Corona, Krise und doppelte Belastung der Frauen

Jaqueline Katherina Singh, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung
Nr. 9

Seit mehr als einem Jahr stellt die Pandemie unser Leben auf den
Kopf. Rund 110 Millionen Menschen sind (Stand: Mitte Februar 2021)
offiziell am Corona-Virus erkrankt, beinahe 2,5 Millionen sind
verstorben. Ausgangsbeschränkungen, Atemschutzmasken,
Arbeitslosigkeit – die Liste mit Dingen, die nun zu unserem Alltag
gehören, ist lang. Angst um Freund_Innen, Familie, die eigene
Existenz. Gerade Letzteres stellt sich für viele Arbeitende.

Denn das Corona-Virus hat eine Wirtschaftskrise, die sich bereits
vorher abzeichnete, ausgelöst und massiv verschärft. Unter anderem,
da – anders als bei der Finanzkrise 2007/08 – fast alle Länder
gleichzeitig erfasst wurden. Der Internationale Währungsfonds (IWF)
geht in einem Bericht davon aus, dass die Pandemie alle Fortschritte
in der Bekämpfung der globalen Armut seit den 1990er Jahren
zunichtegemacht hat. Die soziale Ungleichheit hat sich 2020 drastisch
weiter verstärkt. Das bedeutet, dass jene, die schon vorher am
Existenzminimum gelebt haben, noch weniger besitzen sowie kleinere
Verbesserungen, die in den letzten Jahren errungen werden konnten,
verschwinden.

Die Krise heißt Kapitalismus

Als Ergebnis der Finanzkrise 2007/08 konnten wir in den letzten
Jahren eine stetige Zuspitzung von imperialistischen Konflikten
wahrnehmen – ob durch Interventionen in der Ukraine, Syrien, die
stetigen Drohungen gegen den Iran oder den Handelskrieg zwischen den
USA und China. Gerade Letzterer stellt eine direktere Konfrontation
zwischen zwei imperialistischen Mächten dar, bei der es nicht nur um
ein bloßes Kräftemessen geht. Vielmehr ist es die Zuspitzung der
Frage, welche Kraft den Weltmarkt in ihrem Interesse neu gestaltet –
die niedergehende, über Jahrzehnte vorherrschenden USA oder China
als neue, aufstrebende Macht. Die jetzige Krise wird die
Verteilungskrise und den existierenden Machtkampf massiv verstärken.
Die Frage der Verfügbarkeit medizinischer Versorgung, insbesondere
des Impfstoffes, ist in mehrfacher Weise mit dem Kampf um die
Neuaufteilung der Welt verbunden.

Zum Ersten sichern sich alle imperialistischen Mächte einen
privilegierten Zugang zu den Impfstoffen und räumen den Markt
faktisch leer. Hinzu kommt, dass die großen Konzerne, die fast
ausschließlich in den kapitalistischen Zentren angesiedelt sind, für
Jahre enorme Monopolprofite wittern, auf Patentrechten und damit dem
Ausschluss von Milliarden Menschen vom bezahlbaren Zugang zu den
Impfstoffen beharren. Während die Bevölkerung der imperialistischen
Staaten bis Ende 2021 geimpft werden kann, sollen in vielen Ländern
Afrikas, Lateinamerikas und Asiens selbst „optimistischen“
Vorhersagen zufolge nur 20 % diesen Schutz erhalten.

Die dramatisch wachsende globale Verschuldung verschärft die
Ungleichheit noch weiter. Während die USA, China oder auch die EU
mit Milliardenausgaben die unmittelbaren Wirkungen der Krise
kurzfristig mildern und Konjunkturprogramme auf den Weg bringen
können, ist dieser Weg den meisten Ländern des globalen Südens
verschlossen. Sie können allenfalls auf eine kurzfristige Aussetzung
des Schuldendienstes für über den IWF oder andere Institutionen
vermittelte Kredite hoffen. Diese Last wird sie noch mehr von den
Zentren der Weltwirtschaft und des Finanzkapitals abhängig machen –
mit extremen Folgen für Milliarden Lohnabhängige, Bauern und
Bäuerinnen.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass selbst wenn die
imperialistischen Zentren durch Impfungen wieder versuchen, zum
Regelbetrieb zurückzukehren, die Lage sich nicht von alleine
entspannen wird. Während die nationalen Regierungen für größere
Konzerne Rettungspakete schnüren, wird versucht werden, die
entstandenen Kost auf die Arbeiter_Innenklasse abzuwälzen:
Massenentlassungen, Einsparungen im sozialen Bereich neben der
stetigen Gefahr von Mutationen des Virus, die gegen den Impfstoff
resistent sind. Es stellt sich also die Frage: Wer zahlt für die
Kosten der Krise und die Folgen der Pandemie? Und während der
Machtkampf unter den Kapitalfraktionen noch läuft, ist zugleich
klar, dass sie alle versuchen werden, die Kosten auf die
Arbeiter_Innenklasse abzuwälzen. Im Folgenden wollen wir einen
Überblick darüber geben, wie die Belastung für Frauen aus der
ArbeiterInnenklasse seit Ausbruch der Pandemie zugenommen hat,
welchen Problemen sie sich verschärft gegenübersehen, um dann auf
die Ursachen der Unterdrückung und die Frage des Kampfes dagegen
einzugehen. Schließlich stellen sie einen maßgeblichen Teil der
Arbeiter_Innenklasse dar und haben aufgrund ihrer sozialen
Unterdrückung mit spezifischen Angriffen zu kämpfen.

Frauen sind in vielen der am stärksten von Covid-19 betroffenen
Branchen überrepräsentiert, z. B. in der Gastronomie, im
Einzelhandel und in der Unterhaltungsbranche. So arbeiten 40 Prozent
aller erwerbstätigen Frauen – 510 Millionen weltweit – in den am
stärksten betroffenen Branchen, verglichen mit 36,6 Prozent der
erwerbstätigen Männer. International stellen Frauen 70 % des
Personals in sozialen und Pflegeberufen.

Kurzarbeit und Entlassungen

Auch die ersten großen Entlassungswellen betrafen vor allem
Sektoren, in denen Frauen überrepräsentiert sind wie Einzelhandel,
Gastgewerbe und Tourismus. Eine statistische Erhebung aus den USA
zeigt, dass Frauen in verschiedenen Branchen stärker vom
Arbeitsplatzverlust betroffen sind als Männer. Im Freizeit- und
Gastgewerbe waren vor der Pandemie 52 % der Beschäftigten
Frauen, aber 54 % der Entlassenen sind weiblich. Im Bildungs-
und Gesundheitswesen stellten Frauen 77 % der Arbeitskräfte,
aber 83 % der Entlassenen; im Einzelhandel 48 % der
Beschäftigten, 61 % der Arbeitsplatzverluste; in den Kommunal-
und Landesverwaltungen schließlich 58 % der Belegschaften, aber
63 % der Freigesetzten.

Laut Zahlen der ILO verdienten 2018 61 % der globalen
Erwerbsbevölkerung (2 Milliarden Menschen) ihren Lebensunterhalt in
der informellen Wirtschaft, davon sind rund 50 % Frauen. Für
diese Menschen bedeutet das, dass sie über keinen einklagbaren
Arbeitsvertrag, keine Arbeitslosenversicherung oder damit
vergleichbare Absicherung verfügen.

Frauen stellen zwar die Hälfte der Menschen im informellen
Sektor, sie sind aber vor allem im globalen Süden überrepräsentiert.
So arbeiten in Südasien über 80 % aller Frauen außerhalb der
Landwirtschaft im informellen Sektor, in den Ländern südlich der
Sahara 74 %, in Lateinamerika und der Karibik 54 %.

Besonders betroffen von der Krise sind oft WanderarbeiterInnen. So
haben in Indien mindestens 40 Millionen ArbeitsmigrantInnen von heute
auf morgen ihren Job und ihre Unterkunft verloren. Sie müssen 100 –
1.000 Kilometer zurück zu ihren Familien reisen, denen sie meistens
selbst Geld schicken, also die sie eigentlich finanzieren.
Schätzungen gehen davon aus, dass 660.000 bis 1,5 Millionen
MigrantInnen in Lagern untergebracht wurden, wo sie minimale
Essensrationen erhielten.

Frauen sind jedoch nicht nur als überausgebeutete
Lohnarbeiterinnen betroffen. In vielen Ländern der halbkolonialen
Welt waren sie im Zuge von „Entwicklungshilfe“ oft auch
Empfängerinnen sog. Mikrokredite. In Jordanien beispielsweise
erhielten rund 70 % der Frauen solche. Unter den Bedingungen von
Corona und der Krise können viele ihre Raten nicht mehr tilgen, sind
nicht zahlungsfähig, was in manchen Ländern mit Gefängnisstrafe
geahndet werden kann.

Wir sehen anhand dieser Beispiele, dass arbeitende Frauen auch
ökonomisch besonders stark von der Krise betroffen sind – und
diese wird so schnell nicht nachlassen.

Gesundheit

Aufgrund der Pandemie liegt der Fokus des Gesundheitssystems auf
der Bekämpfung der Krankheit. Dies ist an sich sinnvoll. Aber da es
ohnedies schon einen Mangel an medizinischem Personal und
Einrichtungen gibt, bedeutet das auch, dass diese anderswo fehlen. So
können wir aktuell in vielen Ländern einen Anstieg der Mütter- und
Kindersterblichkeit beobachten.

Der Zugang zu hygienischen Produkten und Verhütungsmitteln wird
durch Verdienstausfälle erschwert, deren Produktion teilweise
ausgesetzt. In Indien wurden während der ersten Wochen des Lockdowns
Binden nicht als essentiell betrachtet. Mädchen hatten aufgrund der
Schließung von Schulen keinen Zugang. NGOs und Hilfsorganisationen
schätzen, dass allein in Indien mindestens 121 Millionen Frauen
keinen Zugriff auf Güter zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse
hatten, wobei ländliche Regionen und Kleinstädte besonders
betroffen waren.

Zusätzlich wird der ohnedies schon eingeschränkte Zugang zu
Abtreibungen weiter erschwert. UN-Schätzungen zufolge könnte die
Corona-Krise zu 7 Millionen ungewollten Schwangerschaften führen.
Zum einen, da der Zugang zu Verhütungsmitteln erschwert ist, zum
anderen, da die sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen massiv
zugenommen hat und sie noch mehr an die Familie und damit an
Ehemänner gebunden sind. Dort, wo Schwangerschaftsabbrüche legal
sind, wurde der Zugang zu Beratungsgesprächen massiv eingeschränkt,
da viele Praxen und Familienplanungszentren ihr Angebot reduzierten.
In 8 US-Bundesstaaten liefen während des ersten Lockdowns Verfahren,
da Abtreibungen auf die Liste der „nicht dringlichen“
medizinischen Behandlungen gesetzt worden sind.

Gewalt gegen Frauen

Zugleich verschärft sich die Lage der Frauen in Familien und
Beziehungen. Der Bevölkerungsfonds der UN (United Nations Population
Fund, bis 1987: United Nations Fund for Population Activities; UNFPA)
rechnet mit 31 Millionen zusätzlichen Fällen von häuslicher Gewalt
in 6 Monaten des Lockdowns. Wir haben es hier mit einem globalen,
keinesfalls mit einem regionalen Problem zu tun.

In Frankreich nahmen mit der Ausgangssperre 2020 die Fälle
häuslicher Gewalt um 30 Prozent zu. Die französische Regierung
kündigte zudem an, bis zu 20.000 Zimmern in Hotels für Betroffene
zu reservieren, in französischen Einkaufszentren wurden 20
Beratungsstellen eingerichtet.

Allein in den ersten beiden Aprilwochen 2020 gab es im Vergleich
zum Vorjahreszeitraum einen 47 %igen Anstieg der Anrufe bei der
spanischen Hotline für häusliche Gewalt. Die Zahl der Frauen, die
sich per E-Mail oder über soziale Medien an die von der Regierung
als wesentlich eingestuften Unterstützungsdienste wandten, soll um
bis zu 700 % gestiegen sein. Sichtbar wird das Ausmaß des
Problems, wenn man die bestehende Infrastruktur für von Gewalt
betroffene Frauen betrachtet.

So mangelt es in Deutschland seit Jahren an Plätzen in
Frauenhäusern. Bis heute stehen rund 6.800 Plätze zur Verfügung,
obwohl sich Deutschland schon 2017 verpflichtet hat, mindestens
21.400 zu schaffen. Kurzfristig hätte hier durch Nutzung
leerstehenden Wohnraums, wegen der Pandemie nicht belegter Hotels und
Ferienwohnungen etwas Abhilfe geschaffen werden können – doch
Fehlanzeige. Hinzu erschweren die soziale Isolierung und Quarantäne
die Lage der Frauen. Mit Tätern eingeschlossen, kannst du nicht
einfach verschwinden und dich um die Kinder kümmern, die ebenfalls
krasser Gewalt ausgesetzt sind.

Homeoffice und unbezahlte Hausarbeit

Grundsätzlich leisten Frauen nach wie vor weit mehr unbezahlte
Hausarbeit als Männer. Im Zuge von Corona wurden Schulen und
Kindergärten geschlossen, ist Pflegeunterstützung im Haus oft
weggefallen oder reduziert.

Hinzu kommt, dass Homeoffice und Kinderbetreuung nur schwer
vereinbar sind. Das zeigt sich in Deutschland daran, dass 40 %
der Personen mit Kindern unter 14 Jahren die Tätigkeit im Homeoffice
als äußerst oder stark belastend einschätzen gegenüber 28 Prozent
der Befragten ohne Kinder. 1,5 Millionen Alleinerziehende – davon
sind 90 % Frauen – sind noch mal stärker betroffen.

Ein Teufelskreis

Viele Frauen arbeiten im Caresektor und in sog. systemrelevanten
Berufen. Sie sind oft einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt,
gleichzeitig aber auch von Entlassungen am stärksten betroffen. Das
bindet sie ökonomisch stärker an die Familie, macht sie schutzloser
gegenüber häuslicher Gewalt. Zusätzlich steigt die reproduktive
Arbeit, die im Haushalt getätigt werden muss, was die
Doppelbelastung der Frauen erhöht. Sie werden also unter Bedingungen
einer kapitalistischen Krise, die durch die Pandemie verstärkt wird,
mehr in die klassische, reaktionäre Geschlechterrolle gedrängt.
Auch wenn jetzt die Kontaktverbote gelockert werden, wird es keine
Rückkehr zur ohnedies zweifelhaften „Normalität“ geben.
Vielmehr drohen im Zuge der Wirtschaftskrise mehr Entlassungen und
massive Sozialkürzungen.

Warum ist das so?

Um die aktuelle Situation zu verändern, ist es essentiell zu
verstehen, warum Corona sowie die Wirtschaftskrise
Frauenunterdrückung verstärken und woher diese überhaupt kommt.
Dazu gibt es zahlreiche theoretische Ansätze und diverse Lösungen
von verschieden feministischen Strömungen, auf die wir an dieser
Stelle nicht eingehen können. Stattdessen beschäftigen wir uns mit
der Position von Revolutionär_Innen.

Frauenunterdrückung existierte schon lange vor dem Kapitalismus
und nahm in allen Klassengesellschaften eine systematische Form an.
So war z. B. die bäuerliche Familie im Feudalismus Produktions-
und Reproduktionseinheit. Für den Kapitalismus ist freilich typisch,
dass sich die Funktion von Haushalt und Familie für die unterdrückte
Klasse gegenüber früheren Klassengesellschaften ändert. Im
Kapitalismus werden Produktion und Reproduktion getrennt und
natürlich hat die Familie/PartnerInnenschaft für die
ArbeiterInnenklasse und für die besitzenden Klassen auch eine
unterschiedliche Funktion. Für Erstere dient sie in erster Linie zur
Reproduktion der Ware Arbeitskraft, während sie für KapitalistInnen
essentiell für die Vererbung der Produktionsmittel ist.

Auch wenn dieses „Ideal“ der ArbeiterInnenfamilie global
betrachtet oft gar nicht der Realität entspricht, so übernimmt der
Kapitalismus eine schon vorher existierende geschlechtsspezifische
Arbeitsteilung, die dadurch, dass der Lohn des Mannes als
„Familienlohn“ gesetzt wird, während die Frau nur
„dazuverdient“, selbst befestigt und reproduziert wird. Die
bürgerliche Familie, die auch als Norm in der ArbeiterInnenklasse
ideologisch und repressiv durchgesetzt wird gegenüber anderen
Formen, reproduziert die geschlechtliche Arbeitsteilung und diese
verfestigt wiederum die Familie als scheinbar „natürliche“ Form
des Zusammenlebens.

Warum sind Frauen stärker betroffen?

Diese Form der geschlechtlichen Arbeitsteilung bedeutet auch, dass
Frauen oft von Krisen besonders stark betroffen sind. Gerade in
solchen Perioden wird die Reproduktionsarbeit im Kapitalismus
systematisch ins Private gedrängt. Kosten für v. a.
öffentliche Kindererziehung, Kranken- und Altenpflege erscheinen als
unnütze, unproduktive Arbeit, da sie oft keinen Mehrwert für ein
Kapital schaffen. Das heißt nicht, dass es nicht nützliche Arbeiten
sind. Aber da sie sich nicht im gleichen Maßstab wie andere, z. B.
industrielle, verwerten lassen, erscheint z. B. Carearbeit im
öffentlichen Krankenhaus oder die Arbeit der Erzieherin in einer
Kita nur als Kostenfaktor, der gefälligst reduziert oder ganz
eingespart werden soll.

Daher verbleibt auch die individuelle Kindererziehung, Pflege von
Alten in der Familie – und es erziehen und pflegen dabei in erste
Linie Frauen. Dabei kann diese Operation durchaus widersprüchlich
sein, weil eigentlich auch das gesellschaftliche Gesamtkapital unter
bestimmten Bedingungen mehr weibliche Arbeitskraft und damit auch
eine teilweise Vergesellschaftung der Hausarbeit (z. B. durch
mehr Kindergärten, bessere Kantinen …) braucht.

In Krisenzeiten müssen aber Kosten gespart werden durch Absenkung
der Löhne, Verlängerung der Arbeitszeit, Kurzarbeit, Entlassungen,
aber auch und vor allem durch Kürzungen im sozialen Bereich
insgesamt. Frauen fungieren so als „flexible“ Aufstockerinnen,
besonders leicht verschiebbarer Teil der industriellen Reservearmee,
die zuerst ins Private gedrängt werden und sich eher um Familie
kümmern, aber bei besserer Konjunktur auch wieder leicht und
schlechter bezahlt einsetzbar sind.

Wir sehen hier also auch, woher der Gender Pay Gap
(geschlechtsspezifischer Lohn- und Gehaltsunterschied) kommt. Der
Lohn des Mannes wird historisch als Familienlohn gesetzt (der auch
die Kosten zur Reproduktion der Familie einschließt). Die Arbeit der
Frau erscheint dabei nur als „Zuschuss“, als „Aufstocken“.
Das Ganze bildet einen Elendskreislauf, der sich in einem gewissen
Maß selbst reproduziert: Basierend auf der geschlechtlichen
Arbeitsteilung geht der Mann arbeiten, weil er mehr verdient – und
weil der Mann mehr verdient, bleibt die Frau zu Hause. Somit
reproduziert sich die geschlechtliche Arbeitsteilung gleich mit.

Kämpfe der ArbeiterInnen- und der Frauenbewegung haben zwar
wichtige Verbesserungen errungen, aber eine wirkliche Gleichheit
konnte nie erreicht werden, weil die unterschiedlichen Löhne in der
geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und im privaten Charakter der
Hausarbeit wurzeln. Gerade in Krisen stehen wir immer wieder vor der
Gefahr eines Rollbacks.

Forderungen

Auch wenn sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Frauen in
den verschiedenen Ländern und Regionen sehr unterschiedlich
darstellen, so gibt es doch einige gemeinsame Forderungspunkte, die
für eine internationale Bewegung von großer Bedeutung sind:

Gesundheitsschutz für alle!

Kostenloser Zugang für alle, insbesondere auch Frauen aus dem
„globalen Süden“, zu Gesundheitsversorgung sowie zu
Corona-Impfstoffen und -Tests. Die Produktion und Verteilung der
Impfstoffe muss der Kontrolle der privaten Konzerne entzogen werden.
Nein zum Impfstoff-Nationalismus der imperialistischen Staaten, für
die Aufhebung der Patente und einen internationalen Plan zu raschen
Produktion und Verteilung. Streichung der Schulden der Länder der
„Dritten Welt“ und Finanzierung der Gesundheitsversorgung und der
Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung (inklusive der Versorgung bei
Quarantänemaßnahmen) durch einen internationalen Plan, finanziert
von den reichen Ländern und durch die Besteuerung von Vermögen und
Kapital!

Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Dies beinhaltet auch Forderungen wie jene nach einem Mindestlohn
oder nach Abschaffung aller Formen informeller, prekärer Arbeit
durch tarifliche Löhne und Gehälter, verknüpft mit der nach
Kontrolle dieser Maßnahmen durch Komitees der ArbeiterInnenklasse,
insbesondere der Lohnarbeiterinnen. Keine Entlassungen und volle
Bezahlung aller Beschäftigen während der Lockdowns bei Schließung
aller nicht-essentiellen Wirtschaftsbereiche, um eine
Zero-Covid-Strategie durchzusetzen. Anhebung der Renten,
Arbeitslosenunterstützung zumindest auf Höhe des Mindestlohns.
Kontrolle der Gewerkschaften und von Ausschüssen der ArbeiterInnen
über diese Maßnahmen.

Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Diese muss das Recht auf Empfängnisverhütung, die kostenlose,
sichere und frei zugängliche Abtreibung beinhalten. Sie inkludiert
auch den Schutz vor häuslicher Gewalt, Scheidungsrecht, rechtliche
Gleichheit, den massiven Ausbau von Schutzräumen wie Frauenhäusern
sowie den Aufbau von Selbstverteidigungskomitees gegen Gewalt und
Übergriffe, die von der ArbeiterInnenbewegung unterstützt werden.

Kampf gegen Entlassungen, Einbezug ins
Berufsleben!

Der Kampf gegen Entlassungen muss sich auch gegen die von Frauen
richten. Alle rechtlichen Benachteiligungen, alle Formen von Sexismus
und Diskriminierung im Berufsleben müssen offensiv bekämpft werden.
Der Kampf gegen Entlassungen muss mit dem für eine massive
Verkürzung der Arbeitszeit verbunden werden, so dass die Arbeit
unter alle, Männer wie Frauen, aufgeteilt werden kann.

Nein zu Sozialabbau und Privatisierung –
Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Statt weiterer Kürzungen müssen wir für den Ausbau von Schulen,
Bildungseinrichtungen, öffentlichen Krankenhäusern,
Kultureinrichtungen usw. unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse
eintreten. Dies ist absolut notwendig, um dem weiteren Rollback und
der Zunahme privater Hausarbeit entgegenzutreten. Letztlich besteht
die Aufgabe darin, die gesamte Hausarbeit zu vergesellschaften, so
dass lebenswichtige Aufgaben wie Kindererziehung und Sorge um Alte
und Kranke nicht mehr individuelle Last von Frauen bleiben, sondern
kollektiv angepackt werden.

Gegen Sexismus und Chauvinismus!

Beim Aufbau einer internationalen Bewegung gegen Pandemie und
Krise müssen Frauen und ihre Forderungen eine Schlüsselrolle
einnehmen. Doch ihre Unterdrückung in der Gesellschaft findet nur
allzu oft ihre Fortsetzung in der reformistischen und
bürokratisierten ArbeiterInnenbewegung. Daher ist es notwendig, dass
sie sich gegen alle Formen des Sexismus und Chauvinismus in unserer
Klasse auch organisiert zur Wehr setzen können und wie alle anderen
sozial Unterdrückten in Parteien oder Gewerkschaften das Recht auf
eigene Treffen (Caususes) haben. Mit den Frauen*streiks der letzten
Jahre hat sich eine globale Kraft zu formieren begonnen, die das
Potential besitzt, zu einer internationalen proletarischen
Frauenbewegung zu werden. Diese stellt für den gemeinsamen Kampf von
Männern und Frauen der ArbeiterInnenklasse kein Hindernis, sondern
vielmehr eine Voraussetzung zu einem wirklichen, gemeinsamen Kampf
gegen Frauenunterdrückung und Kapitalismus dar.




Russland: Der Fall Nawalny und das Regime Putin

Robert Teller, Infomail 1140, 22. Februar 2021

zuerst veröffentlicht unter: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/02/22/russland-der-fall-nawalny-und-das-regime-putin/

Am 20. Februar schloss der bislang letzte Akt der juristischen Farce um Alexei Nawalny, der Galionsfigur der russischen Opposition. Das Moskauer Babuschkinskij-Gericht wies die Berufung gegen seine Verurteilung zu rund 3,5 Jahren Lagerhaft ab. Im selben Gerichtssaal wurde auch die Strafe von umgerechnet 9.500 Euro wegen Diffamierung eines Kriegsveteranen bestätigt.

Zu 3,5 Jahren Haft war Nawalny schon Anfang Februar verurteilt worden. Das Berufsgericht bestätigte dies, auch wenn die Strafdauer um einige Wochen reduziert wurde.

Überraschend kamen weder die Festnahme Nawalnys am Moskauer Flughafen am 17. Januar, die von der russischen Regierung im Voraus angekündigt war, noch das Urteil, das offensichtlich darauf ausgerichtet ist, die Galionsfigur der bürgerlichen, prowestlichen Opposition gegen Putin zumindest bis zur nächsten Präsidentschaftswahl aus dem Verkehr zu ziehen – sei es durch Anschläge, sein Exil oder eben jederzeit durch willfährige Richter_Innen verlängerte Haft.

Die Begründung der Justiz wirft ein bezeichnendes Licht auf das System Putin. Nawalny hätte, so das Urteil, gegen Bewährungsauflagen verstoßen, die sich aus früheren Strafverfahren ergeben hätten. Als er knapp der Vergiftung – mutmaßlich durch Agent_Innen des russischen Staates – entgangen war, wurde er in Berlin behandelt. Einige Zeit war er komatös. Während dieser Zeit, so das Gericht, hätte er sich nicht an die Bewährungsauflagen gehalten, zu denen u. a. eine zweiwöchentliche Meldung bei den russischen Behörden gehört.

Das Skandalurteil stellt alles andere als einen Einzelfall dar. Russische Oppositionelle – ganz zu schweigen von Angehörigen unterdrückter Nationalitäten oder von regimekritischen Linken – sind seit Jahren solchen Formen staatlicher Unterdrückung ausgesetzt, die selbst nur einen Teil des Herrschaftssystems Putins darstellen.

Tatsächlich trifft die politische Repression Linke im Allgemeinen härter als bürgerliche Rival_Innen. Vor einem Jahr wurde im sog. „Network Case“ eine Gruppe antifaschistischer Aktivist_Innen in der Stadt Penza zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Urteile stützten sich auf erzwungene Geständnisse. Ende Dezember wurde Sergei Udalzow, ein führendes Mitglied der Parteienkoalition „Linksfront“, der bereits eine viereinhalbjährige Haftstrafe wegen seiner Beteiligung an den Protesten 2012 abgesessen hat, verhaftet und wegen einer nicht genehmigten Protestaktion zu 10 Tagen Haft verurteilt.

Massenproteste

Der entscheidende Unterschied zu den unzähligen Fällen politischer Repression, inklusive Skandalurteilen, langjähriger Haft wegen der Ausübung demokratischer Rechte, liegt aber in Folgendem: Über lange Jahre erzielten diese eine abschreckende Wirkung, weil sich das System Putin neben Repression und einer Monopolisierung der Medien auf eine gewisse soziale Stabilität im Inneren stützen konnte.

Diesmal ist es anders. Die Verhaftung und die Verurteilung Nawalnys lösten eine Welle von Massenprotesten im ganzen Land aus. Diese wurden zu den größten der vergangenen Jahre, mit etwa 15.000 Teilnehmer_Innen in Moskau und über 100.000 in 80 oder mehr Städten landesweit. Die Bedeutung der nicht genehmigten Demonstrationen lässt sich auch an der Anzahl verhafteter Demonstrant_Innen ablesen. Laut OVD-Info, einer russischen Menschenrechtsorganisation, wurden allein Mitte Januar mindestens 4.000 Teilnehmer_Innen festgenommen. Gegen viele wurden Strafverfahren eingeleitet oder in Schnellverfahren Geldstrafen oder Administrativhaft verhängt. Auf weiteren Demonstrationen am 31. Januar wurden erneut mindestens 5.600 Teilnehmer_Innen festgenommen. Menschen wurden nicht erst wegen der Teilnahme an Protesten verhaftet, sondern auch wegen des Teilens von nicht genehmigten Protestaufrufen auf Social Media. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, dass die Polizei ohne Anlass brutal gegen Demonstrant_Innen vorgeht. Auch einige linke Organisationen unterstützten die Proteste kritisch, also ohne dabei Nawalnys politischen Zielen Anerkennung zukommen zu lassen. Nach den Verhaftungen vom 23. und 31. Januar ruft Nawalnys Bewegung nun dazu auf, weitere Proteste zu unterlassen und sich stattdessen für die Duma-Wahlen im September bereitzuhalten.

