Grundlagen des Marxismus: Linker Populismus

Mit der Aufmerksamkeit und der Polarisierung rund um Sahra Wagenknecht ist der Vorwurf des „Linke Populismus“ wieder laut geworden. Doch was genau ist das, und warum sollten wir darüber sprechen? In diesem Artikel werden wir den Begriff des Linkspopulismus erklären, wie ihn unsere Jugendorganisation definiert, und welche Auswirkungen er auf unsere politische Arbeit hat.

Zunächst nochmal: Es ist wichtig, über Politische Strategien zu debattieren, denn sie sind letztendlich der Kern jeglicher politischen Bewegung. Solche Auseinandersetzungen helfen uns dabei, ideologische Überschneidungen zu identifizieren, unsere revolutionären Programme zu stärken und die richtigen Taktiken und Forderungen auszuwählen. Sie ermöglichen es uns auch, politische Erscheinungsformen zu erkennen und angemessen mit ihnen in unserer politischen Arbeit umzugehen.

Verständnis des Linken Populismus

Der Kern des Linke Populismus‘ ist ein Praxis, der darauf abzielt, eine politische Frontlinie zwischen zwei konstruierten Polen zu ziehen. Diese beiden Pole stellen dabei aber nicht wie im Marxismus ein verwobenes Klassenverhältnis als Grundlage eines gesellschaftlichen Systems dar, sondern werden als ein plumper Gegensatz dargestellt, in der Regel zwischen „dem Volk“ und „den Eliten / Reichen / Politiker:innen“ heruntergebrochen werden. Vereinfacht gesagt geht es darum, eine Frontlinie zwischen einem guten „Wir“ und einem bösen „Die“ aufzubauen, wobei es in der Charakterisierung dieser Kollektive eher um die individuellen Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Fleiß und Schlauheit geht als um ein Verständnis der politisch-ökonomischen Dynamik. Mit dieser einfachen Opposition streben linke Populist:innen eine kollektive Identifikation an, die zumindest zeitweise sehr mobilisierend sein können. Diese erweitert in ihrer Argumentation, wie es beispielsweise die linkspopulistische Theoretikerin Chantal Mouffe ausdrückt, die Politik über reine Klasseninteressen hinaus. Jedoch rückt hier die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Arbeiterklasse, den Kapitalist:innen und den Kleinbürger:innen in den Hintergrund. Der Fokus auf diese Klassenverhältnisse ist es, den Theoretiker:innen des Linkspopulismus besonders häufig an anderen Strömungen der Arbeiter:innenbewegung kritisieren. So werfen sie Marxist:innen vor, sie würden einen „Klassenessentialismus“ betreiben, also dass man dogmatisch in der politischen Theorie und Praxis alles auf die Klassenzugehörigkeit runterbricht. Diese Kritik wird damit begründet, dass durchdachte sozialistische Programme zu eingeschränkt seien, da sie jegliche Politik zu stark auf dem im Kapitalismus existierenden Klassenwiderspruch ausrichteten. Sie sehen eine Vereinfachung des Konzeptes als ein „Wir“ gegen „Die“ als eine vielversprechende Möglichkeit an, Massen von linker Politik zu überzeugen. Eine konkrete Analyse der Klassenwidersprüche ist für uns jedoch der zentralste und notwendigste Bestandteil dabei, eine wirksame politische Programmatik zu entwickeln, da diese die ökonomische und politische Grundlage der Gesellschaft bilden.

Das Ziel des linken Populismus ist nach seinen Befürworter:innen die Wiederherstellung und Vertiefung der Demokratie, indem man „dem Volk“ dazu behilft, seine eigentlich per Definition zustehenden Macht auszuüben, meist in der Form, die linkspopulistische Partei als deren Sprachrohr zu wählen. Die Vorstellung des „Volkes“ wird dabei eben nicht an objektiven Klassenunterschieden festgemacht, sondern kann je nach Auslegung als sozialer Schicht, Milieu oder politische Interessengruppe definiert sein. Diese Konstruktion des „Volkes“ kann somit auch mit reaktionären Positionen wie Nationalismus und (sozialem) Chauvinismus einhergehen und tut dies in der Praxis auch immer wieder, siehe Sahra Wagenknechts Befürwortung von Asylrechtsverschärfungen.

Ein weiteres Merkmal des Linkspopulismus ist die Konzentration auf einzelne Themen und die Verwendung von einfachen Erklärungen, die oft von emotionalen Elementen getragen werden. Dies kann eine effektive Methode sein, um die Massen zu mobilisieren, birgt jedoch auch das Risiko, dass politische Diskussionen oberflächlich und undifferenziert werden. Außerdem wird es dadurch schwieriger für die Arbeiter:innen, ihre objektive Lage im Kapitalismus zu erkennen und somit ein Klassenbewusstsein zu entwickeln. Das wollen aber Linkspopulist:innen ja auch gar nicht, denn es geht vornehmlich darum, gewählt zu werden.

Die populistische Bewegung oder Partei

Der Aufstieg von Parteien und Bewegungen, die sich zumindest linkspopulistischen Ansätzen bedienen, hat in den letzten Jahren durchaus großen Raum auf der politischen Bühne eingenommen. In Südamerika spielen linkspopulistische Kräfte schon lange eine recht große Rolle. Als europäische Beispiele sei hier die griechische Partei SYRIZA zu nennen, die nach dem Wahlsieg im Jahr 2015 den griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras stellte, sowie die Partei PODEMOS in Spanien, welche ebenso 2015 und auch später bei Parlamentswahlen zweitweise große Erfolge erzielte. Das jüngste Beispiel einer großen Partei ist sicherlich La France Insoumise rund um Mélenchon, der immerhin 22% bei der letzten Präsidentschaftswahl in Frankreich erringen konnte. Und was ist mit Sahra Wagenknecht? Definitiv trägt das ihr bisher vorgestelltes Programm linkspopulistische Züge, aber ist deutlich unklarer und enthält auch viel Konservativismus bis Nationalismus. Ob letztendlich die Partei, die dem Bündnis Sahra Wagenknecht nachfolgt, überhaupt als Ganzes als linkspopulistisch einzuschätzen ist, bleibt abzuwarten, sobald diese sich überhaupt konstituiert haben und klar ist, welche Kräfte dabei inhaltlich und organisatorisch mitmischen.

Die linkspopulistischen Elemente dieser Kräfte zielen dann darauf ab, Massen zu mobilisieren. Sie lehnen klassenbasierte Politik ab, versuchen aber den Raum zu füllen, der von der klassischen Sozialdemokratie zurückgelassen wird, da die Lohnabhängigen sich immer stärker von diesen abwenden. Das wird vor allem dann möglich, wenn das Vertrauen von Teilen der Arbeiter:innenklasse, aber auch der kleinbürgerlichen Bevölkerung und den Mittelschichten, in die parlamentarische Demokratie schwindet. In Zeiten politischer und wirtschaftlicher Krisen suchen sie nach Alternativen, die etablierte Formen der bürgerlich-demokratischen Herrschaft und die sie unterstützenden Parteien in Frage stellen. Linkspopulistische Parteien und Bewegungen scheinen in diesen Momenten eine solche Alternative zu bieten. Klare Frontlinien, einfache Forderungen und Vorschläge, die direkte Nöte der Menschen und politische Missstände adressieren, verschaffen ihnen, zumeist kurzweiligen, Aufschwung und Unterstützung der Wähler:innenschaft. Es kann auch gar nicht nachhaltig sein, denn die Beschränkung und Flachheit der politischen Theorie und Praxis führt meist zu einer höchstens reformerischen Politik, die nicht dazu in der Lage ist, die eigentlichen Probleme durch die Überwindung der Kapitalismus aufzulösen. Der versprochene Umschwung bleibt aus.

Verbindung des Populismus zu unserer politischen Arbeit

Der Linkspopulismus hat in den großen linken Parteien weltweit großen Einfluss. Natürlich gibt es Forderungen in bestimmten Kämpfen, die auch mit unseren Positionen als trotzkistische Jugendorganisation vereinbar sind. Durch diese gemeinsamen Positionen können Linkspopulist:innen und ihre Organisationen sowohl für uns als auch für andere revolutionäre Gruppen und Parteien temporäre Partner:innen darstellen. Dabei kritisieren wir den Linken Populismus und seine Strategie jedoch scharf, insbesondere seiner Missachtung des zentralen Klassenwiderspruchs, welche weitreichende Konsequenzen in Bezug auf Forderungen und Taktiken hat.

Die Bewegungen, die dem Linkspopulismus zuzuordnen sind, haben in den letzten Jahren einen nicht unwichtigen Platz auf der politischen Bühne gefunden und können insbesondere in Zeiten des Vertrauensverlusts in etablierte reformistische Parteien aufblühen. Dabei haben sie jedoch wie in Griechenland, Spanien oder mehreren Ländern Lateinamerikas, bereits gezeigt, dass ihre Taktik keine wirkliche Lösung für die Krisen des Kapitalismus bieten kann. Tsipras musste am Ende vor der Troika kapitulieren, da er nicht bereit war, mit der nationalen Bourgeoisie zu brechen und eine Arbeiter:innenregierung zu schaffen. Die peronistische Opposition in Argentinien verhält sich im Kampf gegen Mileis radikale Angriffe sehr zurückhaltend, da sie nicht bereit ist, den Arbeiter:innen eine radikale Antikrisenpolitik in ihrem Interesse anzubieten und nicht mit der bürgerlichen Politik brechen will. Dennoch müssen wir als kommunistische Jugendorganisation genau auf die Entwicklung linkspopulistischer Organisationen schauen und diesen Zusammenarbeit anbieten, wo das sinnvoll ist. Gerade auch um die inneren Widersprüche des Linkspopulismus zu vertiefen und deren Mitgliedern aufzuzeigen, dass ein klares Benennen des Klassengegensatzes und eine Politik im Interesse des Proletariats, die einzige Möglichkeit sind, die Krise tatsächlich zu lösen.




Warum unterstützen wir nationale Befreiungskämpfe?

Von Felix Ruga, Dezember 2023

Als Kommunist:innen kämpfen wir tagtäglich für eine Welt ohne Nationen, ohne Klassen, ohne Staatlichkeit, mit offenen Grenzen für alle, für eine Welt unbeschränkter Freiheit. Hierfür widersetzen wir uns auch den rechtsnationalen Kräften von AfD und Konsorten und setzen dem ein solidarisches Weltbild entgegen, in der die Grenzen nicht zwischen „Deutsche“ und „Ausländer“ verläuft, sondern zwischen unserer Klasse und der herrschenden Klasse. Erst recht wird keine:r von meinen Genoss:innen eine Deutschlandfahne in der Twitter-Bio haben oder die eigene Identität rund um das „Deutschsein“ aufbauen. Nichts könnte uns ferner liegen als solche nationalistischen Ideen.

Auf der anderen Seite stehen wir entschlossen auf der Seite bestimmter nationalistischer Bewegungen. Wir erheben unsere rote Fahne im Meer von kurdischen oder palästinensischen Fahnen. Letztendlich Nationalfahnen, aber von Völkern ohne Land. So verteidigen wir auch das Recht der vielen Völker, die ihrer nationalen Selbstbestimmung beraubt werden, wie jüngst den Armenier:innen, den Ukrainer:innen oder den kolonialisierten Völkern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens. Wir wollen uns in diesem Artikel die Frage stellen, wie wir nationale Befreiung mit der Menschheitsbefreiung verbinden.

Was ist überhaupt Nationalismus?

Der Nationalismus behauptet, die Nation stelle eine Schicksalsgemeinschaft dar, die schon immer existiert habe und für immer existieren werde. Doch das ist reinste Ideologie. Vor der Entstehung des modernen Kapitalismus haben sich die Leute viel eher regional oder religiös identifiziert. Vorkapitalistische Staaten hatten oftmals keine festen Grenzen und forderten vom Volk keine Identifizierung mit der Staatsgewalt. Der Nationalismus ist Produkt der bürgerlichen Epoche, musste sich über Jahrhunderte gegen viele Widerstände durchsetzen und erfüllt einige zentrale Funktionen für die kapitalistische Ausbeutung: Zum einen das Zusammenfügen großer Länder zu einer vereinheitlichten wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Grundlage, auf der sich der bürgerliche Staat gründen konnte. Dieser führte und führt unter dem Banner der Nation stets koloniale Feldzüge, imperialistische Kriege und regionale Überfälle auf andere Nationen. Zum anderen als Ideologie einer nationalen „Gemeinschaft“ – selbstverständlich unter der Dominanz der herrschenden Klasse- , die den damals aufkommenden Klassenwiderspruch verdecken sollte. Dem Proletariat soll weiß gemacht werden, dass sie dieselben „nationalen Interessen“ wie die Bourgeoisie hätten und so an ihre kapitalistischen Ausbeuter:innen gebunden werden. Aber dass der Nationalismus letztendlich etwas Konstruiertes ist, sollte uns nicht trügen: Das gemeinsame nationalistische Selbstbewusstsein ist eine reale politische Macht und eine der mächtigsten bürgerlichen Ideologien überhaupt.

Auf Demos ereignet sich oft der Klassiker, dass schwarz-vermummte Menschen den Slogan „Hoch die internationale Solidarität“ mit „antinationaler Solidarität“ versuchen zu überschreien. Der sogenannte Antinationalismus klingt durch seine Negation der Nation zwar radikal aber übersieht, dass die enge Verbundenheit nationalistischer Ideologien mit dem Kapitalismus eine leider anzuerkennende Realität darstellt und gibt daher auch keinen Weg vor, sie zu überkommen. Wir müssen stattdessen im revolutionären Kampf das Nationendenken und die Existenz von Nationalstaaten als materielle Realität anerkennen, um sie überwinden zu können aber ohne uns dem auch nur ein Stück weit anzupassen. Das wird insgesamt unter dem Begriff „Internationalismus“ zusammengefasst, der für revolutionäre Marxist:innen zentral ist. Erkennbar ist das beispielsweise an der berühmten antimilitaristischen Parole Karl Liebknechts „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“, bei dem man zwar in nationalen Kategorien denkt und handelt, aber im Sinne der internationalen Solidarität, sodass jede Arbeiter:innenklasse nur ein Teil der internationalen Arbeiter:innenklasse darstellt.

Doch warum die Palästina- und Kurdistanfahnen, wenn wir so entschiedene Gegner:innen des Nationalismus sind?

Kampf um nationale Befreiung

Die kapitalistische Produktionsweise hat sich im Zuge ihrer Ausdehnung auf den gesamten Erdball zu einem globalen System des Imperialismus entwickelt. Dieses kennt nur einige wenige imperialistische Staaten auf der einen und von ihnen abhängige Staaten auf der anderen Seite. Egal in welchem Land: Der Nationalismus verschleiert stets den Klassenwiderspruch, legitimiert bürgerliche Herrschaft und muss bekämpft werden. Eine sozialistische Revolution wird und kann nur erfolgreich sein, wenn sie das Banner des Nationalismus in Stücke reißt und ihre rote Fahne weht. Die entscheidende Frage ist hier jedoch das Wie?

Darüber gab es lange Streit in der Kommunistischen Internationalen und dieser Streit setzt sich auch heute noch zwischen revolutionären Kommunist:innen, Anarchist:innen, Antinationalen und Stalinist:innen fort. Lange ging man in der Kommunisten Internationalen davon aus, dass man erst die Revolution in den imperialistischen Ländern brauche und dann könnte man ihre Kolonien gleich mitbefreien. Dagegen machte Trotzki stark, dass die Befreiung in den imperialistischen Ländern und den Kolonien ein wechselseitiger Prozess ist, bei dem das eine das andere bedürfe. Nach der russischen Revolution stellte sich die Internationale die Frage, wie man mit den ehemaligen Kolonien des Zarenreichs nun umgehen solle. Dabei wollte man vermeiden, dass den unterdrückten Massen die neue Sowjetmacht nun als neue Fremdherrschaft, die die zaristische Unterdrückung ersetze, vorkomme. Also entschied man sich dafür, den ehemaligen Kolonien das Recht auf nationale Unabhängigkeit zu gewähren und hoffte darauf, dass sie sich freiwillig der Sowjetunion anschließen würden, was auch viele taten. Somit wurde der Kampf für nationale Selbstbestimmung für die Kommunistische Internationale zu einer Taktik im Kampf für die Weltrevolution, die jedoch stets den Zweck hatte, die Unterdrückten von ihrem falschen nationalistischen Bewusstsein wegzubrechen und für den internationalistischen Kampf zu gewinnen.

Die Unterdrückung in den Kolonien, ob vom Zarenreich oder anderen imperialistischen Nationen, förderte einen Nationalismus, der meist den schlichten Wunsch nach Unabhängigkeit und dem Ende von Fremdbestimmung verkörperte. Die Forderung nach kultureller Freiheit und politischer Unabhängigkeit, also das Recht, die eigene Sprache, Religion, politische Ideen oder sonstige Eigenheiten frei ausleben zu dürfen, ist zu unterstützen, solange dadurch niemand anderes Freiheit eingeschränkt wird. Aber auch das gleiche politische und juristische Recht, egal wo man lebt, der Schutz vor staatlicher Willkür und sowieso auch das Recht, zurückzukehren an den Ort, von dem man vertrieben wurde. Das sind alles legitime und unterstützenswerte nationale Forderungen. Auch wenn es heute keine Kolonien mehr in der Form gibt wie zu Zeiten der kommunistischen Internationale bestehen trotzdem auch heute noch (halb-)koloniale Abhängigkeiten, die bei den Unterdrückten die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung aufkommen lassen.

