Wahlen Türkei: Erdoğan verliert!

von Dilara Lorin, April 2024, zuerst erschienen in der Arbeiter:innenmacht Infomail 1250

Die Kommunalwahlen in der Türkei vom 31. März endeten mit einem Sieg der CHP als stärkste Kraft, während die AKP eine Niederlage hinnehmen musste. Von insgesamt 81 Bürgermeisterämtern errangen die CHP 31 und die AKP 24. Die CHP gewann auch in den fünf größten Städten des Landes, darunter Istanbul, Ankara und Izmir. Nach Wahlerfolgen in diesen Städten äußerte Erdoğan einst: „Wer Istanbul und Ankara gewinnt, hat das Land in der Hand.“ Heute, einige Kommunalwahlperioden später, hat sich die Situation jedoch geändert und der „Große Mann am Bosporus“ hat an Macht verloren. Dabei kommt der Erfolg der CHP für viele Menschen unerwartet.

Nur wenige Monate, nachdem Erdoğan am 28. Mai zum Präsidenten des Landes gewählt wurde, scheint seine Popularität zu schwanken und das Volk scheint ihn und die aktuelle Politik abzustrafen. Insbesondere der wiederholte Erfolg von Ekrem İmamoğlu (CHP) in Istanbul, mit einem größeren prozentualen Abstand als davor, hat die Unbesiegbarkeit der AKP erschüttert.

Unmut in der Bevölkerung

Die wirtschaftliche Lage hat sich in den letzten Jahren kaum erholt. Die Coronapandemie, das Erdbeben vom 6. Februar im letzten Jahr, die globale Wirtschaftskrise und der Einbruch der Baubranche in der Türkei sowie die fatale Wirtschaftspolitik und Instabilität Erdoğans haben dazu beigetragen. Im Februar belief sich die Inflationsrate auf 67 %. Grundnahrungsmittel sind für einen Großteil der Arbeiter:innen kaum noch erschwinglich.

Die anhaltend schlechte Wirtschaftslage in der Türkei trifft insbesondere die Mittelschicht und führt zu einer verstärkten Prekarisierung von Arbeiter:innen und Arbeitslosen. Während des Wahlkampfes spricht Erdoğan in seinen Reden von einer starken Wirtschaft und einer positiven Zukunftsaussicht. Allerdings wird bei genauerer Betrachtung der Zahlen eine Tendenz immer deutlicher: Die Armut nimmt mit jedem Monat zu. Der aktuelle Mindestlohn von 17.000 TL (487 Euro) liegt bereits unter der Armutsgrenze von 20.098 TL für eine vierköpfige Familie. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein/e Alleinverdiener:in aufgrund der seit fünf Jahren steigenden Kosten für Nahrungsmittel nicht mehr in der Lage ist, eine Familie zu ernähren.

Der Anteil der Menschen, die unter der Hungers- und Armutsschwelle leben müssen, ist im März, im Monat der Kommunalwahlen, um 5,9 % bzw. 11 % angestiegen. Dabei stellt die Hungerschwelle die Minimumausgaben für Lebensmittel einer vierköpfigen Familie dar, wenn diese sich ausgewogen ernähren soll; die Armutsschwelle ist eine Kennzahl, welche die Minimalausgaben einer vierköpfigen Familie beschreibt. Diese alarmierende Nachricht wurde im März von der Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Birlesik Kamu-is Konfederasyonu veröffentlicht. Eine wichtige Wählerbasis für Erdoğan und die AKP waren unter anderem auch Rentner:innen, deren Lage sich ebenfalls verschlechtert hat. Laut der Gewerkschaft DISK liegt die Durchschnittsrente bei einem Sechstel im Vergleich zu den Renten in den zentraleuropäischen Ländern. Im Vergleich zum Mindestlohn war die Rente in der Türkei im Jahr 2002 noch um 22 % höher. Im Jahr 2023 lag sie jedoch etwa 26 % darunter.

Aber auch die Konkurrenz von rechtskonservativer Seite führte zur Niederlage der AKP. Die Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei), die in der Vergangenheit vor allem den religiösen Teil der Bevölkerung, der sich aufgrund der wirtschaftlichen Misere zunehmend von der AKP abwandte, für sich gewinnen konnte, erhielt 6 % der Stimmen und gewann die Wahlen in den Städten Yozgat und Sanliurfa. Dabei war die Yeniden Refah Partisi bei den Präsidentschaftswahlen noch Teil von Erdoğans „Volksallianz“, entschied sich bei diesen Wahlen jedoch, eigene Kandidat:innen aufzustellen, nachdem in Gesprächen mit der AKP anscheinend keine Kompromisse gefunden wurden. Auch Kandidat:innen, die aus der AKP ausgetreten sind oder auf deren Listen keinen Platz erhalten haben, lassen sich auf denen der YRP wiederfinden. Somit ist es nicht verwunderlich, dass enttäuschte Wähler:innen der AKP zur YRP übergehen, wenn sie nicht die CHP wählen. Dabei ist es auch die YRP gewesen, die unter anderem im Parlament die AKP und ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel anprangerte und dadurch auch viele Stimmen gewann, die sich aus islamischer Hinsicht mit dem palästinensischen Volk solidarisieren.

DEM – ein Jubelschrei der Kurd:innen wird laut

Die DEM-Partei (Die Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie), welche vor Dezember 2023 noch HEDEP (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker), davor HDP (Demokratische Partei der Völker) hieß, gewann vor allem in den kurdischen Provinzen. Dabei konnten in 10 Bezirken Bürgermeisterämter geholt werden, wobei sie dadurch zur viertstärksten Kraft des Landes wurde. In über 65 Landkreisen, Bezirken und Gemeinden konnte sich DEM als die stärkste Kraft etablieren. Eine große Freude breitete sich vor allem in den kurdischen Gebieten über den Sieg aus, der trotz erzwungener Umbenennung der Partei, starker Repressionen, Haftstrafen, Einschüchterungen und Verbotsverfahren zu einer Stärkung und Ausweitung der Stimmen für sie geführt hat.

In Manisa, Mersin und Izmir sowie in vielen Bezirken Istanbuls und anderen Orten hat die DEM-Partei keine Kandidat:innen aufgestellt, nachdem Gespräche mit der CHP bezüglich der Wahl geführt wurden. Diese Orte sind vor allem diejenigen, in denen die CHP stärker vertreten ist. Die Politik der „kleinen Helferin“ ist für die DEM-Partei fatal, da sie der CHP in diesen Gebieten ihre Wähler:innenschaft überlässt. Es war schließlich auch die CHP, die die AKP bei der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten unterstützte, um viele von ihnen, einschließlich des Co-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas, ins Gefängnis zu brachte.

Ein Wolf im Schafspelz: CHP

Die Liste der Unterstützung der Unterdrückung des kurdischen Volkes seitens der CHP ist lang und geht weit in die Geschichte der Türkei zurück. Aufgrund ihrer nationalistischen und bürgerlichen Ausrichtung kann diese Partei keineswegs als progressiv eingestuft werden.

Obwohl es verständlich ist, dass viele Menschen und Arbeiter:innen in der Nacht vom 31.03. auf den 01.04.2024 auf den Straßen waren und die Niederlage der AKP gefeiert haben, so sollte der Sieg der CHP für linke und revolutionäre Kräfte kein Grund zur Freude sein. Die CHP ist bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 durch rassistische und hetzerische Kommentare und Forderungen gegenüber geflüchteten Menschen und Asylbewerber:innen aufgefallen, wobei sie Erdoğan mit der Forderung nach sofortiger Ausweisung von drei Millionen Menschen sogar rechts zu überholen versucht hat.

Im Wahlprogramm für die Kommunalwahlen 2024 wird unter anderem festgehalten, dass Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr von Geflüchteten und Asylbewerber:innen in enger Zusammenarbeit mit „zuverlässigen“ NGOs vorangetrieben werden sollen. Die Stimmungsmache zeigt Folgen: Täglich werden Geflüchtete auf der Straße angegriffen, und diese Taten enden tragischerweise oft in Mord. Die indirekte Wahlunterstützung in einigen Orten, welche die DEM-Partei als linke Opposition der CHP geleistet hat, indem sie keine eigenen Kandidat:innen aufstellen ließ, ist zu kritisieren und zeigt selbst den kleinbürgerlichen Charakter der Politik der DEM.

Aktuelle Erhebungen in Wan und anderen Städten – ein erster Erfolg

Im Vergleich zu den Kommunalwahlen 2019, bei denen die HDP 65 Kommunen gewinnen konnte, konnte sich die DEM behaupten. Nach den Erfolgen vor 5 Jahren wurden jedoch in 48 Kommunen die Bürgermeister:innen von der Regierung abgesetzt und durch AKP-nahe Verwalter:innen ersetzt und dadurch staatlich zwangsverwaltet.

Auch in diesem Jahr wurde der Erfolg der DEM-Partei in den kurdischen Provinzen schon am 2. April seitens der Regierung in Frage gestellt. Schon während der Wahl wurden Wahlbetrug und Wahlfälschung angewandt. Dabei berichtete die DEM noch am selben Tag, dass bis zu 46.000 Staatbedienstete – darunter vor allem Polizist:innen und Soldat:innen – in den kurdischen Gebieten ihre Stimme abgegeben hatten, obwohl diese nicht aus diesen Orten stammen, sondern dahin transferiert wurden, um die Stimmabgabe zu Gunsten der Regierung zu beeinflussen.

Am Morgen des 2. April folgte dann der erste Schlag der Regierung gegen die DEM. In Wan (türkisch: Van) wurde nicht dem gewählten DEM-Politiker Abdullah Zeydan (55 %), sondern dem AKP-Kandidaten Abdulahat Arvas, welcher lediglich 25 % der Stimmen für sich gewinnen konnte, die Ernennungsurkunde überreicht. Zeydan wurden auf Anordnung der türkischen Regierung die Bürgerrechte entzogen, die er erst im vergangenen Jahr wiedererlangt hatte, nachdem er 2016 als HDP-Abgeordneter verhaftet worden war und fünf Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Wan ist die Provinz, in der die DEM in allen Bezirken die Mehrheit errungen hat, was noch deutlicher macht, dass seit diesem bürokratischen und undemokratischen Akt der AKP die Menschen auf die Straße gehen, um dagegen zu protestieren.