Wie immer die weitere Mobilisierung verlaufen wird, so signalisiert die Bewegung doch eine bedeutende Veränderung der politischen Lage in Russland, die weit über die Frage der Freilassung von Nawalny hinausgeht. Angesichts der ökonomischen und politischen Probleme des russischen Imperialismus kann das Regime Putins selbst ins Wanken geraten. Nawalny und die bürgerlichen, prowestlichen Kräfte hoffen, aus dieser Lage Kapital schlagen zu können. Es ist kein Zufall, dass sie, anders als in früheren Jahren, die Kritik an Putin vor allem auf Korruptionsvorwürfe lenken, auf die Bereicherung durch ihn und seine Unterstützer_Innen. Eine eigens von Nawalny gegründete Antikorruptions-Stiftung veröffentlichte u. a. ein bekannt gewordenes Video über einen teuren Palast am Schwarzen Meer, der Putin zugeschrieben wird und dessen persönliche Bereicherung belegen soll. Mit diesen Enthüllungen versucht er zugleich, sozial heterogene Putin-Gegner_Innen, die von unzufriedenen Lohnabhängigen und Armen über städtische Mittelschichten und Aufsteiger_Innen bis zu unzufriedenen Kapitalist_Innen reichen, anzusprechen, die meinen, im System Putin zu kurz gekommen zu sein.

Nawalny und die rechtsliberale Opposition

Das darf aber nicht über seine politische Ausrichtung hinwegtäuschen. Die Korruptionsvorwürfe sind für Nawalny Mittel zum Zweck und haben darüber hinaus den Vorteil, dass er seine eigentlichen politischen, programmatischen Ziele in den Hintergrund treten lassen kann.

Nawalny ist ein Rechtsliberaler, der Russland vor Putin retten will. Er fand in der Vergangenheit an liberalen wie auch rechtsnationalistischen Gruppierungen und Organisationen Gefallen und hat – durchaus in Übereinstimmung mit Putins Ansichten – „russische Interessen“ gegenüber den demokratischen Ambitionen nichtrussischer Völker und Nationen verteidigt. Von seinen extrem rassistischen Sprüchen – so bezeichnete er 2007 die Menschen aus dem Kaukasus als „Kakerlaken“ – hat er sich zwar nicht distanziert, doch der Rassismusvorwurf scheint nun entweder mit der Zeit verblasst oder durch Märtyrertum getilgt zu sein. Seine rassistischen Ausfälle u. a. gegen Tschetschen_Innen zeigen, dass er der demokratische Weltverbesserer, als den ihn westliche Fans gerne sehen, nicht ist und nicht sein will. Nawalny präsentiert sich als ein Verbesserer der russischen Nation. Beschönigend bezeichnete er sich als „nationalistischen Demokraten“. Als solcher muss er mit Putin um die Gunst der Nation wetteifern und will nicht zurückfallen, wenn es gilt, die „Gefühle“ des Volkes zu bedienen.

Aktuell reduziert Nawalny alles Schlechte in Russland auf eine behauptete Korruptheit der Eliten. Damit knüpft er erstens an die Wahrnehmung vieler Menschen an, ihnen werde „alles geraubt“. Das stimmt zwar, aber die Korruption in Russland ist dabei eher ein Nebenaspekt gegenüber der  formell legalen Privatisierung von ehemaligem Volkseigentum nach der Restauration des Kapitalismus, die unter Putin fortgesetzt wurde. Politisch ist der bloße Korruptionsvorwurf im Übrigen vor allem demagogisch, weil Nawalny als bürgerlicher Populist natürlich nicht die politökonomischen Ursachen kritisiert, die sie hervorbringen, sondern letztlich selbst an die Futtertröge rankommen will.

Zweitens kritisiert Nawalny damit die Eigenschaft des russischen Systems, die Teilhabe sowohl des Volkes als auch von Teilen der herrschenden Klasse an der Gestaltung der politischer Macht zu beschneiden. Dies entspricht nicht seiner Vorstellung einer anständigen kapitalistischen Großmacht, die auf Augenhöhe mit anderen, v. a. westlichen, Großmächten agieren will und über entsprechende politische Strukturen verfügen sollte, in welchen vor allem auch die verschiedenen Teile der Bourgeoisie selbst demokratisch um die politische Vorherrschaft konkurrieren können. Der Zustand des russischen Staates passt in seinen Augen nicht recht zu einem imperialistischen Land, das zu neuem nationalen Selbstbewusstsein gelangt ist.

Und drittens macht ihn dieser Populismus auch für seine deutschen und westeuropäischen Unterstützer_Innen interessant, die die vorliegenden imperialistischen Konflikte mit Russland lieber als Auseinandersetzungen um „Demokratie und Rechtsstaat“ statt um Märkte und imperiale Einflusszonen verstanden haben wollen. Es handelt sich um solche, die insbesondere dort, wo unmittelbar deutsche Geschäftsinteressen in Frage stehen, auch weiterhin „vernünftig“ mit Russland zusammenarbeiten und gleichzeitig ein legitimes, gesittetes, freiheitlich-demokratisches politisches und militärisches Drohpotential schaffen und vergrößern wollen. Um Russlands Illegitimität Putin direkt in die Schuhe schieben zu können, ist es hilfreich, ein Gesicht der Legitimität vorzuführen, einen Anti-Putin. Nawalny reduziert die Ära Putin auf Korruption und Despotismus. Das reicht, um von den Vertreter_Innen des imperialistischen Deutschlands geadelt zu werden.

Nawalnys Politik drückt primär die Interessenlage nicht allzu großer Teile der Bourgeoisie und des städtischen Kleinbürger_Innentums aus, die von einer stärkeren Öffnung zum Westen mehr zu gewinnen als zu verlieren haben. Er findet, wie die Reichweite der Proteste zeigt, aber auch Anklang in der städtischen Jugend, unter Arbeiter_Innen und Mittelschichten, die entweder Illusionen in seine Version eines modernen, aufgeklärten Populismus hegen oder sich trotz Fehlens solcher Illusionen auf gemeinsame Ziele wie die Beseitigung politischer Verfolgung beziehen.

Nawalny konnte lange mit seinem Populismus einen eher beschränkten Kreis an Wähler_Innen und Unterstützer_Innen mobilisieren und diese Basis reichte bei weitem nicht aus, eine ernsthafte Bedrohung für Putin darzustellen. Dies könnte sich jedoch ändern. Bei Wahlen propagiert er die Taktik des sog. „Smart Voting“. Diese besteht darin, stets die aussichtsreichsten Putin feindlichen Kandidat_Innen zu unterstützen, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit oder ihrem Programm. Bisher konnten Putins Leute oft tatsächlich deutliche Stimmenmehrheiten erzielen, was nicht in erster Linie manipulierten Wahlen zugeschrieben werden konnte, sondern auch mit der Zersplitterung und teilweisen Integration der Opposition ins Herrschaftssystem zu tun hatte. Mit seiner Wahltaktik versucht Nawalny gewissermaßen automatisch, alle Anti-Putin-Stimmen für sich zu beanspruchen. Zu den von ihm unterstützten Kandidat_Innen gehören gegebenenfalls auch Angehörige der „systemtreuen Opposition“ wie der KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation) oder der ultrarechten LDPR (Liberaldemokratische Partei Russlands).

Seine begrenzte Massenbasis und die nicht vorhandene Legitimation aus dem Staatsapparat heraus stellt bisher aber auch die Grenze der Figur Nawalny dar – und damit der möglichen Einflussnahme westlicher Mächte. Nawalny biederte sich diesen dadurch an, dass er abgesehen von dem Wunsch nach einer Öffnung zum Westen wesentliche außenpolitische Fragen – wie die der militärischen Interventionen, der Nahostpolitik usw. – offenließ oder mit unverbindlichen Phrasen beantwortete. Umgekehrt verteidigte er auch russische Interessen wie z. B. auf der Krim oder in der Ostukraine.

Auch wenn Nawalnys populistische Methode zu gewissen Wahlerfolgen führen und der Legitimität von Putins System Kratzer zufügen sollte, beinhaltet sie kein politisches Konzept für ein „Russland ohne Putin“. Nawalny mag für manche als authentische und mitreißende Oppositionsfigur erscheinen, weil er seit Jahren einen Gegenpol zu Putin bildet, sein persönliches Schicksal dabei hintenanstellt und sich nicht auf die begrenzten Möglichkeiten der „systemtreuen“ Parteien beschränkt. Letztlich ordnet er aber nicht nur sich selbst, sondern auch die Bewegung auf der Straße seiner Wahltaktik unter.

Nawalnys politisches Programm ist, soweit es überhaupt explizit formuliert wurde, reaktionär. Aber natürlich ist das längst nicht alles, was es über seine Verhaftung und die Protestbewegung zu sagen gibt. Die Verfolgung Nawalnys ist ein bewusster Akt eines bürgerlich-bonapartistischen Regimes, dessen politische Legitimität Risse bekommen hat. Dies spielt sich ab auf dem Boden einer Klassengesellschaft, einer imperialistischen Macht, die in einer wirtschaftlichen Krise steckt und ihre Interessen gegenüber imperialistischen Rival_Innen zu behaupten hat.

Ursprung des Konflikts mit Putin

Die Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen UdSSR hat aus den ehemals vergesellschafteten Industrien, vor allem im Energiesektor, privates Kapital entstehen lassen. Doch die neu entstandene bürgerliche Klasse, die Oligarchie, hatte als solche keine kontinuierliche Geschichte. Sie vermochte nicht, ein gemeinsames gesamtkapitalistisches Interesse zu verfolgen, vielmehr drohte ihre mehr oder minder ungezügelte Aneignung und Plünderung des Volksvermögens, die Wirtschaft zu ruinieren. Die Zukunft Russlands als kapitalistische Großmacht war in den 1990er Jahren ernsthaft in Frage gestellt. Das zeigte sich damals, als Kaugummi und McDonald’s das Land eroberten, es aber unter Jelzin zu zerfallen drohte. Nicht nur an der Peripherie, wo Völker und Nationen neue oder alte Ansprüche auf politische Eigenständigkeit stellten, war der Staat im Zerfall, sondern auch im Innern, wo Oligarch_Innen regionale Regierungen aus dem föderalen System herauskauften und dadurch zeigten, wie wenig „nationales Gesamtinteresse“ sie zu verfolgen beabsichtigten. Der desolate Zustand des politischen Überbaus spiegelte den inneren Zustand der Bourgeoisie wider, einer Klasse, die kein Bewusstsein dafür besaß, welche Herausforderung es bedeutet, sich in der globalen Konkurrenz zu behaupten.

Putin hat in den vergangenen 20 Jahren ein bonapartistisches Regime geschaffen, das sich durch starke zentralistische Machtstrukturen, ein Übergewicht des Sicherheitsapparates und mit diesem historisch verbundener Teile der Bourgeoisie auszeichnet. Putin setzte der drohenden Balkanisierung und Herabstufung Russlands zur Halbkolonie im Zuge der neoliberalen Schocktherapie der 1990er Jahre ein Ende und schuf einen politischen Überbau, mit dem Russland wieder als kapitalistische Großmacht auf der Weltbühne stehen kann. Dieses System funktioniert so, dass ein „nationales Gesamtinteresse“ nicht notwendigerweise durch die, sondern gegebenenfalls und häufig gegen oder über die Köpfe der Bourgeoisie hinweg zur Geltung kommen muss. Die Anerkennung Putins als Repräsentanten des „ideellen Gesamtkapitals“ durch die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie ist nicht ein Resultat, sondern eine Vorbedingung für die politische Repräsentation ihrer Interessen. Oligarch_Innen, die sich dem widersetzten, erhielten entsprechende Lektionen, wie etwa Chodorkowski 2004. Natürlich ist das nicht eine Abweichung von irgendeiner „Idealform“ bürgerlicher Demokratie, sondern ihre spezielle Form unter einer bestimmten historisch bedingten Klassenkonstellation. Der Konflikt, den Nawalny mit Putins Staatsapparat austrägt, ist letztlich ein Resultat der Art und Weise, wie das gesellschaftliche Eigentum der UdSSR privatisiert worden war. Putins „Partei von Räuber_Innen und Halunk_Innen“ entspricht einer Bourgeoisie mit genau diesen Eigenschaften.

Klassenkampf und imperialistische Konfliktlage

Der russische Imperialismus steht vor großen Herausforderungen. Abgesehen von der Rüstungsindustrie verfügt er nicht über starke Exportindustrien, mit denen er die Dominanz über andere Länder sichern kann. Die Extraprofite aus dem Export fossiler Energieträger ermöglichen zwar die Finanzierung des staatlichen Renten- und Gesundheitssystems, das gerade aufgrund der Prekarisierung weiter Teile der Bevölkerung bislang ein wichtiges integratives Element des bonapartistischen Systems darstellt. Die gefallenen Energiepreise gefährden aber das staatliche Distributionssystem und zwangen die Regierung 2018 zu einem historischen Angriff auf die Renten. 2020 brachen die Einnahmen aus dem Gasexport um 39 % und der Gesamtexport um 24 % ein. Der Öl- und Gasexport ist zudem natürlich Gegenstand imperialistischer Rivalität. Die europäischen Hauptabnehmer_Innen sind angesichts des globalen Überangebots an Energieträgern zu einem verstärkten Import aus Russland nur zu für sie vorteilhaften Bedingungen bereit, d. h. bei ihrer Beteiligung an dem dabei erzielten Extraprofit. Die genannten Aspekte beschreiben eine krisenhafte Entwicklung Russlands, die zu politischen Brüchen im Staatsapparat und Opposition innerhalb der herrschenden Klasse führen kann, und damit zu einer Zuspitzung der Verhältnisse. Sie wird zu sozialen Angriffen auf die Massen führen, die Widerstand notwendig machen.

Die schwierige ökonomische Lage geht zugleich mit einer menschenverachtenden Pandemie-Politik und dem weitgehenden Verzicht auf Einschränkungen der Wirtschaft einher – mit fatalen Folgen für die Gesundheit der Massen. Insgesamt hat das Land über 80.000 Tote zu beklagen.

Politische Schlussfolgerungen

Diese aktuelle wirtschaftliche Krise unterhöhlt die soziale Basis des politischen Herrschaftssystems Putins. Das betrifft die Masse der Lohnabhängigen, die Mittelschichten, aber auch die Superreichen und Kapitalist_Innen. Im System Putin überließen sie weitgehend der Staatsbürokratie mit einem bonapartistischen Führer die politische Macht. Im Gegenzug sicherte dieser massive Profite des Großkapitals und die Stabilität der Geschäfte.

Dieser grundlegende gesellschaftliche Krisenprozess bildet auch die Grundlage dafür, dass sich hinter Nawalny tatsächlich eine Massenbewegung formierten könnte, die Putin in Frage stellt. Das Regime ist sich dessen offenbar bewusst und sperrt daher den Oppositionsführer weg. Doch die Repression gegen Nawalny stellt dabei nur die Spitze des Eisbergs dar. Weit über zehntausend Menschen wurden in den letzten Monaten festgenommen, brutal angriffen und warten auf Verfahren.

Auch wenn Nawalny selbst ein bürgerlich-nationalistischer Reaktionär ist, dem Linke keinerlei politische Unterstützung zukommen lassen dürfen und dem gegenüber sich jegliche Illusionen in seine „demokratischen“ Absichten verbieten, so geht es bei seiner fadenscheinigen Aburteilung nicht primär um dessen Person oder Charakter.

Vielmehr geht es darum, dass das russische bürgerlich-bonapartistische Regime ein Exempel statuieren will, um jedes Aufbegehren, jede Opposition einzuschüchtern, um diese im Keim zu ersticken. Daher auch tausende weitere Festnahmen.

Die Arbeiter_Innenklasse und Revolutionär_Innen können und dürfen der staatlichen Repression nicht gleichgültig gegenüberstehen, weil die Durchsetzung dieser Urteile und willkürlichen Festnahmen die Staatsgewalt stärkt und sich nicht nur gegen Nawalny, sondern auch gegen jeden zukünftigen linken Widerstand, gegen jede Arbeiter_Innenaktion richtet.

Revolutionär_Innen müssen daher für Nawalnys Freilassung und die aller Festgenommen eintreten sowie die Einstellung aller Verfahren gegen diese fordern. Sofern Demonstrationen zu seiner Freilassung einen Massencharakter annehmen, sollten Linke auch an diesen Protesten teilnehmen und dort mit ihren eigenen Losungen und Bannern auftreten.

Außerdem wäre es falsch, eine politische Zuspitzung innerhalb des bürgerlichen Lagers links liegenzulassen. Die Auseinandersetzung unterstreicht, dass Putins Bonapartismus entgegen seinem äußeren Anschein zur Zeit ein politisch geschwächtes und instabiles Regime darstellt, das von Klassenkämpfen erschüttert werden kann. Die politische Schwäche der Arbeiter_Innenbewegung und die bonapartistische Herrschaftsform sind zwei Faktoren, die dazu beitragen, dass ein bürgerlicher Populist und Nationalist zur Ikone werden konnte, wie es auch in den Massenprotesten 2011/2012 der Fall war. Die Lösung der „demokratischen Frage“ liegt aber nicht in den Händen der liberalen Bourgeoisie, sondern der Arbeiter_Innenklasse. Sie braucht ihr eigenes Programm, das weder auf ein reformiertes Putin-Regime setzt, wie es die KPRF und die mit ihr verbundenen Gewerkschaften tun, noch auf ein besseres Russland unter einem Anti-Putin hofft. Die klassenkämpferische und radikale Linke muss vielmehr versuchen, die Lohnabhängigen aus dem Lager der Opposition politisch herauszubrechen, indem sie den Kampf für demokratische Rechte mit der sozialen Frage verbindet, mit dem Aufbau kampfstarker, vom Regime unabhängiger Gewerkschaften und sozialer Bewegungen sowie einer von Putin und Nawalny unabhängigen revolutionären Arbeiter_Innenpartei.




#ZeroCovid – Stop the Curve!

Internationale Resolution von Revolution

Seitdem
die Pandemie ausgebrochen ist und eine allgemeine Krise sich
abzeichnet, sind die linken Massenorganisationen und auch große
Teile der radikalen Linken in einen Winterschlaf gefallen, aus dem
auch der Lärm von alles andere als schläfrigen Schwurbler_innen sie
nicht aufwecken konnte. Jetzt kommt eine Initiative von links, die es
wagt der Gesundheit zuliebe einen Finger an die Profite zu rühren
und innerhalb weniger Tage 80,000 Unterschriften zustande bringt.
Kein Wunder, dass das deutsche
Kapital am Rad dreht, wie stets im Duett mit Gewerkschaftsführungen
und bürgerlicher Presse. Aber auch innerhalb von Teilen der
radikalen Linken hat die Kampagne keinen guten Ruf, ihr Ziel sei
unrealistisch und dann wolle sie zu dessen Umsetzung auch noch einen
Polizeistaat installieren! Ist die Kampagne also überhaupt links?
Sind das vielleicht alles Faschisten? Und wenn nicht, wie sollten
sich junge Revolutionär_innen zu ihr verhalten? Was hat sie
überhaupt für die Jugend zu bedeuten, wie steht sie zu den Schulen?
Und wie könnte sie vielleicht sogar zum Sieg führen? Den
drängendsten Fragen wollen wir uns hier kurz annehmen.

Nochmal kurz Corona-Recap:

Also
Corona, das war ja diese Krankheit, die einen irgendwie umbringt,
wenn man z.B. Vorerkrankungen hat oder alt ist und dazu keinen
ausreichenden Zugang zu gesundheitlicher Versorgung bekommt. Weil die
Sterblichkeitsrate so in die Höhe geht, wenn das Gesundheitssystem
überlastet ist, ist die Pandemie nicht nur für uns Jugendliche und
die Arbeiter_innenklasse so eine Katastrophe, auch die Bourgeoisie
und die Regierungen haben ein Problem, wenn größere Teile der
Bevölkerung wegsterben. Der Ansatz von stumpfer „Herdenimmunität“,
der von Arschlöchern wie Trump oder Bolsonaro noch verfolgt wurde
und in beiden Ländern zu katastrophalen Zuständen geführt hat, ist
also im Allgemeinen für niemanden eine richtige Option. Die Politik,
die wir in Europa seit langem erleben, folgt daher dem Konzept
„flatten the curve“, d.h. durch halbherzige Maßnahmen wird das
Virus zwar nicht komplett eingedämmt, aber die Ausbreitung wird auf
ein lineares Wachstum verlangsamt, indem man die Reproduktionszahl
auf 1 oder knapp unter 1 bringt und damit auch knapp unter der
Kapazitätsgrenze des Gesundheitssystems verbleibt, man will sich
also irgendwie durchmauscheln bis durch Impfung und Genesene die
Bevölkerung hinreichend immunisiert ist. Der Twist fürs Kapital
dabei ist, dass die Maßnahmen, die dabei getroffen werden,
hauptsächlich auf die persönlichen Freiheiten und Rechte der
Menschen abzielen (private Kontaktbeschränkungen, Schließung von
Kultur- und sozialen Einrichtungen, …), jedoch die Produktion und
damit die Profite der großen Konzerne und Industrien weitgehend
unangetastet bleiben. Darin liegt aber auch ein Problem, weil die
kapitalistischen Regierungen in diesem ständigen Ringen über den
Grad der Maßnahmen niemals vollständige Kontrolle über das Virus
erlangen, wir sehen es aktuell sehr deutlich in der Debatte um die
Wiederöffnung der Schulen, eine Schwierigkeit die durch Faktoren wie
hoch infektiöse Virusmutationen natürlich weiter verschlimmert
wird. Und hier kommt nun ZeroCovid ins Spiel, eine Kampagne, die
ursprünglich zurückgeht auf eine Proposition einer Gruppe von
Wissenschaftler_innen aus „The Lancet“ (das ist so ein
kanonisches Medizinjournal aus Großbritannien).

Was
will ZeroCovid?

Die
hauptsächliche Message von ZC ist, dass die Infektionszahl, auf
nahezu 0 (zero) heruntergebracht werden muss, um die Pandemie in den
Griff zu bekommen, also eher ein „stop the curve“-Ansatz. ZC sagt
nun, wie auch viele andere vernünftige Menschen, die nicht gerade
einen Regierungsposten belegen, dass ein „Feierabendlockdown“,
bei dem die meisten acht Stunden ihres Tages zubringen wie eh und je,
dafür niemals ausreichen kann, und dass aus diesem Grunde auch für
einen kurzen Zeitraum die nicht-essentiellen Teile der Wirtschaft
geschlossen werden müssen.

Der
Lockdown soll darüberhinaus ein „solidarischer Lockdown“ sein,
in dem Sinne, dass ein Rettungspaket gefordert wird, nicht für
Banken und Konzerne, sondern für „die Menschen, die von den
Auswirkungen des Shutdowns besonders hart betroffen sind […] wie
Menschen mit niedrigen Einkommen, in beengten Wohnverhältnissen, in
einem gewalttätigen Umfeld, Obdachlose“. Ebenso soll massiv in den
Gesundheits- und Pflegebereich investiert werden und es wird
gefordert, dass die Impfstoffe „ein globales Gemeingut“ und der
„privaten Profiterzielung entzogen“ werden sollen.

Wichtig
ist, dass ZC, wenn auch nirgends das Wort „Kontrolle“ auftaucht,
dazusagt, „dass die Beschäftigten die Maßnahmen in den Betrieben
selber gestalten und gemeinsam durchsetzen” müssen und auch die
Gewerkschaften aufgefordert werden, “die erforderliche große und
gemeinsame Pause zu organisieren”. Wichtig ist das deshalb, weil es
die Frage aufwirft, wer das Subjekt der Veränderung sein soll,
vielmehr noch diese Frage gleich mit einem Klassenstandpunkt auf
Seiten der Arbeiter_innenklasse beantwortet. Dies schlägt sich auch
in einer letzten Forderung noch einmal nieder, in der sie die
Finanzierung aller Maßnahmen durch das Kapital fordern, in Form
einer “europaweiten Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen,
Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen und die höchsten
Einkommen.”

Was
ist von all dem zu halten?

Wie
schon angedeutet, ist der grundlegende Ansatz goldrichtig und es ist
sehr zu begrüßen, dass die Intiative auf so eine Popularität
stößt. Insbesondere der Bezug auf die Arbeiter_innenklasse stellt
einen qualitativen Unterschied dar zu anderen Petitionen und
moralischen Appellen. Mit all dem gesagt, müssen wir dennoch
bemerken, dass in dem Aufruf einiges schwammig bleibt, so wird nicht
klar unter welchen Umständen eine Kontrolle der Arbeiter_innen und
Jugend über die Maßnahmen gelingen kann, stattdessen wird eher der
Eindruck vermittelt, der Staat müsse nur mal daran erinnert werden,
dass es uns auch noch gibt und dann könne man ihm die Umsetzung
dieser Politik auch irgendwie überlassen. Das ist allerdings ein
Trugschluss, kann doch der Staat in einer Klassengesellschaft, in der
die ökonomische Macht, das Eigentum, bei einer einzelnen Klasse
liegt, unmöglich neutral über den Klassen stehen. Es gibt
darüberhinaus noch viele weitere Punkte, in denen wir uns natürlich
wünschen würden, dass der Aufruf klarer und weitreichender wäre,
wir wollen hier nur exemplarisch nennen, dass zwar der Schritt von
einer europaweiten Planung schon gut ist, allerdings die Kurve nur
global wirklich gestoppt werden kann, wir also international für
diese Maßnahmen kämpfen müssen, wie auch klar gesagt werden muss,
dass der Kampf gegen die Pandemie keine Abschottung Europas gegenüber
Flüchtenden bedeuten darf, die Grenzen müssen für Geflüchtete
vielmehr geöffnet werden, so coronakonform wie möglich
(Massentests, dezentrale Möglichkeiten zur Quarantäne, …).

Also
Pustekuchen?

Nee!
Gerade jetzt, wo die Gewerkschafts- und Parteiführungen unsere
Klasse so im Stich lassen, und die größeren Mobilisierung eher von
rechts kommen, ist unsere Aufgabe eine Antikrisenbewegung von links
aufzubauen. Und da dürfen wir bei einem so vielversprechenden
Ansatz, der auch noch in so entscheidenden Fragen in genau die
richtige Richtung geht, nicht meckernd am Rande stehen. Wir müssen
uns vielmehr in ZC dafür engagieren, dass all die angesprochenen
Punkte umgesetzt werden, die so notwendig sind für den Erfolg der
Kampagne. Es ist ein richtiger Schritt, dass neben dem reinen
Unterschriftensammeln im Netz in den letzten Wochen auch zaghaft
kleine Aktionen auf der Straße oder vor den Betrieben gestartet
wurden und in vielen Städten Ortsgruppen zur Koordinierung der
Proteste gegründet wurden. Revolutionär_innen sollten diesen
Tendenzen weiterführen und so die Klasse als Subjekt der Veränderung
mehr in den Vordergrund rücken, da nur aus einer wirklichen Bewegung
auch Kontrollorgane zur Umsetzung der Ziele hervorgehen können.
Lasst uns im Einklang mit dem Infektionsschutz Demos, Streiks und
Besetzungen organisieren! Wir fordern auch andere linke
Jugendorganisationen (solid, Young Struggle, SDAJ, Jugendantifas und
andere, ja ihr seid gemeint) auf, um ZC aktiv zu werden. Nur von
außen kritisieren reicht jetzt nicht, macht mit und tragt eure
Kritik aktiv mit rein! Die Zeiten sind vorbei, in denen wir es uns
leisten können jede unser eigenes Süppchen zu kochen! Und nebenbei,
das Argument Forderungen an den Staat seien ein NoGo können wir
nicht gelten lassen, bei FFF hat das auch niemanden gejuckt, wir
haben aber trotzdem noch einen ausführlicheren Artikel zu der Frage:
onesolutionrevolution.de/duerfen-linke-forderungen-an-den-staat-stellen-zerocovid/

Was
heißt ZeroCovid für Jugendliche?

Naja
Corona ist ja auch doof für uns, nicht nur für Oma und Opa, das
wird z.B. deutlich, wenn wir uns anschauen was das Krisenmanagement
in der Schule für eine Katastrophe ist, nicht nur für diejenigen,
die gerade Abi schreiben. Es macht daher auch für uns Sinn, für ein
bisschen Kontrolle über unsere Lebensrealitäten zu kämpfen. Wir
sollten daher in der Schul-AG bei ZC intervenieren, um dafür zu
sorgen, dass a) unsere Interessen in der Kampagne Gehöhr finden, wir
b) dadurch auch andere Jugendliche aufmerksam machen können und
c) Druck auf Kräfte wie die GEW aufzubauen auch zu Aktionen
aufzurufen.
Inhaltlich
sollten wir dabei Forderungen aufwerfen wie: Schulöffnungen nur
unter unseren Bedingungen: Mehr Räume, mehr Personal, kleinere
Klassen, Freistellung ohne Diskussion, Prüfungen und Noten nur zur
Verbesserung. Ausführlicher
findet ihr das auf unserer Homepage.


