Ukraine: Nationale Frage und die Frauen

von Susanne Kühn / Oda Lux, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist allgegenwärtig: in den Medien und im Alltag. Man sieht vor allem Bilder von kämpfenden Männern, geflüchteten Frauen oder von Daheimgebliebenen in zerstörten Häusern. Das erfasst die Lebensrealität und die Lage der Frauen in der Ukraine nur zum Teil. Denn obwohl unter anderem aufgrund des Kriegsrechtes, welches ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 die Ausreise verbietet, ein sehr großer Teil der Menschen, die Westeuropa erreichen, Frauen sind, wird die Frage, wie es eigentlich um ihre Situation in diesem Konflikt und der Ukraine generell steht, verhältnismäßig wenig gestellt.

Um deren Lage – wie die Situation in der Ukraine – selbst zu verstehen, ist es jedoch auch erforderlich, kurz auf die nationale Unterdrückung seit dem Zarismus einzugehen.

Wir halten dies allerdings für dringend notwendig, weil bei aller berechtigten und notwendigen Kritik am ukrainischen Nationalismus Ingoranz gegenüber der nationalen Frage in der Ukraine vorherrscht – nicht nur in der bürgerlichen Öffentlichkeit oder bei unverbesserlichen Putinist:innen, sondern auch in weiten Teilen der „radikalen“ Linken.

Dies ist umso wichtiger, weil der reaktionäre und barbarisch geführte Krieg Russlands nicht nur abertausenden ukrainischen Zivilist:innen das Leben gekostet, hunderttausende obdachlos gemacht und verarmt, sondern Millionen – vor allem Frauen – zur Flucht gezwungen hat. Er hat auch einem reaktionären und historisch eher schwachbrüstigen bürgerlichen Nationalismus massiven Zulauf verschafft. Und es ist klar, dass dieser ohne Lösung der ukrainischen nationalen Frage nicht entkräftet werden kann.

Genau darin, in der Anerkennung der Bedeutung der nationalen Unterdrückung als einer Schlüsselfrage in der Ukraine bestand die historische Errungenschaft Lenins – eine Errungenschaft, die allerdings auch schon zu seinen Lebzeiten in der Bolschewistischen Partei umstritten war. Unter dem Stalinismus wurde letztlich die nationale Unterdrückung nur in anderer Form reproduziert.

Ukraine und ihre nationale Unterdrückung

Im 19. Jahrhundert, in der Phase der Herausbildung der Nation, waren die Ukrainer:innen in ihrer großen Mehrheit Bewohner:innen des zaristischen Russland, Gefangene eines Völkergefängnisses (ein bedeutender Teil der Westukraine gehörte zur Habsburger Monarchie).

Die Existenz der ukrainischen Nation wurde vom Zarismus bestritten, ja bekämpft. Sie wurden ganz im Sinne des großrussischen Chauvinismus als „Kleinruss:innen“ bezeichnet. Im Zuge der Russifizierungspolitik wurden ukrainische Literatur und Zeitungen ab 1870 verboten, um so diese Kultur zwangsweise zu assimilieren. Die Revolution von 1905 erzwang zwar die Aufhebung dieser Gesetze bis 1914, aber im Ersten Weltkrieg wurde das Verbot der ukrainischen Sprache wieder eingeführt. Erst die Revolution 1917 hob diese wieder auf.

Die entstehende ukrainische Nation setzte sich in ihrer übergroßen Mehrheit aus Bauern/Bäuerinnen zusammen, die eine gemeinsame Sprache und auch ein Nationalbewusstsein pflegten. Die herrschenden Klasse und die kleinbürgerlichen städtischen Schichten setzten sich aber vorwiegend aus Nichtukrainer:innen zusammen – westlich des Dnepr waren es vor allem polnische Grundbesitzer:innen, östlich des Dnepr russische. Die städtischen Händler:innen waren vor allem Juden/Jüdinnen.

Die Industrialisierung der Ukraine setzte Ende des 19. Jahrhunderts mit der Erschließung des Donbass (Donezbeckens) ein. Die Arbeiter:innen in den Bergwerken wie auch die Kapitalist:innen waren zum größten Teil großrussische Migrant:innen.