Die DEM-Partei rief richtigerweise kurzerhand zu Protesten auf und erklärte in ihrer Pressemitteilung, dass Respekt vor den Wähler:innen eingefordert werden soll. Der Co-Vorsitzende der DEM-Partei erklärte in einer Ansprache in Wan: „Wan ist das Herz Kurdistans und die Menschen in Wan haben zu Newroz, bei den Wahlen und heute hier auf diesem Platz deutlich gemacht, dass die Forderung der Kurdinnen und Kurden nach Freiheit und Demokratie nicht mit Gewalt und Zwangsverwaltung unterdrückt werden kann. Seit zwei Wahlperioden werden unsere Rathäuser von Treuhänder:innen zwangsverwaltet und jetzt soll ein weiteres Mal der Willen der Bevölkerung mit einem politischen und juristischen Komplott ausgeschaltet werden. Das werden wir nicht zulassen. Dieser Putsch wird keinen Erfolg haben, wenn wir trotz Repression, Knüppeln und Tränengas weiter zusammenhalten. Wir werden die von uns gewonnenen 14 Rathäuser in der Provinz Wan verteidigen.“ Am selben Tag fand eine Sondersitzung des Vorstands der Partei statt, welcher auch der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu beiwohnte. Straßenbarrikaden wurden errichtet und Tausende Menschen folgten diesem Aufruf. Die Geschäfte in Wan blieben größtenteils geschlossen. Der Staat reagiert mit massiver Gewalt und Repression und stürmt das Parteigebäude der DEM. Doch der Protest weitete sich rasch aus: Weitere Städte, darunter Colemêrg (türkisch: Hakkari), Gever (Yüksekova) und Amed (Diyarbakir) schlossen sich dem Ausstand an.

Die Ausweitung der Proteste und der Druck, den sie auf die Regierung ausübten, hatten Erfolg: Noch am Mittwoch, dem 3. April, entschied der Hohe Wahlausschuss, welche zuvor den Kandidaten der AKP zugelassen hatte, über den Einspruch der Partei DEM und beschloss, den Wahlsieger Zeydan anzuerkennen.

Ein Funke ist entfacht

Die Proteste zeigen, dass sich das kurdische Volk seiner Stärke in diesem Land bewusst ist. Sie zeigen aber auch die Schwäche der AKP und ihren mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung. Denn als die Regierung 2016 nach den Kommunalwahlen in den mehrheitlich kurdischen Kommunen die Bürgermeister:innen absetzte und durch eigene Kandidat:innen zwangsverwalten ließ, brachen ebenfalls starke Proteste aus, die jedoch blutig niedergeschlagen wurden. Über die Städte des stärksten Widerstandes wurden Ausgangssperren verhängt, Journalist:innen der Zutritt verweigert und mehr als 200 Menschen ermordet. Der Versuch, den gewählten Bürgermeister der DEM in Wan abzusetzen, ist daher ein Versuch der Demonstration der Unterdrückung und Repressionsmaschinerie. Dass dies innerhalb eines Tages wieder zurückgenommen wurde, zeigt aber auch die Angst vor einer Ausweitung der Proteste und davor, dass der Funke des Aufbegehrens weitere Gebiete erfassen und sich auch über ganz Kurdistan ausbreiten könnte. Dabei sollten die Proteste nicht stehenbleiben, denn die nächsten Wahlen sind erst in 4 Jahren. In der Zwischenzeit kann der Staat trotzdem seine repressiven und unterdrückerischen Handlungen ausüben. Denn eines muss klar sein: kein Vertrauen in staatliche Strukturen!

Die DEM-Partei kann dabei eine tragende Rolle einnehmen und hat als Massenpartei auch die Aufgabe, die aktuellen Proteste auszuweiten. Aufgabe von reformistischen, aber auch radikalen kleinbürgerlichen Parteien ist es dabei nicht, lediglich in Parlamenten und anderen Gremien Sitzplätze zu gewinnen, sondern den Raum der Wahl zu nutzen, um Bewegungen und Forderungen publik zu machen. Sie muss Vorreiterin der aktuellen Proteste sein und diese weiter über das ganze Land ausweiten.

Dabei muss sie aber vor allem versuchen, die Unterstützung der türkischen, progressiven Teile der Arbeiter:innenklasse wieder für sich zu gewinnen, denn die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung hat in den letzten Wahlen stagniert. Gegen die Krisen, die Armut und Unterdrückung müssen Gewerkschaften unter Druck gesetzt werden, um landesweit für ein Sofortprogramm gegen die Preissteigerungen, für einen Mindestlohn und Mindestrenten, die die Lebenshaltung decken, und für eine automatische Anpassung dieser an die Inflation zu kämpfen. Dies muss von Ausschüssen der Gewerkschaften und Lohnabhängigen kontrolliert werden.

Um dieses Ziel umzusetzen, sind politische Massenstreiks (bis hin zum Generalstreik) sowie massive Demonstrationen notwendig, die von lokalen Aktionskomitees organisiert und kontrolliert werden. Gegen die Repression und Provokationen durch Staat und Rechte müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet werden.

Es kann letztendlich nur eine starke Bewegung der Unterdrückten und Arbeiter:innen gegen die zukünftigen  Komplotte der Regierung, die Wirtschaftskrise, Unterdrückung und Armut vorgehen. Um solch eine Bewegung aufzubauen, welche auch in den wirtschaftlich stärkeren Städten im Westen des Landes die Arbeiter:innen und Unterdrückten für sich gewinnt, müssen die DEM und andere linke Parteien und Organisationen anfangen, vermehrt Basisstrukturen in den Städten, an Unis und in Betrieben aufzubauen. Auch die Basis der CHP muss angesprochen werden, um die Politik der Partei zu entlarven, welche mittels Rassismus versucht, die Bevölkerung zu spalten, und deren nationalistische Ausrichtung keine Lösungen bieten kann. Vor allem aber müssen die Gewerkschaften in den Kampf gezogen werden – ihnen kommt eine Schlüsselrolle bei einer wirklichen Konfrontation mit der Regierung zu.

Es braucht außerdem Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten- und Arbeiter:innen, die die Parteigebäude, Rathäuser etc., die von der DEM gewonnen wurden, gegen Repression verteidigen. Die Türkei sitzt schon lange auf einem absteigenden Ast und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung den Druck von Armut, Hunger und Rassismus nicht mehr aushalten kann. Aufflammende Bewegungen gegen die Regierung dürfen aber keine Hoffnung in die CHP vorheucheln und müssen die Unterdrückten des Landes mit den Arbeiter:innen vereinen. Dies kann letztlich nur eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Programms vorantreiben.




Nein zu den reaktionären Angriffen der Türkei – Solidarität mit Rojava!

Von Leonie Schmidt, Oktober 2023

Die Welt schaut gerade nach Israel und betrauert dabei fast ausschließlich die getöteten israelischen Zivilist_Innen, während das Töten palästinensischer Zivilist_Innen als Kampf gegen Terrorismus geframet und damit unsichtbar wird. Doch ebenso unsichtbar bleibt eine weitere humanitäre Katastrophe: In Nordsyrien, in den Gebieten der kurdischen Selbstverwaltung Rojava, fliegt die Türkei nun seit über einer Woche Bombenangriffe, die die Infrastruktur zerstören, Menschen töten und die Schwersten dieser Art seit langem sind. Seit dem 5.10.23 wurden 47 Menschen ermordet, darunter auch neun Zivilist_Innen und zwei Kinder (Stand 11.10.23). So wurden bereits mehrere Krankenhäuser durch die Angriffe zerstört, sowie ein Kraftwerk getroffen, außerdem die Wasser- und Energieversorgung, Schulen, Ölfelder, Fabriken, Warenlager, sowie Geflüchtetenlager und Dörfer. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Infrastruktur massiv angegriffen wird, was nach internationalem Recht ein Kriegsverbrechen darstellt. So ist in großen Teilen Rojavas nach den Angriffen die Stromversorgung eingebrochen. In vielen Fällen sollen die Luftschläge auch Menschen in Fahrzeugen und auf Motorrädern gegolten haben. Erdogan möchte den Menschen die Lebensgrundlage rauben und er legitimiert es wie Netanjahu mit dem Kampf gegen den Terrorismus. Am 2. Oktober kam es zu einem Anschlag der PKK in Ankara und nun wird behauptet, einer der Attentäter würde aus Nordsyrien stammen, wenngleich es dafür keine Beweise gibt. Aber Beweise braucht es für Erdogan schließlich auch nicht, da die Behauptung seiner Ideologie und seinem rassistischen Kampf gegen die Kurd_Innen entsprechen. Bereits im November 2022 wurde ein Anschlag in Istanbul als Vorwand genutzt einen zweiwöchigen Luftangriff auf die Region zu fliegen, wo ebenso Infrastruktur getroffen wurde und unter dessen Auswirkungen die Bevölkerung heute noch zu leiden hat. Seit den Angriffen gibt es nur einige Stunden am Tag Strom, Diesel ist rar und teuer geworden und auf eine neue Gasflasche zum Kochen muss man in der Regel eine Woche warten. Hinzu kommt die enorme psychische Belastung für die Bevölkerung, Drohnenangriffe sind allgegenwärtig. Und damit nicht genug: Innerhalb der Türkei wird das gerade damit begleitet, dass Dutzende prokurdische Aktivist_Innen inhaftiert und insgesamt ein harter Kampf gegen die fortschrittlichen Bewegungen geführt wird.

Doppelmoral so weit das Auge reicht

Erdogan sagte in einer gestrigen Ansprache an die Staatengemeinschaft, man solle sich hinsichtlich der Luftschläge gegen Gaza doch zurückhalten, denn es würde nicht den Menschenrechten entsprechen, Infrastruktur zu zerstören. Er prangerte des Weiteren das Schweigen der internationalen Staatengemeinschaft hinsichtlich dieser humanitären Katastrophe in Gaza an. Wenngleich seine Aussagen bezüglich Gazas einen wahren Kern haben, so ist das doch am Ende des Tages nichts weiter als dreckige Heuchelei. Scheinbar sind ihm Menschenrechte ziemlich egal, wenn es um den eigenen Dorn im Auge geht: den kurdischen Befreiungskampf.