Gehen wir es also an,
der Kampf für eine bessere Welt und gegen die Corona-Leugner_innen
kann nur Erfolg haben, wenn wir auch greifbar Alternativen aufzeigen
können!




Dürfen Linke Forderungen an den Staat stellen? (#ZeroCovid)

Guter Artikel unseres Genossen Wilhelm Schulz, zuerst veröffentlicht in Neue Internationale 253, Februar 2021

#ZeroCovid stellt den ersten linken Vorstoß mit potenziellem Massencharakter der, der sich gegen die staatlichen Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie stellt und die Auseinandersetzung in die Betriebe tragen möchte. Es stellt eine zentrale Aufgabe auch der subjektiv revolutionären Linken dar, die Initiative und ihren Erfolg nach Kräften zu stärken und sie politisch zu prägen. Daher unterstützen wir sie kritisch und fordern alle linken und proletarischen Kräfte auf, es uns nachzutun.

Während an die 100.000 den Aufruf unterschrieben haben, bleibt die
Reaktion unter sozialistischen Linken bislang recht verhalten. Die SAV
unterstützt die Kampagne nicht, weil sie es nicht für mehrheitsfähig in
der Klasse hält, einen Shutdown auch auf die Wirtschaft auszuweiten. Der
Funke (IMT) verweigert sich, weil der Aufruf die Methoden des
Klassenkampfes nicht anwende, sondern  den Staat als Subjekt der
Veränderung sieht und damit Illusionen in eben jenen schüre.

In verschiedenen Stellungnahmen aus linken Organisationen, Parteien
und Plattformen können wir in den letzten Tagen eine relative Paralyse
gegenüber der Forderung nach einschränkenden Maßnahmen zur Bekämpfung
der Pandemie beobachten. Forderungen an den Staat erscheinen manchen
prinzipiell, also unabhängig von ihrem Inhalt, als Teufelszeug.

Staat und Reformen

Bevor wir auf die Frage näher eingehen, wollen wir kurz fünf Forderungsblöcke von #Zero-Covid darlegen:

„1. Wir schränken unsere Kontakte auf ein Minimum ein – auch am
Arbeitsplatz. Wir müssen alle nicht gesellschaftlich notwendigen
Bereiche der Wirtschaft für eine Zeit stilllegen.

2. Niemand darf zurückbleiben: Menschen können nur zu Hause bleiben,
wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes
Rettungspaket für alle nötig.

3. Der Markt hat nichts geregelt. Der Gesundheits- und Pflegebereich
muss sofort ausgebaut werden. Das heißt auch: Löhne rauf und weg mit dem
schädlichen Profitprinzip im Gesundheitswesen.

4. Eine globale Pandemie lässt sich nur global besiegen: Impfstoffe
dürfen nicht den Profiten von Unternehmen dienen, sondern müssen allen
Menschen überall zur Verfügung stehen.

5. Die nötigen Maßnahmen kosten Geld. Deshalb brauchen wir
europaweite Covid-Solidaritätsabgaben auf hohe Vermögen,
Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen.“

Diese fünf Forderungen könnten natürlich noch deutlicher und
konkreter gefasst werden. Das ist hier aber nicht das Wesentliche. Alle
zielen auf den Gesundheitsschutz, die soziale Verbesserung der Lage der
Lohnabhängigen, von Selbstständigen, unabhängig von Alter, Nationalität,
Geschlecht sowie auf die Finanzierung dieser Maßnahmen durch
Umverteilung von oben nach unten.

Forderungen im Kapitalismus

Solange wir den Kapitalismus noch nicht gestürzt haben, richten sich
solche Forderungen nach sozialen und politischen Verbesserungen oder
Reformen immer notwendigerweise an den Staat. Das trifft z. B. auch auf
die Forderungen nach einer gesetzlichen Arbeitszeitverkürzung, nach
einem Mindestlohn, nach Enteignungen großer Konzerne, nach dem Ausbau
demokratischer Rechte zu.

Würden die VertreterInnen einer solchen Kritik ihre eigenen Argumente
ernst nehmen, so müssten sie jede Bewegung, jeden Kampf für politische
und soziale Reformen kategorisch ablehnen und, ähnlich wie die
„antiautoritären“ und anarchistischen KritikerInnen von Marx und Engels
in der Ersten Internationale, den Weg des politischen Abstentionismus
beschreiten, also der Enthaltung vom und Ablehnung des politischen
Klassenkampf/es für Verbesserungen im bestehenden System.

Die Geschichte lehrt hingegen, dass der Kampf um solche Reformen als
Mittel genutzt werden muss, um die ArbeiterInnenklasse zu organisieren
und in Bewegung zu bringen. Schließlich hat der bürgerliche Staat als
Sachwalter des Kapitals nichts zu verschenken. Und jede/r weiß, dass die
Ziele von #ZeroCovid nur durch massive Mobilisierungen erzwungen werden
können, um diese gegen den Widerstand von Kapital, bürgerlichen
Parteien und Regierung zu erzwingen.

Nur wenn die Forderungen mit weiterführenden Kampfmaßnahmen wie
Demonstrationen, Streiks und Besetzungen verbunden werden, kann die
Klasse Zugeständnisse erzwingen und im Zuge ihrer dafür notwendigen
Selbstorganisation die Umsetzung kontrollieren. Im Nachfolgenden wollen
wir also die Frage, ob und inwiefern wir Forderungen an den Staat
stellen sollten, weiter beleuchten.

Was ist der bürgerliche Staat?

Der bürgerliche Nationalstaat ist in erster Linie ein Instrument zur
Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung und Eigentumsverhältnisse –
er ist ein kapitalistischer Klassenstaat. Er fungiert als ideeller
Gesamtkapitalist, d. h. er muss die allgemeinen Produktionsbedingungen
aufrechterhalten und auch als Sachwalter des Gesamtinteresses der
herrschenden Klasse dienen. Dieses darf jedoch nicht als Addition der
Interessen der konkurrierenden Einzelkapitale verstanden werden.
Vielmehr muss er auch die Konkurrenzbedingungen unabhängig von diesen
garantieren, was auch zu einzelnen Konflikten führt. Dieser Gegensatz
zeigt sich aktuell auch durch die Schließung von Restaurants und
Freizeiteinrichtungen, während die für die Mehrwertproduktion
„essentiellen“ Konzerne um jeden Preis offen gehalten werden.

Zweitens verkörpert der Staat im Kapitalismus das gesellschaftlich
Allgemeine, wenn auch das „falsche Allgemeine“, weil seine proklamierte
„Neutralität“ und formale Gleichheit der BürgerInnen nur den Überbau
bilden können, auf dessen ökonomischer Grundlage sich die Klassen
reproduzieren. Damit die Sicherung dieser gesellschaftlich grundlegenden
Verhältnisses gelingt, muss die bürokratische Staatsmaschinerie
(Parlamente, Repressionsapparat, Verwaltung, Justiz, …) strukturell an
die herrschende Klasse gebunden sein.

Daher kann der Staat nicht einfach übernommen, transformiert oder
demokratisiert werden. So sind die Staatsbediensteten materiell und
ideologisch an ebendiesen Staat gebunden. Auch ist der Großteil des
Staates eben nicht demokratisch wählbar, was im Besonderen für die
exekutiven Organe (Polizei, Militär, Geheimdienste) gilt.

Zugleich aber bildet der Kampf um politische und soziale Reformen
einen Ort des Klassenkampfes in der bürgerlichen Gesellschaft. Unsere
Politik muss daher notwendig zwei Aspekte berücksichtigen. Erstens geht
es darum, die Klasse durch Forderungen wie jene nach einem Shutdown der
Wirtschaft zusammenzuschließen und zu einer politischen Bewegung zu
formieren, die nicht nur an einzelne UnternehmerInnen Forderungen nach
Durchsetzung gesundheitlicher Unversehrtheit richtet, sondern diese als
allgemeine politische erhebt. Als Zweites zielen diese Forderungen
darauf ab, Illusionen in den Klassenstaat zu brechen, um dabei eine
Perspektive zu weisen, die von den bestehenden Problemen aus die
Notwendigkeit der Selbstorganisation und schlussendlich den Bruch mit
dem Privateigentum aufzeigt.

Kann man also Forderungen an den Staat stellen?

Die zentrale Zielsetzung unserer Forderungen besteht nicht in
Erreichung kleiner Teilerfolge, sondern sie muss darauf abzielen, einen
unversöhnlichen Klassenstandpunkt aufzuzeigen und zu popularisieren
(vergl. Luxemburg: Sozialreform oder Revolution). Damit sind wir an
einem Punkt angelangt, an dem der Vorstoß von #ZeroCovid eine gewisse
Doppeldeutigkeit annimmt, konkret an der Frage, wie die aufgestellten
Forderungen umgesetzt werden können. Der Adressat der Online-Petition
sind die „Deutsche Bundesregierung, Schweizer Bundesregierung,
Österreichische Bundesregierung, Europäische EntscheidungsträgerInnen“
(siehe Petitionstext), während im Aufruf die Gewerkschaften aufgefordert
werden, den Shutdown im Betrieb zu organisieren. Was von manchen somit
als Appell an den Staat bezeichnet wird, ist unter Bedingungen einer
klassenkämpferischen Bewegung in den Gewerkschaften und Betrieben ein
Erzwingen zur Umsetzung der Maßnahmen gegenüber dem Staat.

Besonders interessant wird die verkürzte Darstellung von Forderungen
an den Staat als rein appellierende Haltung, wenn wir uns andere soziale
Bewegungen anschauen, allen voran Fridays for Future – eine Bewegung,
die die meisten der ach so konsequenten linken Gruppen vermutlich
(kritisch) unterstützen werden. Die Hauptforderung von FFF ist die
Umsetzung des Pariser Klimaabkommens, womit sie sich direkt auf den
Staat bezieht, sogar ganz ohne Bezugnahme auf Gewerkschaften. Hier
wiederum kämpfen viele der SozialistInnen in und um FFF für ein
Klassenprogramm. Eine kurze Frage an die SAV an der Stelle: Ist die
Umsetzung der Forderungen der Umweltbewegung denn in der
ArbeiterInnenklasse aktuell mehrheitsfähig? Eventuell ist die Sorge auch
eher, dass dies in der Linkspartei schwer mehrheitsfähig ist bzw. einen
politischen Kampf mit sich brächte.

Um die Notwendigkeit, Forderungen an den Staat zu stellen, zu
verstehen, müssen wir uns kurz mit den drei Dimensionen des
Klassenkampfes befassen, dem ökonomischen, politischen und ideologischen
Klassenkampf (vgl. Lenin: Was tun?). Verkürzt gesagt, umrahmen sie
idealtypisch folgendes Feld: Der ökonomische Klassenkampf bezieht sich
auf die Verbesserungen des Verhältnisses bezahlter zu ausgebeuteter
Lohnarbeit, der ideologische hingegen ist der Kampf um die Köpfe, besser
um die Entwicklung von der Klasse an sich zur Klasse für sich, und im
politischen Klassenkampf – um den es im Kern an dieser Stelle geht –
richtet sich die ArbeiterInnenbewegung schlussendlich gegen das
politische wie soziale System des Kapitalismus als Ganzes. Ziel ist es,
die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen, somit auch ihren Staat zu
schwächen, gar zu entmachten.

Charakter des „Autoritarismus“

Weiter oben haben wir verdeutlicht, dass die Forderung an den Staat
mit der Mobilisierung der Klasse verbunden werden muss. Aus dem oben
Gezeigten lässt sich auch leicht die Antwort auf eine Frage finden, die
viele Linke anscheinend umtreibt: Führen Forderungen an den Staat denn
automatisch zum Autoritarismus? Im Allgemeinen lässt sich sagen: Nein!
Es hängt vielmehr jeweils davon ab, wessen Klasseninteressen, welche
Anliegen sie zum Ausdruck bringen, nicht ob sie „autoritär“ sind oder
nicht.

Bestünde ein solcher Automatismus hingegen, müsste jede Forderung
nach sozialer Absicherung den Staat ein Quäntchen autoritärer machen,
beispielsweise die Erhöhung des Mindestlohns. Auch bei #ZeroCovid geht
es nicht um irgendwelche Forderungen an den Staat, sondern um die
Forderung nach einem Shutdown des Gesamtkapitals.

Es ist kein Zufall, dass die Regierung bereit ist, einzelne, für die
Mehrwertproduktion weniger wichtige Branchen zu schließen. Im Falle der
Großindustrie setzt der reale Staat jedoch seine Macht ein, um solche
Maßnahmen zu verhindern. Er sichert die Profite der Konzerne auf Kosten
unserer Gesundheit. Die konkreten Maßnahmen, die #ZeroCovid vorschlägt,
werden daher nur durch eine Bewegung erzwungen werden können. Selbst
wenn sich der Staat genötigt sähe, diesem Druck vorübergehend
nachzugeben, würden viele BürokratInnen und UnternehmerInnen kreativ
nach Schlupflöchern suchen – ganz so wie wir das von der „autoritären“
Besteuerung der Unternehmen oder „autoritären“ Hygienevorschriften in
Schlachtereien kennen. Große Konzerne würden versuchen, sich den
Shutdown vergolden zu lassen. D. h. hier zeigt sich, dass die Frage der
Erzwingung dieser Maßnahmen mit jener der Kontrolle durch die
ArbeiterInnenklasse in den Betrieben und Stadtteilen verbunden werden
muss.

Welche Forderung in wessen Interesse?

Vom Standpunkt der KapitalistInnenklasse und des
KleinunternehmerInnentums sind staatliche Arbeitszeitbeschränkungen,
Kündigungsschutz oder Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz natürlich
„autoritär“. Vom Standpunkt der ArbeiterInnenklasse aus betrachtet
hingegen oft löchrig wie Schweizer Käse. Für das Kapital wirkte sich die
Kontrolle durch die Lohnabhängigen noch viel autoritärer aus als jene
des Staates. Daher muss jede Kritik am „Autoritarismus“ auf ihren
Klassencharakter hin überprüft werden. Der abstrakte, vom politischen
und sozialen Inhalt einer Forderung abstrahierende „Antiautoritarismus“
entpuppt sich nämlich bei näherer Betrachtung als bürgerliche,
arbeiterInnenfeindliche Ideologie.

Ist es denn kleinbürgerlich-moralisierend, Forderungen an den Staat
zu stellen? Wie bereits verdeutlicht: Nein, nicht prinzipiell! Die
Aufgabe ist es, die Forderungen, die in der Online-Petition formuliert
werden, mit weiterführenden Kampfmaßnahmen zu füllen. Die Darstellung
deren als kleinbürgerlich und staatsbejahend ignoriert vollkommen die
Aufgabe von RevolutionärInnen, die Wirklichkeit dem Gedanken anzunähern
und hat ausschließlich den praktischen Nutzen, im Nachhinein die eigene
Passivität zu legitimieren. Eine solche Haltung tut in der Situation der
Paralyse nichts anderes als dem vorherrschenden Bewusstsein in der
Klasse, somit einem bürgerlichen, hinterherzulaufen. Deshalb: Nicht
meckern, machen! Kämpft mit und in #ZeroCovid für eine proletarische
Aktionsplattform im Kampf gegen Pandemie und Krise!




Wer kommt für die Kosten der Krise auf?

Von Mareike Kombüse

Lange wurde die Krise beschworen, jetzt
ist sie da: Bereits 2019 hat sich in einigen Bereichen der Industrie
der wirtschaftliche Niedergang abgezeichnet. Mit der Pandemie hat sie
sich auf die restliche Wirtschaft ausgedehnt und die Krise ungemein
befeuert: Das erwartete Wirtschaftswachstum
für 2020 in Deutschland liegt je nach Quelle zwischen -4,7%
und -7,1%1.
Sprich die Kosten der Krise sind enorm. Doch wer trägt sie? Ein
Blick in die Nachrichten: Kurzarbeit, Massenentlassungen in der
Gastronomie und bei Lufthansa, Coronaausbrüche bei Tönnies,
Überstunden im Pflegebereich. Einige Beispiele von vielen, die
bereits erahnen lassen, wen die Krise besonders hart trifft und wen
nicht.

Der
Schuldenberg wächst

Doch zunächst werfen wir einen Blick
auf die Staatshilfen: Diese werden mehrheitlich zur Rettung großer
Konzerne, wie z.B. Lufthansa mit 9 Milliarden Euro2,
genutzt. 9 Milliarden? Das klingt schon nach viel Geld? Insgesamt
plant die Bundesregierung 400 Milliarden Euro alleine für die
Rettung großer Konzerne auszugeben. Weitere 200 Milliarden
sind im Rahmen von Kreditmaßnahmen eingeplant3.
Das diese Milliarden nicht einfach gedruckt werden, sondern letzten
Endes von jemanden getragen werden müssen, ist klar. Der Staat
treibt diese Gelder mittels Steuern ein.
Diese bezahlen zu einem großen Teil Arbeiter_Innen. Sprich
die Rettung der Konzerne geschieht zu einem Teil auf Kosten
derjenigen, die von eben denselben ausgebeutet werden. Dabei können
wir aufgrund der Verschuldung von kommenden Steuererhöhungen
ausgehen. Hierbei leiden in einem besonderen Maße diejenigen unter
den Steuerabgaben, die in absoluten Zahlen ein besonders geringes
Einkommen haben. Dort heißt es nämlich oftmals Schauen, wie die
Miete überhaupt zu bezahlen ist, während es bei den Steuern der
Kapitalist_Innen letztlich um die Frage geht, ob der Champagner 100
oder 80€ kostet.

Für die Aktionäre waren die
Milliarden aber ein regelrechter Segen: 2020 wurden allein in
Deutschland 43,8 Milliarden US-Dollar für das Jahr 2019 an Aktionäre
ausgeschüttet4.
Gleichzeitig erhalten viele dieser Konzerne enorme „Staatshilfen“.
So hat BMW 1,6 Milliarden Euro Dividende ausgeschüttet und zugleich
Kurzarbeit eingeführt. Die BASF schüttete 3,4 Milliarden Euro aus
und erhält Milliarden Staatshilfen aus Großbritannien. Genauso
Bayer mit 3,4 Milliarden Euro Ausschüttung und 670 Millionen aus
einem britischen Nothilfefond5.
Alles Beispiele dafür, wie der Kapitalismus es immer wieder schafft,
Gewinne einigen wenigen zukommen zu lassen und Kosten auf die
ökonomisch Schwachen abzuwälzen.

Als ob der übliche Stress nicht
reicht

Die Arbeiter_Innen sind es auch, die
aufgrund ihrer ökonomischen Abhängigkeit gegenüber ihren
Ausbeuter_Innen oftmals dazu gezwungen sind, unter mangelnden
Hygienebedingungen ihre Arbeit fortzusetzen. Bei
Tönnies hat sich gezeigt, welche fatalen Folgen das bedeutet, denn
es ist nicht bloß bei einem Corona-Ausbruch geblieben. Die
Gesundheit der Arbeiter_Innen findet in der Profitlogik der
Kapitalist_Innen keinen Platz.

Im Bereich der Care-Arbeit zeigt
sich Ähnliches. Zwar ist die Hygieneversorgung im Vergleich besser,
wenn auch nicht ausreichend, allerdings wird massiv Druck auf die
Arbeiter_Innen ausgeübt, indem ihnen jede Menge Überstunden
aufgebrummt werden und eine Intensivierung der Arbeit stattfindet.
Eine späte Einmalzahlung von
bis zu 1000€, die insgesamt 0,1 Milliarden Euro gekostet
hat6,
ist bloß ein Tropfen auf den heißen Stein. Im Vergleich zu den 400
Milliarden Euro für große Konzerne ist es jedoch eine einzige
Dreistigkeit – vor allem in Anbetracht der durch die
Pflegearbeiter_Innen geretteten Menschenleben. Im folgenden
Artikel zur Sonderzahlungslüge gibt es dazu noch mehr Hintergründe!

Eine zusätzliche Belastung stellte
sich während der Corona-Krise für arbeitende Eltern, die auf der
einen Seite während des Präsenzunterrichts ihrer Kinder Sorge
um deren Gesundheit hatten und auf der anderen Seite
während des schlecht organisierten Homeschoolings zusätzliche
Unterstützung bereitstellen mussten. Schließlich fanden alle
Schulprüfungen trotz der inadäquaten Vorbereitungsbedingungen
statt.

Was muss jetzt passieren?

Insgesamt können wir also festhalten,
dass mal wieder die Schwächsten am meisten unter der Krise leiden.
Da hilft kein Klatschen und keine scheinheilige Einmalzahlung. Was
den Arbeiter_Innen wirklich hilft, sind drastische Lohnerhöhungen
und bessere Hygienebedingungen. Dabei wird es nicht ausreichen, den
Staat nur auf diese Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen. Schließlich
geschieht das ganze nicht unbemerkt, sondern ist gewollt. Historisch
ist der Staat nämlich als „ideeller Gesamtkapitalist“
entstanden. Das heißt, er vertritt die allgemeinen Interessen aller
Kapitalist_Innen zusammen. Konkret bedeutet das beispielsweise die
Aufrechterhaltung des Privateigentums an Produktionsmittel oder des
Erbrechts. Auch wenn es sicher einige erkämpfte Rechte der
Arbeiter_Innenklasse innerhalb des Staats gibt und wir diese auch
weiter erkämpfen müssen, kann
dieser Staat nicht so reformiert werden, dass wir tatsächlich
eine gerecht Gesellschaft haben. Das Eingestehen gewisser Rechte
diente nämlich einzig und allein der Beschwichtigung der sich
wehrenden Arbeiter_Innenklasse. So erweisen sich diese oft als
unvollständig und scheinheilig. Das Wahlrecht ist zum
Beispiel derartig eingeschränkt, dass kaum von einer Demokratie die
Rede sein kann: nur alle 4 Jahre wird gewählt, keine
Rechenschaftspflicht, keine Abwählbarkeit, staatliche Kontrolle über
die Bildungsinhalte, Lobbyismus und so weiter. So gelingt dem
vermeintlich demokratischen Staat die Abwälzung der Kosten der Krise
auf die Arbeiter_Innenklasse. Doch was können wir machen um das zu
verhindern?

Um unsere Ziele höherer Löhne und
besserer Hygienebedingungen zu
erreichen, müssen wir uns kollektiv in den Unis, Schulen und
Betrieben organisieren. Wir müssen die verschiedenen
gesellschaftlichen Kämpfe zu einer gemeinsamen Bewegung gegen die
Krise und ihren Auswüchsen aufbauen! Dabei brauchen wir Forderungen,
die auch die Finanzierungsfrage beantworten. Wir brauchen eine starke
Besteuerung derjenigen, die während der Krise Sonderprofite
erzielten (Desinfektions- und Maskenhersteller). Gleichzeitig müssen
wir die Ausschüttung von Dividenden verhindern und diese Gelder für
bessere Hygienebedingungen und höhere Löhne in den systemrelevanten
Sektoren nutzen. Allerdings werden das die großen Konzerne sicher
nicht so einfach mit sich machen lassen. Sie drohen mit Stellenabbau
oder Standortverlagerung, um ihre Interessen durchzusetzen. Das
dürfen wir nicht zulassen. Kommt
es dazu müssen wir die Konzerne bestreiken, die Kontrolle über die
Produktion übernehmen und sie
letztendlich enteignen.
Nur so können wir Corona-Ausbrüche in den Fabriken wie bei
Tönnies, die Abwälzung der Kosten auf uns und die Überlastung
sowie schlechte Bezahlung der Arbeiter_Innen in systemrelevanten
Sektoren beenden.

1https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunkturprognose114.html
[10.12.2020]

2https://meta.tagesschau.de/id/145964/lufthansa-bekommt-milliardenhilfen-vom-staat
[10.12.2020]

3https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/wirtschaftsstabilisierung-1733458
[10.12.2020]

4https://de.statista.com/statistik/daten/studie/422114/umfrage/gesamtsumme-der-gezahlten-dividenden-in-deutschland/
[11.12.2020]

5https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/trotz-wirtschaftskrise-und-staatshilfen-konzerne-schuetten-hohe-summen-an-aktionaere-aus/26173670.html
[11.12.2020]

6https://www.bundesgesundheitsministerium.de/pflegebonus.html
[10.12.2020]




Bildung und Schule im Kapitalismus

Langweilige Lerninhalte, die keine:r braucht, vergammelte Schulgebäude, Notenterror, Schulstart mitten in der Nacht, Konkurrenzdruck, Diskriminierung, Ungerechtigkeit und Berge aus Hausaufgaben: Warum wundert sich eigentlich noch jemand, dass so viele von uns keinen Bock mehr auf Schule haben? Das Heft in deinen Händen will dir helfen zu verstehen, warum die Situation in unseren Schulen so scheiße ist, wie sie ist und gleichzeitig Möglichkeiten aufzeigen, was wir dagegen machen können! Wir, das sind Jugendliche von REVOLUTION, gehen teilweise selber zur Schule und haben uns gefragt, was hier eigentlich konkret schiefläuft. An unseren Schulen haben wir bereits viele Erfahrungen damit gemacht, Widerstand gegen dieses beschissene Bildungssystem zu leisten, die wir hier mit euch teilen möchten.

1. Schule wie sie sein könnte

Die Schule ist kein Ort, an dem wir gerne sind. Wir werden dort miteinander verglichen, unter Druck gesetzt, ausgepowert und oft sogar diskriminiert, erniedrigt, vorgeführt und aussortiert. „Das war halt schon immer so, da muss man durch, das wird auch immer so sein“, kriegen wir dann oft zu hören, wenn wir uns über diese Zustände beschweren. Damit soll uns suggeriert werden, dass die Schule so, wie sie heute aussieht, alternativlos ist und wir das zu akzeptieren haben. Dabei ist es überhaupt nicht selbstverständlich, dass wir nicht gerne zur Schule gehen. Eigentlich entwickelt nämlich jeder Mensch kurz nach seiner Geburt einen angeborenen Lerntrieb und eine natürliche Neugier, um seine Umwelt zu entdecken und zu verstehen. Das aktuelle Schulsystem schafft es jedoch erstaunlicherweise jeden Tag aufs Neue, uns diesen angeborenen Lerndrang abzutrainieren.Dabei teilt es uns in „dumme“ und „schlaue“, „gute“ und „schlechte“  Schüler:innen ein. Diese Trennung hat so gut wie nichts mit unseren tatsächlichen Eigenschaften und Fähigkeiten zu tun, sondern wird vom Charakter des Unterrichts und dem mehrgliedrigen, aussortierenden Schulsystem produziert. Aber gibt es denn wirklich keine Alternative? Kann Schule auch anders sein? Wie sieht eine Schule aus, in der wir gerne sind?

Bildung für Alle!

Zunächst sollten erst einmal alle Menschen Zugang zu dieser Schule haben, egal ob sie geflüchtet sind, oder schon immer hier wohnen, wie viel Geld sie haben, ob sie einen festen Wohnsitz besitzen oder nicht, welches Geschlecht sie haben usw. Bildung muss für Jede_n gleichermaßen zugänglich sein! Dabei wollen wir nicht in Schulen mit „abgestuften Bildungsniveaus“ abgeschoben werden. Das mehrgliedrige Schulsystem mit seiner Trennung in Hauptschule, Realschule und Gymnasium bietet uns nämlich alles andere als eine bessere Lernumgebung. Vielmehr will es einige von uns zur zukünftigen Elite ausbilden, während die anderen für diese arbeiten sollen. Wir wollen keine Trennung von Hand- und Kopfarbeit, sondern eine Schule, die uns allen die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten bietet und in der wir unsere Stärken und Talente selber entdecken können.

Unterricht zusammen gestalten!

Aber auch im Unterricht selbst darf es keine Benachteiligungen geben: Wir wollen eine Schule, die sich unseren Bedürfnissen anpasst und sich nach uns ausrichtet und nicht ihre eigenen Fehler auf uns abwälzt und unsere schlechten Noten damit erklärt, dass wir Frauen sind, Deutsch nicht unsere Muttersprache ist, unsere Eltern wenig Geld haben, wir in einem bestimmten Stadtteil wohnen oder irgendein_e Mediziner:in sagt, dass wir eine Behinderung haben. Wenn unsere Mitschüler:innen eine andere Sprache sprechen, anders aussehen, sich anders verhalten oder äußern, erkennt das unsere Schule nicht als ein Defizit, sondern eine Bereicherung für uns alle an. Im Unterricht gibt es keinen Leistungsterror und Notendruck, sondern er ist so aufgebaut, dass wir uns dabei am besten und frei entwickeln können. Die Bedürfnisse an Lerninhalten sollen dabei von uns Schüler:innen, den Lehrer:innen und den anderen Beschäftigten an der Schule gleichermaßen zusammen ermittelt werden. Auch durch frei zugängliche Materialien und selbstregulierte Lern- und Pausenphasen kann uns die Schule dabei helfen zu entdecken, was wir wirklich gut können. Dabei wollen wir nicht alleine dastehen, individuell bewertet werden und für uns selber kämpfen müssen. Vielmehr wollen wir lernen, Aufgaben kollektiv zu bearbeiten. Und das nicht in einer blöden Teamarbeit, in der wir zu viert ein Arbeitsblatt ausfüllen dürfen, sondern durch bewusste Gruppenbildungsprozesse, in denen wir unsere eigenen Stärken und die der anderen kennenlernen und uns so aneignen, wie wir gemeinsam Probleme und Aufgaben lösen können. Kein stupides Auswendiglernen, Wiedergeben und Auskotzen, sondern kollektive, demokratische und kreative Lernprozesse, die uns zu kritischem und emanzipatorischem Denken befähigen. Die Lehrer:innen sind dabei keine allwissenden Autoritäten, die uns sagen, was wir zu tun und zu lassen haben, sondern wirken als Unterstützer:innen für unsere Lernprozesse. Unsere Schule soll ebenso nicht nur aus trockener Theorie bestehen und ein, vom gesellschaftlichen Leben abgekapselter, Elfenbeinturm sein. Warum sollten wir uns die ersten 20 Jahre unseres Lebens ausschließlich mit Input vollpumpen lassen, um die folgenden 50 Jahre nichts mehr zu lernen und nur noch zu arbeiten? Wir wollen keine Trennung zwischen Lernen und Arbeiten, sondern eine Schule, die ein lebenslanges Lernen ermöglicht und in der geistig-schöpferisches Denken und Lernen, praktische Arbeit und gesellschaftlich-nützliche Tätigkeit miteinander verknüpft werden. 