Hierbei gilt es sich in Anbetracht eines Unrechts stets auf die Seite der Unterdrückten zu stellen. Dies ist sogar besonders gefragt, wenn es sich um westliche Linke handelt, denn „unsere“ Nationalstaaten sind meist direkt verantwortlich für die Misere kolonialisierter Völker oder machen gemeinsame Sache mit den Unterdrückerstaaten wie der Türkei oder Israel. Unsere Solidarität ist wichtig, denn wir fallen damit auch „unseren“ Imperialist:innen und ihren außenpolitischen Ambitionen in den Rücken. Hinzu kommt auch, dass eine heftige nationale Unterdrückung dazu führt, dass sowohl in der „unterdrückenden“ als auch in der doppelt unterdrückten Arbeiter:innenklasse jegliche politische Auseinandersetzung ethnisch gelesen wird. Dadurch rückt die Klassenzugehörigkeit in den Hintergrund und die nationale Zugehörigkeit überdeckt diese. Das stellt für den Klassenkampf natürlich ein Problem dar und dementsprechend verbessert der Kampf um nationale Befreiung die Möglichkeiten, Klassenkonflikte offenzulegen.

Gleichzeitig fordern die antikolonialen und nationalen Befreiungskämpfe das imperialistische System heraus. Viele kämpfende unterdrückte Nationalitäten sind den führenden imperialistischen Staaten ein Dorn im Auge, da ihr Widerstand Profite und Investments gefährdet und die imperialistische Vorherrschaft in der Region ernsthaft in Frage stellt. Antiimperialismus bedeutet also den ökonomischen und militärischen Machenschaften wie etwa deutscher, französischer, britischer, russischer, US-amerikanischer und chinesischer Kapitalist:innen hier wie dort den Mittelfinger zu zeigen. Die Welt ist verbunden. Kein Befreiungskampf kann als isoliert vom anderen begriffen werden. Deren Kampf ist unser Kampf.

Wir unterstützen deshalb bindungslos das Recht aller Völker auf nationale Selbstbestimmung, insofern dies den demokratisch bestimmten Wunsch der Mehrheit darstellt und die Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen im neu zu gründenden Staat gewährleistet werden kann. Wir erkennen damit die Notwendigkeit, dass der Widerstand gegen jeglichen äußeren Einfluss, Gewalt und Unterdrückung geleistet werden muss, auch wenn er das Banner des Nationalismus trägt. Das heißt jedoch nicht, dass wir jede nationale Befreiungsbewegung bedingungslos unterstützen. Nicht jeder Autonomiebestrebung geht voraus, dass eine nationale Minderheit reell unterdrückt wird, beispielsweise in der bayrischen oder schottischen Autonomiebewegung. Folgende Fragen müssen bei der Betrachtung einer nationalen Unabhängigkeitsbewegung beantwortet werden: Wie setzt sich die Bewegung zusammen? Welche Kräfte spielen die tragende Rolle? Aus welchen sozialen Klassen setzen sie sich zusammen? Was sind ihre Ziele? Wie ist die soziale Ausgangssituation? Also gibt es eine ökonomische Krise, rassistische Repression oder faschistische Angriffe und welche Autonomierechte existieren bereits?

Als Revolutionär_innen schicken wir jedoch keine Fragebögen an jegliche Befreiungsbewegungen und machen unsere Unterstützung von einer schriftlichen Antwort per Post abhängig. Wer ernsthafte revolutionäre Politik betreibt, bewertet Bewegungen anhand ihrer politischen Praxis und nichts weiter!

Jede Unterstützung nationaler Befreiungsbewegung fordert jedoch stets die Unabhängigkeit der proletarischen Bewegung, politisch wie organisatorisch. So kann es in (halb-)kolonialen Ländern notwendig sein, dass revolutionäre Marxist:innen Bündnisse mit nationalistischen Kräften eingehen. Revolutionär:innen dürfen sich denen jedoch nie unterordnen, so wie es stalinistische, maoistische oder klassische „Antiimp-Kräfte“ im Zuge ihrer Etappentheorie tun. Die Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen ist für uns lediglich eine Taktik, ein Mittel zum Zweck, um die Unterdrückten vom Nationalismus wegzubrechen und sie für den proletarischen Internationalismus zu gewinnen. Wir unterstützen die Bewegungen, da wir nicht als die marxistischen Besserwisser:innen am Zaun stehen wollen, sondern davon ausgehen, dass wir die Bewegung am besten vom Nationalismus wegbrechen können, indem wir im gemeinsamen Kampf um legitime Forderungen aufzeigen, dass sich diese nur durch ein Programm der permanenten Revolution umsetzen lassen.

Permanente Revolution!

Die Theorie der permanenten Revolution sagt grundlegend erstmal aus, dass in der imperialistischen Epoche die Möglichkeit besteht, in (halb-)kolonialen Ländern die sozialistische Revolution durchzuführen, indem man diese unmittelbar auch mit den Aufgaben und Forderungen einer bürgerlichen Revolution verknüpft. Dies funktioniert jedoch nur so lange, wie sich die Revolution danach auf andere Länder ausweitet, gewissermaßen als Startschuss der Weltrevolution. Mehr noch: Anders sind die bürgerlichen Forderungen nach Demokratie, gleichen Rechten, Befreiung von feudalistischen Rückständen, Frieden, Wohlstand und auch nationaler Befreiung nicht zu erreichen, weil die halbkolonialen Kapitalist:innenklassen im internationalisierten Kapitalismus zu klein und zu abhängig sind, als dass man von ihnen irgendwas Revolutionäres erwarten könnte. Also muss es das Proletariat im Bündnis mit den verarmten Bäuer:innen erkämpfen.

Am Beispiel Palästinas und Kurdistan kann man dies klar erkennen: Man kann sich eigentlich nicht vorstellen, dass die eigentlich genügsamen Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung, kultureller Freiheit, Gleichberechtigung und Schutz vor staatlicher Willkür noch innerhalb kapitalistischer Verhältnisse gelöst werden können. Ein eigener palästinensischer oder kurdischer bürgerlicher Nationalstaat scheint unerreichbar, vor allem als isolierter Kampf.

Aber dennoch gibt es eine Möglichkeit, diese Forderungen zu erreichen: Das Aufgehen in einer sozialistischen Föderation. Dementsprechend tragen gerade die nationalistischen Bewegungen unterdrückter Nationen die Perspektive in sich, selbst internationalistisch zu werden, sich mit anderen progressiven Bewegungen zusammenzuschließen, die Revolution zu entfachen. Wenn in einem zweiten arabischen Frühling all die Handlanger des Imperialismus hinweggefegt werden und sich eine sozialistische und internationalistische Bewegung erhebt, wird es keine Sekunde in Frage stehen, ob man den Palästinenser:innen, den Bergkarabach-Armenier:innen, den Belutschen oder den Kurd:innen ihre Freiheit zugesteht. Ein binationales Palästina und ein vereinigtes Kurdistan als Sowjetrepubliken in der Föderation der sozialistischen Staat des Nahen Ostens ist hier die Perspektive, die Revolutionär:innen aufmachen müssen. In einer solchen Föderation gibt es keine Notwendigkeit mehr, nationale Unterdrückung zu betreiben, andere Länder auszubeuten oder Feindschaften zwischen den Völkern zu sähen. Dies kann der Funken für die Weltrevolution sein und dies müssen wir als strategische Möglichkeit erkennen. Deswegen ist unsere Solidarität mit deren Kämpfen zentral.

Solidarität muss praktisch werden!

Das heißt, dass wir bedingungslos den Kampf der national Unterdrückten um Befreiung unterstützen. Wir dürfen dabei ein fortschrittliches Bewusstsein nicht voraussetzen, sondern es ist gerade unsere Aufgabe, dieses in den legitimen Kampf hineinzutragen. Wir müssen also auch anerkennen, dass diese nationalen Befreiungsbewegungen bis zu einem gewissen Punkt ihren eigenen Weg gehen und erstmal bürgerliche Lösungen für ihre Probleme verfolgen. Auch dies sollten wir zunächst unterstützen. Aber unsere Solidarität bedeutet auch, dass wir falsche Taktiken und Ideologien sowie den Nationalismus selbst kritisieren müssen, um den Kampf auch zum Sieg führen zu können. Beispielsweise glauben wir nicht, dass sich die nationale Befreiung erreichen lässt, indem man bloß für einen eigenen bürgerlichen Nationalstaat kämpft oder sich nun von der einen statt der anderen Großmacht unterjochen lässt. In manchen Fällen könnte das sogar zu einem Rückschritt führen, weil das zu einer neuen Zersplitterung der Arbeiter:innenklasse führt und eine Internationalisierung des Klassenkampfes verhindert. Tragen wir also das Feuer der Revolution in diese Bewegungen und vereinigen sie!

Deshalb fordern wir:

  • Kampf dem imperialistischen System! Für die Niederlage des deutschen, des westlichen und jeglichen Imperialismus‘!
  • Schluss mit der Besatzung! Für ein Abzug aller imperialistischen Armeen! Für eine Landreform unter der Kontrolle der Arbeiter:innen und Bäuer:innen!
  • Für Ende der internationalen Ausbeutung halbkolonialer Länder! Sofortiger Schuldenschnitt!
  • Nieder mit jeglicher kulturellen und religiösen Unterdrückung! Für politische und juristische Gleichberechtigung!
  • Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung! Erkämpfen wir es in der permanenten Revolution!



106 Jahre: Die Oktoberrevolution und wie sie verraten wurde

Alexander Breitkopf, November 2023

Heute vor 106 Jahren fand im damaligen Russland die Oktoberrevolution statt und brachte die Gründung der Sowjetunion mit sich. Es war der große Sieg des Sozialismus, auf den rund 70 Jahre später mit dem Fall der Sowjetunion seine große Niederlage folgte. Wie kam es dazu, dass das bislang größte sozialistische Projekt der Weltgeschichte so krachend scheiterte? Lag es an der gierigen Natur des Menschen? Am inhärent autoritären Charakter des Staates? War es einfach Pech?

Aller Anfang ist schwer

Die Sowjetunion wurde gegründet als Arbeiter_Innenstaat und diesen Charakter hat sie bis ’91 nie ganz verloren. Die bedeutende Mehrheit der Produktionsmittel verblieb in der Hand des Staates, der Außenhandel blieb ebenfalls unter seiner Kontrolle, und statt dem Chaos des freien Marktes herrschte Planwirtschaft. Nichtsdestotrotz bedeutet das nicht, dass die Entscheidungen der Regierung auch im Interesse unserer Klasse waren. Im Gegensatz zum Kapitalismus, der sich auf die sich bereits im Feudalismus entwickelnden kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen stützen konnte, mussten diese für den Sozialismus erst entstehen. Da die Durchsetzung der neuen Ordnung gegenüber der alten an die Entwicklung der Produktivkräfte geknüpft ist, ist ihr Sieg auch immer zu bedeutenden Teilen eine ökonomische Frage – die neue Wirtschaftsweise, die Produktivkräfte mehr als die anderen fördert, gewinnt auf dem Weltmarkt. Eine ökonomische Vormachtstellung zementiert den Sieg des wirtschaftlichen Systems. Die Wirtschaft der Sowjetunion war jedoch nach einigen guten Jahrzehnten von Stagnation geprägt, und da die imperialistischen Staaten nicht kampflos kleinbeigeben, bedeutet Stillstand Rückschritt. Viel stärker als im Kapitalismus ist die Wirtschaft im Arbeiter_Innenstaat durch Entscheidungen des Staates bestimmt und bedarf einer korrekten Verwaltung. In diesem Sinne ist ein ökonomisches Versagen auch ein politisches (auch wenn die ökonomischen Grundlagen selbstverständlich eine bedeutende Rolle spielen).

Dass die Sowjetunion sich nicht auf dem besten Weg zum Kommunismus befand, lässt sich jedoch auch direkt an ihrer politischen Struktur beobachten. Der Staat nimmt im Sozialismus den Charakter eines Halbstaates unter der Kontrolle der Räte an, der die Bedingungen seiner eigenen Auflösung bereits in sich trägt. Anfangs noch benötigt als Struktur, die die Konterrevolution zurückhält und die Massen zur politischen Teilhabe befähigt, verliert er seine Notwendigkeit, je näher der Kommunismus kommt, und wird kleiner, bis er verschwindet. Das Gegenteil war in der Sowjetunion der Fall: Diese wurde geprägt von einem immer größeren und repressiveren bürokratischen Apparat, dessen Mitglieder ihre Stellung gegenüber den durchschnittlichen Arbeiter_Innen immer weiter zu verbessern wussten. Demokratische Strukturen waren Mangelware, die Identifikation der Arbeiter_Innen mit „ihrem“ Staat schwand zusehends – politische Emanzipation der Klasse sieht anders aus.

Der Aufstieg der Bürokratie

Wie kam es zu dieser Verkehrung der sozialistischen Ideen in ihr Gegenteil? Zentraler Faktor des Niedergangs der Sowjetunion waren die ökonomischen Voraussetzungen, die ihr geboten waren. Das zaristische Russland war bis auf wenige Ausnahmen wie St. Petersburg oder Moskau weit davon entfernt, kapitalistisches Zentrum zu sein, es hatte die Reste des Feudalismus nicht einmal vollständig abgeschüttelt. Diese Tatsache wurde durch den auf die Revolution folgenden Bürger_Innenkrieg noch verschärft, sodass Armut und Mangel herrschten. Dieser Tatsache sollte mittels der „Neuen ökonomischen Politik“, die in begrenztem Maße marktwirtschaftliche Elemente einführte, entgegen getreten werden. Dies geschah nicht ohne Erfolg – die Sowjetunion machte rasche Fortschritte in Richtung des Zieles, ökonomisch die imperialistischen Industriestaaten einzuholen. Zugleich ermöglichte dieser Aufschwung aber auch die Herausbildung einer privilegierten Schicht, und es wuchs ein bürokratischer Apparat heran, um zwischen diesen Gegensätzen zu schlichten. In Trotzkis Worten: „Wenn die Waren knapp sind, müssen die Käufer Schlange stehen. Wenn die Schlange sehr lang wird, muss ein Polizist für Ordnung sorgen.“ Diese Tatsachen waren ein Stück weit unvermeidbar. Der Kapitalismus löst sich nicht mit dem Hissen der ersten Sowjetflagge in Luft auf, seine Strukturen verschwinden nicht von heute auf morgen, und auf diese in begrenzten Maße zurückzugreifen ist in der Übergangszeit zwischen den Systemen auch für die perfekteste revolutionäre Partei unvermeidbar.

Stalins neuer „Sozialismus“

Im speziellen Fall der Sowjetunion entwickelten diese bürokratischen Organe jedoch mit ihrem Anwachsen auch ihre eigenen Interessen, namentlich den eigenen Machtausbau, und sie fanden sich in der Lage, diese auch durchzusetzen. Dies wurde dadurch begünstigt, dass, ebenfalls im Zuge des Bürger_Innenkrieges, führende Köpfe der Abrieter_Innenbewegung gestorben und andere ein Misstrauen gegenüber den Massen entwickelt hatten – die langen, konfliktreichen Jahre ließen viele müde und niedergeschlagen zurück. Gespiegelt wurde dies in einer gewissen Gleichgültigkeit der Massen an der Politik der Führung – der „Wille zur Massenorganisierung“ war an beiden Enden beschädigt. Besonders hilfreich bei der Festigung der Durchsetzung der bürokratischen Macht waren dabei zudem zwei politische Maßnahmen, die im Zuge des Bürger_Innenkrieges getroffen worden waren: Das Verbot von Oppositionsparteien sowie das Verbot von Fraktionen innerhalb der revolutionären Partei. Eigentlich als temporäre Maßnahme für die besonders zugespitzten Verhältnisse gedacht, waren diese nun willkommenes Mittel für die Kleinhaltung von Opposition von innen und außen auch in Friedenszeiten. Es kam zu einer Entmachtung der Partei und zu einer Zentralisierung der Kontrolle im Staat im bürokratischen Apparat unter der Führung von Stalin.

Dessen Theorie des „Sozialismus in einem Land“ wurde zur Staatsdoktrin, und das war den Massen durchaus nicht schwer zu verkaufen: Eine Reihe von Niederlagen, beispielsweise das Ausbleiben der Revolution in Deutschland, hatten den Glauben in eine Weltrevolution erodiert. Das bedeutete aber auch eine Abkehr vom Internationalismus: Friedliche Koexistenz mit den imperialistischen Staaten wurde gepredigt & beispielsweise mit dem Beitritt in den „Völkerbund“ auch praktisch umgesetzt. Arbeiter_Innenkämpfe wurden nur da unterstützt, wo es den eigenen Interessen diente, in Spanien setzten sich stalinistische Kräfte sogar direkt gegen sozialistische Forderungen ein. Unter sowjetischer Führung setzte sich diese Politik auch in der Kommunistischen Internationale durch.