Auch die USA und Russland nehmen die Angriffe ohne ein Augenzucken hin, denn sie sind es, die den Luftraum in Nordsyrien kontrollieren. Ohne die Zustimmung der beiden Militärs wären die türkischen Angriffe nicht möglich. Jedoch gibt es aktuell das unbestätigte Gerücht, die USA hätten eine Drohne des Nato-Bündnispartners Türkei über dem Ort Tal Baydar abgeschossen. Sollten diese Meldungen zutreffen, wäre es das erste Mal, dass US-Militär ein Flugobjekt der Türkei abgeschossen hat.

Ziele der Türkei

Die Türkei verfolgt mit dem Angriff ihr eigenes Ziel als Regionalmacht an der Neuordnung des Nahen Osten mitzuwirken, aber auch innenpolitische Ziele werden vom Regime in Ankara verfolgt.

Die Türkei steckt seit Jahren in einer Wirtschaftskrise, besonders die Inflation ist nach wie vor in einem sehr hohen Ausmaß und türkische Währung Lira ist weiterhin schwach. Im August lag die Teuerungsrate bei 58,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, was extrem hoch ist. Diese wird auf Arbeiter_Innen und Jugendliche abgewälzt. Der Krieg in Syrien schafft eine äußere Ablenkung von den sozialen Angriffen, aber bedient auch ganz unmittelbar ökonomische Interessen:

Die „Toki“ Häuser, die von staatlichen Bauunternehmen gebaut werden, sollen da, wo zerstört wird, aufgebaut werden und die Baubranche ankurbeln. Außerdem will Erdogan in diesem Gebiet bis zu 2 Millionen Geflüchtete zwangsansiedeln und das passt wiederum super in den Kram der EU, siehe die aktuelle GEAS-Gesetzgebung, bei der Menschen aus vermeintlich „sicheren Herkunftsstaaten“ (z. B. Türkei, Indien oder Tunesien) so schnell wie möglich dorthin abgeschoben werden sollen. Auch für Menschen aus Staaten, auf die diese Kategorie nicht zutrifft, finden die EU-Innenminister_Innen einen Weg, der an einem Asyl für diese vorbeiführt. Die Reform besagt, dass nun auch eine Abschiebung in ein „sicheres Drittland“, welches auf dem Fluchtweg passiert worden ist oder auf andere Weise mit der geflüchteten Person assoziiert wird (z.B. über entfernte Verwandtschaft), möglich sei.

Der Kampf um Befreiung ist international

Rojava muss gegen die Angriffe des türkischen Staates verteidigt werden. Der Kampf gegen die Militärmaschinerie in der Türkei, gegen das PKK-Verbot in Europa, für uneingeschränkte legale Betätigung aller Befreiungsbewegungen und, wann immer möglich, das Leisten materieller Hilfe für die Verteidigung von Rojava ist aktuell notwendig und könnte den entscheidenden Unterschied ausmachen.

Gleichzeitig müssen wir auf die Doppelmoral und auf die Ähnlichkeiten der Kämpfe in Gaza und in Nordsyrien hinweisen: one struggle, one fight! Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung!

  • Schluss mit den Angriffen auf Rojava! Solidarität mit dem kurdischen Volk!
  • Nein zu allen Abschiebungen in die Türkei! Niederschlagung aller Verfahren gegen kurdische Aktivist_Innen!
  • Aufhebung der sog. Antiterrorliste der EU! Weg mit dem Verbot der PKK und anderer kurdischer Vereine!



Wahlen in der Türkei: Mücadeleye devam – Wir kämpfen weiter

Von Dilara Lorin, aus Neue Internationale 274 (Gruppe Arbeiter:Innenmacht), Juni 2023

In den letzten Monaten, vor allem, aber in den letzten Wochen war das Land politisiert und die Spannungen innerhalb der Bevölkerung wurden immer größer. Dies hat verschiedene Ursachen. Das verheerende Erbeben vom 6. Februar, welches mehr als 50 000 Menschen das Leben kostete, aber auch die Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung aufzeigte; die Inflationsrate, die Oktober 2022 ganze 80 % erreichtet; die immer prekärer werdende Lage der Arbeiter:innenklasse, auch eine zumeist tief rassistisch geführte Debatte über die Lage und Rolle von Millionen Flüchtlingen und der Kurd:innen.

Dennoch konnte Erdogan die Präsidentschaftswahlen im zweiten Wahlgang für sich entscheiden. Zweifellos kam ihm dabei das Monopol über die staatlichen Medien wie das Fernsehen, die Kontrolle des Staatsapparates, Repression und Entschücherung der Opposition, vor allem der kurdischen HDP, die vom Verbot bedroht sind und von der hunderte Mitglieder in den Gefängnissen sitzen zugute. Aber sein Gegenkandidat, der kemalistische türkische Nationalist Kılıçdaroğlu versprach selbst eine reaktionäre, kapitalistische und rassistische Politik, die keine Alternative zu Erdogan dargestellt hätte.

Zwei Lager, aber zwei reaktionäre Lager

Zweifellos hat die Wahl die Menschen in zwei Lager gespalten, die einen, die Erdogan weiterhin unterstützen, die anderen, die sich für Kılıçdaroğlu aussprachen, weil sie diesen als Alternative zum bonapartistischen Regime Erdoğan ansahen. Dass dies jedoch eine Wahl zwischen Pest und Cholera war und Kılıçdaroğlu keine Alternative für die Arbeiter:innen, Kurd:innen, Geflüchteten und weitere Unterdrückte darstellen kann, wurde in den letzen zwei Wochen immer deutlicher.

Im ersten Wahlgang war neben den beiden Kandidaten trat noch ein dritter angetreten: Sinan Oğan, ein Rechter, der wegen nationalistischen und rassistischen, wegen sexistischen und frauenfeindlichen Äußerungen bekannt wurde, erhielt 5 %. In der Stichwahl versuchte er sich als „Königsmacher“ zu inszenieren. Jedenfalls buhlten beide Kandidaten um seine Stimmen. Auch deshalb waren die vergangen zwei Wochen geprägt von rassistischen Äußerungen und vor allem Kılıçdaroğlu fokussierte seine Wahlpropaganda darauf, innerhalb von 2 Jahren bis zu 2 Millionen Geflüchtete zu deportieren. Zugleich verlor er kaum ein Wort zur Inflation und die kapitalistische Wirtschaftspolitik Erdogans. Vielmehr würden die Geflüchteten Arbeitsplätze „klauen“ und nur deshalb ginge es der Arbeiter:innenklasse so schlecht.

Die rassistischen Äußerungen Kemal Kılıçdaroğlu erinnern an NPD und AfD. Dass dabei Erdogan keine bessere Position vertritt, ist klar. Er benutzt die Geflüchteten als Spielball gegenüber der EU. Große Teile des Geldes, welches im Zuge des reaktionären Flüchtlingsdeals in die Türkei gelangt, erreichen gar nicht erst die Lager und die Betroffenen und letztlich verfolgt auch Erdogan das Ziel, viele wieder zurückzuschicken. Jedoch behauptet er, dies erst zu tun, wenn die dafür notwendigen Bedingungen geschaffen sein würden würden. Dass bedeutet, dass Assad als Diktator wieder anerkannt wird und auch die Beziehungen nach Syrien wieder normalisiert werden – und das auf den Rücken nicht nur der Geflüchteten, sondern vor allem der Kurd:innen in Rojava. 

Parlamentswahlen

Gewonnen hat in den Parlamentswahlen letztlich wieder die AKP, welche  bei den Wahlen zur 600 Abgeordnete umfassenden großen Nationalversammlung 35,61% für sich gewinnen konnte. Dabei hat die AKP aber im Vergleich zu den Wahlen 2018 6,95% der Stimmen eingebüßt. Diese Zahlen verdeutlichen auch, dass die AKP nicht mehr jene Zustimmung in der Bevölkerung erhält wie es früher einmal der Fall war. Auch ihre Basis bröckelt, viele Anhänger:innen stehen nicht mehr hinter der Partei. Nichtsdestotrotz kann sie mit dem Wahlbündnis „Volksallianz“, mit welchen sie auch zur Wahl angetreten ist, insgesamt 49,47 % erhalten. Die AKP tritt dabei im Bündnis mit der faschistischen MHP an. Von den 318 Sitzen der Volksallianz hält die MHP immerhin 50 Sitzen.

Die CHP, welche von vielen als die Alternative zur AKP angesehen wird, kam in den Parlamentswahlen auf 25,33 % und trat ebenfalls in einem Wahlbündnis mit 5 weiteren Parteien auf, dem „Bündnis der Nation“. Dabei koaliert unter anderem mit der IYI Partei, welche islamisch, konservativ und rechts einzuordnen ist. Das „Bündnis der Nation“, das in den Medien auch „Sechsertisch“ genannt wird, kommt auf insgesamt 213 Sitze.

Dass dieses Wahlbündnis kein Interesse daran hat, wirklich demokratische Zustände in der Türkei wieder durchzusetzen, eine Verbesserung für die Arbeiter:innenklasse herbeizuführen oder für die Rechte von den unterdrückten Minderheiten einzutreten, zeigt schon der bürgerliche Charakter der CHP, deren historische Verrat an der Arbeiter:innenklasse, aber auch die Position zu den Kurd:innen  und Geflüchteten ist extrem reaktionär. 

Ergebnis von HDP und YSP

Die links-kleinbürgerliche HDP, welche für die Rechte von Frauen, LGBTI, Kurd:innen und Geflüchteten kämpft, fuhr das schlechteste Ergebnis bei den Parlamentswahlen seit ihrer Gründung ein. Sie trat aufgrund aufgrund der möglichen Illegalisierung unter dem Namen der Yeşil Sol Partei (YSP) an. Die YSP kam lediglich auf 8,82 %. Somit büßt die HPD 2,68% der Stimmen im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2018 ein. Mit dem Wahlbündnis „Arbeit und Freiheit“ traten im Rahmen der YSP 5 weiteren kleinere linke Parteien zu den Wahlen an, da runter die bekannteste, neu gegründete TİP (Arbeiterpartei der Türkei), welche 1,73 % mit ihren eigenen Listen erlangte, denn im Wahlbündnis selbst konnten alle Parteien auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten.

