Seitdem
die Pandemie ausgebrochen ist und eine allgemeine Krise sich
abzeichnet, sind die linken Massenorganisationen und auch große
Teile der radikalen Linken in einen Winterschlaf gefallen, aus dem
auch der Lärm von alles andere als schläfrigen Schwurbler_innen sie
nicht aufwecken konnte. Jetzt kommt eine Initiative von links, die es
wagt der Gesundheit zuliebe einen Finger an die Profite zu rühren
und innerhalb weniger Tage 80,000 Unterschriften zustande bringt.
Kein Wunder, dass das deutsche
Kapital am Rad dreht, wie stets im Duett mit Gewerkschaftsführungen
und bürgerlicher Presse. Aber auch innerhalb von Teilen der
radikalen Linken hat die Kampagne keinen guten Ruf, ihr Ziel sei
unrealistisch und dann wolle sie zu dessen Umsetzung auch noch einen
Polizeistaat installieren! Ist die Kampagne also überhaupt links?
Sind das vielleicht alles Faschisten? Und wenn nicht, wie sollten
sich junge Revolutionär_innen zu ihr verhalten? Was hat sie
überhaupt für die Jugend zu bedeuten, wie steht sie zu den Schulen?
Und wie könnte sie vielleicht sogar zum Sieg führen? Den
drängendsten Fragen wollen wir uns hier kurz annehmen.

Nochmal kurz Corona-Recap:

Also
Corona, das war ja diese Krankheit, die einen irgendwie umbringt,
wenn man z.B. Vorerkrankungen hat oder alt ist und dazu keinen
ausreichenden Zugang zu gesundheitlicher Versorgung bekommt. Weil die
Sterblichkeitsrate so in die Höhe geht, wenn das Gesundheitssystem
überlastet ist, ist die Pandemie nicht nur für uns Jugendliche und
die Arbeiter_innenklasse so eine Katastrophe, auch die Bourgeoisie
und die Regierungen haben ein Problem, wenn größere Teile der
Bevölkerung wegsterben. Der Ansatz von stumpfer „Herdenimmunität“,
der von Arschlöchern wie Trump oder Bolsonaro noch verfolgt wurde
und in beiden Ländern zu katastrophalen Zuständen geführt hat, ist
also im Allgemeinen für niemanden eine richtige Option. Die Politik,
die wir in Europa seit langem erleben, folgt daher dem Konzept
„flatten the curve“, d.h. durch halbherzige Maßnahmen wird das
Virus zwar nicht komplett eingedämmt, aber die Ausbreitung wird auf
ein lineares Wachstum verlangsamt, indem man die Reproduktionszahl
auf 1 oder knapp unter 1 bringt und damit auch knapp unter der
Kapazitätsgrenze des Gesundheitssystems verbleibt, man will sich
also irgendwie durchmauscheln bis durch Impfung und Genesene die
Bevölkerung hinreichend immunisiert ist. Der Twist fürs Kapital
dabei ist, dass die Maßnahmen, die dabei getroffen werden,
hauptsächlich auf die persönlichen Freiheiten und Rechte der
Menschen abzielen (private Kontaktbeschränkungen, Schließung von
Kultur- und sozialen Einrichtungen, …), jedoch die Produktion und
damit die Profite der großen Konzerne und Industrien weitgehend
unangetastet bleiben. Darin liegt aber auch ein Problem, weil die
kapitalistischen Regierungen in diesem ständigen Ringen über den
Grad der Maßnahmen niemals vollständige Kontrolle über das Virus
erlangen, wir sehen es aktuell sehr deutlich in der Debatte um die
Wiederöffnung der Schulen, eine Schwierigkeit die durch Faktoren wie
hoch infektiöse Virusmutationen natürlich weiter verschlimmert
wird. Und hier kommt nun ZeroCovid ins Spiel, eine Kampagne, die
ursprünglich zurückgeht auf eine Proposition einer Gruppe von
Wissenschaftler_innen aus „The Lancet“ (das ist so ein
kanonisches Medizinjournal aus Großbritannien).