Sozialismus im Schneckentempo

Im Grunde ist es zu viel des Lobs, den „Sozialismus in einem Land“ überhaupt als Theorie zu bezeichnen. Sie wurde nirgends in vollständiger Form formuliert, im Grunde erfüllte sie nur den Zweck, die tagesaktuelle Politik Stalins im Nachhinein zu rechtfertigen. Bucharin selbst (!!) fasste seinerzeit den „Sozialismus in einem Land“ mit den Worten zusammen. „Wir können den Sozialismus selbst auf dieser armseligen technischen Grundlage aufbauen, das Wachsen des Sozialismus wird viel, viel langsamer gehen, wir werden im Schneckentempo dahinkriechen, und doch werden wir an diesem Sozialismus bauen, ja ihn gänzlich errichten.“ Kurze Zeit später wurde proklamiert, man müsse „in verhältnismäßig minimaler historischer Frist“ die kapitalistischen Staaten ein- und überholen. Mal war die Sowjetunion schon sozialistisch, mal nicht, mal gab es noch Klassen, mal nicht. Besonders deutlich werden diese Widersprüchlichkeiten am Schicksal des Kulakentums, des kleinbürgerlichen Bäuer_Innentums, das erst lange Jahre unter der Parole „Bereichert euch!“ heranwachsen durfte, bis die Führung merkte, dass sie den Karren „im Schneckentempo“ gegen die Wand fuhr. Als Gegenmaßnahme wurde aufs Gaspedal gedrückt, und die überhastete Enteignung der Kulaken hatte fatale Folgen für Produktion wie Menschen gleichermaßen. Dass jede Theorie an der Praxis geprüft und, wo nötig, revidiert werden muss, ist klar, aber eine „Theorie“, die ohne ersichtlichen Grund erst A und dann B hervorbringt, ist offensichtlich von klaffenden Lücken durchzogen.

Der Niedergang und Fall der Sowjetunion haben historisch belegt, dass die Idee des Sozialismus in einem Lande nicht funktionstüchtig ist. Es hätte einer erneuten, politischen Revolution bedurft, um den Weg in Richtung Kommunismus erneut einzuschlagen, einer Redemokratisierung in Form der Wiedereinführung von Rätemacht und demokratischen Zentralismus, einer Wiederbesinnung auf den internationalistischen Charakter der Arbeiter_Innenbewegung, auch auf die Gefahr hin, in Konflikt mit den imperialistischen Staaten zu treten. Statt aus der Not eine Tugend zu machen, gilt es heute, mit den Lehren aus der Oktoberrevolution dafür zu kämpfen, dass der nächsten sozialistischen Revolution ein besseres Schicksal vergönnt ist.




Grundlagen des Marxismus: Was ist eigentlich Faschismus?

Von Felix Ruga, September 2023, REVOLUTION Zeitung September 2023

Immer wieder werden recht unterschiedliche Kräfte als „faschistisch“ bezeichnet: Rechte Hools und sonstige Nazi-Banden, der Flügel um Höcke bis hin zur gesamten AfD oder auch einige Staaten wie Russland oder die Türkei. Phasenweise entsteht der Eindruck, dass „Faschismus“ einfach ein Synonym für „völkische Reaktionäre“ sei. Dies ist auch ein Stück weit verständlich, denn der Faschismusbegriff ist mit der Erfahrung der vernichtenden Politik der Nazis extrem aufgeladen und damit mobilisierend für den Kampf gegen Rechts.

Doch benötigt dieser Kampf auch Klarheit, denn verschiedene Formen von Reaktionären verlangen verschiedene Taktiken im Widerstand gegen sie. Der Kampf gegen Nationalliberale, Nationalkonservative, Rechtspopulist_Innen oder Faschos kann nicht gleich aussehen, weil diese auch jeweils unterschiedliche Klassenbasen und Taktiken haben. Als Grundlage unserer Faschismusanalyse verwenden wir jene von Trotzki, da diese den Klassenhintergrund mit der historischen Funktion des Faschismus verbindet. Die Analyse lässt sich in 5 Thesen zusammenfassen.

1. Der Faschismus erstarkt besonders in Phasen von gesellschaftlichen Krisen.

Ursprünglich ist der Faschismus (Fasci = Bünde) als Bewegung im Italien nach dem Ersten Weltkrieg entstanden. Die Situation war katastrophal: Die Bereicherung der einen und Verarmung der anderen, Tot und Vertreibung vom Lande und Zurückspülen der Soldaten aus dem Krieg, versteckte Deserteure in den Dörfern, zerrissene Familien, ein Ende vieler tradierten Arbeitsteilungen bei gleichzeitigen Wellen von Streiks und Besetzungen durch die Arbeiter_Innenbewegung mischten die Gesellschaft heftig durcheinander und sorgte insgesamt für einen unübersichtlichen und chaotischen gesellschaftlichen Gang, für den die liberal dominierte herrschende Klasse zunächst keine Antwort wusste. Die sozialistischen Parteien waren zwar stark und groß, konnten jedoch nur Reformen erkämpfen. Die Faschist_Innen haben hierbei einen „Dritten Weg“ versprochen. Diese Situation ähnelt Deutschland um 1930 in der Wirtschaftskrise.

2. Um eine starke Massenbewegung der Arbeiter_Innen zu zerschlagen, ist eine reaktionäre Massenbewegung notwendig.

Denn in einer zugespitzten Situation im Klassenkampf verschiebt sich die Macht von den gelähmten Parlamenten auf die Straße und in die Betriebe. Die Arbeiter_Inneklasse ist organisiert und erkennt im Kampf immer mehr, dass sie eine Klasse ist. Ihr Bewusstsein als Gesellschaftsklasse wächst an. Die Herrschaft der besitzenden Klasse könnte dadurch ins Wanken geraten, sodass Mittel zur Zerschlagung dessen angewendet werden. Hierbei können zwar Angriffe durch den bürgerlichen Staat in Form von Polizeigewalt Wirkung erzielen, aber Notlösung für die bürgerliche Herrschaft kann eine reaktionäre Massenbewegung sein, die selbst große Menschenmengen in Bewegung bringt. So wird der Macht der Arbeiter_Innenbewegung auf der Straße mit Kleinkriegen und roher Gewalt begegnet, die nur allzu oft von der staatlichen Bestrafung verschont bleiben. Das ist ein wesentliches Merkmal des Faschismus‘ vor der staatlichen Machtergreifung: Er stützt sich auf eine Massenbewegung von unmittelbarer Gewalt. Dies unterscheidet ihn von den meisten reaktionären Strömungen, die eher innerhalb der bürgerlichen Parlamente und Institutionen ihre Machtbasis sehen.

3. Diese Bewegung muss kleinbürgerlich sein und eine nationalistische und antikapitalistische Rhetorik mit größter Feindschaft gegen die Arbeiter_Innenbewegung verbinden.

Zunächst waren rein statistisch in den Anfangsstadien des Faschismus die kleinbürgerlichen Schichten gegenüber den proletarischen überrepräsentiert. Das ist aber hierbei nicht das Entscheidende. Der Klassencharakter drückt sich eher in der Ideologie und der Funktion aus: Zerschlagung der bedrohlichen Arbeiter_Innenbewegung und kompromisslose Herstellung einer stabilen kapitalistischen Ordnung, bei gleichzeitiger Anti-Establishement-Rhetorik und sozialstaatlicher Versprechungen. Indem alle im reinen Volkskörper aufgehen, sollen die Klassenwidersprüche als Ganzes versteckt werden. Besonderen Ausdruck findet dies im Antisemitismus, bei dem die Faschos zwar einen „antikapitalistischen“ Kampf inszenieren, ohne jedoch den Kapitalismus als System angreifen, indem sie die Missstände des Kapitalismus‘ auf die Jüd_Innen projizieren. Das Vertragen dieser Gegensätze drückt gerade das widersprüchliche Klasseninteresse der kleinbürgerlichen Schichten aus, die sowohl Angst vor der großkapitalistischen Konkurrenz als auch vor der fordernden Arbeiter_Innenbewegung haben.

4. Der Machtergreifung geht ein verschärfter Klassenkampf voraus, in der die proletarischen Kräfte eine Niederlage erleiden.

Damit sich nämlich größere Teile des Proletariats dem Faschismus anschließen, müssen ihre eigentlichen führenden Kräfte enttäuschen. In Deutschland waren das die SPD, die sich durch die Verteidigung und Verwaltung der bürgerlichen Verhältnisse die Hände mit Verrat schmutzig gemacht hat, und die KPD, die unter anderem mit der Sozialfaschismusthese keinen taktischen Hebel gefunden hat, um die Arbeiter_Innenklasse für revolutionäre Politik zu gewinnen. In diese Enttäuschung konnten dann die Nazis treten, die sich als radikale und dynamische Kraft präsentieren, während die Arbeiter_Innenbewegung vor dieser hergetrieben bis letztendlich zerschlagen wurde.

5. Einmal an der Staatsmacht wird die kleinbürgerliche Massenbewegung abgestreift und eine Diktatur im Interesse des Großkapitals errichtet.

Das heißt, dass die kleinen Kampfeinheiten wie die Fasci oder die SA aufgelöst oder institutionalisiert werden und allzu „antikapitalistische“ Kräfte innerhalb der Partei entmachtet werden. Der Faschismus baut die Kontrolle über die Gesellschaft aus und bürokratisiert sich, indem Partei und Staat miteinander verschmelzen. Die erste Aufgabe im Interesse des Großkapital ist dabei die Niederhaltung der Arbeiter_Innenbewegung mittels roher Gewalt und ideologischer Verblendung. Vorher geschürte Hoffnungen auf soziale Verbesserungen werden fallengelassen und mit Nationalismus verdeckt. Soziale Errungenschaften werden abgebaut und damit die Ausbeutung erhöht. Hiermit soll auch das nationale Kapital auf dem Weltmarkt gestärkt werden. Der extreme Nationalismus, die völkische Ideologie und die enthemmte Gewalt führen zu Krieg und letztendlich zur Vernichtung der ausgemachten „Feinde des Volkes“. Letztendlich wird die Arbeiter_Innenklasse komplett lahm gelegt.

Das ist natürlich erstmal eine historische Betrachtung und die Gesellschaft wie auch die extreme Rechte haben sich weiterentwickelt. Aber wir können daraus einiges für heute ziehen. Zum einen, welche Funktion der Faschismus in der brutalen Aufrechterhaltung der bürgerlichen Herschafft gegen eine Arbeiter_Innenbewegung einnimmt, zum anderen aber auch, wie man mit dem Faschismusbegriff umgehen sollte. Man kann den Begriff mit Bezug auf einzelne Personen mit faschistischer Einstellung oder generell faschistische Denkmuster etwas offener verwenden, aber gerade wenn es um die Einschätzung von Organisationen oder Bewegungen geht, müssen wir als Linke auf Klarheit setzen, um effektive Taktiken im Widerstand dagegen zu entwickeln. Zentral sind hierbei die Fragen, ob rechte Organisationen eine Strategie verfolgen, die auf einen faschistischen Umsturz hinauslaufen, indem sie sich auf eine paramilitärische Bewegung stützen (wollen), sich als pseudorevolutionär oder -antikapitalistisch darstellen, sie linke Bewegungen gewaltsam vernichten wollen und letztendlich ein kleinbürgerliches Klasseninteresse ausdrücken.

Was bedeutet das für unseren Widerstand? Auf der einen Seite müssen wir hierbei der unmittelbaren Gewalt begegnen, indem wir gegen faschistische Aufmärsche mobilisieren, uns antifaschistisch organisieren und antifaschistischen Selbstschutz aufbauen. Das bedeutet auch, dass wir heute schon auf faschistische Verbindungen und Tendenzen z.B. innerhalb der AfD aufmerksam machen. Auf den bürgerlichen Staat ist kein Verlass im Kampf gegen den Faschismus oder faschistische Tendenzen. Aber wir müssen auch eine klare, proletarische und antikapitalistische Perspektive gegen den Faschismus aufzeigen, indem wir konsequent für soziale, antirassistische und antisexistische Gerechtigkeit und gegen die kapitalistische Krise ankämpfen. So schaffen wir es, dem Kapitalismus den Nährboden zu entziehen. Hierfür müssen wir auch Bündnisse zwischen den Organisationen der Arbeiter_Innenklasse aufbauen, die letztendlich auf eine Einheitsfront gegen den Faschismus hinauslaufen. Gemeinsam können wir nicht geschlagen werden! In diesen Bündnissen müssen Revolutionäre jedoch immer offen für ihre Position eintreten und klar machen: Die faschistische Gefahr ist erst gebannt, wenn der Kapitalismus Geschichte ist!




Grundlagen: Schafft Reproduktionsarbeit Mehrwert?

Clay Ikarus, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Zur Reproduktionsarbeit gehört alle Arbeit, die dazu da ist, die Arbeitskraft wiederherzustellen. Dabei geht es nicht nur um die tägliche Erneuerung der gegenwärtigen Arbeitskraft, für die man einkaufen, kochen, putzen sowie sich um bedürftige Angehörige kümmern muss. Es geht dabei auch um die Arbeitskraft der nächsten Generation. Also gehören auch Bildung, Kindererziehung und der Gesundheitssektor im Allgemeinen dazu.

Ein großer Teil der Reproduktionsarbeit findet im Haushalt statt und wird, zumindest in Europa, auch heute noch zum großen Teil von Frauen übernommen. Eine beispielhafte Zahl: Laut Eurostat liegt der Anteil der Frauen, die täglich Hausarbeit verrichten, bei 79 %, bei Männern bei 34 %. Die Reproduktionsarbeit im Privaten ist dabei unbezahlt und taucht dementsprechend auch in keiner kapitalistischen Buchführung auf. Sie wird deshalb als „unsichtbare Arbeit“ bezeichnet: Mehrwert wird innerhalb der Reproduktionssphäre nicht produziert. Es gibt keinen Gewinn, auch wenn die Arbeit existenziell für alle Menschen ist. Der Lohn wird verwendet, die Mittel zur Befriedung der Bedürfnisse der Lohnabhängigen zu kaufen, sodass man essen und sich kleiden kann sowie weitere Bedürfnisse erfüllt werden können, um die Arbeitskraft zu reproduzieren, zu leben. Doch am Ende wird der Wert der Arbeitskraft nur wiederhergestellt.

Es gibt jedoch auch öffentliche Sektoren, in denen Reproduktionsarbeit stattfindet: Kindererziehung in Schulen und Kindergärten, um neue Arbeiter:innen auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Pflegekräfte versorgen im größeren Umfang bedürftige Menschen in Krankenhäusern, Altersheimen oder Jugendeinrichtungen. Doch nicht umsonst sind diese öffentlichen Sektoren meist staatlich finanziert, denn auch wenn die Kapitalist:innen auf gesunde und ausgebildete Arbeitskräfte angewiesen sind, wollen sie ungern selber dafür aufkommen. Meist arbeiten in diesen Careberufen Frauen in Positionen, die schlecht bezahlt sind. Doch was ist mit privaten Kliniken und Schulen? Hier wird Kapital investiert und keine Steuergelder und das, um Mehrwert zu erzielen. Doch das ist trotz der hohen Gelder, die verlangt werden, und der zusätzlichen staatlichen Unterstützung nicht so einfach, da die Möglichkeiten, den Mehrwert zu steigern, schnell an ihre Grenzen kommen.

Nicht umsonst zerbrechen Gesundheits- und Bildungssektor an der Privatisierung, denn die Gewinne gehen aus und es wurde sich verzockt auf Kosten der Kranken und Kinder. Es handelt sich also gleichzeitig um Produktion (Kapitalvermehrung) und Reproduktion (der Arbeitskraft). An diesem Beispiel sieht man gut, dass es nicht um die Arbeitstätigkeiten selbst geht, sondern ob sie dem Ziel dienen, Kapital zu vermehren oder nicht, wenn man der Frage auf die Spur kommen will, ob etwas Mehrwert produziert.

Was ist überhaupt Mehrwert und wieso spielt dieser eine Rolle?

Man spricht von Mehrwert, wenn das Kapital durch die Produktion wächst, vermehrt wird, wenn es also „mehr wert“ ist, als es vorher war. Ein Verständnis dessen ist unerlässlich, denn das Kapital strebt einzig und allein danach, den eigenen Wert zu vergrößern. Alles andere ist zweitrangig.

Nach Marx bilden die menschliche Arbeit und die Natur die beiden Quellen jeden Reichtums. Aber nicht jede Arbeit schafft Wert oder Mehrwert. Mehrwertproduktion findet nur unter bestimmten, genauer unter kapitalistischen Verhältnissen statt.

Die Arbeitskraft wird durch die Einführung der Lohnarbeit im Kapitalismus zu einer Ware gemacht. Der Wert einer Ware entspricht dem Arbeitsaufwand, der zu ihrer Produktion notwendig ist. Auf dem Markt kauft das Kapital jedoch nicht die Arbeit, sondern die Arbeitskraft, das Arbeitsvermögen der Lohnabhängigen. Der Wert diese Ware wird, wie der Wert jeder anderen, durch ihre Reproduktionskosten bestimmt – also die Summe aller Waren, die zu ihrer Bildung, ihrem Erhalt und ihrer Reproduktion nötig sind.

Wurde die Arbeitskraft einmal gekauft, so gehört sie für die Zeit der Produktion dem Kapital, gerät zu seinem Bestandteil. Das Produkt gehört dem/r Kapitalist:in.

Im Produktionsprozess sind die Lohnabhängigen jedoch dazu in der Lage, mehr durch ihre Arbeit zu schaffen, als dem Wert der Ware Arbeitskraft entspricht. Der Wert, der zusätzlich geschaffen wird, ist der Mehrwert. Seine Aneignung durch das Kapital bezeichnet man im marxistischen Sinne als Ausbeutung.