Dass die YSP in diesem Wahlgang an Stimmen verloren hat, zeugt auch von ihren taktischen Fehlern, welche sie schon vor der Wahl entschieden: kein gemeinsames Auftreten einer/s eigenen Präsidentschaftskandidat:in und damit die offene oder indirekte Unterstützung des CHP Kandidaten Kılıçdaroğlu und der fälschliche Glaube, man müsse sich nur auf einige Sitze im Parlament, sowie Bürgermeister und andere Posten fokussieren. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass der Wahlkampf des Bündnis für Arbeit und Freiheit unter massiver Repression stattfand, darunter der Inhaftierung sowie Einschüchterung von vielen Aktivist:innen und Wahlhelfer:innen.

Und die Kurd:innen?

Diese haben in dieser Wahl komplett verloren. Dadurch dass es keinen Präsidentschaftskandidaten von der YSP gab, konnten sie ihren Forderungen kaum öffentliches Gewicht und kein Gehör verschaffen. Dabei ist für die CHP ohnedies klar: Kurd:innen sollen allenfalls als Stimmvieh fungieren, ansonsten setzt man auf Nationalismus und Chauvinismus. So positionierte sich die CHP 2015 gegen Friedensverhandlungen und kritisierte Erdogan und die AKP von rechts. Sie unterstützte viele Angriffe der Türkei auf Rojava.

Dadurch dass die YSP und etliche revolutionäre und kommunistische Gruppen dazu aufriefen, den Präsidentschaftskandidaten der CHP zu unterstützen, verschwand die Masse der kurdischen Stimmen in denen der reaktionären, nationalistischen und bürgerlichen Masse der CHP. Die Politik des kleineren Übels ist jedoch nicht aufgegangen: Erdoğan gewinnt die Wahl am 28.5. und beginnt seine dritte Amtszeit als Präsident. Die stärkte das nationalistische Bewusstsein der AKP-Unterstützer:innen, welches sich jetzt nochmal bestätigt fühlen. Und schon in seiner ersten Ansprache als neuer Präsident hetzt Erdogan gegen den inhaftierten HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und spricht vom Großtürkischen Reich, welches er in dieser Amtsperiode weiter forcieren möchte.

In seine ersten Ansprach nach den Wahlen gibt sich Kılıçdaroğlu als „wahrer Demokrat“, hinter den vor allem Frauen und Jugendlichen zu stehen scheinen, um gleich in den nächsten Sätzen seine rassistische Haltung gegenüber den Geflüchteten noch einmal zu bekräftigen. So äußert er sich gleich am Anfang seiner Rede rassistisch und verkündet: „Als Millionen Geflüchtete kamen und ihr zum Volk zweiter Klasse wurdet, konnte ich nicht dazu schweigen“. Von den Kurd:innen war keine Rede mehr, es schien so, als seine sie vergessen, unwichtig oder nicht der Rede wert. Dabei waren es Städte vor allem die Städte aus der kurdischen Region, in denen oftmals mit einer überwältigenden Mehrheit Kılıçdaroğlu gewählt wurde. 

Kaybettik (Wir haben verloren)  oder Mücadeleye devam (Wir kämpfen weiter)?

Während viele am 28. Mai mit Türkei-Fahnen, den Wolfs- oder Rabiagrüßen den Sieg Erdoğans feierten, war ein anderer Teil der Bevölkerung niedergeschlagen. Es wurde seitens liberaler und bürgerlicher Kräfte, aber auch großer Teil der Linken für einen möglichen Sieg der „Demokratie“ unter Kılıçdaroğlu geworben. Für eine gewisse Zeit hinterließ diese bei vielen den Eindruck, dass „bessere Zeiten“ bevorstände: Erdoğan und die AKP hätten ausgesorgt, sie würden gehen. An ihre Stellt würden besser Zeiten mit mehr demokratischer Mitbestimmung, mehr Rechten für das Parlament, einer stärkeren Wirtschaft folgen.

Auch wenn es vollkommen nachvollziehbar ist, dass man sich nach besseren Zeiten sehnt, man das autoritäre Regime satt hat, so war die CHP nie eine Alternative. Denn eine bürgerlich, nationalistische Partei, welche weiterhin im Sinne der Kapitalist:innenklasse agiert, hat nicht das Interesse daran, wirkliche Verbesserungen durchzusetzen. Und alleine die weltweite wirtschaftliche Lage und tiefe ökonomische Krise in der Türkei (Inflation, Verfall der Währung) hätten gar nicht erst die Möglichkeit unter Kılıçdaroğlu geben, Reformen durchzuführen. Vielmehr hätte auch seine Regierung die Arbeiter:innenklasse massiv angegriffen, um die Profitwirtschaft wieder flott zu machen.

Wir dürfen daher auch jetzt nicht dem Modus des Verlorenen – kaybettik – verfallen, sondern unser Motto muss lauten: „Mücadelemis devam etmeli“ – Unser Kampf muss weiter gehen! Denn was notwendig gewesen wäre, und was weiterhin notwendig ist, ist die stark politisierte Lage in der Türkei zu nutzen, um die Arbeiter:innen und Unterdrückten jetzt für ihre Interessen zu mobilisieren, für den Abbau einer Massenbewegung gegen die Krise, gegen den Rassismus, gegen das Regime. Die Wahlbeteiligung lag zwar bei über 80%, aber kaum eine Organisation hat einen dritten Weg der Organisierung und Mobilisierung aufgezeigt, obwohl es die Situation dies erfordert.

Es ist notwendig, dass die türkische Linke jetzt in einer Einheitsfront tritt, in welcher sie alle kämpferischen und fortschrittlichen Teile der Gesellschaft vereint, und versucht, die Gewerkschaften, die linken Parteien, die Kurd:innen, die Umwelt- und Frauenbewegung gemeinsam zu mobilisieren. Wir brauchen Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und einer gleitenden Skala Löhne, nach Enteignung der Großunternehmen und Banken unter Arbeiter:innenkontrolle. Nur so kann die Inflation und die damit einhergehende Wirtschaftskrise bekämpft werden.

Dafür müssen die Gewerkschaften in der Türkei anfangen ihre Mitgliedschaft und ihren Organisationsgrad auszuweiten, Aktionskomitees in Betrieben und Stadtteilen aufzubauen, um so zu Massenorganen der Arbeiter:innen zu werden. Revolutionär:innen müssen für ein  Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse eintreten, das die Rechte und Forderungen aller unterdrücken Minderheiten, allen voran der Kurd:innen und Araber:innen und aller Geflüchteten vertritt! Eine solche Einheitsfront muss sich auf Massenversammlungen und Aktionskomitees in den Betrieben und Stadtteilen stützen sowie auf Selbstverteidigungseinheit gegen die Repression.

Es ist eine große Aufgabe, aber das Regime kann nicht durch einen weiteren nationalistischen und bürgerlichen Kandidaten gestürzt werden, sondern nur von der Arbeiter:innenklasse und den Unterdrückten selbst – und dazu ist der Aufbau einer neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei nötig, die unabhängig von allen Flügeln der herrschenden Klasse agiert.




Erdbeben in Türkei und Syrien: Eine humanitäre Katastrophe – vor allem für die Minderheiten

Dilara Lorin, Zuerst erschienen bei der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Februar 2023

4.440 Tote forderte das Erdbeben in der Türkei und Syrien bis zum Morgen des 7. Februar. Und die Zahlen steigen stetig weiter. Hinzu kommen weit über zehntausend, teilweise schwer, verletzte Menschen.

Die humanitäre Katastrophe trifft die Masse der Bevölkerung in beiden Ländern, die ohnedies unter Krieg, brutaler Repression durch die Regime von Assad und Erdogan, unter der Inflation, Wirtschaftskrise und Korruption leiden. Die humanitäre Krise und die hohe Zahl der Toten sind daher nicht nur das Resultat einer Naturkatastrophe, sondern auch Folge brutaler Ausbeutung und Unterdrückung – eine Tatsache, die in der offiziellen Berichterstattung viel zu wenig oder gar nicht vorkommt.

Unterdrückte Minderheiten

Die Hauptbetroffenen der humanitären Katastrophe sind oft Angehörige unterdrückter Minderheiten  wie Kurd:innen, Alevit:innen, Araber:innen und Geflüchtete.

Seit den Morgenstunden am 6. Februar haben mehr als 100 Erdbeben die mehrheitlich kurdischen Regionen Maras über Antep, Nordost Syrien/Rojava bis nach Mersin erschüttert. Es wurden Erdbeben mit einer Stärke von 7,9 gemessen, welches somit seit 1939 das schlimmste Erdbeben in der Türkei ist. Die Situation ist katastrophal. Die aktuellen Todeszahlen stiegen allein für die Türkei auf 3600 und mehr als 15.000 Menschen sind verletzt, weitere Abertausende sind vermisst. Die Zahl der Vermissten, Verletzten und Toten steigt stündlich an und wird noch in den nächsten Tagen das Ausmaß dieser Katastrophe sichtbar machen.

Vor allem betroffen sind die unterdrückten Minderheiten in der Türkei und Geflüchtete vor Ort. Dass in dieser Region mehrheitlich Kurd:innen und Alevit:innen leben ist einer der Gründe, warum das türkische Regime Jahrzehnte lang diese Region unterentwickelt ließ und kaum bis wenig in Infrastruktur, Bildung oder Gesundheitswesen investierte. Die benachteiligten Teile der Gesellschaft bilden, wie gesagt, mehrheitlich Kurd:innen und andere unterdrückte Minderheiten, es sind die Teile der Gesellschaft, welche aufgrund ihrer Armut oftmals gezwungen sind, in Häuser einzuziehen, die nicht nur mit billigen Materialien errichtet wurden, sondern in deren Konstruktion und Statik kaum investiert wurde, da sie ohnedies für die unteren Teile der Gesellschaft gedacht waren.