Was
will ZeroCovid?

Die
hauptsächliche Message von ZC ist, dass die Infektionszahl, auf
nahezu 0 (zero) heruntergebracht werden muss, um die Pandemie in den
Griff zu bekommen, also eher ein „stop the curve“-Ansatz. ZC sagt
nun, wie auch viele andere vernünftige Menschen, die nicht gerade
einen Regierungsposten belegen, dass ein „Feierabendlockdown“,
bei dem die meisten acht Stunden ihres Tages zubringen wie eh und je,
dafür niemals ausreichen kann, und dass aus diesem Grunde auch für
einen kurzen Zeitraum die nicht-essentiellen Teile der Wirtschaft
geschlossen werden müssen.

Der
Lockdown soll darüberhinaus ein „solidarischer Lockdown“ sein,
in dem Sinne, dass ein Rettungspaket gefordert wird, nicht für
Banken und Konzerne, sondern für „die Menschen, die von den
Auswirkungen des Shutdowns besonders hart betroffen sind […] wie
Menschen mit niedrigen Einkommen, in beengten Wohnverhältnissen, in
einem gewalttätigen Umfeld, Obdachlose“. Ebenso soll massiv in den
Gesundheits- und Pflegebereich investiert werden und es wird
gefordert, dass die Impfstoffe „ein globales Gemeingut“ und der
„privaten Profiterzielung entzogen“ werden sollen.

Wichtig
ist, dass ZC, wenn auch nirgends das Wort „Kontrolle“ auftaucht,
dazusagt, „dass die Beschäftigten die Maßnahmen in den Betrieben
selber gestalten und gemeinsam durchsetzen” müssen und auch die
Gewerkschaften aufgefordert werden, “die erforderliche große und
gemeinsame Pause zu organisieren”. Wichtig ist das deshalb, weil es
die Frage aufwirft, wer das Subjekt der Veränderung sein soll,
vielmehr noch diese Frage gleich mit einem Klassenstandpunkt auf
Seiten der Arbeiter_innenklasse beantwortet. Dies schlägt sich auch
in einer letzten Forderung noch einmal nieder, in der sie die
Finanzierung aller Maßnahmen durch das Kapital fordern, in Form
einer “europaweiten Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen,
Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen und die höchsten
Einkommen.”

Was
ist von all dem zu halten?

Wie
schon angedeutet, ist der grundlegende Ansatz goldrichtig und es ist
sehr zu begrüßen, dass die Intiative auf so eine Popularität
stößt. Insbesondere der Bezug auf die Arbeiter_innenklasse stellt
einen qualitativen Unterschied dar zu anderen Petitionen und
moralischen Appellen. Mit all dem gesagt, müssen wir dennoch
bemerken, dass in dem Aufruf einiges schwammig bleibt, so wird nicht
klar unter welchen Umständen eine Kontrolle der Arbeiter_innen und
Jugend über die Maßnahmen gelingen kann, stattdessen wird eher der
Eindruck vermittelt, der Staat müsse nur mal daran erinnert werden,
dass es uns auch noch gibt und dann könne man ihm die Umsetzung
dieser Politik auch irgendwie überlassen. Das ist allerdings ein
Trugschluss, kann doch der Staat in einer Klassengesellschaft, in der
die ökonomische Macht, das Eigentum, bei einer einzelnen Klasse
liegt, unmöglich neutral über den Klassen stehen. Es gibt
darüberhinaus noch viele weitere Punkte, in denen wir uns natürlich
wünschen würden, dass der Aufruf klarer und weitreichender wäre,
wir wollen hier nur exemplarisch nennen, dass zwar der Schritt von
einer europaweiten Planung schon gut ist, allerdings die Kurve nur
global wirklich gestoppt werden kann, wir also international für
diese Maßnahmen kämpfen müssen, wie auch klar gesagt werden muss,
dass der Kampf gegen die Pandemie keine Abschottung Europas gegenüber
Flüchtenden bedeuten darf, die Grenzen müssen für Geflüchtete
vielmehr geöffnet werden, so coronakonform wie möglich
(Massentests, dezentrale Möglichkeiten zur Quarantäne, …).