Neue Schule, neue Gesellschaft

Klingt cool? Funktioniert aber alles nicht in einer Gesellschaft, die auf der kapitalistischen* Verwertungslogik aufbaut und kein Interesse daran hat, demokratisch und kollektiv erzogene und kritisch denkende Menschen herauszubilden! Genauso wie die Schule, so ätzend wie sie heute ist, ein wichtiger Bestandteil der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ist, kann unsere Schule, wie wir sie gerne hätten, nur Bestandteil einer anderen Gesellschaftsordnung sein. Eine von Grund auf demokratische Gesellschaft, in der über die Politik und die Wirtschaft in Räten in der Schule, im Betrieb oder im Stadtteil entschieden wird. Auch die Entscheidungen über Schule, Lerninhalte, Finanzmittel usw. werden dann nicht mehr von unfähigen Politiker:innen und kommerziellen Unternehmen gefällt, sondern von der gesamten Gesellschaft geplant. Eine solche Gesellschaft kann auch eine Schule schaffen, in der wir gerne sind. Deshalb lasst uns die Schule als Ausgangspunkt nehmen, um für eine solche sozialistische Gesellschaft zu kämpfen!

2. Bildung und Schule im Kapitalismus

Was ist Bildung?

Wenn wir den gesellschaftlichen Zweck von Bildung betrachten, dann hören wir viele hohle Worte. Während die einen sagen, dass Bildung immer neutral sein muss, sagen die anderen, dass mit nur genügend Bildung und Aufklärung eine bessere Gesellschaft erschaffen werden kann. Wir Marxist:innen* lassen uns von diesem Palaver nicht täuschen und wissen, dass die Aufgabe von Bildung und Erziehung im Allgemeinen in jeder Form von Klassengesellschaft* eine Klassenerziehung unter Kontrolle der herrschenden Klasse zur Rechtfertigung ihrer Herrschaft und zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung ist. Was das genau bedeutet, wollen wir im Nachfolgenden verdeutlichen. Natürlich existierte Bildung schon vor der Entstehung des Kapitalismus*, jedoch erhielten sie in den vorhergehenden Klassengesellschaften vor allem die Herrschenden, um ihre Stellung wahrnehmen zu können. Die unterdrückten Massen in der Antike und im feudalen Mittelalter wurden meist nur im Zuge der familiären Erziehung für ihre gesellschaftliche Funktion ausgebildet. Beginnen müssen wir jedoch mit der Frühgeschichte des kapitalistischen Wirtschaftssystems:Nachdem die feudale, ständische Gesellschaftsordnung des Mittelalters auf- gebrochen wurde, waren die meisten Menschen Besitzlose, die zum Überleben nur ihre eigene Arbeitskraft verkaufen konnten. Jedoch hatten sie auch keinen Herren mehr über sich, der ihnen eine spezifische Arbeit aufzwingen konnte. Vorher war die Familie der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens. Jetzt wurden sie vereinzelt und in die Arbeitsstätten gedrängt. Diese Ausdünnung der Familien führte zunehmend zur sozialen Verwahrlosung der Kinder aus Arbeiter:innenfamilien, die schon früh in die Fabriken mussten, um ihren Beitrag zur Familie zu leisten. Die Ideologie der Familie als Mittelpunkt des Lebens brach zusammen. Dadurch, dass Frauen und Kinder nun nicht mehr unter der Aufsicht des Mannes auf dem Feld arbeiten mussten, sondern selber in der Fabrik ihr eigenes Gehalt bekamen, wurde die Autorität des Mannes innerhalb der Familie immer mehr infrage gestellt. Im Allgemeinen führte die zunehmende Vereinzelung und das ins Wanken geratene Bild der altertümlichen Familie zu zunehmenden Depressionen, häuslicher Gewalt bis hin zum (Selbst-)Mord. Dieses Verhalten begründet sich vor allem dadurch, dass den Menschen immer wieder das Ideal der alten Familienordnung eingebläut wurde, welches sich in der neuen wirtschaftlichen Ordnung gar nicht mehr aufrechterhalten ließ. Ein Gegensatz zwischen Idealbild und tatsächlichen Gegebenheiten. Dies führte ebenfalls zur Zuspitzung des Klassenkampfes* rund um Forderungen wie höhere Löhne, sichere Arbeitsbedingungen und (gewerkschaftliche) Organisationsfreiheit. Eine Reihe von Streiks richtete sich damals aber auch gegen Frauen- und Kinderarbeit. Diese hatten einen zwiespältigen Charakter, da sie zum einen das Ziel hatten die bürgerliche Familie unter patriarchaler* Ordnung erneut zu stärken und zum anderen sich gegen die Verrohung der Klasse und für ihre soziale Absicherung zu kämpfen. Auch für den Kapitalismus ergaben sich daraus schwerwiegende Probleme, denn er ist darauf angewiesen, dass sich die Arbeiter:innen* selber darum kümmern, genug neue Arbeiter:innen zu „produzieren“ und am nächsten Tag wieder auf der Matte stehen zu können. Wie sollte die Produktion aufrechterhalten werden, wenn immer mehr Frauen und Kinder arbeiten müssen, die sich dann nicht mehr um Haushalt und Erziehung kümmern können? Hierbei offenbart sich ein gesellschaftliches Problem innerhalb der Kapitalist:innenklasse*. Als einzelne Unternehmer:innen wollten sie immer mehr Profite einfahren, wenn möglich auch über die Grenzen der körperlichen Erschöpfung ihrer Arbeiter:innen hinaus, egal ob jung, alt, weiblich oder männlich. Das müssen sie auch, denn wer keine Profite mehr einfährt, geht in der freien Konkurrenz unter. Als Gesamtklasse der Kapitalist:innen* wollten sie aber auch die herrschende Ordnung aufrechterhalten. Dafür brauchten sie etwas, das die Interessen ihrer gesamten Klasse mit Gewalt und Zwang umsetzen kann. Dies erweiterte den Rahmen des Staates massiv. Zuvor vor allem eine Institution zur gewaltsamen Durchsetzung der herrschenden Interessen gegenüber den Armen und Unterdrückten, nun eine scheinbar neutrale Instanz, die zwischen den Klassen  vermittelt Da der Staat für die Bildung verantwortlich ist, erscheint es uns oft so, als sei sie  neutral und stehe über den Klassen. Tatsächlich wurde der Staat aber von der Kapitalist:innenklasse erschaffen und hat immer nur dem Zweck gedient, die Interessen ihrer Klasse durchzusetzen. Das Beispiel der Einführung der allgemeinen Schulpflicht zeigt, wie das in Bezug auf die Bildung funktioniert. So gingen vorher nur Kinder aus der herrschenden Klasse zur Schule, um später selber in der Lage zu sein, herrschen zu können. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sollten aber immer mehr Kinder zur Schule gehen und auch die Schulzeit selber wurde stetig länger. Das lag daran, dass sich die Produktion weiterentwickelte und höhere Ansprüche an die neuen Generationen von Arbeiter:innenjugendlichen gestellt wurden. Damit der Bedarf der Kapitalist:innen an besser ausgebildeten Arbeiter:innen gestillt und mehr Kinder in die Schule geschickt werden konnten, sorgte der Staat dafür, dass die Familien nicht mehr auf die finanzielle Unterstützung durch die Löhne ihrer Kinder angewiesen waren. So wurde dieser Wegfall durch höhere Löhne für die arbeitstätigen Teile der Familie und durch Kindergeld ausgeglichen. Kinder und Jugendliche mussten also, um in die Schule gehen zu können, aus dem Produktionsprozess ausgegliedert werden. Die Kapitalist:innen konnten sich dieses kostspielige Abenteuer aber nur leisten, indem sie andere Länder auf der Welt stärker ausbeuteten und sich so ihre verloren gegangenen Profite zurückholten.Heute leben wir in einer Zeit, in der Konzerne nicht nur auf nationaler Ebene produzieren, sondern sich multinationale Riesenkonzerne herausgebildet haben. Getrieben durch die internationale Konkurrenz erleben wir hier ein verstärktes Jagen nach Extraprofiten. Dieses macht auch vor den Reproduktionskosten* nicht halt und zwingt gigantische Menschenmassen tagtäglich in die Subsistenzwirtschaft* oder die Halblegalität, produziert damit auch erneut Kinderarbeit. Bildung ist hierbei oftmals ein stärker klassenspezifisches Gut, internationale Zahlungen der ausbeutenden Nationen eher symbolisch. Das kann in Form von Konzernspenden oder staatlicher „Entwicklungshilfe“ passieren. Ein bisschen was reicht aber auch schon, denn die meiste Kopfarbeit soll ja schließlich in anderen Teilen der Welt geleistet werden. In Afrika, Asien, Südamerika oder Osteuropa steckt der Westen also ein bisschen Kohle in die Bildung, aber würde nicht auf die Idee kommen, die Löhne der Arbeiter:innen zu erhöhen, um auch hier Kinder vom Zwang zur Arbeit zu befreien. Aus dieser Ausbildungszeit entsteht v.a. in den ausbeutenden Nationen eine allgemein-menschliche Entwicklungsphase, die in einem zeitlich so langen und umfassenden Maß historisch nicht zuvor existierte, die Jugend.Hierbei wollen wir die Jugend nicht romantisieren, da mit dieser auch eine spezifische Unterdrückung einhergeht, jedoch ist es auch ein historisch neues Phänomen, dass Jugendkulturen enormen Einfluss auch auf ältere Generationen gewonnen haben und sogar teilweise zum (kulturellen) Leitbild werden. Aber zurück zu den Schattenseiten: Jugendunterdrückung bedeutet Bevormundung. Sie bedeutet wirtschaftliche Abhängigkeit von Erziehungsberechtigten, politische Entmündigung in Wahlen und im Alltag, fehlende Selbstbestimmung über den eigenen Körper und die eigene Sexualität. Sie rechtfertigt Unterbezahlung, wie wir in Deutschland mit der Einführung des „flächendeckenden Mindestlohns“ sehen können, von dem beispielsweise Jugendliche ausgeschlossen sind. Jugendunterdrückung bedeutet noch vieles mehr, wir wollen hiermit nur deutlich machen, dass sie System hat, sie dient der Unterordnung und Gefügigmachung in Schule und Familie, eine ideale Vorbereitung auf die Arbeitswelt als lohnabhängiger Mensch.

Ideologische Erziehung in der Schule

Schule hat im Kapitalismus* jedoch nicht nur eine Gesellschaftsstabilisierende Funktion, sondern auch einen ideologischen, sich auf das allgemeine Bewusstsein auswirkenden Faktor. Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse (Marx/Engels – Das Manifest der kommunistischen Partei). Bildung hat also in jeder Gesellschaftsform die Aufgabe, nicht nur zur wirtschaftlichen Aufrechterhaltung des Systems beizutragen, sondern dieses System auch in die Köpfe der Gesellschaftsmitglieder zu pflanzen. Hierbei tut der Kapitalismus so, als sei er ein System, indem alle Menschen dieselben Rechte und somit die gleichen Voraussetzungen hätten. Mal abgesehen davon, dass zum Beispiel Geflüchtete vom Kapitalismus stark entrechtet werden, braucht der Kapitalismus einfach weniger rechtliche Einschränkungen, da das seine inneren ökonomischen Gesetze schon von alleine regeln. Sind doch jene, die sich eine dauerhafte Ausbildung für „ihre“ Kinder nicht leisten können, irgendwann dazu gezwungen, die Schüler:innen aus der relativ isolierten Bildungswelt in die „Arbeitswelt“ zu stecken. Das Gleiche gilt für die, die sich die Nachhilfe nicht leisten können oder nicht genügend freie Zeit oder spezifisches Wissen besitzen, um den Kindern bei den Schulaufgaben zu helfen. Der Ausschluss von Arbeiter:innenjugendlichen aus der höheren Bildung passiert somit meistens automatisch, ohne dass der Staat noch groß nachhelfen muss. Doch nicht nur die Länge des Aufenthaltes in Bildungseinrichtungen, sondern auch ihr Inhalt bestimmt die Bewusstseinsentwicklung. Dies basiert darauf, dass der Staat eine Monopolstellung* über die Bildung hat. Davon sind nur diejenigen befreit, die es sich leisten können, auf Privatschulen zu gehen oder zu Hause unterrichtet zu werden. Aus dieser Alleinherrschaftsstellung folgt auch, dass der Staat alleine entscheiden kann, welcher Lehrstoff auf welche Weise unterrichtet werden soll. Das bedeutet u. a. die Darstellungsweise von historischen Ereignissen, die Selbstkritik des Staates und des Kapitalismus, es bedeutet aber auch die bewusste Überlastung von Schüler:innen durch Dinge wie Bulimie-lernen, durch das zwanghafte Einhalten von Lehrplänen, die Unmöglichkeit der Selbstbestimmung und -entfaltung. Diese diktatorische Form des Lernens – die anfangs aus still sein und ruhig sitzen besteht, bis dies zur Selbstverständlichkeit wird – tötet weite Teile von Kreativität ab und presst die Schüler:innen in eine vorgegossene Form. Hierbei wird Lehrer:innen eine zentralisierte, weitgehend „Arbeitswelt“-fremde Ausbildung auf sachlicher und pädagogischer Ebene erteilt. Der Frontalunterricht ist hierbei ein stark hierarchisch geprägtes Mittel, welches  sehr an militärische Disziplin erinnert. Lehrer:innen müssen außerdem, um ihren Beruf ausüben zu dürfen, die freiheitlich demokratische Grundordnung unterzeichnen, diese umfasst auch das Recht auf Privatbesitz an Produktionsmitteln*, ein Recht also, welches diese Klassengesellschaft* aufrechterhält. 

Jugendunterdrückung: Ergebnis der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit

Ein elementares Problem der Bildung in jedweder Klassengesellschaft * ist die scheinbare Trennung von Bildungs- und Arbeitswelt. Diese isoliert die Schüler:innen von den konkreten Problemen und Prozessen der Außenwelt und schafft eine rein künstliche Konkurrenzsituation rund um das Notensystem und Zukunftsangst bzw. Perspektivlosigkeit. Hierbei tut der Kapitalismus* wieder so, als hätten wir alle die gleichen Chancen und leugnet dabei strukturelle Unterdrückung wie beispielsweise Rassismus, Sexismus oder die Existenz von Klassen. Wenn die Unterschiede dann doch zu sehr auffallen, führt er sie auf angeblich zu geringe Aufklärung und Intelligenz zurück. Denn im Vordergrund steht: Machst du was, dann wirst du was. Dabei ist der Kapitalismus ein System, dass nicht in der Lage ist Menschen vor Krieg und Armut zu beschützen, vollkommen egal wie intelligent diese sind. Dies führt zum einen zur Demoralisierung und Verlust des Interesses am Lernen an sich für einen großen Teil der Schüler:innen. Und zum anderen dazu, dass die Ausbildung neuer Generationen von Arbeiter:innen* nicht als gesellschaftlich notwendige und für alle Mitglieder wichtige Aufgabe wahrgenommen wird. Dies reproduziert und legitimiert wiederum die Jugendunterdrückung. Hieraus werden unbezahlte Praktika, Benachteiligung im Beruf, Unterbezahlung in der Ausbildung und vieles weiteres gerechtfertigt.  Denn die (Aus-)Bildung wird als individuelle Karrierechance und nicht als gesellschaftlich notwendiges Produkt begriffen.

Die Schüler:innenvertretung: Mittel zur Mitbestimmung?

Doch gibt es nicht auch in der Schule Möglichkeiten der Mitbestimmung? Die jährlichen Schüler:innensprecher:innenwahlen und die Schüler:innenvertretung klingen super, sind aber eine ziemliche Mogelpackung. Erst einmal wird Schüler:innen in jungen Jahren vollständig die Interessenvertretung untersagt. Erst in den mittleren und höheren Schuljahren dürfen sie ihre eigenen Schüler:innenvertretungen wählen. Diese ähnelt in vielen Punkten dem parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland. So können die Schüler:innen in regelmäßigen Abständen wählen. Eine Überprüfung, ob die Gewählten auch wirklich im Interesse der Schüler:innen handeln, geschweige denn eine mögliche Abwahl sind dabei wie auch im politischen System der BRD nicht vorgesehen. Auch die Einflussmöglichkeiten der Schüler:innenvertretungen sind winzig, obwohl sie die Mehrheit der Menschen, die sich in der Schule aufhalten, vertritt. So haben sie keinerlei Einfluss auf Unterrichtsinhalte, Bildungsetats oder rechtliche Mittel um Schüler:innen vor Willkür und Repression* zu beschützen. Es handelt sich vielmehr um eine Art Vorschlagsrecht. Vor allem schließen sie aber einen Großteil der Schüler:innenschaft aus der aktiven Beteiligung aus. Sie gewöhnen sie somit an das politische System in Deutschland und an die kommenden Jahre der realen Stimmlosigkeit und beschränkten Selbstorganisierung. So kommt es, dass die meisten Schüler:innenvertretungswahlen zu Beliebtheitswahlen verkommen. Sollte es mal vorkommen, dass einzelne Schüler:innen richtig viel Kraft und Energie in die Schüler:innenvertretungen stecken, wird das nicht als schulische Leistung anerkannt. Mit Glück wird es vielleicht auf dem Zeugnis irgendwo am Rand erwähnt. Somit steht das ehrenamtliche Engagement scheinbar im Gegensatz zum schulischen Erfolg, da wir uns entscheiden müssen, ob wir die Zeit lieber zum Lernen oder zum Politikmachen verwenden. Dies ist kein zufälliges Phänomen. Hier sieht man deutlich, wie uns die Struktur der Schüler:innenvertretung an das parlamentarische System gewöhnen soll. Jede Gesellschaft benötigt die Bildung, um ihre Mitglieder im Sinne ihres politischen Systems zu erziehen, auch eine befreite Gesellschaft*. Diese würde den Schüler:innen jedoch vollste Mitbestimmungsrechte garantieren. Doch was sind das für Formen, die nicht nur beschränkte Mitbestimmung, sondern volle Selbstbestimmung ermöglichen? Darauf wollen wir im späteren Verlauf eingehen.

Bildung & Krise

In Zeiten verschärfter wirtschaftlicher Krisen versucht das Kapital die Schulzeit zu verringern und auch die Kosten für Bildung auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen. Steigende Lehrmittelkosten für Schulbücher, Druckkosten, Exkursionen, Taschenrechner und vieles mehr sind gute Beispiele dafür (Studiengebühren im Hochschulbereich). Eine gesamte Schulklasse freut sich auf die Klassenfahrt, aber für Einige ist dieses soziale Event unbezahlbar. Während für die Armen Bildung immer teurer wird, schicken immer mehr Eltern aus der Kapitalist:innenklasse*, der Mittelschicht oder den oberen Schichten der Arbeiter:innenklasse* ihre Kinder auf Privatschulen. Wer eine gleichberechtigte Gesellschaft aufbauen will, muss diese abgeschotteten Inseln der guten Bildung für die Reichen scharf kritisieren! Ein anderer Ausdruck der sozialen Auseinanderentwicklung ist das mehrgliedrige Schulsystem. Hier wird selektiert, bevor die Entwicklung des menschlichen Gehirns überhaupt abgeschlossen ist und ohne soziale Ungleichheiten innerhalb der Schule zu berücksichtigen. In Zeiten der Wirtschaftskrise heuchelt die jeweilige Schulgliederung die soziale Perspektive vor und tut so, als gäbe es höher- und minderwertige Aufgaben in der Gesellschaft. Diese Hierarchisierung ist Blödsinn, denn es sollte einzig und allein darauf ankommen, ob eine Tätigkeit gesellschaftlich notwendig ist. In Deutschland, aber auch darüber hinaus, sehen wir in den letzten Jahrzehnten einen zunehmenden Rückgang der Vollbeschäftigung. Das Bild von der schönen sozialen Marktwirtschaft, in der niemand arbeitslos ist, fängt an zu bröckeln. Spätestens seit der Agenda 2010** (u.a. „Hartz IV-Reform“) wurde ein großer Teil der Arbeiter:innenklasse, selbst mit Job, in die Armut gedrängt. Durch die wirtschaftspolitischen Reformen haben viele Unternehmen keine Festanstellungen mehr vergeben, um flexibler auf die Wirtschaftskrisen reagieren zu können und Geld zu sparen. So müssen sehr viele Arbeiter:innen beim Arbeitsamt aufstocken oder schlagen sich mit mehreren „Minijobs“, befristeten Verträgen, Leih- und Zeitarbeit, Praktika usw. durchs soziale Elend. Während die Bildung in Krisenzeiten teurer wird, haben also viele Menschen aus der Arbeiter:innenklasse weniger Geld, um sie zu bezahlen. Viele Lohnabhängige erkennen jedoch nicht, dass dieses Problem nicht nur sie, sondern ihre ganze Klasse betrifft. Das liegt unter anderem daran, dass es vielen Leuten hier in Deutschland, aber auch in anderen „westlichen“ Ländern, durch die Globalisierung und die internationale Arbeitsteilung so vorkommt, als gebe es hier gar keine richtige Arbeiter:innenklasse mehr. Das ist natürlich Quatsch, denn auf internationale Ebene sieht man sogar, dass die Arbeiter:innenklasse weltweit mehr und mehr wächst. Insbesondere in Asien.

Exkurs: Einflussversuche des Kapitals in Bildung

Während jede Form von demokratischer Kontrolle der Schüler:innen und Arbeiter:innen* über die Bildung massiv bekämpft wird, erleben wir regelmäßig unterschiedliche Formen von Privatisierungen der Bildung. Der Staat gibt also ein bisschen was von seiner Hoheit über die Bildung ab. Das kann teilweise durch die Kooperation mit privaten Unternehmen in Form von Public-Private-Partnerships passieren, aber auch, indem Kinder wieder stärker in die Familie zurückgedrängt werden. Dies ergibt sich aus dem bereits geschilderten Widerspruch zwischen den Interessen der Kapitalist:innenklasse* als Ganzes und den Interessen ihrer Einzelteile, also den einzelnen Unternehmer:innen. Ein Beispiel hierfür ist die Verkürzung des Abiturs in Deutschland von 13 auf 12 Jahre. Diese Verkürzung der Lernzeit steht eigentlich den stetig steigenden Anforderungen an die neuen Arbeiter:innen entgegen, während es gleichzeitig die Zeit der Jugend verkürzt und die Schüler:innen schneller zur Arbeit zwingt. Auch wenn diese Veränderung mittlerweile als gescheiterte Reform erklärt und in einzelnen Ländern wieder zurückgenommen wird. Ebenfalls sind Maßnahmen, wie die Pisa-Studie aber auch die Bologna-Reform (Studierendenbeispiel: Einführung des Bachelor-Master-Systems) Ausdruck der internationalen Arbeitsteilung, die zunehmend versucht, gleiche Standards zu schaffen. Darüber hinaus versuchen die Kapitalist:innen* die Kosten für die Ausbildung ihrer zukünftigen Arbeiter:innen noch stärker auf den Staat abzuladen. Dafür versuchen sie Einfluss auf die Lehrpläne zu nehmen, welche „marktkonformer“ gestaltet werden sollen. Inhalte, die für sie weniger relevant sind, sollen so gekürzt und durch andere ersetzt oder gänzlich gestrichen werden. Vor allem kreative, soziale und sportliche Unterrichtsfächer sollen Schritt für Schritt verdrängt werden. Vertreter:innen des Kapitals argumentieren oft, dass die Wirtschaft noch mehr Einfluss auf die Bildung nehmen müsse, um zu verhindern, dass es in bestimmten Fächern einen Überschuss an Expert:innen gebe, während in anderen Fächern Fachkräftemangel herrsche. Damit machen sie auf ein wirkliches Problem aufmerksam, dass aber vielmehr ein Ergebnis der kapitalistischen* Wirtschaft ist. Da es hier nur um Profit geht und Konkurrenz das bestimmende Prinzip des Wirtschaftens ist, kann es keine demokratische und an den Bedürfnissen orientierte Planung geben, sodass sich Bildung immer den ständigen Krisen, Aufschwüngen und Stagnationen unterwerfen muss. Das Bildungswesen im Kapitalismus schafft so riesige ungenutzte oder verschwendete Potentiale: Wer kennt sie nicht, die Legende der taxifahrenden Soziologiestudentin?

Selektion

Bildung ist jedoch eine teure Angelegenheit für das Kapital (bzw. den Staat), weshalb nur so viel Bildung zur Verfügung gestellt wird, wie dringend nötig ist. Das sieht man daran, dass in Deutschland im Schnitt nur 26% der Jugendlichen eine „hohe Qualifikation“ (=Hochschulabschluss oder Meisterbrief) erreichen. Eine ganzheitliche, ausführliche und allgemeine Bildung der gesamten Arbeiter:innenklasse* ist daher im Kapitalismus* nicht zu gewährleisten. Stattdessen werden Kosten und Ausbildungszeit durch frühe und ständige Selektion* reduziert und damit gleichzeitig dafür gesorgt, dass dem Kapital stets eine große Menge an weniger ausgebildeten Arbeitskräften zur Verfügung steht, die für schlechter bezahlte Arbeit eingesetzt werden können. Was hätten die profitorientierten Unternehmen in Deutschland davon, wenn wir alle Doktortitel hätten und ein fünfstelliges Gehalt im Monat verlangten? Über Noten, ein mehrgliedriges Schulsystem, Numerus Clausus usw. wird eine permanente Konkurrenzsituation unter Jugendlichen geschaffen und im Hinblick auf die spätere Stellung im Produktionsprozess selektiert. Dieser Prozess findet vor allem anhand von Klassenlinien statt, wie im Folgenden gezeigt wird. Insbesondere in Krisenzeiten wird der Selektionsdruck zusätzlich verschärft, da der Staat durch die zunehmende internationale Konkurrenz und die schwindenden Einnahmen dazu gezwungen ist, im Bildungs- und Sozialwesen massive Kürzungen vorzunehmen, um nicht die Profite der Konzerne antasten zu müssen. Dann wird zum Beispiel die Lernzeit für das Abitur von 13 auf 12 Jahre gekürzt und durch die gestiegene Stoffdichte noch weiter selektiert. Die kapitalistische Ideologie behauptet dennoch, dass mit genügend Fleiß und Durchhaltevermögen jede:r Jugendliche alles schaffen kann. Wir sehen aber, dass das deutsche Bildungssystem mit seinen Selektionsmechanismen gar nicht vorsieht, dass uns allen das größte Maß an Bildung zukommt und wir alle unsere  Träume erfüllen können. Die Verantwortung wird dafür aber nicht im System, sondern individuell bei uns gesucht. Dies führt zu selbstauferlegtem Leistungswahn, Druck, Depressionen, Suizid, Unsicherheit und mangelndem Selbstbewusstsein bei vielen von uns.

Bildung & soziale Ungleichheit

Wie wir bereits erklärt haben, hat das Bildungssystem vor allem die Aufgabe, die bestehende gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Das bedeutet also auch, dass es die bestehende soziale Ungleichheit und Benachteiligung bestimmter Gruppen von Menschen aufrechterhält. Gleichzeitig wird uns dabei aber erzählt, dass unsere Erfolge und Misserfolge in der Schule einzig und allein mit unserer persönlichen Leistung zu tun haben. Im Folgenden wollen wir diesen Mist an den vier Komponenten Klassenherkunft, Geschlecht, Migration und Behinderung veranschaulichen.