Dass also bei diesem Erdbeben so viele Häuser wie Spielkarten zusammenfallen, wäre in vieler Hinsicht vermeidbar gewesen. Aber es lag und liegt im Interesse staatlicher Institutionen, die Investitionskosten gering zu halten, und es lag und liegt im Interesse der Bauunternehmen, die Profite möglichst hoch zu halten.

Bis heute gibt es etliche alevitische und kurdische Dörfer, in welchen kein Leitungswasser fließt, in denen Stromnetze nur spärlich ausgebaut sind oder in denen keine asphaltierte Straße errichtet wird, aber in dem türkischen Nachbardorf konnte es ermöglicht werden. Diese bewusste Nicht-Entwicklung ist ein politisches Machtinstrument, um unerwünschte Minderheiten aus der türkischen Bevölkerung hinauszudrängen, aber sie eben zugleich als billige Arbeitskräfte auszubeuten.

Kurdische Regionen

Auch ist es mehreren Wissenschaftler:innen zufolge Tage vorher bekannt gewesen, dass ein Erdbeben dieser Stärke die Region erschüttern wird, aber Vorkehrungen, wie z.B. Evakuierungen, wurden nicht ansatzweise eingeleitet, die Bevölkerung wurde einfach nicht informiert.

Mehr noch. Der Wissenschafter Prof. Naci Görür wies im Live TV bei Fox darauf hin, dass nicht nur Jahr lang bekannt war, dass es früher oder später in der Region Erdbeben geben wird. Sie hat außerdem als Wissenschaftlerin Bürgermeister und Gouverneure mehrmals angesprochen und sogar eine Art Rettungs- und Aktionsprogramme für den Katastrophenfall vorgelegt. Die Verantwortlichen abwinkten aber nur ab.

In den türkischen Medien ist von all dem kaum die Rede. Schaltet man die Kanäle ein, welche von der AKP koordiniert und kontrolliert werden, will keiner davon etwas wissen. Bilder werden lediglich aus einigen wenigen Gebieten gestreamt. Regionen wie Pazarcık, Elibstan, Gölbaşı oder Hatay, welche durch die Erdbeben erschüttert wurden und die zu 90 % kurdisch geprägt sind, werden nicht gezeigt. Dabei sind es diese Gebiete, in welchen viele Gebäude dem Erdboden gleichgemacht wurden. Dies spiegelt auch die reale und aktuelle Lage der Menschen vor Ort wieder. Unterstützung und Hilfe erreichten kaum jemand in den genannten Regionen. Die Menschen versuchen, mit ihren eigenen Händen die Betonplatten der Häuser zu entfernen, denn sie hören immer wieder noch Hilferufen und Schreie der Überlebenden unter den Trümmern, können aber in den meisten Fällen nichts unternehmen. Die Social-Media-Kanäle sind voller Hilferufe, voll mit Adressen von zusammengefallenen Häusern, in welchen Menschen um ihr Leben ringen. Diese werden eben gepostet, weil es sonst kaum Möglichkeiten gibt, denen eine Stimme zu verleihen, und aus verzweifelten Hoffnung, dass vielleicht doch eines der wenigen Rettungsteams, die schon vor Ort sind, dies liest.

Eine schnelle Besserung der Situation ist nicht in Sicht. Die meisten Menschen, befinden sich außerhalb der Häuser, um sich richtigerweise vor weiteren Erdbeben zu schützen. Aber bei den Temperaturen, welche  zwischen 3 und -7 Grad in der Nacht liegen, drohen viele Menschen im Freien zu erfrieren. Trotz dieser Bedrohungen sind die Rettungskräfte der türkischen Regierung – nach Zeugenberichten aus den Gebieten – kaum anzutreffen bzw. nicht sichtbar, und wenn, dann sind es viel zu wenige an den Katastrophenorten.

In den Grenzregionen verschärft sich die Lage außerdem für die vielen Geflüchteten, die auch bislang nur in heruntergekommenen Gebäuden Unterschlupf finden konnten. Es ist außerdem der Rassismus gegenüber Geflüchteten, der vielen Menschen Angst macht, denn dieser wird in den kommenden Tagen nicht nachlassen. Das altbekannte Spiel, dass man lieber nach unten tritt als nach oben, droht hier ein Ausmaß anzunehmen, das uns nur grausen lässt.

Syrien

Auch wenn wir uns im Artikel vor allem mit der Türkei beschäftigt haben, so darf die Katastrophe in Syrien nicht übersehen werden. In dem Land sind bisher rund 1500 Menschen dem Erdbeben zum Opfer gefallen. Die nordöstlichen Regionen und Teile von Rojava sind vom Erdbeben massiv betroffen. Es sind dies Gebiete, die durch den jahrelangen Bürgerkrieg gebeutelt und ausgeblutet sind und nicht zur Ruhe kommen. Sie verfügen über wenig bis gar keine Infrastruktur, um Bergungsarbeiten durchzuführen. Assads Stellungnahme dagegen sind blanker Zynismus. Kaum staatliche Unterstützung wurde in diese Region entsendet, denn es sind zum Teil Gebiete, die nicht mehr unter Assads Kontrolle stehen. Die Türkei wiederum setzte die Angriffe auf Rojava auch während des Erdbebens fort!

Wer hilft?

In der aktuellen Situation sind Sach- und Geldspenden dringend erforderlich, welche die Menschen vor Ort direkt erreichen. Für alle, die Geld überweisen wollen, verweisen wir auf die Webseite und das Konto von Heyva Sor (Kurdischer Roter Halbmond; https://www.heyvasor.com/de/alikari/) Dabei ist recht sicher, dass die Spenden auch dort ankommen, wo sie gebraucht werden.

Denn nicht jeder Spendenaufruf ist einer, der die Teile der Bevölkerung erreicht, die am härtesten von der Katastrophe betroffen sind. Spenden, die an den türkischen oder an den syrischen Staat gehen, sind oftmals welche, die in den Taschen des Regimes oder deren Mittelsmänner landen und nicht die Menschen vor Ort erreichen. In vielen Städten Deutschlands werden aktuell auch Sachspenden gesammelt, womit dann Menschen oftmals mit dem Auto in die Gebiete fahren und die Sachspenden dann an den Stellen weitergeben, in welchen sich gerade (notgedrungen) die meisten Menschen aufhalten. Dabei fehlt es fast an allem, denn die meisten Menschen mussten ihre Wohnungen innerhalb von Sekunden verlassen.

Es ist aber klar, dass die humanitäre Hilfe, egal welcher Art, nur die Auswirkungen der Katastrophe lindern kann. Was sind aber politische Forderungen, die Revolutionär:innen in diesen Momenten aufwerfen müssten?

Es muss die Frage gestellt werden, wie es sein kann, dass gerade die Regionen, in welchen die kurdischen, arabischen, alevitischen Minderheiten leben, dies sind, die am schlechtesten auf Naturkatastrophen vorbereitet sind, obwohl es bekannt ist, dass in dieser Region die anatolische Platte auf die arabische trifft. Rassismus und Unterdrückung führen direkt zur Armut, zu einer Lage, die von Immobilienhaien und kapitalistischen Unternehmen bewusst ausgenutzt wird. Die Frage, die hier also hauptsächlich gestellt werden muss, ist auch die Frage der Verbindung des Befreiungskampfes der Kurd:innen und aller unterdrückten Minderheiten in der Türkei und in Syrien mit dem der Arbeiter:innenklasse. Wir fordern:

  • Massive Hilfsgüter und Personal für alle betroffenen Regionen! Private Spenden sind gut, aber eigentlich müssen die Reichen, die Profiteure, der Staat und die imperialistischen Länder gezwungen werden, für die Katastrophenbekämpfung aufzukommen!
  • Damit die Hilfsgelder nicht im Korruptionssumpf versinken, muss ihre Verteilung und Verwendung von Ausschüssen der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten und von Beschäftigten bei den Hilfsorganisationen kontrolliert werden. Auch Beschäftigte bei den Banken und Finanzinstitutionen können hier eine wichtige Kontrollfunktion übernehmen.
  • Um den Zugang für Hilfsgüter, Helfer:innen, Katastrophenschutz zu allen Regionen, frei von Repression und Angst vor Unterdrückung, zu ermöglichen, ist der Rückzug der Armee und der Polizei notwendig. Schluss mit der Verfolgung und Unterdrückung kurdischer und anderer oppositioneller Organisationen! Rückzug von Assads Schlächter-Truppen! Bleiberechte für alle Geflüchteten!
  • Rettungs- und Wiederaufbauprogramm, finanziert aus der Besteuerung der Profite und großen Privatvermögen unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Bäuer:innen in den betroffenen Regionen!



Inflation und politische Krise in der Türkei

Von Jonathan Frühling

Die Türkei ist ein Land mit 85 Millionen Einwohner_Innen und einem BIP von 850 Mrd. (ca. ein Drittel von Deutschland). Durch seine Lage zwischen dem Nahen Osten und Europa hat es neben seinem wirtschaftlichen Gewicht auch geopolitische Bedeutung. Außerdem ist das Land Teil der NATO und hat sogar die zweitgrößte Nato-Armee. Zuletzt hat die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte jedoch mit einer offiziellen Inflation von 80 % ein vorläufiges Ende gefunden. Wie kam es zur Krise in der Türkei und wie kann sie gestoppt werden?

Politische Entwicklung

Mit der AKP und Recip Tayyip Erdogan kam 2003 eine rechte, muslimische Partei an die Macht. Die nächsten Jahre waren von einer liberalen wirtschaftlichen Entwicklung geprägt, die sogar das Entstehen einer großen Mittelschicht ermöglichte. Allerdings erfolgten auch Privatisierungen und insgesamt eine Verschlechterung der Lage der Lohnabhängigen. 2013 hat das zu den großen Gezi-Protesten geführt, die sich gegen Verdrängung und die Regierung insgesamt richteten. Diese wurden jedoch blutig niedergeschlagen.