Wenn jetzt in der gleichen Arbeitszeit noch mehr produziert werden soll oder der Lohn gekürzt wird, kann der Mehrwert sogar noch gesteigert werden. Als Marxist:innen ist es wichtig, uns die Verhältnisse der Menschen in der Produktion der Klassengesellschaft anzuschauen, um die materielle Grundlage von Ausbeutung und Unterdrückung zu erkennen und bekämpfen. Viele feministische Strömungen lassen dies außen vor und sehen den Kampf für die Befreiung der Frau unabhängig vom Klassenkampf.

Doch wozu sind diese Erkenntnisse und Einteilungen nun wichtig?

Die Reproduktions- ist mit der Produktionssphäre untrennbar verbunden, da sie die nötige Arbeitskraft aufrechterhält. Doch die Reproduktion schafft unmittelbar keinen Mehrwert. Das kapitalistische System baut aber auf der Mehrwertproduktion auf. Die Mehrwertproduktion ist das Ziel jeder Produktion und die Quelle des Reichtums für die Kapitalist:innen sowie der Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter:innenklasse.

Ein Streik bei der Hausarbeit hat daher nicht den gleichen Effekt wie einer in der Produktionssphäre. Es wird dabei nicht zuerst das System, sondern werden die Arbeiter:innen selbst getroffen. Ein Streik in der Produktionssphäre hält die Mehrwertproduktion dagegen sofort an und trifft unmittelbar, sofort die Kapitalist:innen. Für die Befreiung der Frau benötigt es eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit und eine Produktion, die nicht länger auf eine Mehrwertsteigerung ausgerichtet ist, sondern auf die Bedürfnisse von Mensch und Natur.




Identität als politisches Programm? Marxismus und Identitätspolitik

Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9,
März 2021

„Wir glauben, dass die tiefgreifendste und potentiell radikalste
Politik direkt aus unserer eigenen Identität kommt.“ (Combahee
River Collective, 1977
)

Dieser Satz stellt eine Art Credo dessen dar, was heute unter
„Identitätspolitik“ verstanden wird. Ursprünglich prägten
schwarze, antirassistische und antikapitalistische Feministinnen den
Begriff. Mittlerweile werden damit Politiken von radikalen Linken,
feministischen, reformistischen und bürgerlich-liberalen Kräften
oder auch des Rechtspopulismus gefasst.

Mit der Ausweitung der Phänomene, Strömungen und
gesellschaftlichen Kräfte, die mit dem Terminus bezeichnet werden,
geht eine zunehmende Unbestimmtheit einher, die noch dadurch vermehrt
wird, dass Identitätspolitik mittlerweile zu einem Kampfbegriff
geworden ist.

Annäherung an eine erste Definition

Bevor wir diese Entwicklung kurz nachzeichnen und die Frage
diskutieren, warum mittlerweile gegensätzlichen Klassenkräften
dieses Label zugeschrieben wird, wollen wir darstellen, was diese
Politik von Beginn an auszeichnet. Aus obigem Zitat wird deutlich,
dass der Begriff der eigenen Identität als entscheidende Grundlage
einer radikalen Politik zur Befreiung oder zur Beseitigung von
Ungerechtigkeit und Benachteiligung reklamiert wird.

Identität stellt dabei das individuelle oder kollektive
Bewusstsein vor, das aus der eigenen oder gemeinsam geteilten
Erfahrung entsteht. Darauf basiere die radikalste Politik im
Interesse der jeweiligen Gruppe von ausgebeuteten, unterdrückten und
diskriminierten Menschen. „Die“ Frauen, „die“ Schwarzen,
„die“ Arbeiter_Innen teilten nicht nur gemeinsame Erfahrungen.
Sie würden damit auch über einen Zugang zur Erkenntnis der Ursachen
und der Politik zur Überwindung der Lage von Ausgebeuteten oder
Unterdrückten verfügen, der Nicht-Angehörigen dieser Gruppe
prinzipiell verwehrt ist. Dies ergibt sich logisch daraus, dass die
jeweils eigene Identität zur Quelle für die „tiefgreifendste und
potentiell radikalste Politik“ erklärt wird.

Die Erklärung des Combahee River Collective bringt das direkt zum
Ausdruck. Die Erfahrung mit dem Rassismus weißer Mittelschichtfrauen
im Feminismus der 1970er Jahre und mit männlichem Chauvinismus sowie
Sexismus in der Black Community einschließlich radikaler linker
Organisationen wie der Black Panther Party führen sie zur
Schlussfolgerung:

„Wir erkennen, dass die einzigen Menschen, die sich genug um uns
kümmern, um konsequent für unsere Befreiung zu arbeiten, wir selbst
sind. Unsere Politik entwickelt sich aus einer gesunden Liebe zu uns
selbst, unseren Schwestern und unserer Gemeinschaft, die es uns
erlaubt, unseren Kampf und unsere Arbeit fortzusetzen.“

Diese jeweils eigene Identität wird zum privilegierten Ort von
Radikalität und Erkenntnis. Nicht-Angehörige der jeweils
betroffenen Gruppe können Unterdrückung zwar nachzuempfinden und
nachzuvollziehen versuchen, aber sie können nie selbst auf die
gleiche Weise aus dieser Erfahrung als „Frau“, „Schwarze“
(oder auch als „Arbeiterin“) schöpfen.

Sobald dieses Verständnis von Erfahrung – Identität –
Politik akzeptiert wird, befinden wir uns auf dem Boden der
Identitätspolitik.

Sobald die Grundlagen der Identitätspolitik akzeptiert werden und
diese selbst zu einer bestimmenden Ideologie politischer Strömungen
wird, entfalten sich daraus auch deren innere Widersprüche. Sie
manifestieren sich gerade mit ihrem Siegeszug z. B. in weiten
Teilen der Frauenbewegung, in der „radikalen“ Linken, aber auch
durch ihre Akzeptanz im bürgerlichen Politikbetrieb. Im Folgenden
wollen wir diese Entwicklung nachzeichnen.

Entstehung

Geprägt wurde der Begriff der Identitätspolitik vom Combahee
River Collective, einer 1974 gegründeten Organisation schwarzer
Feministinnen. In ihrem Statement von 1977 arbeiten sie nicht nur
ihre Erfahrungen als unterdrückte schwarze, heterosexuelle und
lesbische Frauen auf, sondern auch die Reproduktion von Rassismus im
von weißen Mittelschichtfrauen dominierten Feminismus, die
Reproduktion von Sexismus durch die Männer der antirassistischen
Bewegung.

Im Gegensatz zu den meisten späteren Vertreter_Innen von
„Identitätspolitik“ verstand sich das Combahee River Collective
als revolutionäre Organisation. Ähnlich wie die von Claudia Jones
schon Ende der 1940er Jahre formulierte Triple Oppression Theory
(TOT) begriff es die kapitalistische Ausbeutung, Patriarchat und
Rassismus als die Gesellschaft prägenden und damit auch revolutionär
zu überwindenden Strukturen.

Für das Combahee River Collective stellte die Herausbildung einer
„radikalen“, revolutionären Identität der Unterdrückten eine
spontane Tendenz dar, sofern und sobald diese ihre gemeinsamen
Erfahrungen im Rahmen kollektiven Austauschs ihrer Probleme und
gemeinsamer Organisierung zu artikulieren beginnen. Diese Verkürzung
wird angesichts der geschichtlichen Lage der frühen 1970er Jahre
verständlich. Seit der Bürgerrechtsbewegung war die Lage der
rassistisch Unterdrückten in den USA von einem politischen Erwachen,
dem Anwachsen einer Massenbewegung und deren Radikalisierung bis hin
zur Black Panther Party geprägt. International bildeten nationale
und antikoloniale Befreiungskämpfe bis hin zum Sieg Vietnams gegen
die USA einen historischen Hintergrund, der nicht nur Anlass zu
revolutionärem Optimismus gab, sondern auch die Vorstellung nährte,
dass die Unterdrückten – und hier zuerst die am meisten
Unterdrückten – spontan zu revolutionärem Bewusstsein gelangen
würden.

Zugleich steht das Combahee River Collective ironischerweise auch
für eine Kritik an der Identitätspolitik, die die Frauenbewegung
prägte (insbesondere den radikalen Feminismus). Das Statement von
1977 weist mit scharfer Kritik auf die widersprüchliche Lage in den
Bewegungen der Unterdrückten selbst hin, darauf, dass in der von
weißen Mittelschichtfrauen dominierten feministischen Bewegung
Rassismus reproduziert wird, die antikolonialen und antirassistischen
Bewegungen vor allem von Männern (und oft von solchen aus der
Intelligenz) dominiert wurden, in der Arbeiter_Innenklasse weiße,
ältere Männer Politik und Ausrichtung bestimmten.

Das Statement stellte damit auch eine Reaktion auf die
Reproduktion sozialer Unterdrückung in der Arbeiter_Innenklasse und
unter den Unterdrückten wie auf die Blindheit linker Kräfte
gegenüber dieser Tatsache dar. Auch wenn in der bürokratisch
dominierten Arbeiter_Innenbewegung und in nationalen
Befreiungsbewegungen ähnliche Mechanismen wie in der radikalen sowie
in der bürgerlichen Frauenbewegung seit Ende der 1960er Jahre
wirken, so wurde der Begriff der Identitätspolitik lange Zeit vor
allem auf Letztere angewandt.

Ein bedeutender Unterschied zu späteren Kritiken z. B. des
Queerfeminismus besteht darin, dass diese radikale Strömung des
Feminismus oder Antirassismus die Bildung einer kollektiven Identität
bzw. einer Massenbewegung zur Beseitigung der strukturellen Ursachen
der Unterdrückung zum Ziel hatte.

Ausweitung der „Identitätspolitik“

Die Ausweitung der Identitätspolitik in der Frauenbewegung und im
Feminismus ging, wie auch in Bewegungen gegen rassistische
Unterdrückung, zugleich oft (und wohl auch entgegen den Intentionen
mancher ihrer Schöpfer_Innen) damit einher, dass die „gemeinsame
Identität“ als klassenübergreifende vorgestellt wurde. Der
radikal antikapitalistische und antiimperialistische Anspruch geht in
den 1970er und 1980er Jahren mit der Verbreitung der
Identitätspolitik rasch verloren, sofern er überhaupt je
existierte. Verstärkt wird er durch die Niederlagen der
Arbeiter_Innenklasse im Zuge der neoliberalen Offensive und der
Restauration des Kapitalismus, die gerade für die Intelligenz als
„Ende des Marxismus“ erscheint. Für die Identitätspolitik
existiert faktisch die Einheit „der Frauen“ oder „der
Schwarzen“ als klassenübergreifende gegenüber „den Männern“
oder „den Weißen“, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit.

Dies unterstellt eine gemeinsame Erfahrung „aller“ Frauen
(oder „aller“ Unterdrückten). Wir wollen hier keineswegs
bestreiten, dass es tatsächlich gemeinsame Unterdrückungserfahrungen
gibt, die die Angehörigen aller Klassen betreffen. Zugleich finden
wir aber auch erhebliche Unterschiede. Entscheidend ist jedoch, dass
auf Basis der Identitätspolitik die grundlegenden Gegensätze
zwischen Frauen aus der herrschenden Klasse und der
Arbeiter_Innenklasse ebenso wie die Sonderinteressen der Frauen aus
dem Kleinbürger_Innentum und den lohnabhängigen Mittelschichten
hintangestellt werden. Es ist auch kein Zufall, dass die
Vertreter_Innen von Identitätspolitik oft aus letzteren Klassen bzw.
Schichten stammen. Deren Lage zwischen den Hauptklassen der
kapitalistischen Gesellschaft bildet einen sozialen Nährboden für
die Ausbreitung von Ideologien, deren Gehalt in der Verwischung der
Klassengegensätze besteht.

Dabei treten die inneren Gegensätze im realen Leben und gerade
auch in Massenbewegungen mit Macht hervor. So im „Women’s March“
gegen Trump 2017. Tamika Mallory, eine linke Aktivistin und
Vertreterin von Black Lives Matter, wurde des „Antisemitismus“
beschuldigt, weil sie sich mit dem palästinensischen Widerstand
solidarisierte und an einer Veranstaltung der Nation of Islam
teilnahm. Trotz klarer Beweise dafür, dass sie gegen Antisemitismus
in der Black Community auftrat, verstummten die Anschuldigungen nicht
und es folgte schließlich eine Spaltung der Koordinierung.

In ihrer Verteidigung machte Mallory auf einen Punkt aufmerksam,
der die Doppelstandards ihre Kritiker_Innen verdeutlichte. Während
sie sich ständig für einen Auftritt bei der Nation of Islam
rechtfertigen müsse, wurde z. B. die Republikanerin Meghan
McCain nie gefragt, ob sie sich von der Politik ihrer Partei oder
frauenfeindlichen Äußerungen ihres Vaters distanziere. Im
Gegenteil: Sie wurde willkommen geheißen, weil sie als prominente
Republikanerin die Bewegung verbreiten, Mallory mit ihrem
Antizionismus und Antikolonialismus hingegen „die Frauen spalten“
würde.

Hinter dieser Konzeption wird deutlich, dass
„identitätspolitische“ Einheit, die Einheit „aller“ Frauen
unabhängig von Klassenzugehörigkeit und Unterdrückung nur ein
ideologischer Deckmantel für die Durchsetzung besonderer, in der
Regel bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Klasseninteressen
darstellt.

Dieses Beispiel verweist auch schon darauf, dass die
Identitätspolitik in den letzten Jahrzehnten eine weit über die
ursprüngliche Frauenbewegung hinausgehende Bedeutung erfahren hat
und Eingang in die bürgerliche Öffentlichkeit fand.

Eine „(neo)liberale“ Identitätspolitik, die vor allem die
besonderen Interessen der Frauen aus den Mittelschichten, dem
Kleinbürger_Innentum und z. T. auch aus der
Arbeiter_Innenaristokratie artikulierte, wurde von bürgerlichen und
reformistischen Parteien aufgegriffen, um diese Frauen oder in
analoger Weise auch andere Unterdrückte als Wähler_Innen zu
gewinnen.

Linke Feministinnen wie Nancy Fraser oder im Manifest „Feminismus
für die 99 %“ unterzogen diesen „liberalen Feminismus“
einer scharfen Kritik, der faktisch eine Allianz mit Vertreterinnen
des „aufgeklärten“ Kapitalismus auf dem Rücken der
proletarischen „weißen“ Männer, aber auch aller anderen
subalternen Schichten und Klassen geschlossen habe. Damit hätte er
Trump und dem Rechtspopulismus erleichtert, sich als Vertretung der
„arbeitenden Klasse“, der „hart arbeitenden Amerikaner_Innen“
auszugeben.

Dieser durchaus berechtigte Vorwurf greift aber zu kurz. Während
Fraser die Folgen und die politische Kapitulation eines liberalen
Feminismus entlarvt, greift sie nicht die jeder Identitätspolitik
zugrundeliegende Vorstellung an, dass die eigene Erfahrung direkt zu
fortschrittlichem, befreiendem und gesellschaftsveränderndem
Bewusstsein führen würde. Im Gegenteil, das Manifest „Feminismus
für die 99 %“ durchziehen selbst identitätspolitische
Vorstellungen, namentlich wenn die Bildung eines
gesellschaftsverändernden „revolutionären“ Subjekts selbst als
Allianz verschiedener Klassenfraktionen der Subalternen und der
Unterdrückten, also als Addition kollektiver Identitäten,
verstanden wird (eine ausführliche Kritik findet sich in Urte March,
Feminismus
für die 99 Prozent – eine Kritik
, in: Fight 8, März 2020).

Veränderung der Klassenbasis

Die Erweiterung des Begriffs gegenüber den 1970er Jahren
reflektiert eine Veränderung der Klassenbasis von Identitätspolitik.
Ursprünglich stellte sie eine kleinbürgerliche Ideologie dar, die
aus Bewegungen von Unterdrückten hervorging und eine, aus der
gemeinsamen Erfahrung gewonnene Einheit im Kampf begründen sollte –
auch in Abgrenzung zu anderen Unterdrückten oder Ausgebeuteten, die
eine vergleichsweise privilegierte Stellung in der Gesellschaft
innehatten.

Die frühen, identitätspolitisch geprägten Gruppierungen,
Bündnisse und Bewegungen gingen oft mit einer ideologischen Tendenz
zur „Essentialisierung“ des Unterdrückungsverhältnisses einher.
Diese drängt sich geradezu auf, wenn die Identität der
Unterdrückten direkt der gemeinsamen Erfahrung entspringen soll.
Diese scheint dann nicht in einem historisch konstituierten
gesellschaftlichen Verhältnis zu stehen, sondern als „Eigenschaft“
einer bestimmten Gruppe von Menschen, die im Extremfall biologisch,
natürlich oder durch gemeinsame Kultur, Lage usw. spontan produziert
wird.

Daher können Frauen z. B. als das „friedliche“
Geschlecht erscheinen, das von Haus aus „verständigungsorientierter“
sei. Die Tendenz zur Naturalisierung liegt der Identitätspolitik
zugrunde, weil ihr die Identität (bzw. das bürgerliche Individuum)
selbst als etwas „Natürliches“ erscheint, als Grundkonstante,
als ein vorgefundenes Wesen des/der Unterdrückten.