Klassenherkunft

Die Pisa-Studie hat aufgezeigt, dass die Chance für Kinder steigt, einen guten Schulabschluss zu kriegen, je mehr ihre Eltern verdienen, je sozial anerkannter der Beruf der Eltern ist und je höher der eigene Bildungsabschluss der Eltern ist. Nur 24% der Kinder, deren Eltern nicht studiert haben, erlangen selber einen Hochschulabschluss. Je weniger Kohle unsere Eltern haben, desto schlechter unsere Chancen in der Schule. Auch wenn es um Nachhilfe und Förderung geht: Wessen Eltern keine gute Schulbildung bekommen haben oder den ganzen Tag arbeiten müssen, haben auch kaum die Möglichkeit beim Lernen zu helfen. Dabei verlagert das deutsche Bildungssystem immer mehr Inhalte in die Privatsphäre: seien es Hausaufgaben, die Prüfungsvorbereitung oder das Nachholen von Lernstoff, der in der kurzen Zeit nicht nachvollziehbar war. Dabei sollen dann die Eltern oder teure Nachhilfelehrer:innen helfen. Ganztägige Schulmodelle, bei all ihren Schwächen, hätten hierbei die Aufgabe, dies auf gleichberechtigter Ebene anzubieten.

Geschlecht

Schülerinnen haben im Durchschnitt bessere Noten als Schüler. So haben nach einer Statistik zu Schulnoten des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2007 40% der Jungen eine Abiturnote die schlechter als 3,0 war, während es bei den Mädchen nur 33,4% waren. Auch der Anteil an Schülerinnen, die Abitur machen, hat massiv zugenommen. Waren 1950 noch 32,8% der Schüler:innen weiblich, so sind es im Jahr 2013 54,6% gewesen, so das statistische Bundesamt. Doch immer noch haben Lehrer:innen starke Geschlechterstereotype – wie auch in der gesamten Gesellschaft präsent – im Bezug auf spezifische Fächer. So sind Jungen angeblich besser veranlagt für Naturwissenschaften, während Mädchen eine tendenzielle Begabung für Sprachen haben. Dies ergibt sich aus der erzwungenen Rolle der Frau in der Familie, die ein Schwerpunkt des weiblichen Lebens in der Rolle der Mutter sein soll. Noch immer werden 2/3 der Hausarbeit in der BRD von Frauen erledigt. Gleichzeitig verdienen Frauen in der BRD im Durchschnitt 23% weniger als Männer. Auch mit besseren Noten werden Frauen also massiv im Beruf und im gesellschaftlichen Leben benachteiligt.

Migration

Dadurch, dass unser Staat Menschen mit Migrationshintergrund systematisch in der Arbeitswelt benachteiligt, treffen auch auf viele migrantische Jugendliche dieselben Probleme zu, die wir schon im Punkt „Klassenherkunft“ erläutert haben. Das deutsche Bildungssystem hält aber noch einige zusätzliche Hindernisse und Diskriminierungsstrukturen bereit. So basiert die Bildung hier darauf, nur in einer Sprache unterrichtet zu werden. Anstatt Mehrsprachigkeit für den Unterricht zu nutzen, macht es das Bildungssystem Schüler:innen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, somit erheblich schwerer, alles in derselben Zeit zu verstehen. Noch schwieriger wird es, wenn es um Fachsprache geht. Der Staat würde aber nicht auf die Idee kommen, selber massiv in Sprachkurse und Förderangebote zu investieren. Stattdessen macht er einfach die Erziehung in den Familien dafür verantwortlich. Da aber die meisten migrantischen Familien selber nicht genügend Sprachförderungsangebote vom Staat bekommen haben, ist es vielen unmöglich, „ihren“ Kindern die deutsche Sprache perfekt beizubringen. Rassistische Stereotype und Einstellungen bei Lehrer:innen tun dann noch ihr Übriges. So kommt es, dass Kinder, deren Eltern nicht in Deutschland geboren sind, nur 4 % der Schüler:innen in Gymnasien darstellen, aber 20% der Schüler:innen in Hauptschulen. Während uns Rassist:innen von der AfD erzählen wollen, dass schlechte Noten an mangelnder Intelligenz liegen, ist der Grund vor allem die systematische Benachteiligung.

„Behinderung“

Niemand von uns ist „behindert“. Stattdessen werden wir zu „Behinderten“ gemacht, wenn wir aufgrund irgendwelcher Eigenschaften, Erfahrungen etc. nicht den Anforderungen, die die kapitalistische* Konkurrenzlogik an uns stellt, gerecht werden können. In der Schule ist dafür der Begriff „sonderpädagogischer Förderbedarf“ in Mode gekommen. Einmal damit gelabelt, werden wir meistens auf sogenannte Förderschulen abgeschoben und dürfen mit diesem Schulabschluss für den Rest unseres Lebens eine Vielzahl von Jobs nicht machen und werden immer eine viel schlechtere Bezahlung akzeptieren müssen, so verdienen beispielsweise Werkstattbeschäftigte im Schnitt 180€ pro Monat. Menschen zu „Behinderten“ zu machen ist also ein wichtiger Selektionsmechanismus im Bildungssystem. Dabei sind eigentlich nicht wir das Problem, sondern die Lernumgebung, die nicht in der Lage ist, sich auf unsere Bedürfnisse einzustellen. Wenn ein Kind in der Grundschule nicht still im Frontalunterricht sitzen kann, sollte vielmehr die Lernform überdacht werden, anstatt das Kind mit ADHS zu labeln und es mit Medikamenten vollzustopfen. Besonders betroffen sind auch hier wieder Kinder aus Arbeiter:innenfamilien, da laut Studien die Wahrscheinlichkeit der Diagnostizierung eines „sonderpädagogischen Förderbedarfs“ in dem Maße steigt, in dem das Einkommen der Eltern sinkt. „Behinderung“ ist also keine medizinische, sondern eine soziale Frage!

Erziehung & Konkurrenz

Dass man im Kapitalismus* am besten überlebt, wenn man die Ellenbogen ausfährt, nach unten tritt und sich nach oben streckt, soll uns schon in der Schule beigebracht werden. Für diese Erziehung zur Konkurrenz spielt das Notensystem eine große Rolle. Die Noten geben dabei nicht an, wie gut wir den Stoff wirklich verstanden haben, oder ob wir persönliche Lernerfolge erzielt haben. Vielmehr zeigen sie nur, wie gut wir im Verhältnis zu unseren Mitschüler:innen abgeschnitten haben. So sollen wir lernen, unsere Leistung nicht nach unseren persönlichen Maßstäben zu beurteilen, sondern uns immer an den Anderen zu messen und zu versuchen, sie zu übertreffen. Noch dazu wird Lernen so zur absoluten Drucksituation, was die schulischen Leistungen vielen wissenschaftlichen Studien gemäß sehr negativ beeinflusst. Dabei erwartet die Schulleitung von einer guten Lehrkraft, dass die Klassenarbeit einen „ausgeglichenen Notenspiegel“ hervorbringt: also nicht zu viele 1en, ein breites Mittelfeld und ein paar 4en, eine 5 und eine 6. Wenn alle Schüler:innen gut oder sehr gut abschneiden würden, wäre die Arbeit in der Logik unseres Bildungssystems definitiv zu leicht gewesen. Wer also etwas schneller verstanden hat und den anderen Schüler:innen dabei helfen will, schwächt in diesem System eher seine eigenen Chancen. Ziel einer befreiten Gesellschaft ist es, dass das Handeln für das eigene Wohl mit dem Handeln für das Wohl der Allgemeinheit einhergeht. Deshalb sind wir für die Abschaffung aller Noten und für eine Ausbildung und gegebenenfalls Überprüfung nach Fähigkeiten und gesellschaftlichen Bedürfnissen. 

Kommandoprinzip

Die ersten Schuljahre sollen uns vor allem disziplinieren, ob über pädagogische oder offener repressive Maßnahmen. Ziel ist es hierbei stillschweigende Kinder zu formen, die die Masse an Stoff unhinterfragt aufnehmen und sich nicht beschweren. Wer das schon in der Schule verinnerlicht hat, soll sich auch später im Betrieb so verhalten. Extrovertierte Jugendliche werden mit Nachsitzen, Klassenbuch- und Hausaufgabenhefteinträgen, schlechten Noten, Tadeln oder Sonstigem bestraft. Wenn das nicht hilft, wird uns AD(H)S attestiert und wir werden mit Medikamenten ruhig gehalten. Viele Eltern übernehmen dieses Prinzip in die eigene Erziehung, da sie sich ja wünschen, dass ihre Kinder erfolgreich in der Schule sind. Die Faustregel lautet dabei: Mach was dir gesagt wird, dann hast du weniger Probleme. Diese Form von Erziehung steht im krassen Gegensatz zum Idealbild der Aufklärung von Bildung, die durch Wissensvermittlung eine befreite Form von Mensch schaffen möchte, der die Gesellschaft stets kritisch hinterfragt.

Warum eigentlich noch zur Schule gehen?

Auch wenn hier sehr viel blöd läuft, ist das allgemeine Bildungswesen eine historische Errungenschaft. Neben der Tatsache, dass wir zu guten Arbeitskräften ausgebildet werden sollen, ermöglicht es uns auch, uns Wissen über den Produktionsprozess hinaus anzueignen. Es vermindert zum Beispiel auch die Rate von Analphabetismus, was wiederum auch die Verbreitung revolutionärer Gedanken erleichtert. Da wir für eine Gesellschaft kämpfen, in der wir alle – die gesamte Arbeiter:innenklasse* – die Politik und die Produktion demokratisch leiten, ist es für uns auch notwendig, schon jetzt die nötige Bildung zu erhalten, die dafür gebraucht wird. Bildung ist und bleibt dabei eine Aufgabe des Staates. Wird Bildung in die Familie zurückgedrängt, leiden darunter insbesondere Jugendliche aus Arbeiter:innenfamilien, besonders wenn sie Frauen sind. Wir fordern also nicht die Auflösung des staatlichen Bildungsmonopols*. Wir wollen aber, dass es jemand anderes kontrolliert: nämlich die, die Bildung bekommen und die, die sie machen. Wir fordern eine Kontrolle des Bildungssystems durch demokratische Gremien von Lernenden und Lehrenden, so wie jeder Bereich der Gesellschaft von denen kontrolliert werden soll, die ihn ausmachen. Darauf ist dieser Staat, der nur die Interessen der Kapitalist:innenklasse* repräsentiert, jedoch nicht ausgelegt. Deswegen muss die Arbeiter:innenklasse im Schulterschluss mit der Jugend und anderen unterdrückten Teilen der Gesellschaft den bürgerlichen Staat zerschlagen und durch die eigenen, wirklich demokratischen Strukturen ersetzen, um damit nach und nach jegliche Form von Staatsgewalt überflüssig zu machen. So können die Klassengegensätze überwunden und eine Gesellschaft aufgebaut werden, in der jeder Mensch nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen frei leben kann, der Kommunismus*. Trotzdem unterstützen wir auch jeden Kampf um Reformen des Bildungswesens zur Verbesserung der Bildung im Interesse für uns alle. Auch kleine Schritte können die Bedingungen in unseren Schulen verbessern. Wenn wir jedoch immer weiter für unser Recht auf Mitbestimmung kämpfen, werden dem Staat und Kapitalist:innenklasse einen Riegel vorschieben. Uns muss immer bewusst sein: eine befreite Schule ist nur in einer befreiten Gesellschaft möglich. Einen Weg zu dieser Perspektive wollen wir bereits im Kleinen aufzeigen. 

3. Für eine kämpferische Gewerkschaft!

Als Sozialist:innen besteht unsere politische Arbeit nicht nur darin uns selbst, sondern auch andere Menschen für revolutionäre Politik zu begeistern. Neben den Inhalten unserer Politik müssen deshalb auch unmittelbare Erfolge für uns sprechen können. Erfolge sind in diesem Zusammenhang auch die Verbesserung der Lebens-, bzw. Arbeitsbedingungen im Hier und Jetzt, im Kapitalismus*. Für solche Erfolge müssen wir kämpfen, nicht nur mit lokalen (Schüler-)Gruppen. In der Geschichte der Arbeiter:innenbewegung stellte sich die Gewerkschaft als Ort des Zusammentragens der verschiedenen Kämpfe um Forderungen nach höherem Lohn, nach Krankengeld usw. als eins der besten Mittel heraus, diese umzusetzen. Denn wo sich viele Arbeiter:innen* oder Schüler:innen organisieren, können ihre Kämpfe auch erfolgreich sein. Ein kleiner Streik macht keinem:r Bourgeois, keinem:r Fabrikbesitzer:in Angst, wenn wir aber nicht nur eine Schule unter vielen, nur einen Zulieferer unter vielen bestreiken, sondern alle, dann geht es an die Substanz, dann finden auch unsere Forderungen Gehör. Praktisch jede:r weiß grundlegend, was eine Gewerkschaft ist, oder hat zumindest schon von einer gehört. Spätestens wenn wieder ein Fußballgroßereignis á la WM auf der Tagesordnung steht und die Lokführer:innengewerkschaft es wagt sich auch nur über die Möglichkeit von Streiks zu unterhalten, können und dürfen es die Medien nicht verpassen sich über die scheinbar radikalen Gewerkschafter:innen auszulassen. Schnell wird dann aus dem ganz normalen Arbeitskampf, dem Kampf um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, ein Angriff auf die Zivilgesellschaft durch die sowieso schon besser gestellten Arbeiter:innen. Denn diejenigen Arbeiter:innen mit wirklich kampfstarken Gewerkschaften wie in der Chemie oder Metallindustrie, bei den Lokführer:innen oder bei den Pilot:innen sind meist auch die besser gestellten Arbeiter:innen. Warum? Ganz einfach gesagt, weil ein Streik mehr weh tut, wenn er zentrale industrielle Bereiche oder das Transportwesen lahmlegt.Hetze gegen Gewerkschaften ist ein wenig vielschichtiger, als sie auf den ersten Blick scheinen mag. Nicht nur gegen die kampf- bzw. streikerprobten Arbeiter:innen die auch unsere Kämpfe vorantreiben können, wird gehetzt, sondern gegen gewerkschaftliche Organisierung an sich, welche sich doch in der Geschichte als starke Waffe der Arbeiter:innen gegen die Kapitalist:innen* herausgestellt hat. Erfolge von Kämpfen, die unmittelbar aus der Organisierung von Arbeiter:innen erfolgten und nur über Streiks umgesetzt werden konnten, sind zum Beispiel das allgemeine einkommensunabhängige Wahlrecht, die Krankheits- und Altersversorgung oder aber die Verteidigung der demokratischen Republik gegen adelstreue rechte Putschisten (Deutschland 1920), um nur einige, unzusammenhängende Bespiele zu nennen. Gewerkschaften sind also offensichtlich zu mehr in der Lage als „nur“ die Kämpfe um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu führen. Sie können politische Interessen der Arbeiter:innen umsetzen, indem sie die Kapitalist:innen zu Kompromissen zwingen. Unabhängig vom politischen Programm ist eine Gewerkschaft also ein Kampfbund aller Arbeiter:innen, die Einheitsfront der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter:innen. Warum sollten wir Schüler:innen solche Strukturen nicht auch haben? 

Organisierung von Oben

Anfang 2016 rief die FIDL, die unabhängige demokratische Schüler:innengewerkschaft, gemeinsam mit den großen französischen Gewerkschaften zu Streiks und Demonstrationen auf. Diese richteten sich unmittelbar gegen die Politik der PS, der französischen sozialdemokratischen Partei. Konkret ging es um die sogenannte Khomri-Reform. Eine „Neuerung“ auf dem Arbeitsmarkt, die die 35 Stunden Woche faktisch aufheben und diverse Rechte am Arbeitsplatz wie zum Beispiel den Kündigungsschutz verwässern soll. Dazu aufzurufen war richtig. Dieser Angriff stellt natürlich einen Angriff auf ältere Schüler:innen, also angehende Arbeiter:innen* dar, welche es als Jugendliche ohnehin schwer genug haben, einen sicheren Job zu bekommen. Dass die FIDL sich mit ins Boot der aufrufenden Gewerkschaften setzte, kam trotzdem unerwartet. Lange schon gab es Proteste gegen die Reformen ohne die Beteiligung der Schüler:innen. Die Führung der Gewerkschaft musste auf den Druck ihrer eigenen Mitglieder reagieren, welche von sich aus demonstrieren wollten. Mit oder ohne „ihre“ Gewerkschaftsführung. Wieder einmal rannte die Führung der Bewegung hinterher erst, als die Bewegung an sich schon zu groß war, um sich vor ihr zu verschließen, anstatt selbst initiativ zu werden und solche Kämpfe mit eigenen Forderungen zu unterfüttern, gar anzuführen. Wieder einmal zeigt sich, dass die Gewerkschaftssbürokrat:innen Probleme lieber aussitzen und nur in der größten Not zur Tat, zum Streik, greifen. Als Schnittstelle zwischen den organisierten Arbeiter:innen und den Interessensgruppen der Kapitalist:innen*, den Arbeitgeberverbänden, welche nicht unmittelbar von uns Arbeiter:innen kontrolliert werden kann, ist die Bürokratie von der widerlich rassistischen und sexistischen Ideologie der Kapitalist:innen durchdrungen. Sie scheut sich in der Regel Position für die Rechte, seien es auch nur Arbeitsrechte, von Geflüchteten, von Migrant:innen oder von Frauen zu beziehen und begnügt sich damit das bürgerliche Märchen der Chancengleichheit unzerkaut zu schlucken. Trotzdem kann auch eine korrumpierte Bürokratie fortschrittliche, antirassistische Kämpfe führen. So führte 2013  unter anderem die FIDL eine spontane Bewegung mit landesweiten Streik- und Protestaktionen gegen die Abschiebung einzelner Schülerinnen und Schüler an französischen Schulen an. Wieder als Reaktion auf eine existierende Bewegung, denn unabhängig von der eigenen Gesinnung ist jede Bürokratie von der von ihr verwalteten Masse abhängig. Obwohl sich die FIDL, so wie auch andere Gewerkschaften, als frei und unabhängig bezeichnet, ist sie doch politisch und finanziell abhängig von der PS, der sozialdemokratischen Regierungspartei. Wie auch in Deutschland und sonstwo, wo es sozialdemokratische Parteien wie die SPD oder PS gibt, ist deren Kurs gegenüber den Kapitalist:innen ein sozialpartnerschaftlicher. Ähnlich verhält es sich mit den meist auch von ihnen dominierten Gewerkschaften. Grob gesagt äußert sich dieser Kurs darin, dass die Kapitalist:innen den Bürokrat:innen Brotkrumen für die von ihnen vertretenen Arbeiter:innen anbieten. Selbst genießen sie aufgrund ihrer hohen Funktion in der Gewerkschaft besondere Privilegien, einen hohen Lohn und einen sicheren Arbeitsplatz, wenn man sich an die allgemeinen, opportunistischen Spielregeln hält. Von sich aus kommen die Gewerkschaftsbürokrat:innen selten auf die Idee Kämpfe einzuleiten, eher reagieren sie notgedrungen auf Angriffe. Sicherlich nicht zuletzt, weil sie selbst zu der Schicht besser gestellter Arbeiterinnen und Arbeiter gehören. Damit einhergehen nicht nur versäumte Kämpfe für die Arbeiter:innen. Letztlich sind die Privilegien, die sich aus der besonderen Bedeutung der höher gestellten Arbeiter:innenschaft für die Kapitalist:innen ergeben, auch eine Grundlage für arbeiter:innenfeindliche Ideologie innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Besonders stark wird diese pro-kapitalistische Ideologie bei den Bürokrat:innen* der Gewerkschaften deutlich. Sehen sie sich doch als (Sozial-)Partner:innen des Kapitals, mit dem sie verhandeln, anstatt ihm den Kampf anzusagen. So kommt es nicht von ungefähr, dass zentrale Punkte fortschrittlichen, proletarischen Bewusstseins kaum Widerhall in den Reihen der Arbeiter:innen finden. So positioniert sich der DGB, der Dachverband deutscher Gewerkschaften, selten zu international koordinierten Streikversuchen. Außer Grußbotschaften an die tatsächlich kämpfenden Arbeiter:innen regt sich in den Reihen der deutschen Gewerkschaftsbürokrat:innen wenig. So bei den letzten europaweiten Streiks gegen die Sparpolitik, die den am stärksten von der Krise betroffenen Ländern der EU, zum Beispiel Griechenland oder Spanien, diktiert wird. Auch die historischen Angriffe der Agenda 2010*, welche den Weg für die sich immer stärkende Ausweitung der Leih- und Zeitarbeit oder der Hartz-Reformen. Auch das jüngst beschlossene Tarifeinheitsgesetz, welches nur noch der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern innerhalb eines Betriebes erlaubt Tarifverhandlungen in diesem Betrieb zu führen, wurde vom DGB sogar unterstützt! Dass keine dieser Reformen im Interesse der Arbeiter:innen als Klasse ist, sondern nur der Beschneidung ihrer Rechte dient, ist mehr als offensichtlich. Der soziale Frieden wird dabei gewahrt, indem den Stammbelegschaften der einzelnen Betriebe zugesichert wird, dass sie ihre Plätze bis zur Rente sicher haben. Dass die Stelle danach eben keine Vollzeitstelle mehr ist, sondern z. B. an Leiharbeiter:innen vergeben wird, welche sich mit weit schlechteren Löhnen zufrieden geben müssen, wird billigend in Kauf genommen. Die Privilegien der einen werden so zum Leid der anderen und auch das trägt dazu bei, die Klasse zu spalten und ein ideologisches Gefälle zwischen Facharbeiter:innen und den angeblich minder qualifizierten Aushilfskräften zu schaffen. 

Organisierung von Unten

Wenn auch nicht im Aufbau der Gewerkschaft so, aber doch in der Schlagkraft und in der Militanz der Aktionen fortschrittlicher und konsequenter waren die Schüler:innen in Brasilien. Im Herbst 2016 brach eine Welle von Besetzungen über die großen Städte herein. Weder waren es radikale Linke, die sich für die Besetzung von Häusern entschieden haben, noch waren es die Studentinnen und Studenten, die ihre Hörsäle einnahmen. Es waren die Schüler:innen, die von sich aus anfingen Schulen zu besetzen. Hunderte von Schulen waren verschlossen für Rektor:innen und rückschrittliche Lehrer:innen, verschlossen für diejenigen, die sich mit Brasiliens Bildungssystem der zwei Klassen abgefunden haben. In den Schulen wurden interessante Seminare, beispielsweise zur Russischen Revolution oder dem Arabischen Frühling gegeben. Es wurde sich mit Antisexismus und Antirassismus auseinandergesetzt. Es wurde sich selbst organisiert. Vom Essen über die Lehrinhalte bis zum notwendigen Wachschutz nahmen die Schüler:innen alles selbst in die Hand. Gerade die Rolle von jungen Frauen, welche vermehrt im Mittelpunkt der Aktivitäten standen und die Bewegung nach außen hin vertraten, ist besonders hervorzuheben. Die Bildung in Brasilien ist gnadenlos unterfinanziert. Einsturzgefährdete Schulgebäude, teilweise ohne Strom, großteils ohne Klimaanlage sind die Regel. Die Klassen an den öffentlichen Schulen platzen aus allen Nähten und die Lehrinhalte richten sich nahezu ausschließlich nach den Inhalten der zentralen Abschlussprüfungen. Immer mehr Schulen wurden geschlossen und im Gegenzug immer mehr Stadien und Arenen aufgebaut. Nachdem für die WM 2014 und die olympischen Spiele 2016 genug Geld vorhanden gewesen war, neue Prunkbauten und Viertel aus dem Boden zu stampfen (und dafür ärmere Viertel einzustampfen), war den meisten Schüler:innen klar: Für sie tut keine:r was, sie müssen sich selbst organisieren, um für ihre Belange zu kämpfen. Im Zuge dessen wurden immer mehr Schulen besetzt und die Bewegung vernetzte sich mit anderen. Die Angriffe seitens der Medien und der Regierung wurden erfolgreich abgewehrt. Hiermit sind weniger die praktischen Angriffe, die auf der Tagesordnung standen, wie gewalttätige Räumungsversuche und Denunziation der Organisator:innen gemeint. Wie immer versuchte die Regierung, den Protest zu spalten, die Medien den Protest zu isolieren. So wurden Verhandlungsangebote seitens der zuständigen Minister:innen mit einzelnen Schulen zu deren Forderungen abgelehnt. Auch fiel man nicht auf den Trick der Medien herein, die Proteste „erfolgreich“ abzuschließen, da ja schon Versprechungen der Regierung in diesem Jahr keine weiteren Schulen zu schließen gemacht wurden und nun die Zeit der Mäßigung gekommen sei. Für Angriffe dieser Art war die Bewegung zu stark. Sie hatte sich Gedanken gemacht. Nicht nur jede Schule organisierte sich selbst in Form von täglichen Plena und Kommissionen, auf denen alles demokratisch entschieden und umgesetzt wurde. Auch die nächsthöhere Instanz, welche die Bewegung nach außen hin vertrat und befugt war zu verhandeln, war demokratisch gewählt und von der Basis, von den kämpfenden Schüler:innen kontrolliert. Über das Rotationsprinzip, demnach politische Funktionen immer nur auf einen kurzen Zeitraum vergeben werden, um keine klassische, korrupte Bürokratie, sondern einen lebendigen Apparat zu erzeugen, konnte eine solche Kontrolle durch die Basis gewährleistet werden. Diese Erfahrungen sollten uns ein positives Beispiel sein, wie eine unabhängige Gewerkschaft von Schüler:innen aufgebaut sein kann, auch wenn neben der Form maßgeblich der Inhalt über den Erfolg entscheidet.

Warum Schulstreik?

Uns muss klar sein, dass der Schulstreik kein Streik im herkömmlichen Sinne ist. Streiken z.B. die Arbeiter:innen* bei Siemens, die durch ihre Ausbeutung Milliarden an Mehrwert produzieren, dann tut das den Boss:innen von Siemens ziemlich weh und sie sehen sich einem starken Druck ausgesetzt, entweder den Forderungen der Arbeiter:innen irgendwie entgegenzukommen oder den Streik mit Propaganda und roher Gewalt zu brechen. Da wir in der Schule nicht direkt Mehrwert für eine_n konkrete_n Kapitalist:in* produzieren, fehlt uns auch dieses konkrete Druckmittel. Wie oben schon ausgeführt liegt unsere Bildung weniger im direkten Interesse von einzelnen konkreten Kapitalist:innen und mehr im Interesse der Kapitalist:innenklasse als ganze. Gegen diese richtet sich also unser Streik und ist vielmehr ein politischer Streik, das also, was bei uns in Deutschland den Arbeiter:innen eigentlich verboten ist. Wir wollen damit neben den Forderungen, die wir eh schon auf die Straße tragen, wie zum Beispiel Themen des Antirassismus, der Kampf gegen das 12 Jahre Turbo Abi oder aber den Kampf gegen die Aufteilung in verschiedene Schultypen, auch gegen die Trennung von Produktions- und Reproduktionsarbeit* vorgehen. Denn natürlich hat auch jede:r spätere „Arbeitgeber:in“ was davon, wenn wir lesen, schreiben und rechnen können, insofern ist auch das zur Schule Gehen Teil gesellschaftlicher Arbeit und kann dementsprechend bestreikt werden. Auch können wir so gegen die vermeintliche Unselbstständigkeit von Jugendlichen vorgehen, indem wir uns und andere organisieren, nicht zuletzt, um eigene Erfahrungen in der Organisierung und politischen Bildung zu sammeln. Allein können wir aber keinen Kampf für eine wirklich gerechte Bildung führen, da wir Jugendliche nicht die Masse noch die gesellschaftlichen Druckmittel, wie zum Beispiel Schlüsselposten in Industrie oder Transportwesen, in der Hand haben. Der Streik gibt uns jedoch ein eigenes Podium im Klassenkampf* und kann uns so helfen, gegen die vorherrschende Jugendunterdrückung vorzugehen.

Was fehlt?