Die Türkei ist zwar nicht faschistisch, hat sich innenpolitisch jedoch immer mehr zu einer neoliberalen Diktatur entwickelt. Seit 2016 wurde ein brutaler Krieg gegen das kurdische Volk im Südosten des Landes geführt, um deren Autonomiebestrebungen zu zerstören. Schon seit der Gründung der kapitalistischen Türkei wurden die Kurd_Innen, die größte Minderheit im Land, massiv unterdrückt. Diese Politik, die sie zu Bürger_Innen zweiter Klasse machte, führte erst zum Kampf gegen den türkischen Staat und schließlich um Autonomiegebiete. Erdogan unterdrückte diesen Kampf mit besonderer Härte. Die Pressefreiheit ist mittlerweile eine der niedrigsten der Welt. Trotzdem hatte Erdogan in der Mehrheitsgesellschaft immer ein recht gutes Ansehen, was er aber nun zu verlieren scheint: In den Umfragewerten steht die AKP bei 30 %, was einen Verlust von über 13 % darstellt. Sie hat also bereits einen Teil ihrer früheren Basis verloren und schafft es immer weniger die Interessen der verschiedenen Kapitalfraktionen zu vereinen. Ihr Koalitionspartner, die faschistische MHP, liegt bei 7 Prozent und würde damit sogar den Einzug ins Parlament verpassen. Am 18. Juni 2023 werden die nächsten Parlamentswahlen in der Türkei abgehalten. Die aussichtsreichste Oppositionspartei ist allerdings die bürgerliche CHP, die die Kriege im Aus- und Inland, sowie jegliche neoliberale Reform im Inneren unterstützt hat.

Die Wirtschaft der Türkei

Die Türkei war lange Zeit eines der Länder mit einem großen Wirtschaftswachstum. Zum Teil nutzlose Infrastrukturprojekte haben zwar kurzfristig die Wirtschaft angekurbelt, jedoch auch Staatkassen belastet, sodass die Verschuldung von 2005 bis 2021 von 175 Mrd. auf 435 Mrd. (41,6 % des BIP) gestiegen ist. Die wichtigsten Industriesektoren sind die Textilindustrie, die Automobilindustrie, sowie die chemische Industrie, der Maschinenbau und die Elektronikbranche. Im Dienstleistungssektor, der ca. 50% der Wirtschaft ausmacht, ist vor allem die Tourismusbranche zu nennen. Weitreichende Privatisierungen im öffentlichen Sektor (z.B. im Gesundheitsbereich) haben in den letzten Jahren zu einer Verschlechterung der Leistungen und der Arbeitsbedingungen in diesem Sektor geführt. Das Wachstum des BIP wird für die nächsten Jahre nur noch auf ca. 3 % geschätzt.

Inflation

Im August 2021 begann die Inflation in die Höhe zu schnellen. Da Erdogan eine Rezession befürchtete, hatte er den Leitzins (Zinssatz bei dem sich Banken bei der Zentralbank Geld leihen können) nicht gehoben. Das Kalkül ging allerdings nicht auf und die Inflation stieg in der Folge bis zum August 2022 auf offiziell 80%. Grund dafür ist u.a. auch der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Der Hauptgrund der Inflation ist allerdings die schwache Landeswährung Lira, die dafür sorgt, dass Importe (z.B. von Nahrungsmitteln und Energie) deutlich teuer werden.

Die Erhöhung des Mindestlohns auf umgerechnet ca. 300 € kann die Verarmung der Bevölkerung nicht aufhalten. Über 20 % leben heute unter der Armutsgrenze und die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 50 %.

Außenpolitik

Die Außenpolitik der Türkei ist davon geprägt, pro-kurdische Kräfte zu bekämpfen. Z.B. bereitet die Türkei gerade einen fünften (!) Krieg gegen die kurdischen Autonomiegebiete Rojava in Nordsyrien vor. Auch im Irak ist die Türkei einmarschiert und bombardiert regelmäßig kurdische Dörfer, um die pro-kurdische Partei PKK zu bekämpfen.

Zwar ist die Türkei in der NATO, hat aber Konflikte mit einzelnen Staaten, wie z.B. den USA, die die Kurd_Innen in Syrien gegen den IS unterstützen. Außerdem besteht eine lange Feindschaft mit Griechenland über die Herrschaft über diverse Inseln, aber auch um das Recht auf Gasbohrungen im Mittelmeerraum. Dies führte bereits in diesem Jahr fast zum Krieg zwischen den beiden NATO-Staaten. Mit Russlands Unterstützung des Assad-Regimes besteht zwar in Syrien ein Interessenkonflikt, allerdings ist es auch ein wichtiger Handelspartner, weshalb die Türkei stets um einen Ausgleich bemüht ist. Insgesamt versucht die Türkei ihre wirtschaftlichen Probleme militärisch mit einer aggressiven Außenpolitik in Syrien, Libyen oder als „Türsteher“ Europas auszugleichen. Gleichzeitig mit dem Hass auf das kurdische Volk, und angeblichem innerem „Terror“ den sie der PKK zu schieben. Das hilft Angst in der Bevölkerung vor den äußeren und inneren „Feinden“ zu schüren, um vor den tatsächlichen Problemen und ihren Ursachen abzulenken.

Widerstand

Gewerkschaftlicher Widerstand gegen die Politik der Regierung fiel abgesehen von den Gezi-Protesten 2013 leider eher schwach aus, da die Gewerkschaften traditionell sehr mitgliederschwach sind. Nur 9,2% der arbeitenden Menschen sind überhaupt organisiert und kaum 3 % arbeiten unter Tarifbedingungen. Anfang 2022 gab es allerdings Streiks in der Metall- und Elektroindustrie von drei Gewerkschaften. Auch Essenslieferant_Innen, Textilarbeiter_Innen und Angestellte im Gesundheitssektor haben 2022 gestreikt (teilweise mehrfach) und somit den Lohnabhängigen den Weg in den Kampf gewiesen. Dieser rasante Anstieg von Streiks 2022 hat auch zu massenhaften Eintritten in die Gewerkschaften geführt.

Die Schwäche der Regierung und die anstehenden Wahlen sind eine gute Möglichkeit, die Belange der Arbeiter_Innenklasse in den Fokus der Politik zu rücken und den Kampf gegen die kapitalistische Grundlage der Regierung populär zu machen. Dafür müssen die Gewerkschaften jedoch koordiniert auftreten. Sie müssen sich zu einem Aktionsbündnis gegen die Preissteigerungen zusammenschließen. Nur so kann die Arbeiter_Innenklasse zu einem politischen Machtfaktor werden, der Unentschlossene anzieht und der Regierung die Stirn bieten kann.  

Sie muss auch Forderungen, wie die Verstaatlichung des Gesundheitssektors aufstellen, um die Gesellschaft in ihrem Sinne zu verändern.

Aus einer solchen Bewegung müsste aber auch eine revolutionäre Partei entstehen. Die HDP kann als eine reformistische Partei eine solche Rolle nicht einnehmen. Mit ihre Forderungen nach einer teilweisen Integration der kurdischen Bewegung in den türkischen Staat und begrenzten sozialen Reformen können die Probleme der Wirtschaft und Gesellschaft nicht behoben werden. Nur eine antikapitalistische Revolution kann den wirtschaftlichen Verfall der Türkei noch aufhalten.

  • Für einen Generalstreik gegen Krieg und Inflation, angeleitet von den Gewerkschaften und Arbeiter_Innenkommitees in den Betrieben!
  • Gegen das Verbot von PKK, HDP und gegen jegliche Diskriminierung des kurdischen Volkes, für ein Recht auf autonome kurdische Gebiete!
  • Für die Enteignung aller Betriebe und hohen Vermögen unter Kontrolle von Arbeiter_Innenkommitees, Stopp sinnloser und verschwenderischer Infrastrukturprojekte!
  • Für eine gleitende Lohnskala angepasst an die Inflation und eine Erhöhung von Mindestlohn und Arbeitslosengeld unter Kontrolle der türkischen und kurdischen Arbeiter_Innen!
  • Für die Streichung aller Schulden der Türkei an das Ausland!
  • Für den Austritt der Türkei aus der NATO, gegen jede Militärunterstützung im Kampf gegen Rojava von Deutschland (insbesondere Waffen- und Panzerlieferungen)!
  • Für eine revolutionären Aufstand der Arbeiter_Innen und Bäuer_Innen der Türkei und Kurdistans und den Sturz des reaktionären Erdogan-Regimes!






Hände weg von Rojava!

Lukas Müller

Seit Montag hat der türkische Staat unter Führung des Diktators Recep Tayyip Erdogan von Trump grünes Licht: Die USA werden sich aus dem Nordosten Syriens vollständig zurückziehen und der Türkei freie Hand für einen Krieg gegen die Kurd_Innen in Rojava lassen.

Nachdem die USA die Kurd_Innen für den Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ einige Zeit unterstützt haben, wurden diese nun fallen gelassen. In den Augen von Trump haben die Kurd_Innen ihre Rolle gespielt: Der IS ist für Amerika keine direkte Gefahr mehr und der Stellvertreterkrieg gegen Assad und Russland ohnehin verloren. Interesse an einer Unterstützung des basisdemokratischen, feministischen und internationalistischen Projekts Rojava hatten die USA sowieso nie. Warum also einen Konflikt mit dem NATO-Partner Türkei riskieren, der schon seit Monaten klar macht, dass er sich von einem weiteren Krieg nicht abhalten lassen wird?

Aus der Administration von Erdogan wurde diese Woche verkündet, der Krieg werde in Kürze beginnen. Die Türkei kann dabei auf die Unterstützung allermöglichen islamistischen Milizen zählen, welche bereits im letzten Jahr Seite an Seite mit türkischen Truppen den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung des Kanton Afrin führten. Nichts ist Erdogan mehr ein Dorn im Auge, als das in den Wirren des syrischen Bürgerkriegs entstandene kurdische Autonomieprojekt. Zu groß ist für ihn die Gefahr, die Unabhängigkeit der syrischen Kurd_Innen werde die kurdische Minderheit im eigenen Land stärken und den gemeinsamen Kampf gegen Unterdrückung und für einen eigenen Staat, ein freies Kurdistan, neu entfachen.