Dies trifft auch auf radikalere Teile der Frauenbewegung zu, die
ihre Politik oft genug mit einer „Essentialisierung“ der
gemeinsamen Erfahrung begründen. So lassen sich auch die heftigen
Konflikte jener Teile des Feminismus, die ein essentialistisches
Verständnis des natürlichen Geschlechts und der
Geschlechteridentität („Frauen sind Frauen“) vertreten, mit
Trans-Aktivist_Innen verstehen. Auf der Basis von Identitätspolitik
sind diese Gegensätze letztlich nicht auflösbar.

Solange der/die TrägerIn der Identität nicht als Ensemble
gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern als vereinzeltes
bürgerliches Individuum oder als Gruppe von Individuen verstanden
wird, die gemeinsame Eigenschaften und Erfahrungen teilen, erscheint
Identität als ein unhinterfragbares Absolutes. Wer nichts besitzt,
besitzt immerhin, so scheint es, seine eigene Identität.

Natürlich wohnt der Suche nach ihr und dem Austausch gemeinsamer
Erfahrungen auch ein wichtiges emanzipatorisches Moment inne, ohne
das es keine fortschrittliche oder revolutionäre politische Bewegung
geben kann. Aber zugleich müssen die Grenzen dieser Suche verstanden
werden.

Wird die Identität als Ort privilegierter Erfahrung und Wahrheit
gesetzt, so ergibt sich für jede darauf begründete Politik eine
Tendenz zur Verabsolutierung der jeweils individuellen oder
Gruppenerfahrung „der“ Frauen, „der“ Schwarzen, aber auch
„der“ Fabrikarbeiter_Innen usw. usf.

Wird die eigene oder kollektive Erfahrung zum entscheidenden
Kriterium für Wahrheit und Richtigkeit von Politik, so lässt sich
über diesen Wahrheitsanspruch und die daraus abgeleitete Politik
letztlich nicht vernünftig streiten. Verschiedene Ansprüche stehen
einander mit gleichem Recht auf Authentizität entgegen. Jedes
Infragestellen des unbedingten Anspruchs auf die Richtigkeit der
eigenen Erfahrung und Wahrnehmung erscheint notwendigerweise als eine
Relativierung der sich erhebenden Identität der/des Betroffenen.

Die Verabsolutierung der eigenen Erfahrung tritt uns in
verschiedenen Formen entgegen, z. B. im Konzept von
Definitionsmacht, dem zufolge allein die Beschuldigung von
Täter_Innen durch Opfer physischer oder verbaler Übergriffe auf
Unterdrückte definiert, ob eine solche Tat auch vorlag – im Grunde
ein Rückfall hinter das bürgerliche Recht, weil Beschuldigten oder
Täter_Innen jedes Recht auf Verteidigung genommen wird. Die
rechtliche oder gesamtgesellschaftliche Problematik ist offenkundig.
Sie zeigt sich außerdem auch schlagend, sobald verschiedene
Unterdrückte auf ihre jeweilige Definitionsmacht absolut pochen,
wenn also z. B. ein rassistisch unterdrückter Mann einer weißen
Frau Rassismus vorwirft, diese wiederum dem Mann Sexismus.

Noch weitaus problematischer wird es, wenn die eigene
Unterdrückungserfahrung zum entscheidenden Wahrheitskriterium für
die Richtigkeit von Politik gemacht wird. Über die Politik einer
nationalen Befreiungsbewegung könnten demzufolge Menschen aus den
Metropolen, die keine Angehörigen der unterdrückten Nation sind,
nicht „von außen“ urteilen. Dies käme einer typisch westlichen,
kolonialistischen Arroganz gleich. Lassen wir einmal beiseite, dass
auch die Solidarisierung mit einer Befreiungsbewegung (oder erst
recht mit einer bestimmten politischen Strömung) ein Urteil „von
außen“ impliziert, so läuft diese identitätspolitische
Vorstellung regelmäßig auf eine Immunisierung vor Kritik hinaus.
Und diese begünstigt unwillkürlich die dominierenden bürgerlichen
Klassenkräfte innerhalb dieser Bewegungen.

In extremer Form schlägt die Identitätspolitik in einen
Relativismus um, der den Kampf gegen reaktionäre Ideologien und
Organisationen unter den Unterdrückten ablehnt oder deren
repressiven Charakter verharmlost. Vom Standpunkt revolutionärer
Klassenpolitik aus bedeutet eine Akzeptanz der Identitätspolitik in
der Frauenbewegung eine Anpassung an kleinbürgerliche und
bürgerliche, zumeist feministische Ideologien, bei nationalen
Befreiungsbewegungen an verschiedene Spielarten des Nationalismus.
Kurzum, der mit der Identitätspolitik einhergehende Relativismus
führt unwillkürlich zur politischen Unterordnung des Proletariats
unter kleinbürgerliche, bürgerliche, im Extremfall sogar direkt
reaktionäre Klassenkräfte.

Linke Lösungsversuche

Diese Problemstellungen greifen linke Verteidiger_Innen der
Identitätspolitik wie Lea Susemichel/Jens Kastner in ihrem Buch
„Identitätspolitiken“ auf und versuchen, eine „relativierte“
Identitätspolitik zu begründen, die diesen Fehler vermeiden soll.

Einerseits nehmen sie eine Erweiterung des Begriffs vor, indem sie
faktisch jede Massenpolitik, jede Bewegung als eine Form von
Identitätspolitik interpretieren, weil diese immer auf ein
kollektives Wir verweisen müsse, auf eine gemeinsame Lage, Erfahrung
und Gegner_Innen, um eine gemeinsame politische oder
gesellschaftliche Kraft zu konstituieren.

So erscheint für Susemichel/Kastner die Arbeiter_Innenbewegung
als eine neue, organisierte Massenbewegung, als erste, globale Form
der Identitätspolitik. Neben dieser fortschrittlichen Urform
(Identifikation mit der Klasse statt mit der Nation) steht für sie
am anderen Pol eine rechte Identitätspolitik wie z. B. der
Populismus eines Trump.

Wenn alles Identitätspolitik ist, diese also als Bedingung des
Politischen erscheint, wird der Begriff freilich inflationär und
nichtssagend. Wohl müssen wir uns fragen, warum so diese
verschiedenen politische Bewegungen und Ideologien überhaupt als
„Identitätspolitik“ erscheinen können. Der Grund dafür liegt
nicht einfach darin, dass Bewegungen auch auf gemeinsame Erfahrungen
rekurrieren sowie auf ein gemeinsames Wir oder eine/n gemeinsamen
(Klassen-)GegnerIn.

Der Punkt für die Überlappung von rechter und linker
Identitätspolitik liegt vielmehr im Versuch, die Politik einer
Bewegung, ihr Programm, ihre Forderungen usw. aus dieser scheinbar
unmittelbar vorgefundenen Identität herzuleiten. Er rekurriert dabei
auf eine wirkliche oder angebliche gemeinsame Erfahrung aller Frauen,
Weißen, Unterdrückten, die zu einer „natürlichen“
Gemeinsamkeit verklärt wird.

Auch wenn alle diese Bewegungen Momente von Identitätspolitik
enthalten, so wirft die Charakterisierung politischer Strömungen
unter diesem Label eigentlich mehr Probleme auf, als sie löst. Wenn
Bewegungen und politische Kräfte, die sich auf unterschiedliche
Klassen (oder Teile von Klassen) stützen, zusammengeworfen werden,
wird der Begriff entweder nichtssagend oder er verwischt die
eigentlich grundlegenden Unterschiede zwischen diesen Bewegungen, vor
allem ihren Bezug auf die verschiedenen Klassen der Gesellschaft.

Die Frage müsste also vielmehr lauten, warum Nationalismus,
Populismus, Feminismus, Ökonomismus so leicht mit
identitätspolitischen Vorstellungen verknüpft werden können. Der
Grund liegt darin, dass diese Ideologien allesamt mit dem Rekurs auf
eine angebliche gemeinsame Identität oder Erfahrung die
Arbeiter_Innenklasse sowie gesellschaftlich Unterdrückte
bürgerlichen Kräften unterordnen. Dies verdeutlicht einmal mehr den
grundsätzlich reaktionären Charakter der Identitätspolitik.

Vorläufer und historische Bezugspunkte linker
Identitätspolitik

Die Vertreter_Innen einer „linken“ Identitätspolitik
versuchen, die Probleme, die mit deren „Essentialisierung“
einhergehen, durch die Begründung einer nicht-essentialistischen
Identitätspolitik zu lösen. Ihre Bemühungen knüpfen dabei an
historische Vorbilder wie Simone de Beauvoir oder an Frantz Fanon an,
die wir im Folgenden untersuchen werden, um zu verdeutlichen, dass
auch diese Spielart der Identitätspolitik ihren inneren Problemen
nicht entkommen kann.

De Beauvoir

In ihrem Werk „Das andere Geschlecht“ kommt de Beauvoir das
Verdient zu, radikal „das Frausein“ in Frage zu stellen. „Man
kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“, fasst sie zusammen.
Damit verweist sie – ähnlich wie die marxistisch-materialistische
Erklärung der Frauenunterdrückung – darauf, dass
Geschlechterrollen, das „Frausein“, weibliche Sexualität (bzw.
deren Verleugnung) keine „natürlichen“, angeborenen
Eigenschaften „der Frau“, sondern gesellschaftliche Phänomene
darstellen.

Auch wenn de Beauvoir nicht die Erste war, die auf die
gesellschaftliche Konstitution der Geschlechterrollen und Identitäten
hingewiesen hat, so liegt die Bedeutung ihres Buchs darin, diese
markant und für Millionen Frauen hervorgehoben zu haben.

Aber aufgrund ihrer philosophischen Grundlage, des
Existenzialismus, kann sie das Wesen „des Menschen“ nur
individualistisch und abstrakt fassen. Für sie geht (wie für Sartre
und andere) die Existenz „des Menschen“ seinem gesellschaftlichen
Wesen voraus; d. h. das Individuum wird ontologisch als Mensch
verstanden, der in die Welt geworfen, zum Individuum gemacht wird,
indem er gezwungen ist, sich zu entscheiden. Der Mensch ist, wofür,
wozu er sich entscheidet. Bei de Beauvoir ist dies eng mit dem
Streben nach Freiheit verbunden.

Damit greift sie zwar ein reales Moment menschlichen und
insbesondere politischen Handelns auf, das notwendig
Entscheidungssituationen hervorbringt. Aber sie abstrahiert von der
historischen Bestimmtheit dieses Entscheidens und des Strebens nach
Freiheit. „Entscheidung“ und „Freiheit“ werden nicht mehr als
historisch konstituierte und wandelbare Größe begriffen, sondern
als Grundeigenschaften „des Menschen“.

In de Beauvoirs Arbeiten werden zwar immer wieder die Grenzen
dieser abstrakten Bestimmungen des für sich existierenden
Individuums deutlich. Aber ihr philosophischer Ausgangspunkt lässt
in sie gesellschaftliche und historische Faktoren nur im Nachhinein
einfließen. Diese relativieren zwar die grundlegenden Fehler des
Existenzialismus, aber ohne dessen eigentliche Grundlagen zu
überwinden, nämlich „Freiheit“ oder „Entscheidung“ nicht
als historische, sich entwickelnde Phänomene zu begreifen, die mit
der Entwicklung der Gesellschaftsformationen und der Produktivkräfte
selbst erst entstehen und einem Veränderungsprozess unterzogen sind.

Diese Probleme tauchen in jeder „nicht-essentialistischen“
Identitätspolitik auf wie auch im Queer- und Differenzfeminismus. Um
den Fallstricken des „Essentialismus“ zu entgehen, nehmen
Letztere zum subjektiven Idealismus Zuflucht. Frau, Geschlecht,
Identität erscheinen als rein diskursive Konstruktionen, in denen
„die Frau“ oder „das Geschlecht“ „gemacht“ wird. Der
Preis für diese „Lösung“ besteht freilich darin, dass jede
kollektive Identität per se suspekt und tendenziell repressiv wird.
Differenz- oder Queerfeminismus führen daher politisch logisch zu
einer rein idealistischen, individualistischen Politik – Identität
selbst ist eine Konstruktion. Oder anders formuliert: Auf Grundlage
einer Dekonstruktion eines scheinbar natürlichen Wesens kann nur
eine rein individuell, negativ bestimmte Identität von Unterdrückten
hergeleitet werden. Befreiung wird damit ihrer kollektiven Aspekte
entkleidet und wesentlich auf Selbstbestimmung, Selbstermächtigung
des Individuums und auf Verschiebung von Diskursen, also
Sprachpolitik konzentriert. Der Queer- und Differenzfeminismus mit
seinem Fokus auf das Individuum stellt dabei nicht nur eine
reaktionäre, idealistische Konzeption dar. Diese Ideologie
entspricht zugleich der Klassenlage der Mehrzahl ihrer
Vertreter_Innen unter den lohnabhängigen Mittelschichten (v. a.
den akademisch ausgebildeten).

Grenzen

Die „nicht-essentielle“ Identitätspolitik hingegen will nicht
nur dem Problem des „Essentialismus“, sondern auch des
bürgerlichen Individualismus entgehen. Sie greift daher – wie der
„Essentialismus“ – auf eine gemeinsame Erfahrung als Grundlage
für gemeinsame Politik zurück. Dessen Fehler und Tendenzen zur
Verabsolutierung sollen aber durch Reflexion auf ihre möglichen,
andere Unterdrückte „ausschließenden“ Momente der eigenen
Identität vermieden werden. Dazu wurde eine ganze Reihe von
Techniken entwickelt, darunter der Intersektionalismus, eine Art
Reparaturbetrieb auf Grundlage der Identitätspolitik.

Das Problem, das bei der Begründung einer
„nicht-essentialistischen“ Identitätspolitik immer wieder
auftaucht, hängt mit Folgendem zusammen. Um die Identität einer
Massenbewegung zu begründen, reicht eine rein abstrakte, bloß
negative oder rein diskursive Bestimmung der Identität nicht aus.
Eine kollektive Identität muss also an der Wirklichkeit ansetzen.
Dazu soll die gemeinsame Erfahrung herhalten. Doch die Erfahrung
selbst stellt sich in der bürgerlichen Gesellschaft als
widersprüchliche dar. Auch jene der Unterdrückung (oder erst recht
des „Ausgebeutet-Seins“) bringt die realen gesellschaftlichen
Verhältnisse keineswegs unmittelbar zum Ausdruck, sondern auf eine
ideologisierte, die realen Verhältnisse teilweise sogar auf den Kopf
stellende oder verschleiernde Weise.

Wenn bei Bildung einer kollektiven Identität unmittelbar aus der
eigenen Erfahrung ein sich befreiendes Subjekt abgeleitet werden
soll, entsteht unwillkürlich die Tendenz, dass auf gesellschaftlich
vorherrschende Formen des Bewusstseins der Unterdrückten
zurückgegriffen wird. Dass z. B. auch der Masse der Frauen die
Familie als „natürliche“ und wünschenswerte Form des
Zusammenlebens erscheint, entspringt den gesellschaftlichen
Verhältnissen im Kapitalismus selbst (ganz so wie den
Warenbesitzer_Innen die Warenproduktion als natürlich erscheint).

Wir wollen das an einem Beispiel verdeutlichen. Im Kapitalismus
wird der größte Teil der Reproduktionsarbeit von Frauen geleistet.
Diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung führt dazu, dass sie
nicht nur dementsprechende Fähigkeiten und darauf aufbauende
Bewusstseinsformen stärker ausbilden als Männer. Weil diese
Arbeitsteilung über Generationen, ja in unterschiedlicher Form die
gesamte Geschichte der Klassengesellschaften prägt, erscheint es so,
dass Frauen nicht nur „von Natur“ aus besser für Reproduktions-
und Sorgearbeiten geeignet wären, sondern auch mit dieser verbundene
Haltungen gegenüber anderen Menschen „natürlich“ einnähmen.
Sie wären sorgender, mitfühlender, kooperativer, friedfertiger,
kompromissbereiter … Ein auf Identitätspolitik basierender
Feminismus greift zwar durchaus die in der bürgerlichen Gesellschaft
vorherrschenden Rollenzuschreibungen und Ungleichheiten der
Geschlechter an, er übernimmt aber auch bestimmte scheinbar
natürliche Charaktereigenschaften „der“ Frau. Statt diese als
Resultate einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu begreifen,
werden diese auch in der Identitätspolitik als natürliche
Eigenschaften der Frau reklamiert, allerdings positiv konnotiert. So
sollten Frauen mehr bestimmen, weil sie das an sich friedfertigere,
solidarischere, sorgendere Geschlecht seien.

Die „nicht-essentialistische“ Identitätspolitik begreift zwar
dieses Problem. Sie erkennt, dass die identitätspolitischen
Bewegungen gesellschaftlich Unterdrückter an einen toten Punkt
angelangten, wenn verschieden Unterdrückte (z. B. „die
Frauen“, „die rassistisch Unterdrückten, „die Jugend“) ihre
Unterdrückung gegenüber anderen jeweils absolut setzten. Aber die
Begrenzung gegenüber der Absolutheit durch Vermittlung zwischen den
Bewegungen und Reflexion der eigenen „blinden Flecken“ greift in
Wirklichkeit zu kurz.