Also
Pustekuchen?

Nee!
Gerade jetzt, wo die Gewerkschafts- und Parteiführungen unsere
Klasse so im Stich lassen, und die größeren Mobilisierung eher von
rechts kommen, ist unsere Aufgabe eine Antikrisenbewegung von links
aufzubauen. Und da dürfen wir bei einem so vielversprechenden
Ansatz, der auch noch in so entscheidenden Fragen in genau die
richtige Richtung geht, nicht meckernd am Rande stehen. Wir müssen
uns vielmehr in ZC dafür engagieren, dass all die angesprochenen
Punkte umgesetzt werden, die so notwendig sind für den Erfolg der
Kampagne. Es ist ein richtiger Schritt, dass neben dem reinen
Unterschriftensammeln im Netz in den letzten Wochen auch zaghaft
kleine Aktionen auf der Straße oder vor den Betrieben gestartet
wurden und in vielen Städten Ortsgruppen zur Koordinierung der
Proteste gegründet wurden. Revolutionär_innen sollten diesen
Tendenzen weiterführen und so die Klasse als Subjekt der Veränderung
mehr in den Vordergrund rücken, da nur aus einer wirklichen Bewegung
auch Kontrollorgane zur Umsetzung der Ziele hervorgehen können.
Lasst uns im Einklang mit dem Infektionsschutz Demos, Streiks und
Besetzungen organisieren! Wir fordern auch andere linke
Jugendorganisationen (solid, Young Struggle, SDAJ, Jugendantifas und
andere, ja ihr seid gemeint) auf, um ZC aktiv zu werden. Nur von
außen kritisieren reicht jetzt nicht, macht mit und tragt eure
Kritik aktiv mit rein! Die Zeiten sind vorbei, in denen wir es uns
leisten können jede unser eigenes Süppchen zu kochen! Und nebenbei,
das Argument Forderungen an den Staat seien ein NoGo können wir
nicht gelten lassen, bei FFF hat das auch niemanden gejuckt, wir
haben aber trotzdem noch einen ausführlicheren Artikel zu der Frage:
onesolutionrevolution.de/duerfen-linke-forderungen-an-den-staat-stellen-zerocovid/

Was
heißt ZeroCovid für Jugendliche?

Naja
Corona ist ja auch doof für uns, nicht nur für Oma und Opa, das
wird z.B. deutlich, wenn wir uns anschauen was das Krisenmanagement
in der Schule für eine Katastrophe ist, nicht nur für diejenigen,
die gerade Abi schreiben. Es macht daher auch für uns Sinn, für ein
bisschen Kontrolle über unsere Lebensrealitäten zu kämpfen. Wir
sollten daher in der Schul-AG bei ZC intervenieren, um dafür zu
sorgen, dass a) unsere Interessen in der Kampagne Gehöhr finden, wir
b) dadurch auch andere Jugendliche aufmerksam machen können und
c) Druck auf Kräfte wie die GEW aufzubauen auch zu Aktionen
aufzurufen.
Inhaltlich
sollten wir dabei Forderungen aufwerfen wie: Schulöffnungen nur
unter unseren Bedingungen: Mehr Räume, mehr Personal, kleinere
Klassen, Freistellung ohne Diskussion, Prüfungen und Noten nur zur
Verbesserung. Ausführlicher
findet ihr das auf unserer Homepage.


Gehen wir es also an,
der Kampf für eine bessere Welt und gegen die Corona-Leugner_innen
kann nur Erfolg haben, wenn wir auch greifbar Alternativen aufzeigen
können!