Der Kampf um bessere Existenzbedingungen ist wichtig, genauso wie die Organisierung aller möglichen Kräfte gegen den Kapitalismus*. Dass diese Kämpfe überhaupt getrennt werden, ist nicht das Ergebnis einer Entscheidung von Streikenden oder aber von kämpfenden Arbeiter:innen*. Diese Trennung ist Ergebnis eines Kampfes zweier bürokratischer Bollwerke. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts kämpften SPD und Gewerkschaften Hand in Hand für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, für demokratische Forderungen und für Verstaatlichungen. In dieser Zeit entwickelte sich in den Reihen der Gewerkschaft eine Bürokratie, die engeren Kontakt zu den Arbeitgebern suchte, für „Verhandlungen auf Augenhöhe“. Die Positionen in der Führungsriege waren keine sozialistischen mehr. Man ging davon aus, im System durch den Kampf für ein besseres Leben Gerechtigkeit schaffen zu können, ohne den parlamentarischen Überbau, ohne seine Grundlage, den Kapitalismus an sich, infrage zu stellen. Diese Positionen kollidierten unmittelbar mit den noch sozialistischen Positionen der SPD, welche den Anspruch hatte politische und wirtschaftliche Kämpfe anzuführen. Der Konflikt der beiden Positionen spitzte sich an der Losung des politischen Generalstreiks als Mittel im Kampf gegen den Kapitalismus so weit zu, dass als Ergebnis des Streits Gewerkschaften und Arbeiterparteien sich als gleichrangige Organisationen der Klasse betrachtend jede mit den eigenen Mitteln unter der den eigenen Forderungen Kämpfe ausruft und anführt (festgehalten 1906 im Mannheimer Abkommen). Das Ergebnis dieses politischen Streits war letzten Endes nicht weniger als der bewusste Verzicht auf die mächtigsten Kampforgane der Arbeiter:innenklasse für politische Auseinandersetzungen. Die Kämpfe in Brasilien schafften es sogar, einen Schritt weiter zu gehen als viele Arbeiter:innen hier, denn neben der eigenen Organisierung ihrer Kämpfe aus den kämpfenden Massen heraus positionierten sie sich politisch. Die Ablehnung von Sexismus und von Rassismus, sowie die Ablehnung der rein weißen, männlichen Regierung in Brasilien ist sicherlich eine wichtige Voraussetzung, um das Bewusstsein der Schüler:innen gegen die Angriffe und Spaltungsversuche des Kapitals zu schärfen. Weiter wird man jedoch mit der politischen Arbeit in Gewerkschaften allein nicht kommen. Als Revolutionär:innen stellen wir in allen Kämpfen den Pol dar, der neben den unmittelbar aufgestellten Forderungen auch immer das System des Kapitalismus’ als Ursache für die angeprangerten Probleme begreift. Deshalb darf eine Gewerkschaft als Kampfstruktur nicht die revolutionäre Organisierung ersetzen. Vielmehr stellen sie eine ausgezeichnete Plattform dar, die eigene Politik vor den Massen der Organisierten Arbeiter:innen, Schüler:innen und Student:innen zu vertreten und durchzuführen. An sich werden die, mit denen wir gemeinsam streiken, nicht automatisch auch ein revolutionäres Bewusstsein erlangen. Ein Streik begnügt sich meist damit, Forderungen um kleine unmittelbare Verbesserungen aufzustellen und spätestens, wenn diese umgesetzt sind, setzt oder stellt sich jede:r wieder an die Schulbank oder den Arbeitsplatz. Ein zentrales Element wird hier meist ausgeklammert: der politische Charakter von Streiks und der politische Charakter von Gewerkschaften, welcher beiden durch die Ideologie des Reformismus abgesprochen wurde. Gegen diese Ideologie gilt es zu kämpfen und zwar über Losungen wie die des unbefristeten politischen Generalstreiks. Denn zu glauben, dass Politik nicht unmittelbar etwas mit den Lebensbedingungen der Arbeiter:innen zu tun hat, wäre fatal. So können zentrale Angriffe auf die Rechte der Arbeiter:innen abgewehrt werden. Würde beispielsweise ein Freihandelsabkommen á la TTIP, ein Kriegseinsatz in Afghanistan oder aber die Grundlage für das System der Leih- und Zeitarbeit, die Agenda 2010*, umgesetzt werden, wenn sich die Arbeiter:innen mit Massenstreiks dagegen wehren? Nein! Mit Sicherheit würden keine Regierung und keine Partei, die ja trotz des bürgerlichen Charakters, von den Massen abhängig sind Gesetze gegen die mehrheitlichen Proteste der Arbeiter:innen durchsetzen. Diese unbefristeten politischen Streiks stellen unmittelbar die Frage nach der Macht im Staat, also die Frage nach der Herrschaft der einen Klasse über die andere. Gleichzeitig bringt ein solcher Streik den Kapitalismus ins Wanken, da ja jeder Betrieb, um Wert zu schöpfen, Arbeitskraft ausbeuten muss. Wenn diese Wertschöpfung zum Erliegen kommt, bangen also nicht nur der bürgerliche Staat, sondern auch die Klasse der Kapitalist:innen* um ihre eigene Existenz. Solche Kämpfe erhöben die Gewerkschaft als Organisierung der Arbeiterklasse gegen Armut und Verelendung zu einer Organisation mit politischen Zielen, zu einer Organisation, die die Interessen der Klasse tatsächlich vertreten und durchsetzen kann, um sich der eigenen Stellung und der eigenen Macht bewusst zu werden.

Kämpfe verbinden!

Tatsächlich kann eine solche Gewerkschaft im bürgerlichen Staat, welcher Streiks außerhalb von Tarifverhandlungen illegalisiert und Strafen wie Entlassung oder sogar Entschädigungszahlungen für „wilde Streiks“ verhängt, kaum existieren. In Indien zum Beispiel ging es soweit, dass die Initiator:innen eines Streiks, welcher Ausschreitungen zur Folge hatte, zum Tode bzw. zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt wurden. Auch werden wohl die wenigsten Gewerkschaften dazu die Bereitschaft aufweisen, auf einmal für politische Forderungen zu kämpfen, auf einmal selbst initiativ zu werden. Denn die Gewerkschaft hat kein Programm, sie organisiert Arbeitende eines Bereiches um ihre eigenen Forderungen. Um alle Gewerkschaften tatsächlich an einem Strang ziehen zu lassen, braucht es eine revolutionäre Partei, die dazu in der Lage ist, von sich aus Massen zu mobilisieren, um der Gewerkschaftsführung gar keine andere Wahl zu lassen, als mitzuziehen und die politischen Forderungen zu unterstützen. Gleichzeitig wirft die Entscheidung, sich einem revolutionären Programm anzuschließen, die Frage auf, welcher Organisation man angehören will. Einer Organisation mit verknöcherter bürokratischer Spitze oder aber der revolutionären Organisation der kämpfenden Massen. Letzteres macht die Gewerkschaft durch die Aufhebung der Trennung politischer und wirtschaftlicher Kämpfe als „unpolitische“ Koordinatorin überflüssig. Sie kämpft nur noch in Form einer basisdemokratischen Gewerkschaftsopposition mit einem eigenen Aktionsprogramm um die Führung unmittelbarer ökonomischer Kämpfe. Ein revolutionäres Bewusstsein kann nur unter großen Teilen der Gesellschaft verbreitet werden, indem Revolutionär:innen nicht nur Forderungen wie eine bessere Finanzierung des Bildungswesens oder aber das Recht auf Mitbestimmung der Lehrpläne auf die Tagesordnung setzen. Wir wollen nicht einfach nur, dass alles besser und netter wird, wir als Lehrende und Lernende wollen selbst bestimmen wie wir das Geld ausgeben und was wir lernen. Wir wollen eine Grundsicherung für Schüler:innen und Studierende unabhängig vom Verdienst und der Situation ihrer Eltern und wir wollen nichts für Bildung und Kultur und öffentlichen Nahverkehr bezahlen müssen. Solche Forderungen sind es, die nachvollziehbar anhand der Bedürfnisse von uns Jugendlichen jeder_m die Grenzen des kapitalistischen Systems aufzeigen, welches uns diese Privilegien mit absoluter Sicherheit nicht zugestehen wird. Solche Forderungen sind es, welche als Katalog, zusammen mit den Forderungen die von den Gewerkschaften bzw. ihren Mitgliedern, aufgestellt werden und Forderungen nach dem Umsturz des Kapitalismus, der Arbeiter:innenbewegung vorgeschlagen, zusammen mit ihr diskutiert und umgesetzt werden müssen. Wir müssen jedes Podium und jede Struktur nutzen, um unsere Forderungen unter die Leute zu bringen. Deshalb wollen wir eine kämpferische Gewerkschaft, in der sich Jugendliche, egal ob Schüler:innen oder Studierende gemeinsam, basisdemokratisch organisieren, um für ihre Forderungen erfolgreich kämpfen zu können. Dabei sollten wir auch versuchen die Schüler:innenvertretungen und die Studierendenparlamente für unsere Forderungen zu begeistern, jedoch darf sich unser Kampf nicht auf den Kampf in diesen light Versionen von Parlamenten beschränken. Diese Gremien haben kaum Möglichkeiten den Schulalltag mitzugestalten. Außerdem haben Lehrer:innen und Schuldirektor:innen meist einen zu starken Einfluss auf diese, weshalb der Kampf auch immer außerhalb der unmittelbaren schulischen Gremien geführt werden muss. In einer Gewerkschaft wollen wir Sozialist:innen für ein revolutionäres Programm der Jugend einstehen, diese also als Podium nutzen, um unsere Ideen vor einer großen Masse zu verbreiten und zu verteidigen. Gleichzeitig müssen wir uns aber den Rahmen vor Augen halten, in dem eine Gewerkschaft agieren kann. So kann die Organisierung in dieser nie die Organisierung in einer revolutionären, antikapitalistischen, internationalistischen Organisation ersetzen, da nur sie die Kämpfe verbinden, die Mittel im Kampf frei wählen und ein revolutionäres Programm vertreten kann.

Fremdwörterlexikon

Agenda 2010: Reform des sozialen und Arbeitsmarktsystems auf Kosten der Arbeiter:innen. Geplant und umgesetzt wurde es 2003 bis 2005 unter der Regierung der SPD und Bündnis90/Die Grünen. Diese Reform stürzte große Teile der arbeitenden Massen in die Zeit- und Leiharbeit. So konnten die Lohnstückkosten in Deutschland im Schnitt massiv reduziert und Deutschland wieder Exportweltmeister werden. Ebenso wurde Hartz IV eingeführt, eine massive Verschlechterung der Existenzsicherung für Arbeitslose, die diese wiederum rigoroser in die Arbeitswelt drängt und dazu bringt, Jobs zu den miesesten Bedingungen anzunehmen.

Produktionsmittel: Alles das, was zur Produktion von Gütern benötigt wird. Also zum Beispiel Fabriken, Grundstücke, Rohstoffe und Maschinen

.Kapitalismus, kapitalistisch: Dieses Wirtschaftssystem hat im 18. Jahrhundert in Europa die Feudalordnung abgelöst. Heute hat sich der Kapitalismus nahezu auf der gesamten Welt ausgebreitet. Die konkurrenzorientierte kapitalistische Wirtschaft ist nicht darauf ausgerichtet, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern hat nur zum Ziel, Profite zu maximieren. Die Produktionsmittel befinden sich im Privatbesitz einiger weniger Menschen, sodass der Großteil der Menschheit nur ihre Arbeitskraft verkaufen kann, um sich ihr Leben durch den Lohn zu finanzieren.

Befreite Gesellschaft, Kommunismus, kommunistisch: Eine Gesellschaftsordnung, in der niemand mehr geknechtet wird, sich jeder Mensch frei entfalten kann und in der keine Ausbeutung, keine Armut, kein Krieg, kein Sexismus, kein Rassismus und keine LGBTIA+-Feindlichkeit existiert. Grundvoraussetzung dafür ist, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft wird und die Wirtschaft unter demokratischer Planung aller auf die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ausgerichtet ist. Diese Gesellschaft bezeichnen wir als befreite, klassenlose Gesellschaft oder Kommunismus.

Produktionsverhältnis: Die Frage, wer in Besitz der Produktionsmittel ist, bestimmt das Produktionsverhältnis und die Art und Weise, wie die Produktion, der Verbrauch, der Austausch und die Verteilung von Produkten in einer Gesellschaft geregelt sind. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Wirtschaft, sondern auf jegliche zwischenmenschlichen Beziehungen.

Klassengesellschaft: Sobald sich die Produktionsmittel innerhalb einer Gesellschaft nur im Besitz einer bestimmten Gruppe befinden, entsteht ökonomische, soziale und politische Ungleichheit und es bilden sich Klassen heraus. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass eine Klasse die andere ausbeutet und sie somit in einem unversöhnlichen Gegensatz zueinander stehen. So ist nicht nur der Kapitalismus eine Klassengesellschaft, sondern auch der mittelalterliche Feudalismus oder die antike Sklavenhaltergesellschaft.

Klassenkampf: Jede Klasse muss um ihre eigene ökonomische Existenz kämpfen. Da in einer Klassengesellschaft immer ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen zwei Klassen besteht, steht der Kampf um die eigene Existenz einer Klasse immer im Widerspruch zu den Interessen der anderen Klasse. Indem in der Geschichte der Menschheit immer eine Klasse die Herrschaft einer anderen abgelöst hat, haben wir uns von der Sklavenhaltergesellschaft zum Feudalismus und schließlich hin zum Kapitalismus entwickelt. Auch hier kämpfen zwei Klassen gegeneinander, auch wenn das nicht immer mit Waffengewalt passiert und uns das nicht immer direkt wie ein Kampf vorkommen mag. Aber jede Forderung nach höheren Löhnen oder mehr Freizeit, jeder Streik und auch jede Kürzung von Sozialleistungen, jede Kündigung und jede unbezahlte Überstunde sind Ausdrücke des ökonomischen Klassenkampfes. Im Kapitalismus bedeutet der Klassenkampf der Arbeiter:innenklasse, der auf den Sturz der unterdrückerischen Kapitalist:innenklasse gerichtet ist, letztendlich auch den Kampf für den Sozialismus und die befreite Gesellschaft.

Bourgeoisie/ Kapitalist:innenklasse: Im Kapitalismus gehören die Produktionsmittel nur einigen wenigen Menschen. Diese bezeichnen wir als Kapitalist:innen oder Bourgeoisie. Wer selber keine Produktionsmittel besitzt, ist darauf angewiesen, seine oder ihre Arbeitskraft gegen einen Lohn an die Bourgeoisie zu verkaufen. Diese Abhängigkeit erlaubt es der Bourgeoisie ihre Profite zu maximieren, indem sie den Lohn nach unten drückt und somit die Arbeitskraft anderer ausbeutet.

Proletariat/ Arbeiter:innenklasse: Wer selber keine Produktionsmittel besitzt, muss irgendwo arbeiten gehen, um sich seinen Lebensunterhalt vom Lohn zu finanzieren. Diese Klasse bildet die große Mehrheit aller Menschen auf der Welt und wird als Proletariat oder Arbeiter:innenklasse bezeichnet. Dabei ist es egal, ob man in einer Fabrik arbeitet, als Supermarktkassierer:in, als Bankangestellte:r, als Pilot:in oder als Fahrradkurier:in. Bürgertum, bürgerlich: Bürgertum ist eine weitere Bezeichnung für die Klasse der Kapitalist:innen. Wenn etwas bürgerlich ist, dann unterstützt es in irgendeiner Weise die gesellschaftliche Ordnung, in der die wirtschaftliche und politische Macht in den Händen der Kapitalist:innen ist.

Marxist:in, Marxismus, marxistisch: Die Schriften von Karl Marx legten im 19. Jahrhundert den Grundstein für die Analyse des Kapitalismus und gaben Antworten, wie dieser überwunden werden kann. Marx entwickelte eine eigene Philosophie und eine eigene Wissenschaft die wir als Marxismus und ihre Anhänger:innen als Marxist:innen bezeichnen. Der Marxismus wurde von vielen Menschen in vielen Ländern im Kampf erprobt und theoretisch weiterentwickelt. Wir beziehen uns hier vor allem auf Karl Marx, Friedrich Engels, Wladimir Iljitsch Lenin, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Leo Trotzki.

Monopol: Wer ein Monopol innehat, besitzt in diesem Bereich das absolute Vorrecht oder die Alleinherrschaft. Privatisierung: Staatlicher Besitz oder Verantwortungen und Befugnisse werden in privaten Besitz oder an nicht-staatliche Akteure überführt. Privater Besitz kann einem Konzern gehören, aber auch zum Beispiel der bürgerlichen Familie.

Gewerkschaftsbürokratie: Hiermit sind die Chefs und Vorsitzenden der Gewerkschaften gemeint. Sie verdienen das Zehnfache der anderen Gewerkschaftsmitglieder und handeln nicht im Interesse der organisierten Arbeiter:innen. Anstatt zusammen mit ihnen Streiks gegen die Ausbeutung zu organisieren, sitzen sie mit den Kapitalist:innen am Verhandlungstisch und versuchen schlechte Kompromisse zu finden.

Reaktionär: Reaktionär bedeutet rückschrittlich. Wenn sich also bereits bestimmte Errungenschaften erkämpft wurden und diese dann wieder erneut in Frage gestellt werden, ist das reaktionär. Beispiele für reaktionäre Ideologien sind Rassismus und Faschismus.

Patriarchal: Soziale Ordnung in der Männer, im speziellen Väter (lat.: pater), die führende Position in sozialen Gruppen wie Familien, Stämmen o. ä. einnehmen.

Reproduktionsarbeit: Zur Aufrechterhaltung der Arbeitskraft nötige Arbeit. Reproduktionsarbeit wird in unserer Gesellschaft in das Privatleben gedrängt und verschleiert damit ihren Charakter als gesellschaftlich notwendige Arbeit. In Familien übernehmen diese oft die so doppelt (durch Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit) ausgebeuteten Frauen.

Repression: Gewaltsame Unterdrückung oder Niederschlagung von gesellschaftlichem Widerstand.

Subsistenzwirtschaft: Entspricht einer teilweisen Selbstversorgung. In vielen Ländern der Welt reicht der Lohn von ausgebeuteten Arbeiter:innen nicht aus, um eine Versorgung zu gewährleisten. Deshalb sind viele Menschen in stark ausgebeuteten Ländern (z. B. Polen, Ukraine) darauf angewiesen, eigene Produkte auf ihrem Land anzubauen und sich so zum Teil selbst zu versorgen.

Selektion: Bewusste Ausgrenzung sozial benachteiligter Glieder der Gesellschaft.




What the Fuck is wrong in the USA?!

Jan Hektik

Wenn bloß ein wenig darauf geachtet wird, was gerade in den USA so alles abgeht, verliert man schnell den Überblick. Es kommt einem so vor, als ob dort alles gleichzeitig zusammenbricht, sich aber trotzdem nicht wirklich etwas ändert. In diesem Artikel möchten wir kurz beschreiben, was eigentlich in den USA gerade schiefläuft. Kurze Antwort: Alles! In diesem Artikel wollen wir aber drei der Konflikte näher beleuchten. Erstens Corona und das Gesundheitssystem, zweitens die Wirtschaftskrise und das Sozialsystem und drittens Black Lives Matter und Rassismus. Alle diese Konflikte finden ihren Ausdruck auch im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf, also wird auf diesen auch in einem Abschnitt eingegangen werden.

Corona und Gesundheit

Die USA sind eines der am härtesten von der Pandemie getroffene Land mit Zehntausenden von Neuinfektionen täglich und massenhaft Toten. Warum ist das so?

Die einfache Antwort, die insbesondere die Demokraten gerne geben, ist wegen Trump. Doch auch wenn diese Aussage einen wahren Kern hat, so ist sie zumindest nicht ausreichend. Viel liegt auch an dem Gesundheits- und Sozialsystem, welches auch vor Trump in den Vereinigten Staaten schon bestand.

Das Gesundheitssystem in den USA basiert auf einer sehr starken und einflussreichen Pharmalobby (Big Pharma), welche ein gigantisches und profitables Netzwerk aus Versicherungen aufgebaut hat. Anders als in Deutschland gibt es keine staatliche Gesundheitsversicherung und auch keine Versicherungspflicht. Dadurch haben viele Menschen in den USA überhaupt gar keine Versicherung, besonders nicht die ärmeren. Gleichzeitig sind Preise für Medikamente und Behandlungen exorbitant hoch. 41% aller amerikanischen Personen im arbeitsfähigen Alter haben Probleme mit medizinischen Rechnungen oder zahlen medizinische Schulden ab.

Sind Menschen versichert, so sind sie es erstens meistens über ihren Job, zweitens unter strengen Bedingungen und drittens meist mit Selbstbeteiligung. D.h. auch wenn du versichert bist, kannst du trotzdem an den Kosten einer Krankheit zugrunde gehen.

Die Versicherungen funktionieren nach Netzwerken. Jede Versicherung hat ein Netzwerk. Ärzte, Krankenhäuser etc. können Teil dieses Netzwerk sein. Brauchst du eine Behandlung, geh besser in ein Krankenhaus, dass Teil des Netzwerks ist, ansonsten zahlt die Versicherung nicht.

Durch den Affordable Healthcare Act (Obamacare) wurde manche Missstände zwar abgeschwächt, in der Grundstruktur sind sie aber immer noch stark vorhanden.

Weiterhin trifft die Pandemie die USA so stark, weil im Gesundheitssektor durch die Ausrichtungen auf Wirtschaftlichkeit für die Bevölkerung relativ wenig Kapazitäten freistehen. Und schließlich wurde auf die Pandemie politisch von der Regierung langsam, zögerlich und minimal reagiert. Dies hat seinen Grund jedoch sehr stark in den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in den USA.

Die Wirtschaftskrise und das Sozialsystem in den USA

In den USA gibt es auch außerhalb des Gesundheitssystems kaum soziale Absicherungen, keine gesetzliche Rente (nur private Rentenversicherungen), sehr begrenzte und viel zu geringe Arbeitslosenversicherungen usw.

Das führt dazu, dass die Leute noch viel stärker auf ihre Jobs angewiesen sind als hier. Weiterhin gibt es auch keinen Kündigungsschutz und auch sonst kaum arbeitsrechtliche Regelungen zum Schutz der Beschäftigten, sowie generell eher schwache gewerkschaftliche Organisierung und kaum einheitliche Kämpfe. Das führt dazu, dass die Unternehmen in den USA, wenn sie ihre Produktion wegen Corona runterschrauben müssen, einfach massenhaft Leute entlassen können.
Die Gesundheitsversicherung über den Job ist dann weg.

Die Regierung hat den Lockdown lange hinausgezögert, ihn dann so minimal wie möglich durchgeführt, sodass die Infektionen trotzdem in die Höhe schossen (z.B. weil bei Amazon massenhaft Menschen unter massiven Zeitdruck arbeiten und keine Zeit haben sich die Hände zu waschen), woraufhin massenhaft Menschen entlassen wurden und ihre Versicherung verloren haben. Somit ist ein sich gegenseitig befeuerndes Verhältnis aus wirtschaftlicher und gesundheitlicher Krise entstanden woraus ein krasser Angriff auf die ärmsten Teile dieser Gesellschaft entstand.

In den USA stehen auf der einen Seite die Bourgeoisie (Corporate America) und ihre (offenen) Vertreter Trump, die Republikaner und die Rechte und auf der anderen Seite das Proletariat und in ihm besonders die unterdrücktesten Teile (People of Color, LGBTIA, Frauen). In den USA kann man besonders stark die Auswirkungen von wirtschaftlichen Nachteilen auf soziale und gesundheitliche Aspekte sehen. Gleichzeitig besitzen die Reichsten 1% mehr als die Hälfte der US-amerikanischen Bevölkerung.

All diese Probleme haben sich mit dem Eintritt der Krise, ausgelöst durch die Pandemie, plötzlich massiv verschärft. Besonders hart hat es People of Color und besonders die Schwarze Bevölkerung getroffen. Sie sind häufiger in schlechter bezahlten Berufen, schlechterer Gesundheitsversorgung, leben in infrastrukturell schlechteren Gebieten enger zusammen, haben weniger Absicherung bei Lohnausfällen oder Jobverlust und arbeiten überwiegend in Berufen die eine erhöhte Ansteckungsgefahr aufweisen. Der Rassismus in den USA hat somit eine ökonmoische Grundlage…und viel Sprengkraft.

Rassismus

Rassismus in den USA hat eine lange Geschichte und tiefe Verwurzelung. Er drückt sich neben der wirtschaftlichen in vielen anderen Formen aus. Eine ist die überproportionale Verfolgung von Schwarzen durch den Staat. 38,4% von allen Häftlingen in den USA sind Schwarz bei 12,7% der Bevölkerung, daneben sind 57,7% der Häftlinge weiß bei 72% der Bevölkerung.

In der Geschichte der USA gab es viele Bestrebungen den Gedanken der „weißen Rassenüberlegenheit“ (white supremacy) in der Gesetzgebung und der Exekutive zu verankern.

Die Polizei ist überproportional von Weißen besetzt wird, Tötungen durch die Polizei treffen unverhältnismäßig oft Schwarze Personen und Todesurteile treffen überproportional Schwarze Personen bei weißen Opfern. Rassismus durchzieht die gesamte Staatlichkeit der USA. Die Vorfälle in Kenosha, wo Jacob Blake von der Polizei ermordet wurde und in dem darauf folgenden Protest ein Rechter zwei BLM-Demonstrant_Innen ermordete, sind nur die Spitze des Eisbergs.

Der US-Amerikanische Wahlkampf

Im Sud dieser Konflikte brodelt der US-Amerikanische Wahlkampf. Für die Demokraten tritt Joe Biden an und für die Republikaner Donald Trump. Während die Republikaner die rechten Teile der Gesellschaft und den rechten Flügel der Bourgeoisie vertreten, versuchen die Demokraten, welche den etwas linkeren Teil der Bourgeoisie vertreten, gleichzeitig möglichst viele progressive Stimmen abzufangen.

Die Republikaner

Zunächst zum Wahlkampf der Republikaner, dieser stützt sich vor allem auf drei Punkte: Law and order (Recht und Ordnung), Kampf gegen den Sozialismus und Garant der individuellen „Freiheit“ (der Reichen und Weißen).

Law and Order ist der republikanische Propagandabegriff für die brutalste Niederschlagung jeglichen Widerstandes gegen Ausbeutung und Unterdrückung, sowie die Art und Weise der Durchsetzung der oben genannten Krisenlösung von Kürzungen und Angriffen auf die ärmsten Teile der Bevölkerung.

Die Kosten der Krise auf die unterdrückten Teile der Gesellschaft abwälzen, das wollen beide Parteien. Die Fragen, über die sie sich uneinig sind, drehen sich nur um die Intensität und die Durchführung dessen.

Die BLM-Proteste werden als Plünderer bezeichnet und rechte Milizen und Polizei zu Hütern von Recht und Ordnung verklärt. Das Ganze eben unter dem Deckmantel gesellschaftlicher Regeln und wer sich nicht an diese halte, müsse hart bekämpft werden.

Im Kampf gegen den Sozialismus wird sich im Endeffekt auf Bernie Sanders bezogen und die Politik der Bewegung, die ihn unterstützt hat, auf Biden übertragen, ohne dass dafür eine tatsächliche Grundlage besteht. Biden ist ein Musterschüler des US-Imperialismus, Sanders ein sozialdemokratisch angehauchter Reformer.

Weiter geht’s mit der individuellen „Freiheit“ als klassischem Thema der Rechten in den USA. Patriotismus und Nationalismus sind eng verbunden mit diesem Begriff von Freiheit. Hier verbindet sich auch Law and Order mit Antisozialismus. Soziale Programme werden als Eingriffe in die Freiheit dargestellt, Privateigentum der Kapitalist_Innen und damit verbundene Ausbeutung als Ausdruck dieser Freiheit.

Die Demokraten

Biden dagegen stützt sich eigentlich nur auf zwei Punkte: Anti-Trump und im Winde wehen.

Biden und Trump führen den Wahlkampf der Persönlichkeiten. Viel der Debatte geht um das Alter von Biden oder die Unfähigkeit von Trump. Eigentlich ist Bidens Hauptargument: „Wählt mich, denn ich bin nicht Trump“ und „Ich war Vize unter Obama“.

Das sind vermutlich auch die beiden Hauptpunkte, mit denen er sich gegen Sanders durchsetzen konnte. Einerseits hatte er insbesondere unter älteren Menschen hohe Zustimmungswerte, besonders unter Schwarzen über 40, andererseits kam sein plötzlicher Zuwachs nachdem Obama dazu aufgerufen hat für ihn zu stimmen. Obama wird von vielen als linker wahrgenommen als er eigentlich war, insbesondere im Kontrast zu seinem Nachfolger. Die Hauptauseinandersetzung zwischen Biden und Sanders war Bidens Argument, Sanders sei zu links, um gegen Trump zu gewinnen. Dass dies nicht zutrifft, zeigt sich auch schon an der großen Zustimmung, die Sanders unter eher republikanisch geprägten Teilen der Bevölkerung hatte aufgrund der hohen Beliebtheit seiner Gesundheitsreform und einem stärkeren Klassenbezug.

Sanders großes Problem war eigentlich nicht mit der Demokratischen Partei zu brechen. Zwar ist er an sich ein Unabhängiger, der nur 2016 und 2020 jeweils zu den Wahlen den Demokraten beitrat. Jedoch hat er erst Hillary Clinton und dieses Mal Biden unterstützt, nachdem er die Wahl um die Kandidatur verloren hat. Jeder Beobachter_In klar ist, dass seine Ziele und erst recht die weitergehenden Ziele der Bewegung niemals mit dem Establishment der Demokraten, welches durch Clinton und Biden repräsentiert wird, umsetzbar sind.

Die DSA

Durch die Kandidatur zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten von Bernie Sanders wurde 2016 in den USA eine Debatte gestartet, die zu einer gesteigerten Popularität sozialistischer Begriffe, Phrasen und Politik geführt hat. Er hatte damals (und erneut dieses Jahr) unter anderem gefordert, alle privaten Krankenversicherungen abzuschaffen und durch eine staatliche zu ersetzen, welche bessere Bedingungen als in den meisten europäischen Ländern geschaffen hätte, eine stärkere Besteuerung der Reichen, verbunden mit großen Sozialprogrammen, und sich explizit an die arbeitende Bevölkerung und die Gewerkschaften gewandt und mit ihnen zusammen gearbeitet.