Ihr gerät nämlich der ideologische, widersprüchliche, verkehrte
Charakter der „spontanen“ Identität der Unterdrückten selbst
aus dem Blick. Um die Grenzen der Identitätspolitik zu sprengen und
zugleich eine Massenbewegung (z. B. von proletarischen Frauen
oder von rassistisch Unterdrückten) aufzubauen, reicht es nicht aus,
die ausgrenzenden Tendenzen „spontaner“ identitätspolitischer
Bewegungen einzuhegen. Es muss vielmehr die Vorstellung
problematisiert werden, dass die eigene Erfahrung von Unterdrückung
spontan zur richtigen Erkenntnis der Ursachen und Wege zur
Überwindung der Unterdrückung führen könnte.

Frantz Fanon

Dies wollen wir auch an einem zweiten Vorbild der
„nicht-essentialistischen Identitätspolitik“ verdeutlichen:
Franz Fanon. In seiner Schrift „Die Verdammten dieser Erde“ übt
er immer wieder scharfe Kritik an der Anpassung der schwarzen
Intelligenz an koloniale Herrschaft und bürgerlich-demokratische
Ideologien, aber auch an einen schwarzen Nationalismus, der die
traditionellen afrikanischen Gesellschaften romantisiert und deren
Vergangenheit neu beleben möchte. Fanon selbst charakterisiert dies
als reaktionäre und folkloristische Sentimentalität, als Ablenkung
vom Kampf um Befreiung.

In diesem Sinn ist Fanon „anti-essentialistisch“. Aber um eine
Massenbewegung im antikolonialen Befreiungskampf zu begründen,
greift er nicht zum Marxismus und zu Trotzkis Theorie der permanenten
Revolution, die allein den Kampf um demokratische Rechte und die
sozialistische Revolution theoretisch und programmatisch zu verbinden
vermag. Er steht vielmehr in der Tradition des sowjetrussischen
Stalinismus und Maoismus und der von ihnen geprägten Etappentheorie,
der zufolge die Revolution in den Halbkolonien zuerst zur nationalen
Befreiung führen muss, bevor die sozialistischen Aufgaben angegangen
werden können.

Er verleiht ihr freilich noch eigene Elemente. Erstens gilt Fanon
die städtische Arbeiter_Innenklasse in den Kolonien als eine
gekaufte, eng mit dem Kolonialismus verbundene Klasse, und sie
scheidet somit als revolutionäre Kraft aus, ja mag wie große Teile
der städtischen Bevölkerung als rückschrittlich erscheinen. Kein
Wunder also, dass er die revolutionäre Kraft eher auf dem Land als
in den Zentren sucht und der von dort aus organisierte
Befreiungskampf favorisiert wird.

Zweitens trennt er scharf zwischen der „nationalen Kultur“,
wie sie vorgefunden wird, von der „Nation“, wie sie im
Befreiungskampf erst begründet wird, am Entstehen ist. Wie ein
Phönix aus der Asche erhebt sich ein nationales Bewusstsein, das für
ihn auch die höchste Form revolutionären Bewusstseins darstellt.

„Die internationalen Ereignisse, der um sich greifende
Zusammenbruch der Kolonialreiche, die Widersprüche innerhalb des
kolonialistischen Systems unterhalten und verstärken die
Kampfbereitschaft, lassen ein nationales Bewusstsein entstehen und
geben ihm Kraft.“ (Fanon, Die Verdammten dieser Erde, suhrkamp,
Frankfurt/Main 1981, S. 202)

Und weiter: „Wenn die Kultur eine Äußerung des
Nationalbewusstseins ist, so zögere ich für unseren Fall nicht zu
sagen, dass das Nationalbewusstsein die am meisten entwickelte Form
der Kultur ist.“ (Ebenda, S. 208)

Er versucht, einen „revolutionären Nationalismus“ zu
begründen, der ihm zufolge qualitativ anders als der Nationalismus
alter Prägung sei, insofern er eine „internationale Dimension“
besitze. Anders als der Marxismus, der auch den Nationalismus der
unterdrückten Nationen als bürgerliche Ideologie betrachtet und
kritisiert und daher den Kampf um nationale Befreiung scharf von
allen Zugeständnissen an den Nationalismus abgrenzt, imaginiert
Fanon einen „internationalen“ Befreiungsnationalismus. Für
diesen will er in der Realität Anknüpfungspunkte finden, ihn aus
den „positiven“ Traditionen des nationalen Kampfes ziehen. Im
konkreten Fall des Befreiungskampfs in Algerien waren dies die linke,
bürgerlich-nationalistische Befreiungsfront FLN und die entstehende
panafrikanische Bewegung.

Die Verallgemeinerung einer aus unmittelbaren Erfahrungen
gewonnenen „Identität“, selbst wenn sie sich von Beginn an von
problematischen hergebrachten Formen abgrenzt, führt also auch bei
Fanon dazu, dass er auf eine reale, vorgefundene, von der
Gesellschaft geprägte Identität zurückgreifen muss.

Für die Bildung eines kollektiven Subjekts reicht auch beim
„Befreiungsnationalismus“ eine rein negative Bestimmung letztlich
nicht aus. Es muss an etwas, das „spontan“ in den
Auseinandersetzungen, Erfahrungen auftritt, angeknüpft werden, das
dann die gemeinsame Identität bildet. Diese kann entweder
„essentialistisch“ im biologischen Wesen, der Natur des Menschen
gefunden oder muss scheinbar spontan auftretenden, in Wirklichkeit
jedoch gesellschaftlich vermittelten objektiven Bewusstseinsformen
entnommen werden. Im Fall Fanons ist Letzteres der kämpfende
Nationalismus. Letztlich entrinnt diese „nicht-essentialistische“
Identitätspolitik den Problemen ihres Konterparts nicht, sondern
ideologisiert vielmehr das Klasseninteresse der bürgerlichen
Führungen der Befreiungsbewegungen der 1960er Jahre.

Ökonomismus

Neben Autor_Innen wie de Beauvoir oder Fanon präsentieren einige
Verteidiger_Innen einer linken Identitätspolitik auch die
Arbeiter_Innenbewegung als eine solche. „Denn auch all jene
praktischen wie theoretischen Versuche, unter den Lohnabhängigen
(und über diese hinaus) Klassenbewusstsein zu formieren, sind Formen
von Identitätspolitik: Schließlich ging es nicht zuletzt darum,
dass die einzelnen Individuen sich kollektiv über die Arbeit und
über ihre Klassenposition identifizieren.“ (Susemichel/Kastner,
Identitätspolitiken, UNRAST-Verlag, Münster, 2018, S. 13)

Das Problem mit dieser Auffassung besteht aber gerade darin, dass
das „spontane“, im Rahmen des Lohnabhängigkeitsverhältnisses
und der Identifikation mit der Arbeit hervorgebrachte Bewusstsein
längst noch kein Klassenbewusstsein darstellt – jedenfalls nicht
für Marx, Lenin und andere Autor_Innen der
revolutionär-marxistischen Arbeiter_Innenbewegung. Im Gegenteil:
Marx verweist im „Kapital“ auf die Problematik des spontanen
Arbeiter_Innenbewusstseins. So zeigt er beispielsweise im Kapitel
über den Arbeitslohn, dass die Lohnform notwendigerweise bei den
Kapitalist_Innen wie bei den Arbeiter_Innen ein verkehrtes
Bewusstsein über das Klassen- und Ausbeutungsverhältnis
hervorbringt.

In der kapitalistischen Produktionsweise muss der Wert der Ware
Arbeitskraft notwendigerweise die Form des Arbeitslohns annehmen. Es
erscheint, als würde der/die KapitalistIn nicht die Arbeitskraft
kaufen, sondern die gesamte, vom/von der Lohnabhängigen für ihn
verrichtete Arbeit bezahlen. Daher verschwinden mit der Lohnform auch
Mehrarbeit und -wert und damit die eigentliche kapitalistische
Ausbeutung im Bewusstsein von Kapitalist_Innen und
Lohnarbeiter_Innen. Wie Marx zeigt, stellt dieses Verschwinden des
grundlegenden Ausbeutungsverhältnisses im Bewusstsein
antagonistischer Klassen ein notwendiges Resultat der
kapitalistischen Produktionsweise selbst dar, eine Verkehrung, die
mit der Wertform der Waren untrennbar verbunden ist. Es handelt sich
bei der Lohnform also um eine objektive Gedankenform, eine
Mystifikation wesentlicher Verhältnisse. Die unmittelbare Erfahrung
der Arbeiter_Innenklasse und der nur-gewerkschaftliche Kampf zwischen
Lohnarbeit und Kapital bewegen sich innerhalb dieser Gedankenform, ja
bestärken diese sogar bis zu einem gewissen Grad. Im
Alltagsbewusstsein der Arbeitenden drückt sich das z. B. darin
aus, dass nur schlecht bezahlte, prekäre Arbeit als „Ausbeutung“
zu einem Hungerlohn erscheint, während ein Lohn, der die
Reproduktionskosten deckt oder sogar etwas höher als diese bezahlt
wird, als „gerecht“ wahrgenommen wird.

Auch der rein ökonomische Klassenkampf verbleibt, wie Lenin an
Marx anknüpfend in „Was tun“ deutlich macht, noch auf der Ebene
des Aushandelns der Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft. Diese
Auseinandersetzung kann zwar eine Schärfe erreichen, die
Lohnabhängige empfänglich für revolutionäre Agitation und
Propaganda macht, z. B. wenn bestimmte Kämpfe wie Streiks, die
vom Staat unterdrückt werden, Fragen aufwerfen, die über den
Bewusstseinshorizont der gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen
hinausgehen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das politische
Klassenbewusstsein nicht spontan in diesen Auseinandersetzungen
entsteht. Es kann vielmehr, wie es Lenin ausdrückt, „dem Arbeiter
nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich
außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der
Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern.“ (Lenin, Was tun?,
LW 5, S. 436)

Wenn die Arbeiter_Innenbewegung als identitätspolitische, also
auf der spontanen, naturwüchsig entstehenden Identifikation mit der
Arbeit, dem Arbeiter_Innensein und der Lohnbewegung beruhende
begriffen, ja fixiert wird, so wird hier nur der Fehler des
Ökonomismus wiederholt, den gewerkschaftlichen Konflikt und dessen
reformpolitische, gesetzgebende Verlängerung im Ringen gegen
„soziale Ungleichheit“ zum eigentlichen Arbeiter_Innenkampf zu
verklären.

Das Problem besteht aber gerade darin, dass dieses spontane
Arbeiter_Innen- kein revolutionäres Klassenbewusstsein bilden kann,
sondern eine Form bürgerlichen Bewusstseins darstellt. Dasselbe
trifft auch auf eine solcherart geprägte „Arbeiter_Innenidentität“
zu. Wenn wir beispielsweise die Kultur und Identität betrachten, wie
sie z. B. der Austromarxismus, der „Sozialstaat“, aber auch
die vom Stalinismus beherrschten Staaten hervorbrachten, so waren
diese wesentlich Formen verbürgerlichter „Arbeiter_Innenkultur“
und dementsprechender Identitäten. Diese gingen zwar mit der
Anerkennung der Lohnarbeiter_Innen als gesellschaftlicher Kraft
einher. Zugleich jedoch wurden mit dieser nicht nur Identifikation
mit „der Arbeit“ und ein gewisser Stolz vermittelt, sondern auch
ein in den gesellschaftlichen Zusammenhang eingegliedertes
„Arbeiter_Innensein“, das dann nicht auf die Aufhebung der
Arbeiter_Innenklasse (oder gar den revolutionären Sturz des
Kapitalismus oder der Herrschaft einer Staatsbürokratie) abzielte.
Im Gegenteil, Sozialdemokratie, Gewerkschaftsbürokratie und
Stalinismus drängten und drängen danach, eine bestimmte
„Arbeiter_Innenkultur“ zu verewigen. Diese geht notwendigerweise
mit einer Anpassung an die bürgerliche Kultur, eine Übernahme von
reaktionären Elementen einher, so z. B. einer Idealisierung der
bürgerlichen Familie, von reaktionären Geschlechterrollen, aber
auch der jeweiligen nationalen Kultur. Wie die Identitätspolitik
fassen auch Reformismus und Ökonomismus die
„Arbeiter_Innenidentität“ als etwas Gegebenes, Statisches.

Für den revolutionären Marxismus hingegen ist revolutionäres,
das eigentliche proletarische Klassenbewusstsein grundlegend
verschieden von demjenigen, das an der Oberfläche der Gesellschaft
entsteht. Das spontane Bewusstsein ist ein bürgerliches. Dem
Marxismus geht es darum, die Arbeiter_Innenbewegung in eine Richtung
zu lenken, die Verhältnisse erkämpfen kann, in denen nicht nur
diese Bewusstseinsformen aufgehoben werden können, sondern vor allem
die Bedingungen, die sie notwendig hervorbringen.

In der Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“
formuliert Marx die Forderung, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in
denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein
verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, S. 385).

Die revolutionäre Kraft der Arbeiter_Innenklasse besteht nicht
darin, die Identität, die der aktuelle Zustand hervorbringt, einfach
positiv bejahend aufzunehmen, sondern sich vielmehr als ein im Werden
begriffenes Subjekt zu verstehen. Dies erfordert aber, dass die
Arbeiter_Innenklasse (wie auch sozial Unterdrückte) nicht bloß als
bestehende Gruppe von Menschen mit ähnlichen Erfahrungen (oder auch
einem/r gemeinsame GegnerIn) begriffen werden darf, sondern auch von
ihrem Ziel, von ihrer Bestimmung als revolutionärer Kraft verstanden
werden muss. Das Wesen der Arbeiter_Innenklasse, das sie überhaupt
erst zu einer revolutionären Klasse macht, besteht also nicht darin,
wie sie ist, sondern wie sie werden kann und muss, um sich selbst und
die gesamte Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien.

Die Identitätspolitik hingegen vertritt einen statischen, aus dem
Hier und Jetzt, sei es nun „essentialistisch“ oder
„nicht-essentialistisch gewonnenen Begriff von Identität. Da sie
Identität als etwas Gegebenes, Statisches oder Konstruiertes
auffasst, verstrickt sie sich in die Dialektik des Wesens und kann zu
keiner Aufhebung vorgefundener Identitäten kommen. Hier erweist sich
das philosophische Verharren auf dem Empirismus, Pragmatismus,
Existenzialismus, Postmodernismus oder auch einem mechanischen
Materialismus als fatal.

Gegenüber diesen letztlich antidialektischen Theorien besteht der
Fortschritt in der Hegel’schen Bestimmung des Wesensbegriffs gerade
darin, dass es selbst als etwas erst im Entstehen Begriffenes,
Nicht-Fertiges aufgefasst ist, das gerade und trotz dieser
Unbestimmtheit und Offenheit der Entwicklung im Zusammenhang des
Ganzen zentral für die Gesamtbewegung ist. Wie es in der
Phänomenologie heißt: „Das Ganze aber ist nur das durch seine
Entwicklung sich vollendende Wesen.“ Und weiter: Es ist „wesentlich
Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in
Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches,
Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.“ (Hegel, Phänomenologie des
Geistes, Werke, Bd. 3, S. 24)

Das Subjekt der Befreiung liegt daher in diesem Sinn nicht fertig
vor. Seine Wirklichkeit und Erfahrungen sind vielmehr notwendig
widersprüchlich und erst in Bildung begriffen. Die
dekonstruktivistische Kritik am „Essentialismus“ beraubt das
Subjekt gerade um das, was Voraussetzung seines Werdens als
Geschichtssubjekt ist – seine Kollektivität, seinen
Massencharakter –, während letztlich jede Form von
Identitätspolitik verkennt, dass sich das Subjekt überhaupt erst
herausbilden muss.

Genau diesen Punkt greift der Marxismus auf, wenn er von der
Entwicklung der Klasse an sich zu einer für sich spricht. Als eine
Klasse für sich bildet sich die Arbeiter_Innenklasse jedoch nur als
revolutionäre, wenn sie sich als Geschichtssubjekt der Umwälzung
und Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung konstituiert, also
die Bedingungen schafft für das Abstreifen aller reaktionären,
rückschrittlichen Seins- und Bewusstseinselemente sowie ihrer
Aufhebung als Klasse, ihr Aufgehen in einer vom Joch der
Klassenherrschaft befreiten Menschheit. Das Ziel der revolutionären
Bewegung der Arbeiter_Innenschaft besteht schließlich nicht in der
nachrevolutionären Verewigung als nun herrschende Klasse, sondern in
der Überwindung der Klassenspaltung selbst und dem Schaffen einer
klassenlosen Gesellschaft, in der erst die Menschen endgültig das
Erbe ihrer Erniedrigung, Versklavung, Vereinseitigung abgeschafft
haben werden.

Wurzeln der Identitätspolitik unter
Unterdrückten

Abschließend wollen wir noch einige wesentliche
Schlussfolgerungen unserer Betrachtung und Kritik zusammenfassen:

Erstens muss eine marxistische Kritik der linken Identitätspolitik
verstehen, warum diese ideologisch so prägend werden konnte. Dies
liegt zu einem guten Teil auch an den traditionell vorherrschenden
Strömungen und Ideologien in der Arbeiter_Innenklasse. Stalinismus,
Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbürokratie negieren letztlich die
subjektiven Erfahrungen der Lohnabhängigen als handelnde Subjekte.
Daher machen viele Unterdrückte, darunter auch sozial unterdrückte
Teile der Arbeiter_Innenklasse mit den verkrusteten,
verbürokratisierten und reformistischen Führungen die Erfahrung,
dass ihre Unterdrückung, ihre verstärkte Ausbeutung auch von der
Arbeiter_Innenbewegung nicht ernst genommen wird. Sie werden – oft
nicht viel anders als in der bürgerlichen Gesellschaft – auf einen
„späteren“ Zeitpunkt vertröstet, weil jetzt angeblich
Wichtigeres auf der Tagesordnung stünde. Sie werden
paternalistisch-wohlwollend behandelt, als Objekt, um das man sich
schon kümmern würde. Ihre Subjektivität, zumal eine aktive,
rebellische, gilt als suspekt. Die Tatsache, dass die
Arbeiter_Innenbürokratie auch alle anderen Teile der Klasse passiv
und unter Kontrolle hält, kann darüber nicht hinwegtrösten.