Ende des 19. Jahrhunderts sah die nationale Zusammensetzung der ukrainischen Gouvernements im zaristischen Reich wie folgt aus: 76,4 % Ukrainer:innen, 10,5 % Großruss:innen, 7,5 % Juden/Jüdinnen, 2,2 % Deutsche, 1,3 % Pol:innen und 2,1 % andere. Auf dem Land bildeten die Ukrainer:innen mit 82,9 % die überwältigende Mehrheit, in den Städten machten sie aber lediglich 32,2 % der Bevölkerung aus.

Die nationale Frage in der Ukraine war also eng mit der Agrarfrage verbunden und nahm auch die Form eines Stadt-Land-Gegensatzes an. Zweitens war und wurde die Ukraine im Krieg auch Kampfplatz zwischen Großmächten, die ihre wirtschaftliche und geostrategische Konkurrenz auf ihrem Gebiet austrugen.

Ukrainischer Nationalismus

Der ukrainische bürgerliche Nationalismus entwickelte sich erst spät, in der zweiten Hälfte in den Städten des zaristischen Russland oder im Habsburger Reich, wo die ukrainische Kultur und Sprache weniger extrem unterdrückt wurden. Von Beginn an stützte er sich auf eine relativ schwache ukrainische Bourgeoisie und Intelligenz. Im zaristischen Russland war er außerdem von Beginn an – auch aufgrund der Rolle der orthodoxen Kirche und einer Teile-und-herrsche-Politik des Zarismus – stark antipolnisch und auch antisemitisch geprägt. Zugleich offenbarte er schon früh eine Bereitschaft, sich politisch verschiedenen Mächten unterordnen, was sich im Ersten Weltkrieg, im Bürger:innenkrieg und in extremster Form in der Kollaboration ukrainischer Nationalist:innen (insb. von Banderas OUN; Organisation Ukrainischer Nationalist:innen) mit den Nazis ausdrückte.

Es wäre aber falsch, ihn als rein reaktionäre Strömung zu betrachten. Neben einem von Beginn an überaus zweifelhaften bürgerlichen Nationalismus bildeten sich auch linkere, oft sozialrevolutionäre, populistische Strömungen heraus, die eine reale Basis unter der Bauern-/Bäuerinnenschaft besaßen (darunter auch Sozialrevolutionär:innen, später auch halbanarchistische Strömungen, deren bekannteste die Machnobewegung war). Die fortschrittlichste Kraft stellten sicher die Borot’bist:innen dar (linke Nationalist:innen, die sich dem Kommunismus zuwandten und schließlich mit der KP der Ukraine verschmolzen; Borot’ba = dt.: Kampf).

Arbeiter:innenbewegung und Bolschewismus

Die Arbeiter:innenbewegung konnte vor der Oktoberrevolution in der ukrainischen Bevölkerung – das heißt unter der Bauern-/Bäuerinnenschaft – faktisch keinen Fuß fassen (und sie hat das auch kaum versucht). Nach der Revolution trat Lenin – auch gegen massive Widerstände unter den Bolschewiki – entschieden für das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine ein (einschließlich des Rechts auf Eigenstaatlichkeit). Zweifellos stellte dies einen Schlüssel für die Normalisierung des Verhältnisses zur Bauern-/Bäuerinnenschaft zu Beginn der 1920er Jahre dar. Die bolschewistische Politik in der Ukraine und im Bürgerkrieg war jedoch schon in dieser Periode keineswegs frei von großrussisch-chauvinistischen Zügen, die jedoch innerparteilich vor allem von Lenin bekämpft wurden.

Dass die Bolschewiki schließlich die Ukraine gegen verschiedene konterrevolutionäre und imperialistische Kräfte gewinnen konnten, lag, wie E. H. Carr in „The Bolshevik Revolution“ treffend zusammenfasst, daran, dass sie den Bauern/Bäuerinnen als das „kleinste Übel“ verglichen mit den Regimen aller anderen Kräfte erschienen, die ihr Land ausgeblutet hatten.