Das Projekt Rojava ist in dieser Form auf der Welt etwas Einmaliges, gerade für den Nahen Osten. Auch wenn es kein wirklich sozialistisches Projekt ist, das heißt ein Projekt unter dem der Privatbesitz an Land, Rohstoffen und Maschinen vergesellschaftet ist, so ist es doch der Versuch die Gesellschaft basisdemokratisch und im Interesse aller zu organisieren. Rojava verfügt auf verschiedenen Ebenen über eigene Frauenstrukturen und hat den Anspruch diese in der Gesellschaft gleichberechtigt zu stellen. Außerdem versuchen die Kurd_Innen explizit alle anderen ethnischen und religiösen Gruppen der Region in das Projekt und die Strukturen miteinzubeziehen – eine Grundbedingung, um Frieden im Nahen Osten zu schaffen. Die Niederlage des Projekts wäre deshalb nicht nur ein schmerzhafter Rückschlag für die Kurd_Innen und ihren Befreiungskampf, es wäre eine Niederlage für den gesamten Nahen Osten und alle fortschrittlichen Kräfte auf der Welt.

Das Gebot der Stunde ist nun weltweit und massenhaft Solidarität zu organisieren und praktisch werden zu lassen. Nur mit vereinten Kräften haben die Genoss_Innen vor Ort eine Chance zu bestehen. Lasst uns Öffentlichkeit schaffen und Druck auf die Regierungen ausüben.

Hände weg von Rojava! Kein türkischer Einmarsch in Nordost-Syrien!

Solidarität mit den Menschen und Kämpfer_Innen vor Ort!

Für den Abzug aller Truppen aus Syrien! Kein Vertrauen in die USA oder andere Mächte!

Für weltweiten und massenhaften Widerstand zur Verteidigung des Projekts!




Der Kampf in Kurdistan: Entwicklungen und Perspektiven

Während in den letzten Wochen vor allem die Geschehnisse um Gaza und Israel in der medialen Landschaft im Vordergrund standen, richtet sich der Blick nun auf Kurdistan, wo sich die Massaker der islamisch-fundamentalistischen Gruppe „IS“ (Islamischer Staat, auch bekannt als ISIS) weiter verschärfen und die dort lebenden Menschen zunehmend bedrohen.

Besonders betroffen waren hierbei zuletzt vor allem die Orte Kobanê, wo der IS versucht die drei kurdischen Kantone der Rojava-Region zu spalten und die im Irak gelegene Stadt Shingal in der Nähe Mossuls, wo die IS die in ihren Augen „ungläubigen“ Yezid_innen massakrierte und vergewaltigte, ihre Heiligtümer und die der Alevit_innen zerstörte und folglich eine Massenflucht auslöste. Viele flüchteten in die Berge des Sindschar-Gebirges und verdursteten teilweise bei 40 Grad – umzingelt vom IS. Inzwischen konnten Truppen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG / YPJ) die Eingeschlossenen teilweise befreien, nachdem sich zuvor die Peschmerga – Truppen („die dem Tod ins Auge sehen“) der KDP / PUK – nahezu kampflos zurückgezogen hatten. 50.000 Yezid_innen sind vom religiösen Terror bedroht, werden vertrieben und ermordet, 1,5 Millionen Menschen sind in der gesamten Region auf der Flucht. Betrachten wir zunächst, wer überhaupt dieser IS ist, die überall, wo sie auftaucht, Gräuel hinterlässt.

Das erklärte Ziel des IS ist der gewalttätige Aufbau eines Kalifats im Nahen Osten – einem streng auf den Traditionen des Islam aufgebauten Staat. Er besaß damals je nach Schätzung lediglich 5.000 – 15.000 Kämpfer. Wie konnte es also dazu kommen, dass diese Gruppe inzwischen große Teile Syriens und des Iraks kontrolliert? Die Stärke des IS ist letztlich ein zurückkehrender Bumerang einer gescheiterten US-Politik im Irak. Nach dem Sturz Husseins 2003 installierte die USA eine Marionettenregierung, was ihr den Zugang zu den irakischen Ölfeldern sichern sollte. Diese neue, schiitische Regierung unterdrückte die sunnitische Bevölkerung in demselben Masse, wie sie zuvor umgekehrt vom Sunniten Saddam Hussein unterdrückt wurden.

Sunnit_innen und Schiit_innen sind Anhänger zweier verschiedenen Strömungen innerhalb des Islam, die vor ca. 1300 Jahren entstanden sind. Im heutigen Konflikt geht es aber vor allem um eines: Sicherung von Öl und damit Macht, wobei beide Seiten von ihren Eliten unter dem religiösen Mantel gegeneinander ausgespielt werden und der Hass dadurch ständig reproduziert wird. Im Irak sind dabei die Schiit_innen in der Mehrheit, obwohl weltweit ca. 90 % aller Muslime sunnitisch sind.

Die USA machten sich im Irak während ihrer Besetzungszeit bekanntlich keinen ruhmvollen Namen und trug zur Spaltung zwischen Sunnit_innen, Schiit_innen und Kurd_innen bei. Das führte im Irak bald zum Auftreten Al-Kaidas, die ganz neben bei gesagt in den 80ern durch die USA mit aufgebaut wurde, um die Sowjetunion aus Afghanistan zu vertreiben. 2013 stieg die bis dahin im Irak durch ihren Terror eher unpopulär gebliebene Al-Kaida in den syrischen Bürgerkrieg ein und terrorisierte die dortigen Bewegungen. Dort spaltete sich der IS von Al-Kaida ab, erfuhr aber ähnlich wie im Irak Widerstand aus der Bevölkerung, auch erste Kämpfe mit Kurd_innen fanden statt und Anfang 2014 war die IS vorerst zurückgeschlagen. Das sie im Juni dann derart schnell stärker als zuvor wurde, geht im Wesentlichen auf das Konto Nuri al-Malikis, dem inzwischen zurückgetretenen schiitischen Präsidenten des Irak und Ex-Marionette der USA.

Quelle: http://polpix.sueddeutsche.com/bild/1.2013448.1403542775/860x860/isis-irak-syrien.jpg

Quelle: http://polpix.sueddeutsche.com/bild/1.2013448.1403542775/860×860/isis-irak-syrien.jpg

Im Juni 2013 kam es in einigen Städten zu ersten sunnitischen Widerständen gegen das Maliki – Regime, welche bald von diesem bombardiert und belagert wurden. Der IS tat nichts anderes als die Gunst der Stunde zu nutzen und übernahm im Juni die Stadt Mossul, wobei sie in den Sunniten sogleich Unterstützer fanden und sunnitische Scheichs der Mörderbande ihre Städte überließen. Blitzartig zogen sich die irakischen Truppen ohne Ausrüstung zurück, den IS-Horden fielen riesige Mengen Hightech-Waffen aus westlicher Produktion in die Hände.

Vermutliche Unterstützung erfährt der IS auch von Saudi-Arabien, was sich von Destabilisierung der Region einen Machtausbau erhofft und auch von der Türkei, welche verwundete IS-Kämpfer in ihren Krankenhäusern behandelt und ihre Grenze zum Irak für IS-Mitglieder durchlässig hält. Die Türkei erhofft sich dadurch eine Schwächung der Bewegung in Kurdistan.

Das bringt uns zurück zu den Kurd_innen selbst. Die Gebiete der ca. 25 Millionen Kurd_innen erstrecken sich über die Länder Türkei, Iran, Irak und Syrien – Ergebnis der kolonialen Aufteilung der Region durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges, welche die ethnischen Grenzen in der Region völlig ignorierte und bis heute Grund für Konflikte ist.

Dabei kommt es vor allem in der Türkei zu immer wiederkehrenden, gravierenden Differenzen: Seit der kemalistischen Nationalismuspolitik in der Türkei, welche vorsah eine Türkei zu schaffen, in der alle Ethnien türkisch sind, unterdrückt der türkische Staat die Kurd_innen und spricht ihnen das 1920 kurzzeitig gegebene Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung ab. Es kam immer wieder zu Aufständen, welche aber allesamt von der türkischen Armee niedergeschlagen wurden.

1978 gründete sich die „Arbeiterpartei Kurdistans“ PKK, welche als zentrales Mittel ihrer Politik den militanten Kampf gegen die Unterdrückung führt, einige Anschläge verübte und heute von EU, USA und Türkei als Terrororganisation eingestuft, verboten und auch mit deutschen Waffenlieferungen an das türkische Regime bekämpft wird. Abgesehen von einigen linken Phrasen ist sie heute eher bürgerlich-nationalistisch ausgerichtet und fordert inzwischen konföderale Strukturen in der Türkei. Die kurdische Bewegung findet zunehmend Unterstützung in türkischen Gewerkschaften und Umweltverbänden.

Auch in den anderen drei Ländern Irak, Iran und Syrien waren die Kurd_innen als Minderheit jahrelanger Repression ausgesetzt, Widerstand wurde aufgebaut. Im Nordirak wurde in 1992 bereits eine ansatzweise Selbstständigkeit erkämpft, bis die dortigen Kurd_innen 2005 im Zuge der US-Besatzung von der schiitischen Regierung eine weitgehende Autonomieregion (KRG) mit kurdischer Amtssprache, eigenem Staatsapparat und Armee (Peschmerga) anerkannt bekamen – allerdings auch weil die dortige kurdische Führung den US-Imperialismus stütze. Inzwischen hat sich dort fast schon ein Staat im Staate gebildet, welcher infrastrukturell wesentlich weiter entwickelt ist als der restliche Irak – auch weil die dortige Autonomieregierung der Demokratischen Partei Kurdistan (KDP) des korrupten Barzani-Clans das Geld nicht ähnlich massiv in Waffen umsetzte, wie dies Bagdad tat.

Dann, 2011, kam der arabische Frühling. Syrisch-kurdische Städte demonstrierten mit als erstes. Als die Revolution dann in einen Bürgerkrieg überging und klar war, dass die syrische Opposition die kurdischen Forderungen ebenfalls nicht anerkennt, konzentrierten sich die Kurd_innen auf die Verteidigung ihrer Gebiete im Norden (Rojava), wo im Januar die Autonomie ausgerufen wurde und Rätestrukturen im Aufbau sind und zunehmend die Kontrolle übernehmen – wobei diese klar von proletarischen Räten abzugrenzen sind, vielmehr sind es Volksfronträte. Inzwischen sind über eine Millionen Menschen aus Syrien in die Rojava geflüchtet, die Solidarität füreinander ist angesichts der aktuellen Bedrohung groß: Es ist den enormen Hilfsleistungen und Lieferungen der türkischen Kurd_innen zu verdanken, dass es unter dem Feuer syrischer Gruppen und islamistischer Terroristen eine kurdische Rojava noch gibt.