Im Gegenteil: Die Arbeiter_Innenbürokratie stützt sich in der
Regel auf die relativ privilegierten Lohnabhängigen in den
imperialistischen Ländern, auf die Arbeiter_Innenaristokratie, die
ihrerseits oft männlich, weiß, heterosexuell geprägt ist.
Natürlich sind auch deren Bewusstseinsformen oft von reaktionären
Ideologien – Chauvinismus, Sexismus, teilweise sogar Rassismus –
geprägt. Die vorherrschende Politik der Gewerkschaften und
reformistischen Parteien, sich auf rein ökonomische Kämpfe bzw.
Wahlkämpfe und Sozialreform zu beschränken, bedeutet, dass der
gesellschaftlich vorherrschende Bewusstseinszustand der Klasse nicht
nur in Kauf genommen wird. Oft stützen sich gewerkschaftliche
Apparate und reformistische Parteien direkt auf diese Formen. Im
schlimmsten Fall verhalten sie sich gegenüber Kämpfen der
Unterdrückten passiv oder vertreten Formen von Chauvinismus,
Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie, wie sie
auch im bürgerlichen Mainstream vorherrschen.

Daher erfordert eine politische Auseinandersetzung mit
Identitätspolitik in fortschrittlichen Bewegungen einen
unversöhnlichen Kampf gegen alle Formen repressiver,
unterdrückerischer Politik in der Arbeiter_Innenbewegung selbst. Nur
so werden die besten Kämpfer_Innen von den inneren Grenzen und der
Notwendigkeit des Bruchs mit der Identitätspolitik überzeugt werden
können. Nur so werden sie überzeugt werden können, dass die
marxistische Kritik am bürgerlichen Charakter dieser Ideologie
nichts mit einer passiven Haltung zu ihrer Unterdrückung und ihren
persönlichen und kollektiven Erfahrungen zu tun hat.

Im Gegenteil, Revolutionär_Innen müssen dafür kämpfen, dass
diese gehört werden, diese Kraft Eingang in den Kampf findet. Eine
Erscheinungsform jeder sozialen Unterdrückung wie auch der
kapitalistischen Ausbeutung besteht schließlich tatsächlich darin,
dass ihre Erfahrungen (und noch vielmehr spontane Formen von
Rebellion, Aufbegehren und Widerstand) in dieser Gesellschaft
marginalisiert werden.

Der Marxismus erkennt an, dass Subjektwerdung der Klasse auch eine
viel breitere, umfassende Artikulation der Erfahrungen mit Ausbeutung
und Unterdrückung beinhaltet. Die Arbeiter_Innenkorrespondenzen in
den Zeitungen der Zweiten und Dritten Internationale verdeutlichten
auch, wie wichtig diese für die Formierung einer kämpfenden
Bewegung und den kollektiven Austausch waren. Die Betonung dieser
Erfahrung in der Identitätspolitik inkludiert somit ein richtiges
Moment, das die Arbeiter_Innenbewegung insgesamt – und zwar nicht
nur hinsichtlich der Erfahrung von Lohnabhängigen, sondern aller
Unterdrückten forcieren muss.

Zweitens muss die Arbeiter_Innenbewegung alle fortschrittlichen
Kämpfe von gesellschaftlich Unterdrückten, sei es gegen die
Unternehmer_Innen, den Staat oder die Rechten, sei es gegen
imperialistische Ausbeutung und Besatzung, ohne Wenn und Aber
unterstützen. Dass die Identitätspolitik bei vielen
Auseinandersetzungen und Bewegungen eine bedeutende, wenn nicht sogar
vorherrschende Ideologie spielen mag, ändert daran nichts. Es geht
schließlich nicht darum, eine falsche politische Konzeption zu
unterstützen, sondern die legitime Gegenwehr. Wenn die
Arbeiter_Innenbewegung und vor allem deren revolutionärer Flügel
wirklich zeigen will, dass sie jedes Aufbegehren gegen Unterdrückung
als integralen Bestandteil des Klassenkampfes um eine andere,
sozialistische Gesellschaft begreift, so muss sie dies z. B. den
Aktivist_Innen der Frauenbewegung, in antirassistischen Kämpfen,
Geflüchteten, sexuell Unterdrückten auch praktisch zeigen.

Kritik der Identitätspolitik

Diese praktische Politik muss aber einhergehen mit eine
unversöhnlichen Kritik der Identitätspolitik selbst. Diese geht
letztlich von einem bürgerlichen Verständnis der Subjektbildung
aus. Im Grunde betrachtet sie das Individuum oder Identität und
damit Bewusstsein nicht als gesellschaftliches, geschichtliches,
veränderbares Produkt.

Entweder tut sie das in der kruden Form, dass aus der eigenen
Erfahrung/Empfindung unmittelbar auf die Richtigkeit der
gesellschaftlichen Einschätzung Rückschluss gezogen wird (Teile des
Feminismus, Antikolonialismus, Ökonomismus) oder diese Politik wird
komplexer gedacht und begründet. So wird anerkannt, dass auch das
Bewusstsein der Unterdrückten „entstellt“, vom
Unterdrückungsverhältnis geprägt sein kann. Aber statt den
widersprüchlichen Charakter der persönlichen und kollektiven
Erfahrung selbst zu begreifen, wird auf eine eigentliche, aber
dahinter liegende, weniger unmittelbare Erfahrung rekurriert, die
gewissermaßen nur freigelegt werden müsse, oder es wird eine
gewisse Relativierung wie im Intersektionalismus vorgenommen, wenn
verschiedene Erfahrungen gegeneinander abgewogen werden.

Auch wenn die eigene bzw. kollektive Erfahrung für den Kampf
gegen Ausbeutung oder Unterdrückung einen unerlässlichen
Ausgangspunkt für Handeln, Rebellion, Infragestellung scheinbarer
Selbstverständlichkeiten darstellt, so kann aus ihr selbst heraus
sicher nie die Richtigkeit einer Analyse, eines Verständnisses des
Gesamtzusammenhangs hergeleitet werden.

Im Gegenteil, im Kapitalismus kann, ja wird bei den Unterdrückten
notwendig und spontan ein falsches Verständnis reproduziert werden.
Das tut z. B. der bürgerliche Feminismus, indem er die
Frauenunterdrückung auf eine Gleichheitsfrage reduziert; das tut der
Nationalismus von Befreiungsbewegungen, denn der Nationalismus ist
auch dann noch eine bürgerliche Ideologie; das tut der Ökonomismus,
indem er Arbeiter_Innenpolitik als Verlängerung des
nur-gewerkschaftlichen Klassenkampfes betrachtet.

Für den Marxismus stellt der Mensch hingegen ein „Ensemble
gesellschaftlicher Verhältnisse“ dar. D. h. die
Individualität, auch die Identität der Einzelnen z. B. ist
selbst ein historisches Produkt.

Damit ist nicht nur gemeint, dass wir in eine bestimmte Welt mit
bestimmten Möglichkeiten hineingeboren worden sind. Bestimmte
Klassengesellschaften bringen auch verschiedene Klassenindividuen
hervor und je nach Typus spezifische objektive Gedanken- und
Bewusstseinsformen, damit auch bestimmte Formen der Identität.

Aber die Identität stellt sich im Kapitalismus spezifisch dar.
Und zwar selbst in doppelter Weise als bürgerliches 
(WarenbesitzerIn) und Klassenindividuum (Klasse an sich).

Das Bewusstsein, bestimmte Bewusstseinsformen der Individuen sind
schon in der Form davon geprägt, dass die gesellschaftlichen
Verhältnisse in ihnen verschleiert werden, verkehrt erscheinen oder
überhaupt ihr Wesen verschwindet – und zwar mit Notwendigkeit. So
z. B. in der Lohnform – und das hat auch Auswirkungen auf die
Frage der Hausarbeit, privaten Arbeit, damit auch des Verhältnisses
zwischen den Geschlechtern.

D. h. die Identität der Ausgebeuteten und Unterdrückten ist
nicht einfach nur in dem Sinne „geformt“, dass sie z. B.
herrschaftskonforme Stereotypen nachvollziehen (z. B. Gehorsam,
moralische Werte, Geschlechternormen), sondern auch in dem, dass ihre
spontanen moralischen Ziele (Gleichheit, Gerechtigkeit, …) selbst
ideologische Formen darstellen und eine dem System selbst
entsprechende, wenn auch widersprüchliche Identität gebildet wird.
Diese enthält bewusste und unbewusste Komponenten und auch in sich
widersprüchliche Momente – nicht zuletzt weil auch die
Gesellschaft, deren subjektive Reflexion sie darstellt,
widersprüchlich ist.

Eine nicht gesellschaftsbezogene Betrachtung führt das dazu, dass
die Ungleichheit von Mann und Frau in der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung als Effekt biologischer „natürlicher“
Unterschiede erscheint oder als Auswirkung eines Diskurses, Narrativs
betrachtet wird.

Dieser Biologismus sitzt ebenso wie Identitätspolitik und
Queerfeminismus gesellschaftlichen Oberflächenphänomen auf. Er
nimmt die Identität (oder im Fall des Letzteren den Diskurs), also
eine bewusstseinsmäßige Widerspiegelung der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung zum Ausgangspunkt, nicht die materiellen, alltäglichen
Grundlagen der Gesellschaft: die herrschenden
Produktionsverhältnisse.

Wenn aber die gesellschaftlichen Verhältnisse (Ausbeutung,
Unterdrückung) nur vermittelt, ideologisiert im Bewusstsein und in
Rollen„zuweisungen“ erscheinen können, so kann auch nicht aus
der eigenen Erfahrung unmittelbar auf die Wurzeln oder die
gesellschaftliche Bedeutung der eigenen Unterdrückung/Ausbeutung
geschlossen werden.

Das Verhältnis von kapitalistischer Ausbeutung zu
Frauenunterdrückung lässt sich aus der unmittelbaren Erfahrung
nicht ableiten. So stellt das Kapitalverhältnis (und damit die
Ausbeutung der Lohnarbeit) das grundlegende gesellschaftliche dar.
Das bedeutet jedoch keineswegs immer, dass die Lebenslage der
Arbeiter_Innenklasse am schlechtesten wäre. In etlichen Ländern
oder ganzen Perioden kann die der Kleinbauern/-bäuerinnen und
Landlosen deutlich schlechter sein. Nichtsdestotrotz vermögen diese
keine konsequent revolutionäre Kraft zu konstituieren aufgrund ihrer
gesellschaftlichen Lage als, wenn auch in Auflösung begriffener,
Teile des Kleinbürger_Innentums.

Auch der Unterschied zwischen Ausbeutungs- und
Unterdrückungsverhältnis lässt sich nicht aus der Erfahrung
erkennen und verstehen, lässt sich nicht aus der Identität der
Ausgebeuteten oder Unterdrückten herleiten, weil die Identität
selbst objektiv gesellschaftlich geprägt ist, also „funktionale“
unterm Kapitalismus spezifische objektive Bewusstseinsformen,
Fetischformen (nicht nur im Sinn von falschen Zuschreibungen)
hervorbringt.

Identitätspolitik geht nicht vom Menschen als „Ensemble
gesellschaftlicher Verhältnisse“ aus, sondern vom Individuum. Die
gesellschaftlichen Verhältnisse werden nicht als konstitutiv
eingeführt, sondern bei der Analyse erst nachträglich (z. B.
in Form von Kritik an Privilegien, diskursiven Zuschreibungen usw.)
hinzugefügt und auch dann in der Regel auf der Ebene von
Verteilungsverhältnissen, nicht des ihnen zugrundeliegenden
kapitalistischen Produktionsverhältnisses und eines Verständnisses
der Totalität der bürgerlichen Gesellschaftsformation.

Damit werden zwar reale Erscheinungsformen zur Kenntnis genommen
und betont, aber auf einer falschen methodischen Grundlage, in der
z. B. Klassenverhältnisse nur als ein weiteres Attribut von
Diskriminierung und (autoritärer) Herrschaft erscheinen, nicht als
grundlegendes Ausbeutungsverhältnis.

Daher kann ein Programm auf Basis der Identitätspolitik
bestenfalls eklektisch sein, nicht revolutionär.

Daher muss der Marxismus Identitätspolitik grundsätzlich und in
jeder Form ablehnen, insbesondere  auch die Vorstellung,
Klassenpolitik als eine Form der Identitätspolitik zu begreifen. Das
würde bedeuten, Marxismus auf Ökonomismus zu reduzieren.

Die Ablehnung der Identitätspolitik bedeutet dabei nicht, die
Wichtigkeit eigener Erfahrung und der Bedeutung kollektiver Identität
abzulehnen. Im Gegenteil: Deren Betonung stellt ein wichtiges Element
revolutionärer Politik dar. Aber diese kann nicht spontan zu
revolutionärer Politik führen. Revolutionäres Klassenbewusstsein
erfordert vielmehr eine Verbindung kollektiver Erfahrung mit dem
Marxismus. Dies wiederum bedeutet den Aufbau einer revolutionären
Partei und Internationale, eines internationalen Kampfverbandes der
entschlossensten und bewusstesten Teile der Arbeiter_Innenklasse und
aller Unterdrückten auf der Basis eines Programms, dem eine
wissenschaftlich fundierte Verallgemeinerung geschichtlicher
Erfahrung zugrunde liegt.




Woher kommt Sexismus?

Svea Hualidu, Revolution Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Sexismus
zieht sich durch alle Bereiche unseres Lebens. Ob nun in der Schule, bei der
Arbeit oder auf dem täglichen Heimweg. Beispielsweise werden Geschlechtern
immer wieder bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Mädchen sollen immer schön
zurückhaltend, fürsorglich und freundlich sein. Jungs sollen hingegen immer
noch nicht über ihre Gefühle reden und die „starken Beschützer“ sein. Dadurch,
dass uns diese Werte durch Medien, Familie und unser Umfeld von Geburt an
vermittelt werden, stellen wir diese oft nicht in Frage.

Sobald
wir in die Schule kommen, werden diese Rollenverteilungen noch durch
nebensächliche Behandlung von der Rolle der Frau in der Geschichte verhärtet.
Frauen aus der Wissenschaft finden sich hier kaum bis gar nicht wieder. Mädchen
sollen gut in Kunst sein und werden für ihre Handschrift gelobt. Wenn sie sich
in einen naturwissenschaftlichen Kurs einschreiben, müssen sie sich dafür dumme
Sprüche anhören. In der Ausbildung oder an der Uni gehen die dummen Sprüche in
der Pause über Frauen, die sich sowieso nur schminken und von technischen
Sachen keine Ahnung haben, weiter. Das sind alles nur Beispiele für  Alltagssexismus. Dieser macht aber nur einen
Teil der Frauenunterdrückung aus. Denn gleichzeitig findet in unserer
Gesellschaft eine strukturelle Unterdrückung der Frau statt. So bekommen  Frauen 2020 immer noch 21 % weniger Lohn
als Männer insgesamt, 8 % mit der gleichen oder vergleichbaren
Arbeitsstelle. Dies führt dazu, dass sie nach der Schwangerschaft oder einem
Krankheitsfall in der Familie häufiger in Teilzeitarbeit gedrängt werden.

So
entstehen mehrere Nachteile: Frauen sind viel häufiger von (Alters-)Armut
betroffen, von ihrem Partner finanziell abhängig und müssen mehr im Haushalt
arbeiten. Daneben gibt es noch gesetzliche Hürden wie Einschränkungen/Verbot
der Abtreibung, während gleichzeitig sexuelle Straftaten kaum geahndet werden.
Klar ist also: Sexismus ist kein Hirngespinst und hat eine materielle Basis in
der Gesellschaft, die stetig reproduziert wird.

Feminismus

Vielen
Leuten ist Feminismus mittlerweile ein Begriff. Dabei gibt es unterschiedliche
inhaltliche Strömungen, die jeweils andere Ansätze entwickelt haben, wie man
gegen Frauenunterdrückung  kämpfen
sollte. Der Queerfeminismus wirft beispielsweise die Frage auf: „Wie definiert
man Geschlechter?“ und sieht das Hauptproblem in der Konstruktion sämtlicher
Geschlechternormen an sich. Der Radikalfeminismus hingegen sieht die Ursache in
der männlichen Natur, sucht die Lösung in der autonomen Organisierung von
Frauen. Intersektionalität fragt „Sind manche Frauen durch die Kombination
mehrerer Unterdrückungsmechanismen mehrfach unterdrückt?“, zeigt allerdings
keinen Lösungsansatz auf und setzt alle Unterdrückungen gleich. Der bürgerliche
Feminismus hat viele Spielarten, konzentriert sich in erster Linie auf die
rechtliche Gleichstellung aller Frauen. Dabei kann es auch dazu kommen, dass
die bürgerlichen Feminist_Innen rückschrittliche Positionen annehmen,
beispielweise Alice Schwarzer, die sich in ihrem Magazin EMMA ganz offen gegen
Sexarbeit und das Tragen eines Kopftuchs ausspricht. Diese Positionen lehnen
wir offen ab.