In jedem Fall versuchten die Bolschewiki teilweise schon während, vor allem aber nach dem Bürger:innenkrieg, das Verhältnis zur ukrainischen Bevölkerung zu verbessern und sie so praktisch  davon zu überzeugen, dass sie deren nationale Selbstbestimmung anerkannten und den großrussischen Chauvinismus nicht in einer „roten“ Spielart reproduzieren wollten.

Dazu sollten vor allem zwei Mittel dienen:

a) Die Korenisazija (dt.: Einwurzelung), eine Politik, die darauf abzielte, die Kultur und Sprache der unterdrückten Nationen, ihren Zusammenschluss in eigenen Republiken oder autonomen Gebieten zu fördern und Angehörige der unterdrückten Nationen entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung in den Staatsapparat und die Partei zu integrieren. Außerdem sollte so auch die Herausbildung oder Vergrößerung des Proletariats unter den unterdrückten Nationen gefördert werden.

b) Die Neue Ökonomische Politik (NEP). Dieser zeitweilige Rückzug auf dem Gebiet der ökonomischen Transformation auf dem Land sollte einerseits die Versorgung der Städte bessern und die Produktivität der Landwirtschaft steigern, andererseits aber auch das Bündnis der Arbeiter:innenklasse mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft stabilisieren, das im Bürger:innenkrieg durch das System der Zwangsrequirierung landwirtschaftlicher Produkte und Not im Dorf extrem angespannt war.

Zwangskollektivierung und großrussischer Nationalismus der Bürokratie

Der entstehenden und schließlich siegreichen Bürokratie Stalins waren jede reale Autonomie und Selbstbestimmung der Nationen in der Sowjetunion ein Dorn im Auge. Die Politik der Zwangskollektivierung, selbst eine bürokratisch-administrative Reaktion auf ihre vorhergegangenen Fehler, kostete Millionen Bauern/Bäuerinnen in der Sowjetunion das Leben. In der Ukraine nahm diese Politik besonders brutale Formen an. Hilfslieferungen an die hungernden und verhungernden Landbewohner:innen wurden verweigert, Flüchtenden wurde das Verlassen der Ukraine verwehrt.

Damit sollten auch die Reste ukrainischen Widerstandes gebrochen werden. Die Politik der Zwangskollektivierung wird von einer im Kern großrussisch-chauvinistischen Kampagne gegen den „ukrainischen Nationalismus“ und mit der Abschaffung der Korenisazija verbunden.

Der barbarische Hungertod von Millionen Ukrainer:innen erklärt auch die Entfremdung der Massen vom Sowjetregime und warum ein extrem reaktionärer Nationalismus unter diesen in den 1930er Jahren Fuß fassen konnte. Ohne eine schonungslose revolutionären Kritik, ohne einen klaren politischen und programmatischen Bruch mit dem Stalinismus und ohne ein Anknüpfen am revolutionären Erbe der Lenin’schen Politik wird es unmöglich sein, die ukrainischen Massen vom ukrainischen Nationalismus zu brechen.

Frauenpolitik und Stalinismus

Der reaktionäre Charakter der Politik des Stalinismus zeigte sich in den 1930er Jahren auf allen Ebenen, insbesondere auch bei der Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts. Mit dem Sieg der Bürokratie wird die „sozialistische Familie“ zum Leitbild ihrer Frauenpolitik. In der Sowjetunion (und auch in der Ukraine) wird eine Hausfrauenbewegung gefördert. Auch die werktätige Frau ist zugleich und vor allem glückliche Hausfrau und Mutter.

Mit der Industrialisierung, aber auch im Zweiten Weltkrieg werden Frauen zu Millionen in die Produktion eingezogen, zu Arbeiterinnen. Zugleich werden während des Krieges reaktionäre Geschlechterrollen zementiert und verstärkt. So wird die Koedukation von Jungen und Mädchen in der Sowjetunion 1943 abgeschafft, Scheidungen werden fast unmöglich und unehelich Geborene werden rechtlich schlechter gestellt.

Obwohl Frauen einen relativ hohen Anteil in einzelnen Abteilungen der Roten Armee stellten, tauchen sie in der offiziellen Darstellung kaum auf. Der Faschismus wird, offiziellen Darstellungen zufolge, von den männlichen Helden vertrieben und geschlagen, denen die Frauen in der Heimat, im Betrieb und in der Hausarbeit den Rücken frei halten.