Gleichzeitig hat sich die Bewegung um ihn mit Black Lives Matter und Protesten von Latinos vernetzt. Dies ist der bisherige Höhepunkt einer Entwicklung, die mit den Protesten von Occupy Wallstreet begann und die Organisierung und den Klassenbezug stetig erhöht hat. Auch untypisch für den US-Wahlkampf war Sanders‘ Methode nicht auf seine Persönlichkeit, sondern auf seine Forderungen und eine Bewegung zu setzen. Auch dies hat ermöglicht, dass die Democratic Socialists of America (DSA) in 2016 von unter 10.000 auf 35.000 und 2019 auf 55.000 Mitglieder anwuchsen.

Die DSA ist eine Partei, deren Politik in Deutschland als sozialdemokratisch gelten würde. Sie stützt sich auf die Arbeiter_Innenklasse und benennt diese klar als Bezugspunkt. Auch ihre Versuche sich mit Gewerkschaften zu vernetzen und eine Verbindung der Kämpfe von Antisexismus, Antirassismus und gewerkschaftlichen Kämpfen herzustellen sind vielversprechend. Einerseits stellt dies eine große Chance für Kommunist_Innen dar, Menschen für die kommunistischen Ideen zu begeistern und andererseits ist eine unabhängige Organisierung auch ein notwendiger Schritt zu einer klassenunabhängigen, wenn auch noch nicht unbedingt revolutionären Politik. Alleine schon die Existenz einer unabhängigen Massenarbeiter_Innenpartei in den USA wäre ein großer Fortschritt und die Bereitschaft in den linken Teilen der Gesellschaft und auch in der DSA, mit den Demokraten zu brechen, ist hoch wie nie. Gerade die Konflikte um Sanders und die Demokraten haben dies verstärkt.

Verhältnismäßig viele der linkeren Teile der demokratischen Basis sind dazu geneigt Unabhängige zu wählen. Das ist für die USA besonders bedeutsam, da historisch nie mehr als zwei große Parteien ernsthafte Chancen auf die Präsidentschaft hatten. Dies wird immer als Totschlagargument gegen die Gründung und Wahl neuer Parteien benutzt. Doch es geht in Wirklichkeit darum einen gesellschaftlichen Wandel zu bewirken und das ist nur durch die Aktion möglich, durch die Organisierung von Protesten, Strukturen und Streiks. Mit der wachsenden sich als sozialistisch verstehenden Bewegung, Black Lives Matter, Solidaritätsstreiks im Profisport und vielen Produktionszweigen und der Debatte um Krise von Wirtschaft und Gesundheit, die durch die Pandemie losgetreten wurde, ist dies eine der besten Gelegenheiten für den Aufbau einer unabhängigen Arbeiter_Innenpartei, die es jemals gab.

Wer gewinnt, Biden oder Trump?

Das ist schwer zu sagen, da ihre Prognosen eng beieinander liegen. Es wird an den Zielen ihrer Politik aber nicht viel ändern. Beide beabsichtigen die Krise mit Förderung der Kapitalist_Innen und Angriffen auf die Arbeiter_Innenklasse zu beantworten. Der Unterschied liegt hauptsächlich in der Art und Weise. Unter Trump werden die Angriffe mit härteren Mitteln und offenerem Rassismus durchgeführt werden. Man kann auch nicht sagen, dass es überhaupt keinen Unterschied macht, wer gewinnt, allein schon weil die Wahl eines offenen Rassisten wie Trumps auch als Gradmesser für das Bewusstsein der US-amerikanischen Bevölkerung verstanden werden muss. Aber an den kapitalistischen Grundbedingungen wird sich nichts ändern, keiner von beiden wird das Gesundheitssystem reformieren, keiner wird Streikende unterstützen oder Klasseninteressen ansprechen und keiner von beiden wird den rassistischen Polizeiapparat angehen. Biden sagte dazu bloß, es sei ja ein Unterschied, ob man Polizisten beibringe auf den Kopf oder die Beine zu schießen. Und genau diese Art von Kandidat stellt er dar. Er ist der Einen-Schuss-in-die-Beine-statt-in-den-Kopf-Kandidat.

Warum kein Schuss in die Beine?

Immer noch besser als ein Kopfschuss, also Biden wählen. Könnten wir jetzt sagen. Sagen wir aber nicht, denn wie sollen wir als Revolutionär_Innen die Klasse für unsere Ideen gewinnen, wenn wir sie dazu aufrufen sich für einen Schuss in ihre Beine stark zu machen. Und wir haben ja oben ausführlich geschildert, dass Biden eben nicht die Interessen der Arbeiter_Innenklasse vertritt, sondern nur eine andere Strategie der bürgerlichen Klassenherrschaft, die sich eher zufällig an manchen Punkten mit progressiver Politik verwechseln lässt.

Was jetzt in den USA notwendig bleibt, ist das Nutzen von Wahlkampf und den Bewegungen, um eine Organisation aufzubauen, die die Interessen der Klasse und der Unterdrückten auch außerhalb von Wahlen unterstützt. Die es z.B. fördert, wenn Schwarze Communities selbst Patrouillen durch ihre Nachbarschaft schicken, um sich vor Rechten, Kriminalität aber auch der Polizei zu schützen. Oder die Gewerkschaften dazu drängt den Schulterschluss mit den antirassistischen und antisexistischen Kämpfen zu suchen. Und zu guter Letzt braucht es den Kampf um eine unabhängige Arbeiter_Innenpartei, in der Kommunist_Innen für ein revolutionäres Programm kämpfen, die die Kosten der Krise Trump, Biden und Co. zahlen lässt!




Zweite Welle der Corona-„SkeptikerInnen“?

Wilhelm Schulz, 3. August 2020
Zuerst veröffentlicht unter
https://arbeiterinnenmacht.de/2020/08/03/zweite-welle-der-corona-skeptikerinnen/

Es war ein unheimlicher Aufmarsch. 20.000 bis 30.000 Corona-„SkeptikerInnen“ oder direkte LeugnerInnen der Pandemie demonstrierten am 1. August in Berlin. Aus dem gesamten Bundesgebiet mobilisierten die OrganisatorInnen der sogenannten Hygienedemonstrationen.

Sie feierten gemeinsam das angebliche Ende der Corona-Pandemie. Dabei sind die Zahlen täglicher Neuinfektionen weltweit höher denn je – von der Dunkelziffer vor allem in der halbkolonialen Welt ganz zu schweigen, die u. a. auf fehlende Testsysteme und darauf zurückzuführen sind, dass als Todesursachen andere Krankheiten und Mangelerscheinungen ausgewiesen werden.

Auch in Deutschland steigen bekanntlich die Zahlen. Die Öffnung der Wirtschaft und die Arbeitsbedingungen in den Betrieben stellen auch hier ein Gesundheitsrisiko dar, das Kapital und auch Corona-SkeptikerInnen billigend in Kauf nehmen. Kostenlose Testverfahren werden selbst in Deutschland nur wenigen angeboten – oft nur im Zusammenhang mit einem Flugticket.

Wir werden an dieser Stelle nicht weiter auf die Ideologie und den Irrationalismus dieser kleinbürgerlichen „Bewegung“ eingehen. Wir haben uns damit schon an anderer Stelle, z. B. im Artikel „Das Querfront-Virus“ , auseinandergesetzt.

In den letzten Wochen schien es freilich so, dass die rechte Mobilisierung durch mehrere Faktoren an Zulauf verloren hatte. Erstens hatte die Regierung mit der vollständigen Öffnung der Betriebe, von Schulen, Geschäften, Gaststätten – also mit der Aufhebung aller realen Einschränkungen der Gewerbefreiheit – eine, wenn nicht die zentrale Forderung der Bewegung erfüllt. Zweitens schien sich der obskur faschistische Teil der Bewegung stärker zu isolieren. Drittens hatten sie Gegenmobilisierungen wie in Berlin, vor allem aber die Massendemonstrationen in Solidarität mit Black Lives Matter in den Hintergrund gerückt.

Die Demonstration vom 1. August verdeutlicht freilich, dass es sich dabei nur um eine Momentaufnahme handelte und die Gefahr der Bildung einer reaktionären kleinbürgerlichen Massenbewegung keineswegs verschwunden ist. Und sie wird auch nicht verschwinden, wenn die organisierte ArbeiterInnenbewegung, allen voran die Gewerkschaften und SPD, aber letztlich auch die Linkspartei den nationalen Schulterschluss mit „ihrer“ Regierung suchen, während Millionen in Kurzarbeit einen Vorgeschmack auf Entlassung und massive, dauerhafte Einkommenseinbußen erhalten. Das erleichtert, ja ermöglicht es erst radikalisierten, reaktionären UnternehmerInnen und KleinbürgerInnen wie auch den organisierten Nazis, RassistInnen und VerschwörungstheoretikerInnen, sich als aktive, pseudo-systemoppositionelle Kraft zu präsentieren.

Solcherart stellt die rechte Mobilisierung nicht nur ein Warnsignal an die Linke, an die ArbeiterInnenbewegung dar. Sie unterstreicht auch die Notwendigkeit einer Antikrisenbewegung, die klare klassenpolitische Forderungen aufstellt, sich nicht den Programmen der Großen Koalition und des Kapitals unterwirft und gleichzeitig die Gefahr der Pandemie nicht außer Acht lässt. Dies ist die Aufgabe der Stunde für alle anti-kapitalistischen, internationalistischen und proletarischen Kräfte.

Tag der Freiheit?

Der unheimliche Aufmarsch lief unter dem Motto „Ende der Pandemie – Tag der Freiheit“ durch die Straßen Berlins. Die Parole enthält nicht nur die absurde, allen Fakten widersprechende These vom Ende der Pandemie. Sie bringt nicht nur ein Synonym für den zur individuellen Rücksichtslosigkeit gewordenen bürgerlichen Freiheitsbegriff zum Ausdruck – die Freiheit, alle anstecken zu dürfen.

Der Titel enthält eine weitere Doppeldeutigkeit. Schon in den letzten Monaten waren antisemitische und rassistische Tendenz bei den Mobilisierungen immer deutlicher zu erkennen. Mit Attila Hildmann haben wir den Prototyp eines zum Faschismus tendierenden maroden Kleinbürgers, der, wie seine versuchten Hetzjagden auf „Hooligans gegen Satzbau“ und „Anonymus Deutschland“ zeigten, näher an organisierte FaschistInnen angebunden ist, als er es denkt oder darstellt.

Und ja, „Tag der Freiheit“ ist kein neuer Titel. 1935 wurde der Film Leni Riefenstahls „Tag der Freiheit! – Unsere Wehrmacht“ im Auftrag der NSDAP veröffentlicht. Es war der Abschluss ihres filmischen Dreiteilers an Propaganda für Parteitage der FaschistInnen. Doch selbst wenn die Wahl des Mottos purer Zufall wäre – was angesichts der einschlägig rechten OrganisatorInnen kaum glaubhaft ist –, so wäre die Demonstration weiterhin hoch problematisch und es würde an ihrem zutiefst reaktionären Charakter nichts ändern.

Wer nahm teil?

Doch woher kommen die Kräfte politisch? Veranstaltet wurde die Aktion von Initiative Querdenken 711, die den Protest in Stuttgart organisieren, und der Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand (KDW) rund um Anselm Lenz, die die Mobilisierungen am Berliner Rosa Luxemburg Platz initiierten. Daneben nahmen auch VertreterInnen von NPD, Drittem Weg, Identitärer Bewegung, des Compact-Magazins Jürgen Elsässers, AnhängerInnen des QAnon-Mythos, ReichsbürgerInnen, Teile der Pegida-Bewegung und weitere neurechte bis faschistische Kräfte teil.

Sie stellten mit Sicherheit nicht die alleinige Führung und auch nicht die Mehrheit der sich Versammelten dar, aber sie prägen die Bewegung unzweifelhaft. Darüber hinaus waren auch etliche VertreterInnen der AfD vor Ort erkennbar. Die Mehrheit der sich Versammelnden rekrutierte sich vermutlich aus einem breiten Spektrum, welches von esoterischen ImpfgegnerInnen über SkeptikerInnen, die die Maßnahmen für überzogen halten, bis zu vor dem wirtschaftlichen Ruin stehenden KleinunternehmerInnen und ihren Angestellten reicht.

Während die zweite Gruppe vermutlich mehr Menschen bei einem Großevent auf die Straße bringen kann, so haben wir es bei der ersten mit Neurechten und StrategInnen zu tun, die die bunte Bandbreite von wirren Restbeständen der Friedensbewegung bis zu AnhängerInnen des Deutschen Kaiserreiches ausnutzen, um Heterogenität und Pluralismus vorzugaukeln. Deren wahrer Charakter offenbart sich darin, dass sich FaschistInnen in ihrem Fahrwasser aufbauen können. Das reale „Spannungsfeld“ der Bewegung zeigt sich letztlich darin, dass der kleinbürgerlich-unternehmerische Flügel auf ein  Programm der wirtschaftlichen und „kulturellen“ Öffnung pocht, das jedwede Rücksicht auf die gesundheitlichen Risiken für die Bevölkerung ablehnt und damit ganz nebenbei die Lockerungsmaßnahmen der Regierung stützt. Andererseits erleben wir hier eine Bewegung, die die Gefahr des Aufstiegs reaktionärer Kräfte in dieser Krisensituation aufzeigt.

Dass auch vereinzelt „linke“ Kräfte präsent waren, die aus dem Spektrum der Friedensbewegung zu kommen scheinen, macht die Sache nicht harmloser, sondern nur umso bedenklicher. Sie bilden schließlich kein Gegengewicht zu den Rechten, sondern entpuppen sich als deren nützliche IdiotInnen. Waren Formate wie Rubikon und NachDenkSeiten inhaltlich bereits vor Corona an einigen Punkten problematisch, so beschleunigt sich ihr politischer Verfall massiv, während die „Rote Fahne“-Gruppe zunehmend als bewusste Querfrontlerin in Erscheinung tritt.

Dieser Zusammenschluss bildet eine gefährliche Mischung, die tatsächlich lieber im Giftschrank hätte bleiben sollen. Es zeigt uns, unter welchem politischen Vorzeichen wir in diese Krisenperiode gerutscht sind, unter dem eines gesellschaftlichen Rechtsrucks als Folge der Niederlagen des Arabischen Frühlings und der Bewegung in Griechenland, des Aufstiegs des Nationalismus und der Krise der EU sowie der zugespitzten imperialistischen Konkurrenz – bei gleichzeitigem politischen Bankrott der Linken.

Im August 2020 erleben wir das Zusammengehen von Pegida und der Anti-Hygienebewegung, einen Schulterschluss unter Zwillingen. Eine repräsentiert den Rechtsruck des letzten Jahrzehnts in Deutschland, die andere das Gefahrenpotential der aktuellen Periode des Klassenkampfes, wenn die ArbeiterInnenbewegung keine klassenkämpferische Antwort für die Massen zu geben vermag.

Wer und wie viele?

Das genau zu beantworten, ist fast unmöglich. Zwar gab es Ortsschilder, die auf der Versammlung in die Luft gehalten wurden. Aber um wirklich abschätzen zu können, wie viele der sich versammelnden aus dem rechten Spektrum kommen, wie viele durch die Anti-Hygienedemonstrationen politisiert wurden, dafür wäre eine ausführlichere Recherche nötig. Laut Junger Welt kam ein großer Teil der sich Versammelnden aus Baden-Württemberg und Sachsen.

Die Zahlen der TeilnehmerInnen gehen weit auseinander, von 17.500 bis zu reichlich phantastischen 1,5 Millionen. Hierzu muss einiges gesagt werden, aber es ist mit Sicherheit nicht die Hauptfrage, die die Linke beschäftigen sollte. Selbst wenn es „nur“ 17.500 Menschen waren, so ist das die größte Berliner Mobilisierung von rechts in diesem Jahr. Was die Hauptstadt betrifft, so ist sie vergleichbar mit der Black-Lives-Matter-Kundgebung im Juni am Berliner Alexanderplatz, bei der mindestens 20.000, wahrscheinlich sogar über 30.000 Menschen protestierten.

Ein Artikel vom Volksverpetzer vom 2. August kalkuliert eher mit 17.000 Menschen, ähnlich den Polizeiangaben. Dabei legt er die Grundfläche der Abschlusskundgebung den Berechnungen zugrunde und geht von einer durchschnittlichen Mensch-Flächen-Dichte von einer Person pro Quadratmeter aus, was 17.000 Menschen ergibt. Für seine Berechnungen zieht er außerdem Vergleiche mit den Bildern der Loveparade von 1999, bei der 1,4 Millionen Menschen auf der Straße des 17. Juni waren.

Hiermit zeigt er eindrucksvoll, wie viel größer die letztere Veranstaltung war. Persönlich war der Autor bei keiner der beiden vor Ort, hält jedoch das Verhältnis von einer Person pro Quadratmeter für etwas viel Platz über die gesamte Strecke, aber selbst bei 0,75 oder 0,5 Quadratmeter pro Menschen wären es lediglich knapp 23.000 beziehungsweise 34.000 TeilnehmerInnen.

Für die Teilnehmenden und ihre Chatgruppen wird die Zahlendebatte irrelevant, halten sie doch jedwede Berichterstattung gegen sie für gleichgeschaltet. Das zeigen auch die Einschüchterungsversuche gegenüber der Presse vor Ort. Mehrere Fernsehteams sahen sich gezwungen, ihre Berichterstattung abzubrechen. Die VeranstalterInnen forderten von jeder teilnehmenden ReporterIn eine Voranmeldung, in der diese unterzeichneten, dass sie stets „wahrheitsgemäß, unparteiisch und vollständig berichten“ – worunter sie ihre eigene „Wahrheit“ verstehen. Wie schon bei den rechten Demonstrationen in Stuttgart wollen diese selbsternannten VerteidigerInnen der Meinungsfreiheit missliebigen JournalistInnen einen Maulkorb verpassen, diese zensieren.

Rücksichtslosigkeit als Programm

Die Darstellung des Corona-Virus schwankt in der Bewegung zwischen der Beschreibung als regulärer Grippewelle und einer bloßen Fiktion einer „globalen, homogenen Elite“ von MultimilliardärInnen wie Bill Gates und der Pharmaindustrie, die die Politik und die Medien gleichgeschaltet hätten. Auch wenn die Einschätzungen auseinandergehen, so finden sie doch ihren gemeinsamen Punkt in der Ablehnung jedweder Einschränkung aufgrund von SARS-CoV-2, seien sie noch so geringfügig wie das Tragen von Mund-Nasen-Masken im öffentlichen (Eng-)Raum.

Die Freiheit, die sie meinen, entpuppt sich als Rücksichtslosigkeit, als blanker Egoismus. Diese Doppelbödigkeit ist der Freiheit im Kapitalismus selbst nicht fremd. Schließlich beinhaltet die Freiheit des Privateigentums, die diesem System zugrunde liegt, die Freiheit der einen, uneingeschränkt wirtschaften zu können, das Elend und die Eigentumslosigkeit anderer auszunutzen – ob im Ausbeutungsverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital oder in der Unterordnung von Gesundheit und Umwelt unter die privaten Profitinteressen. Wir sagen es offen: Diese falsche Freiheit brauchen wir nicht zu verteidigen. Wir tragen MN-Masken, damit die Einschränkung des Virus möglichst erfolgreich sein kann. Auch wenn es uns individuell um ein Quantum unseres üblichen Alltagsverhaltens einschränkt, so ist dies doch notwendige gegenseitige Rücksicht unter den gegebenen Bedingungen (fehlender Impfschutz, keine flächendeckenden Tests auf Infektion und Immunität).

Andererseits dürfen wir nicht dem Trugschluss auf den Leim gehen, dass sich die Existenz von Corona dadurch bestätigt oder falsifiziert, nur weil auf der einen oder anderen öffentlich stattfindenden Massenveranstaltung (k)eine Infizierung stattfindet. Auch auf Demonstrationen und Aktionen treten wir wie alle anderen Linken, die die Gesundheitsfrage – und damit die Lebensinteressen der Bevölkerung – ernst nehmen, dafür ein, Masken zu tragen. Zugleich lehnen wir aber jede politische Einschränkung des Demonstrationsrechts durch die Regierungen ab, weil wir für notwendigen Schutz gegen Gesundheitsgefährdung und die Abwälzung der Krisenkosten auf die ArbeiterInnenklasse alle Mittel des politischen und gewerkschaftlichen Kampfes brauchen werden – ansonsten drohen Massenentlassungen, Verelendung, Wohnungsräumungen etc.

Während sich die Corona-SkeptikerInnen als Opfer der Repression und der Unterdrückung wegen ihres Verstoßes gegen die Hygiene-Vorschriften hinstellen, offenbart das brutale Vorgehen der Berliner Polizei gegen eine Solidaritätsdemonstration mit der/dem von der Räumung bedrohten linken Kneipe/Treffpunkt Syndikat, wo der Staat den/die wirkliche/n GegnerIn ausmacht. Dutzenden TeilnehmerInnen dieser linken Demo gegen Räumung und Gentrifizierung wurden von der Straße geknüppelt, niedergerannt und zum Teil schwer verletzt – und das obwohl sie Masken trugen und auf die Gesundheitsvorschriften achteten. Wenn es um Repression von Protest für fortschrittliche soziale oder politische Anliegen geht, pfeift nicht nur die Berliner Polizei freilich auf Hygiene-Schutz und wird zum doppelten Gesundheitsrisiko.

Natürlich versuchen auch die Corona-SkeptikerInnen, für ihre Mobilisierung solche und andere reale Missstände mit auszunutzen – freilich nur, um sie in eine reaktionäre Gesamtkonzeption einzupassen. Wir werden diese demagogischen Tricks freilich nicht bloß durch Argumente abwehren können. Die ArbeiterInnenbewegung und die Linke müssen ihrerseits die Maßnahmen der Regierung einschließlich ihrer Widersprüche anprangern.

So will die GroKo für UrlauberInnen an Flughäfen verpflichtende Tests einführen. Zwar halten wir das prinzipiell für gerechtfertigt, jedoch stellen sich hier einige Fragen wie: Wer zahlt die Tests? Wer zahlt für mögliche Quarantäneschritte? Ist das dann unbezahlter Urlaub? Kommt das Unternehmen dafür auf? Wieso erhält die Reiseindustrie solche Hilfsmittel, aber der gesamte Pflegebereich nicht? Ein weiteres Beispiel ist der drohende Missbrauch mit notwendigen Einschränkungen des Alltags. So wurden von der Polizei in den letzten Wochen in bereits vier Bundesländern die Anwesenheitslisten von öffentlichen Gaststätten für „Ermittlungen“ missbraucht.

Das zeigt, dass wir niemals blindes Vertrauen in die Einschränkung demokratischer Rechte durch einen bürgerlichen Klassenstaates setzen dürfen. Wir müssen eine unabhängige Perspektive aufzeigen, die sich nicht der Ideologie des notwendigen Übels an allen Ecken und Enden anschließt. Deshalb lehnen wir die Zusammenarbeit der Gewerkschaftsführungen mit den Maßnahmenpaketen der GroKo im Schulterschluss mit den UnternehmerInnenverbänden kategorisch ab. Die selbstauferlegte Friedenspflicht der ArbeiterInnenbürokratie muss politisch bekämpft werden. Die Passivität von Oppositionsparteien wie der Linkspartei darf nicht unkommentiert bleiben. Es ist auch ihr Stillschweigen, das das Erstarken dieser neurechten Bewegung ermöglicht.

Was brauchen wir?

Wir brauchen also eine Bewegung, die Widerstand gegen die Maßnahmen von Staat und Kapital organisiert und gleichzeitig das gesundheitliche Wohl durch von der ArbeiterInnenklasse kontrollierte Hygienemaßnahmen durchsetzt. Eine solche Bewegung muss die falsche Opposition von Querdenken 711, Widerstand 2020 und KDW, die in braunen Gewässern fischen und gefischt werden, ablehnen. Wo nötig, muss sie sich ihnen entgegenstellen. Vor allem müssen wir eine breite Anti-Krisenbewegung aufbauen, die eine klassenpolitische Antwort auf die Krise gibt.

Wir brauchen eine Zusammenführung der verschiedenen sozialen Kämpfe der letzten Monate, z. B. der beeindruckenden Mobilisierungen von BLM und von Kampagnenorganisationen wie Migrantifa oder der Fridays-for-Future-Bewegung, die im September wieder einen internationalen Streik organisieren möchte. Wir müssen betriebliche Aktionen wie gegen die Entlassungen bei Galeria Karstadt Kaufhof miteinander ebenso verbinden wie mit dem Kampf für das Mietmoratorium, die Enteignung der Immobilienkonzerne oder die #LeaveNoOneBehind-Kampagne gegen das Sterben im Mittelmeer.

Die Aufgabe dieser Bewegungen und Kämpfe ist es, gemeinsame Antikrisenbündnisse aufzubauen und eine Großdemonstration im Herbst unter dem Motto „Wir zahlen weder für Krise noch Virus“ zu organisieren. Sie müssen den Druck auf die Gewerkschaften und bürgerlichen ArbeiterInnenparteien erhöhen, mit Koalitionspolitik und SozialpartnerInnenschaft zu brechen. In den vergangenen Monaten haben diese bewiesen, dass sie nicht willens sind, selbstständig solche Bewegungen aufzubauen – wir müssen sie dazu zwingen! Nur so kann der ArbeiterInnenklasse, aber auch auch Teilen des verängstigten KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten gezeigt werden, dass der Widerstand gegen die Rettungspakete fürs Kapital, während ein Großteil der Bevölkerung mit Brotkrumen abgefertigt wird, möglich ist und mit dem Kampf gegen die Gesundheitsgefahr verbunden werden kann und muss.

Wir werden versuchen, nach unseren Möglichkeiten, eine solche Bewegung aufzubauen und fordern alle Organisationen und Parteien, die diese Einschätzung teilen, auf, ihr beizutreten, das Notwendige zur Wirklichkeit werden zu lassen.




Corona-Gefahr und Zunahme häuslicher Gewalt – wie bekämpfen wir sie?

Jonathan Frühling, zuerst erschienen auf arbeiterinnenmacht.de

Oft wird behauptet, die bürgerliche Familie sei ein Ort der
Geborgenheit, des Schutzes und der engsten Solidarität in der
Gesellschaft. Doch hinter dieser trügerischen Fassade verbirgt sich eine
hässliche Fratze, für viele Kinder und Frauen oft tägliche Realität. Um
sich des Ausmaßes häuslicher Gewalt bewusst zu werden, müssen wir nicht
in die Ferne blicken, auf Länder wie Indien oder Kolumbien.

Selbst die Berichte der Bundesregierung belegen, dass in
Deutschland 40 Prozent aller Frauen seit ihrem sechzehnten Lebensjahr physische
und/oder sexuelle Gewalt erleben mussten. Jeder vierten Frau wird dieses
Verbrechen von ihrem eigenen (Ex-)Partner angetan. Alleine in Deutschland
betrifft das jedes Jahr ca. 115.000. Diese Gewalt passiert überwiegend bei den
Opfern zuhause. Der eigene Wohnraum stellt also oft keinen Schutzraum für
Frauen und Kinder, sondern für den Täter dar, indem Unterdrückung und
Gewaltverbrechen vor der Öffentlichkeit verborgen bleiben.

Drohende Zunahme

Während der Corona-Krise sind die Menschen fast
ausschließlich zuhause, haben keinen körperlichen Ausgleich und sind oftmals
frustriert, weil sie in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken. Der reale
Druck auf die Masse der Bevölkerung nimmt zu, wie auch die soziale Isolierung.

Zudem haben viele Betriebe sowie Bildungs- und
Betreuungseinrichtungen ihre Türen momentan geschlossen, was die Situation
weiter verschärft. Das erhöht das Potential für häusliche Gewalt drastisch.
Auch der vermehrte Alkoholkonsum steigert das Aggressionspotential.

Selbst bürgerlich-konservative Zeitungen, wie die Bild oder die FAZ,
sehen sich in dieser Situation genötigt, über das Thema zu berichten.
Wie real eine drohende Zunahme von Gewalt gegen Frauen ist, belegen auch
die Erfahrungen Chinas in den letzten Monaten. Laut einer Pekinger Frauenrechtsorganisation
war die Zahl von Frauen, die sich während der verordneten Quarantäne an
Hilfsorganisationen gewandt haben, dreimal so hoch wie sonst). Ähnliche
Zahlen sind bereits aus Spanien, Italien und Südkorea bekannt und
deshalb auch für Deutschland und andere Länder zu erwarten.

Welchen Problemen sehen sich Frauen und Kinder momentan
ausgesetzt?

Besonders oft sind Frauen von physischer Gewalt betroffen. Einige
Frauen suchen jedoch auch Hilfe, weil sie bevorstehende physische
Angriffe von Familienmitgliedern befürchten. Ein großes Problem ist
darüber hinaus Kontrolle und Stalking über das Internet.