Alle
diese Spielarten haben mehrere Probleme. Zum einen gibt es selten eine
wirkliche Erklärung, woher Frauenunterdrückung eigentlich kommt. Zum anderen
betrachten sie meist alle Frauen als „Einheit“ und schreiben ihnen ein gleiches
Interesse zu. Das ist problematisch. Zwar ist es positiv, dass
Feminismusmagazine oder Self-Love-Instagramprofile sich mit den eigenen
Gefühlen von erlebter Unterdrückung auseinandersetzen, doch Worte formen leider
nicht die Realität. Diese wird von der ökonomischen Basis der Gesellschaft
geprägt. Da es unterschiedliche Klassen gibt, gibt es auch unterschiedliche
Interessen. So sind Frauenquoten in Chefetagen nur für einen kleinen Teil der
Frauen relevant und eben dieser hat auch ein Problem mit Forderungen, die eine
reale Verbesserung für alle darstellen würden wie bspw. kostenlose Abtreibungen
und Verhütungsmittel oder gleicher, höherer Lohn. Aber woher kommt denn nun
Frauenunterdrückung?

Entstehung der Familie und des Privateigentums

Am
Anfang der menschlichen Geschichte gab es eine klassenlose Urgesellschaft. Hier
waren alle Geschlechter gleichgestellt. Anthropologische Forschungen belegen,
dass sich erwachsene Frauen wegen Schwangerschaft und langer Abhängigkeit der
Kinder von der Mutter nicht an den langen Hetzjagden auf Großwild beteiligen
konnten. Diese war Domäne der erwachsenen, bewaffneten Männer. In dem Sinne
können wir von einer geschlechtlichen Arbeitsteilung sprechen, die genau wie
die noch ursprünglichere (Gebären, Stillen; Zeugen) biologische Ursachen hatte.
Frauen sammelten Früchte, Samen und andere Pflanzenteile und erbeuteten kleine
Tiere. Diese Arbeitsteilung der Jäger- und Sammlergesellschaften hatte so gut
wie nichts mit anderen physischen Unterschieden (Körperkraft, Ausdauer) zu tun.
Frauen trugen geschätzt 60 % zum Nahrungserwerb der Horden bei.

Mit
der Sesshaftwerdung, also ab der Jungsteinzeit, entwickelte sich dann Stück für
Stück ein Überschuss. Dies geschah insbesondere durch die Viehzucht und die
Durchsetzung des Ackerbaus (insbesondere in Verbindung mit Zugtieren zum
Pflügen). Eben jene Entwicklung ist hierbei hervorzuheben. Sie legte die Basis
für die Umgestaltung der Verhältnisse in Produktion (Ausbeutung,
Klassengesellschaft, Staat) und Reproduktion. Durch den erwirtschafteten systematischen,
dauerhaften Überschuss konnte erstmals ein Teil der Gesellschaft aus der
Produktion ausscheiden, sei es nur im Alter oder zeitlebens bei ehemaligen
Oberhäuptern (Häuptlingen). In diesem Zuge bildete sich auch die Familie
heraus. Diese unterschied sich von der heutigen dadurch, dass neben dem
Oberhaupt auch Haussklav_Innen oder Gesinde (nicht verheiratete Mägde und
Knechte) dazugehörten.

Auch
wenn die Übergangsperiode zur Klassengesellschaft mehrere Tausend Jahre
dauerte, so erwuchs sie aus dieser Formation und legte ebenfalls den Grundstein
für die Entstehung des Staates. Ein wichtiges Element hierbei nimmt der Übergang
zur Monogamie ein. Damit das Eigentum in an die eigenen Nachkommen vererbt
werden konnte, wurde diese essenziell. Diese war in erster Linie verbindlich
für Frauen, da durch die Monogamie die leibliche Vaterschaft der besitzenden
Männer gesichert werden sollte. Herauszustellen ist, dass
die Unterdrückung der Frau ab Entstehung der ersten Klassengesellschaften
unumkehrbar geworden ist und ihre Beseitigung darum die Errichtung einer
klassenlosen Gesellschaft erfordert.

Übergang
in den Kapitalismus

Mit
Beginn des Kapitalismus und der Entstehung des Proletariats hörte der Haushalt
auf, die grundlegende Produktionseinheit zu sein. Statt in der Familie selber
zu produzieren, musste es nach seiner Vertreibung von Grund und Boden, nach
Verlust seiner Produktionsmittel die eigene Arbeitskraft bei KapitalistInnen
verkaufen. Im Zuge des wachsenden Fortschritts, der Einführung von Maschinen im
Zuge der industriellen Revolution wurde es notwendig und möglich, mehr
Arbeitskräfte als nur Männer (Lohnarbeit von Frauen und Kindern) in die
Fabrikproduktion einzubeziehen. Zuvor, im Verlagssystem (Zwischenglied zwischen
Handwerk und Industrie), waren die Produzent_Innen schon keine Handwerker_Innen
mehr, weil sie allein von Aufträgen der Kaufleute vollständig abhängig waren,
aber noch keine Proletarier_Innen, weil sie formal noch über ihre
Produktionsmittel und Werkstatt verfügten. Mit dem Ruin des Handwerks wurden
sie zu Lohnabhängigen in industrieller Kooperation und Manufaktur. Die
Fabrikarbeit stellt für die Emanzipation der Frauen insofern einen Fortschritt
dar, als sie durch Mechanisierung etliche Schranken der nach Gewerk getrennten
Arbeitsteilung zwischen Männern, Frauen und Kindern einreißt und Aufhebung der
geschlechtlichen Arbeitsteilung vom technischen Prinzip, vom Stand der
Produktivkräfte her überhaupt ermöglicht. Muskelkraft spielt nur noch eine
untergeordnete Rolle.

Doch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse verwandeln das
fortschrittliche Potenzial des Fabriksystems in eine Hölle für die
Arbeiter_Innenklasse, für die Frauen zudem noch in ein Fegefeuer. Da erstens
nämlich der Lohn von Arbeiter_Innen nur das enthält, was zur Reproduktion der
eigenen Familie notwendig ist und er im Fabriksystem auf die gesamte
Arbeiter_Innenfamilie verteilt wurde, sank der des Ehemannes, der zuvor die
Bestandteile für Gattin und nachwachsende zukünftige Arbeitskräfte enthielt.
Dies sparte den Kapitalist_Innen Geld und verschärfte auch die Konkurrenz
innerhalb der Klasse. Diese Abwertung des männlichen Arbeitslohns liegt dem
reaktionären proletarischen Antifeminismus zugrunde. Zum zweitens wurde die Arbeiter_Innenfamilie nun
als Ort, an dem die Arbeitskraft wieder hergestellt werden musste, zur zweiten,
aber unbezahlten Schicht für die Lohnarbeiterin.

Für die Arbeiter_Innenklasse  hat sie
also einen doppelten Charakter. Zum einen ist die Familie der einzige
„Ruheort“, zum anderen jedoch für die Frau eine Doppelbelastung. Sie musste
arbeiten und sich gleichzeitig um den Haushalt kümmern. So sparen die
Kapitalist_Innen zusätzlich viel Geld dadurch, dass sie die Reproduktion ins
Private auslagern. An Stellen, wo dies nicht (mehr) möglich ist wie
beispielsweise der grundlegenden Ausbildung, greift dann der bürgerliche Staat ein, um das
Interesse der gesamten Kapitalist_Innenklasse zu vertreten (allgemeine
Schulpflicht, Verbot der Kinderarbeit).

Auf der anderen Seite blieb Familie funktional für das Bürger_Innentum, um
die Vererbung innerhalb der herrschenden Klasse zu legitimieren. Das klassische
Bild der Arbeiter_innenhausfrau, was vor allem in westlichen, imperialistischen
Ländern präsent war, ist dabei etwas, das erst im späteren Verlauf der
Geschichte entstand. Für die Bürgerlichen und ebenso die besser gestellten
Kleinbürger_Innen war dieses zweifelhafte Ideal hingegen schon immer möglich.
Als sich dann vor allem in imperialistischen Ländern eine Schicht von
Arbeiter_Innen (Arbeiter_Innenaristokratie) durch erfolgreiche Streiks sowie
Extraprofite herausbildete, die besser verdient, wurde von ihr diesem Bild der
bürgerlichen Familie als Privileg nachgeeifert. Allerdings ist dies, wie wir
wissen, auch heute nur für einen kleinen Teil möglich.

All das beweist, dass Sexismus eine Klassenfrage ist und somit auch der
Kampf um die Frauenbefreiung einer um die Herrschaft einer Klasse über die
andere ist. Der Kapitalismus hat sich als unfähig und unwillig erwiesen, die im
Haushalt verrichtete Arbeit systematisch zu vergesellschaften. Er ist daher
unfähig, die Unterdrückung der Frauen zu beenden.

Doch
wie dagegen ankämpfen?

Für
die Praxis heißt das anzuerkennen, dass zwar auch die Männer der
Arbeiter_Innenklasse in einem gewissen Maß von Frauentundrückung profitieren,
allerdings keinen historischen Nutzen daraus ziehen. Vielmehr werden sie
dadurch an der Verwirklichung ihrer grundlegenden Klasseninteressen gehindert. Nur
ein gemeinsamer Kampf aller Proletarier_Innen gegen die herrschende Klasse kann
ein erfolgreicher sein. Als
Revolutionär_Innen müssen wir uns entschieden gegen jegliche Form der
Frauenunterdrückung stellen. Um diese jedoch effektiv zu beseitigen, müssen wir
sie an der Wurzel packen – dem Kapitalismus. Gleichzeitig muss klar
herausgestellt werden: Wir müssen den Kampf für eine bessere Welt mit Reformen
und konkreten Verbesserungen im Hier und Jetzt verbinden!

Beispielsweise durch einen gemeinsamen höheren
Mindestlohn oder das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper kann man
die existierende Spaltung innerhalb der Arbeiter_Innenklasse anfangen zu
beseitigen. Ebenso müssen diese Kämpfe an allen Orten unseres täglichen Lebens
und somit auch an denen, wo Politik stattfindet, geführt werden. Durch
Diskussionen am Arbeitsplatz, gewerkschaftliche Organisierung auch mit dem
Ziel, den Kampf gegen Frauenunterdrückung dort mit einzubringen,
antisexistische Veranstaltungen an Schulen und eine Schüler_Innengewerkschaft.
Komplett aufgelöst werden kann sie nur in einer klassenlosen Gesellschaft, in
der die Reproduktionsarbeit nicht mehr nur auf die Familie und somit die Frauen
ausgelagert wird. Ziel muss es sein, die tägliche Hausarbeit
gesamtgesellschaftlich zu organisieren. Durch beispielsweise Großküchen,
Waschräume sowie Kinder- und Angehörigenbetreuung, die kollektiv organisiert
wird.

Für den Kampf im Hier und Jetzt muss uns dabei klar sein, dass in der
heutigen Gesellschaft, in der wir alle nicht frei von unterdrückender
Sozialisierung leben, es auch in linken Organisationen Mechanismen bedarf, die
dem entgegenwirken. So brauchen wir jetzt schon kollektive Kinderbetreuung,
aktiven Umgang mit sexuellen Grenzüberschreitungen, Bewusstsein, Frauen und
sexuell Unterdrückte von technischen Aufgaben zu befreien sowie sie zu
ermutigen, aktiv nach außen zu treten. Auch Caucuses, also gesonderte Treffen
von sozial Unterdrückten, bei der sie sich über Erlebtes austauschen können,
sind ein notwendiges Mittel. Ebenso müssen Männer regelmäßig ihre
Sozialisierung und unterdrückendes Verhalten reflektieren.

Quellen: Hausarbeit https://www.beziehungen-familienleben.de/ergebnisse/wie-teilen-sich-maenner-und-frauen-die-arbeit-im-haushalt/




Resolution: Flüchtlinge Willkommen, Fluchtgründe Bekämpfen!

Internationale Resolution von REVOLUTION

More and more people are fleeing the civil war in Syria and from the breakdown of the Iraqi state. The refugee camps in Turkey and the states surrounding Syria have been overrun way past their capacities for years but recently pressure on the European states has increased as refugees make their way into the imperialist heartlands.

The first signs could be seen in Lampedusa or Calais – in the last month though the number of refugees has significantly surpassed the capacities of the camps and registration infrastructure provided by the bourgeois states of Europe. The barbed wire fences in Hungary and the other border states will not stop people who have come so far to escape Assad’s barrel bombs and the terror of ISIS. Right now there are police and military stationed at the borders shooting teargas and rubber bullets at refugees trying to enter. The Hungarian military has even received permission to use firearms in a non-lethal way. That is what capitalist human rights look like when it comes down to it. The imperialist core of the EU is trying to make it seem like this is just Hungary’s right wing, nationalist government going buck wild. But looking at the billions of Euros that have been invested into the Hungarian border this is hard to believe. It is just the scenario easiest to sell to the public while screening heartening pictures of individual activists who are trying to compensate for the shortcomings of the European governments, a task that can not be accomplished by them. At the same time the EU is preparing more coordinated military actions in the Mediterranean Sea to simply sink the boats trying to cross over to Europe.

Die Festung Europa zerschlagen!

As a result of EU policy the hungarian government is now able to using the current “refugee crisis” in order to push through a variety of anti democratic and racist laws which will not only enable the hungarian police to search all places where they suspect illegal immigrants without any sort of search warrant. They have also now pushed through a law, making it a criminal offence to enter hungary illegally and set up a system of speed trials in order to deport and criminalize refugees. As an enormous number of refugees are young people and children they are also legally treating 14 to 18 year olds as adults to get rid of them. The ruling party in Hungary, FIDESZ under Viktor Orban, has been pushing through antidemocratic measures and austerity policies in the last couple of years and has recently lost its absolute majority in parliament[1]. Since the fascist party Jobbik are now the second strongest parliamentary force in the opinion polls, almost catching up with Fidesz[2], this might lead to a future coalition of Fidesz and Jobbik furthering the right wing backlash.

The rest of the european countries is currently trying to make it look like they have nothing to do with the actions of the military or FRONTEX at the EU borders. The German and Austrian governments are praising their great “welcoming culture”, while closing the borders. Especially the weapon industries in Germany and France have profited from both the wars in Syria, Ukraine and Africa and the investments into border security.

The ruling classes of Europe have also found another way to exploit the precarious situation refugees are faced with when fleeing to countries like Germany. It is no coincidence that capitalists are all of a sudden calling for a work permission for refugees, the welcoming culture is limited to the principle that refugees are welcome as long as capitalists are welcome to exploit them. They hope to create a completely vulnerable, powerless strata of the working class which they can exploit as much as possible. We fully support the right of refugees to work and lead an emancipated life in the countries they had to flee to, but we need to force the unions into organizing a campaign in support of refugee rights as well as organizing refugees as fellow union members and workers.

As for the war in Syria it has also developed more characteristics of an imperialist conflict.The US are bombing oil refineries and sometimes even ISIS, the CIA tries to put forth a force acting in their interest, Russia is exporting aircraft, battle tanks and even personnel to Assad and regional powers such as Qatar and Saudi-Arabia are investing in the war as well. The rigorous continuation of this brutal conflict has lead to a wave of of refugees not matched in decades.

To meet the needs of these people, which is our duty since our wealth is founded on their misery, we need to coordinate internationally. We need to force the European governments into opening the borders, providing safe passage for every refugee and organizing sea rescue initiatives. We need to force them into providing appropriate housing, food and healthcare for everybody. We oppose the idea of creating „nicer“ forms of detention camps but we argue for the right of refugees to live in socially funded housing, not segregated and hidden away from society but as an equal part of it. We need to fight against racism, the growing right wing in Europe and the ongoing attempts to divide us. Therefore, we also oppose every concept of discrimination between economic and political refugees – freedom of movement is everyone’s right, no matter if they are fleeing war, hunger or poverty. We need to demand full citizenship for everyone, the right to vote, to work, to live wherever they want and the right to organize.

Right now we see the individual effort of thousands of volunteers and their great sacrifices all over Europe, which is admirable and a natural reaction to the suffering of others. But it is not a possible solution. We need to address the issues that are really responsible for this situation; the Assad regime which has slaughtered tens of thousands and displaced countless more, the imperialist governments and economies that are profiting from war, exploitation and poverty and finally ISIS who are a creation of imperialist interventions. We need to demand that they stand up to their crimes and pay for them. The struggle for the refugees is not fought or won in the camps, at the registration sites or borders. It must be brought to the streets, into the imperialist centers if we want to solve it. The war that has been brought upon the Syrian or Iraqi people needs to return to those who caused it, the bourgeois class.

Though the demands we are raising against the governments of Europe are based on the dire necessities of being a human, it would be foolish to expect the bourgeois states to try to fulfill them as they attack the very base of their power and wealth. The recent development, the crisis, shows with even more vigor that we have all the right to do so. This tragedy cannot be ended until we eradicate the real cause for it, the capitalist system. A social structure based on ever growing exploitation of the majority of people has not the potential to solve this crisis for it is the cause of it. If we want to help the refugees, if we want to fight the rising racist and nationalist movements we need fight capitalism as a whole and bring it down.

[1] http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-02/ungarn-orban-verliert-popularitaet

[2] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-rechte-jobbik-partei-macht-auf-nett-a-1031915.html