Im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg wird das reaktionäre Frauenbild weiter ideologisch aufrechterhalten. Trotz einer weitgehenden Einbeziehung der Frauen in die Arbeitswelt wurde die Mutterschaft als Hauptaufgabe der Frau betont, gesellschaftlich gefördert und belohnt. So wurden Prämien und Orden für Mütter, die 5 oder mehr Kinder zur Welt brachten, eingeführt. Alleinlebende oder auch kleinere Familien wurden zur Zahlung eine Spezialsteuer verdonnert.

Nach Stalins Tod tritt unter Chruschtschow eine gewisse Liberalisierung ein. So wird die Abtreibung wieder legalisiert. Darüber hinaus gibt es einige Verbesserungen für die Frauen.

Diese zeigen sich vor allem auf dem Gebiet der Bildung. So steigt der Anteil der Absolventinnen von Fachhochschulen bis in die 1970er Jahre auf rund 50 % – ein Anteil, der zu diesem Zeitpunkt von keinem westlichen Staat erreicht wurde. Außerdem wurden eine Reihe von staatlichen Einrichtungen auf dem Gebiet der Kinderbetreuung oder auch ein flächendeckendes System leicht zugänglicher (wenn auch oft nicht besonders guter) Kantinen oder Speisehallen geschaffen.

Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Unterdrückung der Frau bleiben jedoch bestehen. Frauen leisten weiter den größten Teil der privaten Hausarbeit. Im Berufsleben waren sie bis auf weniger Ausnahmen weiter auf typische „Frauenberufe“ oder schlechter bezahlte Tätigkeiten (Bildungswesen, Gesundheit, Ärzt:innen, Putz- und Hilfspersonal, Handel, Nahrungsmittelindustrie, Textil, auch generell Fließbandarbeiter:innen) konzentriert. Der Zutritt zu vielen von insgesamt über 450 „Männerberufen“ wurde ihnen verwehrt (darunter z. B. Lokführerin oder Fahrerin von großen LKWs). Der Durchschnittslohn lag in den 1970er und 1980er Jahren immer noch bei nur 65 – 75 % der Männer.

Restauration des Kapitalismus

Die Krise der Sowjetwirtschaft in den 1980er Jahren und die schockartige Restauration des Kapitalismus trafen die Arbeiter:innenklasse, vor allem aber die proletarischen Frauen mit extremer Härte auf mehreren Ebenen:

a) Massive Entlassungen und Schließungen treffen vor allem Frauen in den schlechter bezahlten Tätigkeiten, insbesondere wenn ganze Industrien bankrott gehen.

b) Die Verschuldung und Währungskrisen führen zu massiven Kürzungen im öffentlichen Sektor (Privatisierungen und Schließungen) und daher auch Massenentlassungen in Bereichen wie Gesundheit oder Bildung.

c) Zugleich werden soziale Leistungen massiv gekürzt, Kitas und Kantinen geschlossen (insbes. die betrieblichen). Die Preise steigen massiv für Wohnungen und Lebensmittel.

d) Zugleich werden ein reaktionäres Frauenbild und reaktionäre Geschlechterrollen ideologisch verfestigt und „neu“ eingekleidet. Sexismus, reaktionäre Familienideologie und Homophobie müssen nicht erfunden werden, sondern greifen Elemente des Stalinismus auf und kombinieren sie mit tradierten bürgerlichen Vorstellungen.

e) Der Anteil an Frauen unter den Beschäftigten sinkt in der Ukraine (wie überhaupt die Beschäftigung sinkt). Zugleich werden mehr Frauen in die Prostitution gezwungen oder verschleppt – sei es aus ökonomischer Not, sei es direkt gewaltsam in illegalen Frauenhandel.