Die immer noch existierende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Familie sieht vor, dass die Frau den größten Teil der Reproduktionsarbeit leisten muss. Dazu gehören die Betreuung und Erziehung der Kinder, Kochen, Putzen und Waschen. Durch die Corona-Krise fällt noch mehr dieser Arbeiten in den privaten Bereich, da fast ausschließlich in der eigenen Wohnung gegessen wird und die Kinder und Jugendlichen zuhause bleiben müssen. Die Schließung von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen hat außerdem dafür gesorgt, dass weibliche Beschäftige aus ihren Jobs gedrängt werden, um zuhause auf die Kinder aufzupassen. Geringverdiener_Innen müssen mit noch weniger Geld über die Runden kommen.

Zudem werden viele Frauen bei der Reproduktionsarbeit
verstärkt kontrolliert und zurechtgewiesen, wenn ihre Partner ebenfalls
überwiegend zuhause sind. Zusätzlich steigt für Frauen der Leidensdruck, weil
sie aufgrund der Krise keine Bekannten treffen können, die ihnen sonst Beistand
leisten würden.

Für Kinder und Jugendliche tun sich ähnliche Probleme auf.
Sie sehen sich den ganzen Tag mit ihren Eltern konfrontiert, deren Regime sie
sich unterordnen müssen. Es fehlt ihnen jeglicher Ausgleich, wie Schule,
sportliche Aktivitäten oder das Treffen von Gleichaltrigen in der Freizeit.
Auch sie sind vermehrt körperlicher Gewalt und Unterdrückung ausgesetzt, was
sich massiv auf ihre körperliche und psychische Verfassung auswirkt.

Inanspruchnahme von Hilfe?

Ein großes Problem ist auch, dass die betroffenen Frauen
während strikter Ausgangsbeschränkungen kaum Hilfsangebote in Anspruch nehmen
können. In Italien sind nämlich z. B. nur die Wege zur Arbeit, zum
Supermarkt oder zum/r Arzt/Ärztin erlaubt. Zudem ist es für die Frauen
schwieriger, eine Beratungsstelle aufzusuchen, wenn der Täter die ganze Zeit
zuhause ist und Bescheid weiß, wie lange die Frau das Haus verlässt.

Frauenhäuser und Beratungsstellen stellen sich vor allem für
die Zeit nach der Corona-Krise auf einen stark erhöhten Andrang ein. Allerdings
sind die Frauenhäuser schon zu „normalen“ Zeiten total überlaufen. Laut der
Istanbuler-Konvention, die die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zum
Kampf gegen Gewalt gegen Frauen verpflichtet und die Deutschland im Oktober
2017 ratifiziert hat, müssten hierzulande 21.400 Betten in Frauenhäusern
bereitstehen. Die geforderten Maßnahmen wurden jedoch nie auch nur ansatzweise
umgesetzt. 

Momentan sind es aber gerade mal 6.800! Deshalb ist es
gängige Praxis, dass Frauen zu ihren gewalttätigen Partnern zurückgeschickt
werden. Auch eine angemessene psychische Betreuung findet unter diesen
Umständen zumeist nicht statt. Im Zug der Corona-Krise wird der Mangel auch
noch dadurch verschärft, dass das Personal nicht überall in voller Besetzung
zur Arbeit erscheint.

Gründe für Gewalt

Allerdings ist der Anstieg von häuslicher Gewalt, wenn
Menschen vermehrt Zeit auf engem Raum verbringen, kein unbekanntes Phänomen.
Die meisten Menschen kennen zumindest den alljährlichen Familienstreit während
der angeblich so besinnlichen Weihnachtszeit. Auch die extremen Formen der
häuslichen Gewalt nehmen während dieser Zeit nachweislich zu.

Die tiefere Ursache der häuslichen Gewalt ist in der
systematischen Unterdrückung der Frauen in der Klassengesellschaft zu suchen.

Im Kapitalismus ist die Trennung von gesellschaftlicher
Produktion und privater Hausarbeit dabei grundlegend – jedenfalls was die Lage
der proletarischen Frauen betrifft. Die Reproduktionsarbeit wird zu großen
Teilen privat verrichtet. Die ungleiche Entlohnung von Arbeiterinnen verglichen
mit Arbeitern manifestiert sich im Gender Pay Gap und damit größerer
finanzieller Abhängigkeit.

Die bürgerliche Familie sowie die geschlechtsspezifische
Sozialisierung sind ebenfalls Mechanismen, um das Unterdrückungsverhältnis
aufrechtzuerhalten und auch im Bewusstsein von Mann und Frau zu reproduzieren.
Obwohl gesellschaftlich, erscheinen sie als „natürlich“. Physische Gewalt, mit
der Frauen eingeschüchtert und gefügig gemacht werden, gehört untrennbar zu
diesem Verhältnis, es stellt dessen gewalttätigen Ausdruck dar.

Forderungen und Perspektive des Kampfes

Der Ausbau von Frauenhäusern und Beratungsstellen ist längst
überfällig und sollte nun das Gebot der Stunde sein. Das schließt auch mit ein,
die Technik und das Personal für eine Ausweitung der telefonischen Beratung zur
Verfügung zu stellen. Damit schnell Erfolge erzielt werden können, sollte
Leerstand, wie z. B. auch nicht ausgelastete Hotels oder Luxusvillen,
requiriert und für diese Zwecke genutzt werden. Frauenhäuser und
Beratungsstellen müssen zudem sofort in die Liste systemrelevanter Berufe
aufgenommen werden – und zwar international.

Das neoliberale Dogma der heutigen Zeit hat den Druck auf
Frauen schon vor der Corona-Krise massiv verschärft. In Deutschland gibt es
z. B. nicht genügend Kita-Plätze, weil der soziale Bereich systematisch
vernachlässigt wird. Auch die Ausweitung des Billiglohnsektors, wie z. B.
die flächendeckende Einführung von Minijobs, hat die ökonomische Situation von
Frauen weiter verschlechtert und deren Doppelbelastung durch Beruf und
Hausarbeit verschärft. Deshalb muss auch für politische Forderungen eingetreten
werden. Gleiches Geld für gleichwertige Arbeit ist dabei natürlich essenziell.
Flächendeckende Kitas und Betreuung nach der Schule würden es Frauen leichter
machen, sich von ihren Männern zu trennen und als Alleinerziehende zu leben.
Mindestlohn, höheres Arbeitslosengeld und günstigerer Wohnraum sind deshalb
auch wichtig.

Um diese Forderungen an den Staat durchzusetzen, darf es
aber nicht bei Appellen bleiben. Wir müssen schon selbst aktiv werden und eine
Bewegung aufbauen, die diese Ziele auch durchsetzen kann.

Ein wichtiger Aspekt wird dabei auch die Bildung von Schutzstrukturen sein, die vor allem von lohnabhängigen Frauen gebildet werden und von der Arbeiter_Innenbewegung – von Gewerkschaften, linken Parteien und Organisationen – initiiert und unterstützt werden sollen. Dies wäre ein wichtiger Schritt, um entschieden gegen gewalttätige Männer vorgehen zu können. Solidarische Männer sollen solche Initiativen natürlich unterstützen. Auf eine Polizei, die Hilferufe von Frauen bekanntermaßen ignoriert, ist nämlich kein Verlass.

An dem hier behandelten Thema zeigt sich auch, wie wichtig
es ist, dass die Lohnabhängigen für entschiedene Maßnahmen gegen die
Corona-Krise eintreten und dabei eigene Kontrollorgane zur Umsetzung und
Überwachung dieser Forderungen schaffen. Denn nur, wenn die Bevölkerungsmehrheit
diese kontrolliert, kann dafür gesorgt werden, dass die getroffenen Maßnahmen
uns Lohnabhängigen zugutekommen.

Die Regierung verfolgt dagegen vor allem das Ziel, mit ihrem
600 Milliarden Euro (!) schweren Rettungsschirm die Liquiditätsprobleme der
Unternehmen zu lösen. Das zeigt sich z. B. auch daran, dass nur ein
kleiner Teil dieses Geldes für einen Ausbau des Gesundheitssystems eingesetzt
werden soll. Zudem wäre eine politische Beteiligung nur logisch, da das Geld
letztlich aus unseren Steuerzahlungen stammt bzw. die Kredite mit unseren
Steuern zurückbezahlt werden müssen. Aber wie immer bleibt die deutsche
„Demokratie“ nur eine Farce. Wir müssen uns deshalb aktiv dafür einsetzen, dass
der  Corona-Rettungsschirm nicht
Großkonzernen, sondern z. B. von Gewalt betroffenen Frauen zugutekommt.

Letztlich lässt sich das Patriarchat und damit die Gewalt
gegen Frauen aber nur überwinden, wenn die Reproduktions- und Sorgearbeit
vergesellschaftet und von beiden Geschlechtern gleichermaßen erledigt wird. Der
Kapitalismus jedoch profitiert davon, wenn diese gesellschaftlich sehr wichtige
Aufgabe von Frauen privat und vereinzelt innerhalb der bürgerlichen
(Klein-)Familie verrichtet wird. Ihre Überwindung und Ersetzung durch eine
höhere gesellschaftliche Organisation des Zusammenlebens muss deshalb Hand in
Hand mit einer Überwindung des Kapitalismus gehen. Das würde auch dazu führen,
dass Frauen sich gleichermaßen wie Männer auf ihre berufliche Laufbahn
fokussieren können. Dafür brauchen wir eine sozialistische, proletarische
Frauenbewegung als Teil einer antikapitalistischen Bewegung.

Notruf

Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ (Rund um die Uhr, anonym, in 18 Sprachen): 08000 116 016

Hilfetelefon „Sexueller Missbrauch“ (montags, mittwochs und
freitags von 9 bis 14 Uhr sowie dienstags und donnerstags von 15 bis 20 Uhr): 0800
22 55 530




Frauen und Krise – Great crisis rises up

Leonie Schmidt, Revolution Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Die Welt ist in Aufruhr. In vielen Ländern wie zum Beispiel in Chile, im Libanon oder im Irak existieren Volksbewegungen, die sich Angriffen auf die Arbeiter_Innenklasse oder korrupten Regierungen widersetzen. Das Wachstum der Weltwirtschaft verlangsamt sich und die Angst vor einer erneuten weltweiten Rezession steigt an. Des Weiteren steigen die Spannungen zwischen großen imperialistischen Mächten wie, besonders zwischen den USA und China, und drücken sich durch Schutzzölle auf Stahlteile und Einzelteile für Smartphones etc. aus.

 Politisch-ökonomische Weltlage

2019 befand sich die Weltwirtschaft kurz vor einer Phase der Rezession. Rückgang bzw. Stagnation des Profits im Vergleich zu vorherigen Jahren waren allgegenwärtig. Nur wenige Branchen schafften es, eine Profitsteigerung zu erzielen. 11 Jahre seit Ende des letzten globalen Wirtschaftsabschwungs 2008 deutet eine Kombination von Faktoren wie stagnierende oder sinkende Profite, schwache oder rückläufige Investitionstätigkeit in Kapitalausrüstung, zunehmende Firmenverschuldung, Protektionismus und Handelskriege darauf hin, dass ein erneuter Konjunktureinbruch nicht mehr fern ist.

Besonders hart traf es das verarbeitende Gewerbe (Baugewerbe, Industrie und Handwerk) deren Geschäftsmanagerindex (PMI) weltweit unter 50 fiel. Dieser gilt als Schwellenwert zwischen Expansion und Kontraktion. In Deutschland lag dieser bei 40, in den USA und China knapp über 50. Der Dienstleistungssektor hingegen schaffte es, weiterhin seinen Profit zu steigern. So verhalf dieser Griechenland, das BIP immerhin um 2 % zu steigern. Laut Analyst_Innen von JP Morgan verlangsamte sich das gesamte Wachstum der Weltwirtschaft in 2019 aber stark, alle 10 Wirtschaftssektoren waren davon betroffen. Des Weiteren sank die Mehrwertrate, da die Lohnkosten nicht durch Gewinne kompensiert werden konnten.

Das Wachstum der Industrieländer als Gruppe dürfte bis 2020 auf 1,4 % sinken, was auch auf die anhaltende Schwäche des verarbeitenden Gewerbes zurückzuführen ist. Das Wachstum in Schwellen- und Entwicklungsländern dürfte sich in diesem Jahr auf 4,1 % beschleunigen. Es wird aber nur von einer verbesserten Leistung einer kleinen Gruppe großer Volkswirtschaften ausgegangen, von denen einige aus einer Phase erheblicher Schwäche hervorgehen.

Etwa ein Drittel der Schwellen- und Entwicklungsländer (wir bezeichnen diese als Halbkolonien) wird in diesem Jahr voraussichtlich zurückfallen, da sich Exporte und Investitionen schwächer entwickeln. Es wird erwartet, dass sich das US-Wachstum in diesem Jahr auf 1,8 % verlangsamt, was die negativen Auswirkungen früherer Zollerhöhungen und der erhöhten Unsicherheit widerspiegelt. Das Wachstum des Euroraums dürfte im Jahr 2020 aufgrund der schwachen industriellen Produktivität auf 1 % nach unten fallen. Die Erwerbslosenzahlen 2019 in der EU liegen bei 16 Millionen (6,3 %) und haben damit erst gerade das Vorkrisenniveau 2007 (7,1 %) unterschritten Die BRD weist zwar das höchste Erwerbstätigkeitsniveau seit der Wiedervereinigung auf), doch diese Jobs werden immer unsicherer und prekärer.

Allerdings beruhen diese Zahlen auf ungewissen Faktoren und können sich auch noch verschlechtern, besonders relevant sind hier Wirtschaftskriege und Spannungen oder ein stärkerer Einbruch des Profits in den bedeutenden Volkswirtschaften, der auf andere überschwappt.

Vorhersagen

Die Vorhersagen der großen Wirtschaftsanalyst_Innen für 2020 fallen aber allesamt recht positiv aus. Zumindest soll sich die Weltwirtschaft stabilisieren und etwas erholen, Risiken bleiben aber weiterhin vorhanden. Es wird vom IMF mit einem Weltwirtschaftswachstum von 3,5 % gerechnet, also einem leichten Anstieg im Gegensatz zu 2019, welcher mit 3,2 % vorhergesagt wurde. Die Weltbank hingegen geht nur von einem Wachstum bis 2,5  % aus.

Die mild optimistischen Vorhersagen der Analyseinstitute für 2020 berufen sich auf der negativen Entwicklungskurve der Weltwirtschaft entgegenwirkende Faktoren. So konnte ein rezessiver Einbruch der größten Volkswirtschaften bei Produktion und Investitionen 2019 vermieden werden – zum Preis niedrigen BIP- und Produktivitätswachstums. Die globalen Finanzierungskosten befinden sich auf historischem Tiefstand teils aufgrund der Zentralbankpolitik des „billigen Geldes“ (Nullzins, Quantitative Easing), aber auch aufgrund geringer Kreditnachfrage durch Staat und Kapital als Folge ausbleibenden Investments. Aktien- und Wertpapiermärkte erreichen dagegen ein ungeahntes Hoch. Die Arbeitslosenzahlen bleiben im Gegensatz zur Großen Depression der 1930er Jahre niedrig.

Der zugrunde liegende tendenzielle Fall der Profitrate muss über kurz oder lang die entgegenwirkenden Ursachen übertrumpfen. Der Ausbruch einer neuen Krise wird umso sicherer erfolgen, weil die Geldpolitik darin versagt hat, die Wachstumsraten von vor 2007 wiederherzustellen. Die letzte Dekade sah die längste Zeit ohne Rezession, aber auch die mit dem schwächsten Wirtschaftsaufschwung nach einer solchen. Keynesianisches Gegensteuern durch gesteigerte Staatsinvestitionen (und –schulden) hatte bereits in den Konjunkturkrisen zuvor versagt und wird diesmal auf die Barriere der schwindelerregend gestiegenen Budgetverschuldung stoßen.

Handelskrieg USA-China

Die größten Sorgen bereitet den Analyst_Innen der Handelskrieg zwischen den USA und China. Dieser war 2019 stark eskaliert und führte zu Abstürzen auf beiden Seiten. China haben die Sanktionen und Strafzölle auf Importwaren in die USA bereits 35 Milliarden US-Dollar gekostet. Für die USA erhöhten sich die Produktionskosten massiv und es wurden zwar neue Jobs in der Stahlindustrie erschaffen, wie von Trump versprochen, allerdings zu viel schlechteren Bedingungen und für viel weniger Lohn.

Trumps Ziel war also nie, die US-amerikanische Stahlproduktion zu stärken, sondern von Anfang an, der Konkurrenz eine Warnung zu verpassen. Denn Chinas Wirtschaft ist in den letzten Jahren massiv gewachsen und stellt die größte Gefahr dar. Gerade im Bereich von IT und Hochtechnologien ist es Vorreiter und mit vielen anderen Wirtschaften vernetzt. So lag Chinas Wirtschaftswachstum 2018 bei 6, 57 %, das der USA nur bei 2,93 %. Berichten zufolge hatte China zugestimmt, landwirtschaftliche Waren der USA im Wert von 50 Mrd. USD zu kaufen, während die USA anboten, die bestehenden Zölle für chinesische Waren um bis zu 50 % zu senken. Der Konflikt ist somit also keinesfalls beigelegt, allerhöchstens kurzzeitig entschärft. Eine erneute Verschärfung kann aber zu massiven Einstürzen im Welthandel führen.

Kampf um die Neuaufteilung der Welt

Der Handelskrieg zwischen den USA und China trägt allerdings auch noch ein geopolitisches, militärisches Markenzeichen, denn als neu wachsender Imperialist muss China natürlich die Vormachtstellung des US-Imperialismus global angreifen. Die chinesische Armee hat sich in einen Rüstungswettlauf mit den USA gestürzt. Die Eskalation im Konflikt zwischen den USA und dem Iran, einer zunehmend selbstsicheren Regionalmacht, verkörpert eine weitere drohende Gefahr.

Beide hängen miteinander zusammen, denn der Iran und China führen eine gute Handelsbeziehung. So gingen 27,4 % der Exporte des Irans nach China, 27,8 % der Einfuhren kommen daher. Öl, Gas und auch die Relevanz des Irans in Chinas „Seidenstraßenprojekt“ spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Der Rückgang des Welthandels und der Investitionstätigkeit hat besonders die sog. aufstrebenden Ökonomien getroffen. Deren Wachstum war in den letzten 6 Jahren fast überall niedriger als in den 6 Jahren vor Ausbruch der letzten Rezession. In Brasilien, Russland, Argentinien, Südafrika und der Ukraine gab es gar keines.

Von 2010–2018 nahm das Verhältnis von Auslandsverschuldung zum BIP der Entwicklungsländer um mehr als die Hälfte auf 168 % zu – ein schnellerer jährlicher Anstieg als während der Schuldenkrise Lateinamerikas. Laut Schuldenreport der Weltbank 2020 befinden sich 124 von 154 erfassten Ländern im kritischen Bereich kurz vor der Staatspleite, 2 mehr als im Vorjahr. 60 % dieser Länder stehen vor einer schlimmeren Situation als 2014.

Entscheidend für die Weltordnung wird also die Konkurrenz zwischen der aufstrebenden imperialistischen Großmacht China und den USA um die Weltherrschaft werden. Ihr Ringen wird den regionalen Auseinandersetzungen immer mehr ihren Stempel aufdrücken. Die Gefahr des Ausbruchs eines III. Weltkriegs wächst.

Wen trifft es besonders hart?

Es ist „natürliche“ kapitalistische Logik, dass in Zeiten der Rezession die sinkenden Profite durch Entlassungen, Kürzungen von Arbeitszeit und Lohn und andere Angriffe auf die Arbeiter_Innenklasse wie beispielsweise Rentenreformen aufgefangen werden sollen. So zum Beispiel aktuell in Frankreich, wo Macron mit seinen neoliberalen Reformen das Renteneintrittsalter auf 64 anheben möchte oder in Chile, wo die Regierung eine Erhöhung der Preise für öffentliche Verkehrsmittel durchsetzen wollte, aber daraufhin mit Massenprotesten konfrontiert wurde.

Die Krise wird auf dem Rücken der Arbeiter_Innenklasse ausgetragen. Jedoch trifft es hier besonders Frauen. Mit der Krise 2007/08 wurden Teilzeitjobs und Leiharbeit stark ausgebaut, damit die Kapitalist_Innen ihren Profit dennoch weiter vermehren können und zur Not ohne viel Aufwand die Arbeiter_Innen entlassen können, wenn die nächste Rezession einsetzt.

In den imperialistischen Ländern sind sie häufig von Arbeitslosigkeit und unsicheren, prekären Beschäftigungsverhältnissen geplagt. So arbeiten in Deutschland 2019 30,5 % Frauen in solchen „atypischen“ Verhältnissen, aber nur 12,2 % der Männer. Das wird als freiwillige Entscheidung für mehr Familien- oder Freizeit beispielsweise vom Bundesamt für politische Bildung gewertet, ist aber reine Ideologie, denn die unentgeltliche Reproduktionsarbeit fällt überwiegend den Frauen zu. So wird auch ausschließlich von Frauen erwartet, Job und Familie zu verbinden, und sie sind gezwungen, Teilzeit oder unsichere Jobs zu akzeptieren, wenn sie Kinder großziehen.

Auch Frauen in Halbkolonien (wie bspw. Indien oder Pakistan) sind oft im prekären Bereich beschäftigt. Hier variieren die Zahlen je nach Land zwischen 45 %-76 %. Die Beschäftigung findet hier auch oft im informellen Bereich statt, wo angemessene Bezahlung, Schwangerschaftsurlaub, eine sichere Arbeitsumgebung oder gar gewerkschaftliche Organisierung zurzeit undenkbar sind. Viele dieser Frauen arbeiten in Textilfabriken (in welchen für H&M, Primark und Co produziert wird), in sogenannten Sonderwirtschaftszonen, in denen sie für einen Hungerlohn ausgebeutet, teilweise eingesperrt und zur Arbeit gezwungen werden. Auf Sicherheit wird kaum geachtet. Oftmals kommt es zu Gebäudeeinstürzen oder Fabrikbränden neben dem Umgang mit gefährlichen Chemikalien ohne wirkliche Schutzkleidung.

Weltweit sind Frauen besonders von Armut betroffen. Demnach leben 5 Millionen mehr Frauen als Männer in extremer Armut. Des Weiteren sind mehr Frauen von Altersarmut betroffen. In Deutschland sind es 20 % der Frauen, aber nur 15 % der Männer. Das erklärt sich durch geringeren Lohn während der Arbeitszeit und Unterbrechungen zum Großziehen der Kinder.

Noch immer ist es Frauen laut UNO in 104 Ländern nicht erlaubt, bestimmte Berufe auszuüben. In 18 Ländern können Männer ihren Ehefrauen grundsätzlich verbieten zu arbeiten. So müssen Frauen in Saudi-Arabien beispielsweise für die Ausübung bezahlter Arbeit generell die Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen. So spiegelt sich auch die finanzielle Abhängigkeit der Frauen wider, da sie sowohl in imperialistischen als auch in halbkolonialen Ländern nach wie vor weniger Lohn erhalten als Männer. In Deutschland sind es beispielsweise 21 %, 17,3 % in Großbritannien, in Pakistan hingegen 34 %.

Der Kampf um finanzielle Gleichstellung ist also weltweit keineswegs abgeschlossen. Aber selbstverständlich gibt es auch andere Bereiche, in denen Frauen strukturell benachteiligt werden. So kam es mit der Krise 2007/08 auch zu einem Anstieg nationalistischer Gefühle, da die Mittelschichten der imperialistischen Länder sich vor einem sozialen Absturz und dem Verlust ihrer Privilegien fürchteten. Um reaktionäre Angriffe und die Stärkung der nationalen Wirtschaft zu fördern, wurden fremdenfeindliche und chauvinistische Ideologien geschürt.

Diese sorgten auch für ein Rollback bei Frauen- und LGTBIA-Rechten. So beispielsweise der Versuch der weiteren Illegalisierung von Abtreibungen, aber auch das Aufbegehren der Rechten gegen das „Gendermainstreaming“ (die Integration der Gendergleichstellungsperspektive in politische Prozesse, wie von der Weltfrauenkonferenz in Nairobi 1985 festgelegt).

Dadurch kam es auch zu vermehrten gewalttätigen und sexualisierten Angriffen auf Frauen sowie auch auf die körperliche und sexuelle Selbstbestimmung. So erleben auch mehr Frauen Gewalt in Beziehungen als Männer und werden auch häufiger von ihrem (Ex-)Partner ermordet. Voruntersuchungen zu einer Studie der WHO zeigen, dass 35 % der weltweiten Morde an Frauen von Intimpartnern begangen werden, aber nur 5 % aller Morde an Männern von ihren Partnerinnen. Gemeinsamer Kampf gegen Ausbeutung und für Frauenbefreiung

Gemeinsamer Kampf gegen Ausbeutung und für Frauenbefreiung

Die Auswirkung der Krise, die Ausbeutung der Arbeiter_Innenklasse und die Unterdrückung der Frau stehen also in einem engen Verhältnis zueinander und bedingen sich teils gegenseitig. Um genug Widerstand aufbauen zu können, ist es daher wichtig, auch die männlichen Proletarier für den Kampf zur vollständigen Frauenbefreiung zu gewinnen. Gegen die kommende Krise muss sich die Gesamtklasse in Stellung bringen, ein revolutionäres Antikrisenprogramm annehmen. Um unsere Stärke und Fähigkeit zu steigern, müssen wir in alle ökonomischen und sozialen Kämpfe intervenieren, um ihre Vorhut für unsere Reihen zu gewinnen. Dieses Aktionsprogramm muss auch Antworten auf das Rollback gegen die Rechte der arbeitenden Frauen geben.

Gleichzeitig muss es aber eigene Strukturen (sog. Caucuses) innerhalb der Arbeiter_Innenbewegung (z. B. in Gewerkschaften) für Frauen geben, da sie einer doppelten Unterdrückung und spezifischen Formen sexistischer Diskriminierung unterliegen Das Gleiche trifft auf ebenso auf andere Unterdrückte (Jugendliche, MigrantInnen usw.) zu. Denn so revolutionär eine Bewegung oder eine Partei auch sein mag, niemand ist frei von im Kapitalismus erlernten Unterdrückungsmechanismen und auch in den eigenen Strukturen müssen diese diskutiert und bekämpft werden.

 Dennoch kann aber nur ein gemeinsamer internationaler Kampf der gesamten Arbeiter_Innenklasse für eine Befreiung aller Unterdrückten sorgen, der sich gegen den Kapitalismus stellt und für eine sozialistische Revolution eintritt, da die Abschaffung der unbezahlten Reproduktionsarbeit, welche unüberwindbar mit dem Kapitalismus vereint ist, ihre vollständige Sozialisierung und Aufteilung auf alle Geschlechter im Interesse der gesamten ArbeiterInnenschaft liegt, auch wenn unterm Kapitalismus ihr weiblicher Teil jene weit überwiegend verrichtet.

Wir als Marxist_Innen treten daher für eine internationale multi-ethnische, proletarische Frauenbewegung ein mit dem Recht auf gesonderte Treffen in Arbeiter_Innenorganisationen wie Gewerkschaften. Deshalb müssen diese auch massiv unter den prekär Beschäftigten rekrutieren und dürfen sich nicht auf die Verteidigung der relativ privilegierten, ausgebildeten und sicherer beschäftigten (arbeiter_innenaristokratischen) Schichten beschränken.

Daher fordern wir:

  • Gleiche Rechte für Frauen bei Wahlen, auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungswesen, an allen öffentlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen!
  • Für ein Programm gemeinnütziger öffentlicher Arbeiten mit Vollzeitstellen und auskömmlichen Tariflöhnen für Frauen, bezahlt aus Unternehmerprofiten und Vermögensbesitz!
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Mindestlohn für alle Frauen, um ein Mindesteinkommen zu sichern, das die Reproduktionskosten deckt und ein Leben ohne Abhängigkeit vom (männlichen) Partner erlaubt!
  • Arbeitsschutz in allen Produktionsstätten! Für das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung, wo es bisher verboten ist!
  • My Body, my Choice: Für das vollständige Recht auf Abtreibung ohne Fristen und Mindestalter, sexuelle Selbstbestimmung und das Prinzip des sexuellen Konsenses! Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln!
  • Kostenloser Zugang zu Gesundheitsversorgung, Pflegeeinrichtungen, Krankenversorgung und gesicherte Renten für alle Frauen! Wir fordern kostenlose und bedarfsorientierte Kinderbetreuung, öffentliche Kantinen und Wäschereien – um eine gesellschaftliche Gleichverteilung der Reproduktionsarbeiten auf alle Geschlechter sicherzustellen!
  • Um Frauen aufgrund ihrer Doppelbelastung durch Erwerbstätigkeit und Reproduktionsarbeit eine politische Teilnahme zu erleichtern, treten wir zudem für eine Vergesellschaftung sämtlicher Haushalts-, Sorge- und Reproduktionsarbeiten ein!
  • Recht auf Scheidung auf Wunsch! Ausbau und Sicherstellung von Schutzräumen für Frauen (wie z. B. Frauenhäuser)!
  • Kostenlose, kollektive Selbstverteidigungsstrukturen, um es Frauen zu ermöglichen, sich selbst vor Übergriffen zu schützen, unterstützt von Frauen- und Arbeiter_Innenbewegung!