2011 wurde dort von der PKK-nahen Partei der demokratischen Union (PYD) ihr militärischer Arm gegründet, welcher zurzeit trotz schlechter Bewaffnung am erfolgreichsten gegen den IS kämpft. Dabei verteidigt der Arm nicht nur Rojava, sondern geht auch darüber hinaus gegen die Terrorbande vor. Diese Miliz setzt sich gleichermaßen aus Frauen (YPJ) und Männern (YPG) zusammen – ein wesentlicher Grund für die bisherigen Erfolge.

Sowieso ist die kurdische Organisierung in diesem Aspekt sehr progressiv ausgerichtet: 30-prozentige Frauenquote in der Autonomieregierung im irakischen Teil, geschlechterquotierte Doppelspitzen auf allen Ebenen in Rojava und dem türkischen Teil sowie 40-prozentige Frauenquote.

Weibliche Kämpferinnen stellen einen großen Teil der Selbstverteidigungstruppen der Kurd*innen Quelle: https://33.media.tumblr.com/07f571bb1c9f231eb3a10722855f0f8b/tumblr_napm92N41J1tb16pso1_500.jpg

Weibliche Kämpferinnen stellen einen großen Teil der Selbstverteidigungstruppen der Kurd*innen
Quelle: https://33.media.tumblr.com/07f571bb1c9f231eb3a10722855f0f8b/tumblr_napm92N41J1tb16pso1_500.jpg

Der IS stellt eine große Bedrohung für den kurdischen Kampf dar, aber angesichts des drohenden Zerfalls des Iraks und Syriens eröffnet
sich gleichzeitig eine große Chance in Richtung kurdischer Selbstbestimmung.

Die Mächte der NATO – allen voran die USA – stehen vor den Trümmern ihres imperialistischen Komplexes, mit dem sie versucht haben sich in der Region festzusetzen und sie zu kontrollieren – gesprengt durch die eigene Politik, durch die eigenen Waffen. Die Ratlosigkeit des Westens wird deutlich wenn man betrachtet, dass dieser im Kampf gegen IS sogar eine Allianz mit dem Iran diskutiert, wovon ihre Verbündeten und gleichzeitig Verfeindeten des Iran, z.B. Israel und Saudi-Arabien, alles andere als begeistert sind.

Kurdistan könnte sich nun zunehmend als Stabilitätsfaktor und kurzzeitiger, attraktiver Partner zur Schadensbegrenzung herausstellen, welchen der Westen nun für sich zu gewinnen versucht – was durch die jüngsten „Unterstützungsbombardements“ und „Hilfstruppen“ durch die USA bereits bewiesen ist, letztlich aber nur noch mehr Sunniten in die Arme der IS treiben wird. Hier geht es natürlich auch nicht vorrangig um Unterstützung des kurdischen Befreiungskampf, sondern mal wieder um Rettung gefährdeter Interessen: Kirkuk, eine Stadt, die ein riesiges Ölfeld kontrolliert, fiel wenige Tage nach der IS-Offensive Anfang Juni in die Hände der Kurd_innen. Der Befreiungskampf wird also nur in sofern unterstützt, als er den imperialen Interessen dienlich ist – was nicht heißt, das der imperialistische Westen einen eigenen kurdischen Staat unterstützen wird, ein Erhalt des Irak ist ihm der eigenen Interessen halber lieber.

Kurdistan wurde außerdem zu einem Zufluchtspunkt für Flüchtlinge aus der gesamten Region, was nicht zuletzt daran liegt, dass hier kein religiöser Fundamentalismus vorherrschend ist und weniger nach ethnischer Homogenität gestrebt wird – was allerdings nicht unbedingt für die kurdischen Führer gilt.

Auf dem Weg zum befreiten Kurdistan liegen aber auch innerhalb der Region noch große Probleme vor: So ist die Korruption weit verbreitet – vor allem im schon oben erwähnten Clan der Barzanis und in der PUK, einer nationalistischen Partei. Außerdem ist Barzani die Führung der Rojava ein Dorn im Auge – schließlich sieht er durch sie in Verbindung mit der PKK seine Vormachtstellung gefährdet. Um seine Macht zu sichern arbeitete der Clan bisweilen auch mit Erdogan zusammen.

Auf der anderen Seite ist in der Rojava auch nicht alles Gold, was glänzt: die PKK-nahe PYD hat dort andere Parteien illegalisiert und eine autoritäre Einparteienherrschaft errichtet. Die aus dieser Volksfrontpolitik resultierende Repression schwächt auch den Befreiungskampf und richtet sich oft auch gegen Linke.

Ein anderes, großes Problem ist die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Türkei – nur über sie gelangt kurdisches Öl auf den Markt und aus ihr kommen etwa 80 % aller Lebensmittel. Auch die Unterdrückung der Frau und der LGTB ist trotz Rojava noch immer stark verfestigt.

Unterstützt würde ein eigenständiger kurdischer Staat im Irak aktuell von Israel, wegen des Öles wohl auch von der Türkei toleriert, abgelehnt hingegen vom Iran, in den anderen Teilen Kurdistans gibt es dafür von anderen Staaten hingegen weniger Unterstützung.

Auf dem Weg zur Unabhängigkeit gilt es für die Kurd_innen jetzt aber zunächst alle Kräfte gegen IS zu mobilisieren, ihn an der Ausweitung seines reaktionären, menschenverachtenden Feldzuges zu hindern und ihn letztlich ein für alle mal zurückzuschlagen. Ferner ist es unabdingbar, jede Einflussnahme des Imperialismus entschieden abzuwehren, da er Kurdistan nur zu einer neuen Halbkolonie machen und alles Progressive zerstören würde.

Hier wird gestritten, ob Linke Waffenlieferungen an die kämpfenden Kurden unterstützen sollen. Was wir hier haben, ist ein kurzzeitiges Zusammenfallen der Interessen von imperialistischen Staaten und Konzernen sowie der Interessen von für Unabhängigkeit kämpfenden Unterdrückten, welche sich zudem gegen faschistische Fundamentalisten verteidigen müssen, was in Kurdistan für YPJ/YPG, als auch für die Peschmerga gilt. Der IS ist im Besitz von hochtechnologischen Waffen aus US-Produktion, die Verteidiger_innen der kurdischen Gebiete sind hingegen mit eher primitiver Bewaffnung ausgerüstet. Aus dieser Lage muss die Forderung entstehen, die gegen IS auftretenden Kräfte auch mit Bewaffnung zu unterstützen, wenn sie dies einfordern. Gleichzeitig lehnen wir eine Waffenkontrolle durch Barzani ab – die Kontrolle gehört in die Hände der Milizen und der Ausgebeuteten. Auf der anderen Seite fordern wir die sofortige Einstellung von Waffenlieferungen an die IS-Unterstützerstaaten. Uns ist bei diesen Forderungen bewusst, dass die Imperialisten des Westens die PKK und ihre Milizen nicht beliefern werden – fordern muss man es dennoch!

Für die Zukunft wird es von entscheidender Bedeutung sein, den aktuellen Kampf fortzuführen, wobei aber nur eine sozialistische, revolutionäre Strategie die Befreiung aller in den kurdischen Gebieten lebenden Menschen bedeutet – unabhängig von Ethnie, Kultur, Geschlecht und nicht zuletzt vom äußeren Imperialismus. Diese Perspektive muss sich nun entwickeln und beweisen, dass sie die einzige ist, die sich im Kampf gegen die faschistischen Milizen zugunsten der ärmlicheren Arbeiter_innen und Bauern_Bäuerinnen entwickeln kann.

Ein sozialistisches Kurdistan kann dann aber nur überleben, wenn der gesamte Nahe Osten dem Beispiel folgt und sich durch eine soziale Revolution der Ausgebeuteten und Abhängigen von Imperialismus, Terror, Krieg, Korruption und Unterdrückung befreit – was eine riesige Bereicherung für alle im Nahen Osten lebenden Menschen wäre und letztlich dauerhaften Frieden gewähren kann.
In der aktuellen Situation stellen wir folgende Forderungen auf:

  • Stoppt das Massaker der IS – Stopp jeglicher Unterstützung der IS!
  • Massive humanitäre, strukturelle Hilfe für die Kurd_innen!
  • Aufbau von proletarischen Rätestrukturen – Zerschlagung der korrupten Clanstrukuren und Einparteienherrschaften!
  • Die Kontrolle über die kurdischen Gebiete und die dortigen Unternehmen in die Hände der Ausgebeuteten!
  • Eine taktische – nicht politische – Einheitsfront aller kurdischen, syrischen & irakischen Milizen, die sich IS entschlossen entgegenstellen!
  • Stopp jeglicher Waffenlieferungen an imperialistische Vertreter und reaktionäre Banden!
  • Aufhebung des PKK-Verbotes, Streichung von der Terrorliste und Freilassung aller Gefangenen!
  • Bekämpfung jeglichen Imperialismus – er wird die Situation dort nur verschlimmern, wie er es bereits tat!

Frieden und Freiheit für Kurdistan! Quelle: http://www.antifaschistische-linke.de/Bilder/2010-11-20-heilbronn-demo.jpg

Frieden und Freiheit für Kurdistan!
Quelle: http://www.antifaschistische-linke.de/Bilder/2010-11-20-heilbronn-demo.jpg

  • Keine weiteren Luftschläge – Waffenlieferungen ohne imperialistische Bedingungen an die gegen IS kämpfenden Milizen, wenn sie diese einfordern !
  • Aufbau von Solidaritätsbündnissen zur internationalen Unterstützung der Kurd_innen!
  • Grenzen auf für Flüchtlinge! – Grenzen dicht für IS!
  • Schluss mit der Unterdrückung der Kurd_innen durch Irak, Iran, Türkei und Syrien!

Für ein freies, einiges, selbstbestimmtes, säkulares und sozialistisches Kurdistan!

Für die vereinigten, sozialistischen Staaten des Nahen Osten!

Ein Artikel von Lars Filder, REVOLUTION Fulda