Mit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetstaaten und der Entstehung der Ukraine als unabhängiger Staat veränderte sich also auch das gesellschaftliche Gefüge. Eine Spaltung der Gesellschaft verlief zwischen der prorussischer und proeuropäischer Seite. Die alten KP-Strukturen wurden durch neue ersetzt. Ebenso wie in anderen ehemaligen sowjetischen Staaten setzten sich Oligarch:innen, vor allem Männer, an die Macht und blieben an ihr kleben. Bezeichnend ist, dass es bis heute keine Präsidentin gab und auch nur eine weibliche Premierministerin, Julija Tymoschenko (2005; 2007 – 2010). Die sog. orangene Revolution von 2004 – 2005, die auch mit Generalstreiks einherging, verhalf ihr an die Macht. Allerdings kann sie nicht als eine progressive Führungsfigur eingeschätzt werden, die sich an die Spitze einer Bewegung für mehr weibliche Partizipation hätte setzen können. Auch die Maidanbewegung 2013/14 vermochte es nicht, den Einfluss von Frauen großartig zu steigern.

Was sie allerdings geschafft hat, ist, die Annäherung an den Westen weiter voranzutreiben. Dies umfasst Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Einerseits wäre da die Annäherung an die EU, welche zwar Privatisierungen, massive Militärausgaben, Sozialkürzungen und viele weitere Angriffe, welche auch Frauen treffen, zur Folge hatte, aber eben als Nebeneffekt auch politische Reformen voranbrachte, welche aufgrund ihrer Stoßrichtung zur „liberalen“ bürgerlichen Demokratie bessere Bedingungen für einen Kampf zur Frauenbefreiung schaffen. So wurde beispielsweise eine Frauenquote von 30 % bei lokalen Wahlen beschlossen, welche nicht umgesetzt wird, aber trotzdem eine Verbesserung darstellt. Auch die Reformen im Bereich von Justiz und Strafverfolgung sowie Korruptionsbekämpfung kommen vor allem Frauen zugute, da diese am wenigsten von den „Vorteilen“ profitieren und am meisten unter den Nachteilen leiden. Parallel dazu begann 2014 auch ein faktischer Bürger:innenkrieg in der Ukraine, der zur Gründung der Donbassrepubliken und zur Annexion der Krim durch Russland führte.

In der Zwischenzeit ist die starke Abhängigkeit des ukrainischen Staatshaushaltes vom Westen noch gestiegen. Zusammen mit den bereits vorher stattgefundenen Maßnahmen an Sozialkürzungen und Privatisierungen führte dies dazu, dass noch mehr Menschen in Armut stürzen (rund 50 % der Bevölkerung). Die Arbeitslosigkeit liegt aktuell bei knapp einem Drittel und es ist über den weiteren Winter mit vielen Stromausfällen und Heizungsengpässen zu rechnen, da knapp zwei Drittel der Energieinfrastruktur zerstört sind. All das trifft Frauen, die in der Ukraine knapp 10 % weniger Beschäftigungsanteil haben als Männer, stärker. Die Abhängigkeit von der bürgerlichen Familie fällt besonders schwer ins Gewicht, wenn der Alleinverdiener stirbt und die nun Alleinerziehende weniger Aussichten hat, einen Job zu bekommen, in dem sie dann auch noch geringer bezahlt wird.

Die Ukraine: nicht nur blau und gelb, sondern auch „rein weiß“?

Die heutige Ukraine ist auch ein Vielvölkerstaat mit diversen Ethnien, Sprachen und Religionen. Neben Ukrainer:innen und Russ:innen umfasst sie mehr als 130 ethnische Gruppen und viele Minderheitensprachgruppen, von denen die größte Gruppe Roma/Romnja sind. Etwa 400.000 leben im Land. Dies ist wichtig zu wissen, da sie nur selten erwähnt werden und historisch überall, wo sie sich aufhielten, diskriminiert und schlimmstenfalls systematisch verfolgt wurden. In den letzten 10 Jahren gab es in der Ukraine mehrere Pogrome gegen Sinti/Sintizze und Roma/Romnja bei denen Menschen getötet und vertrieben wurden. Besonders rechtsextreme Gruppen hatten es auf sie abgesehen, aber vom Staat gestützt wurden sie dennoch nicht. Auch auf der Flucht sind sie dem Antiziganismus in Osteuropa sowie in Ländern wie Deutschland ausgesetzt. Zum Teil wurden sie an der Ausreise gehindert und es gab sogar Bilder von massakrierten sowie zur Schau gestellten Personen. Schafften sie es doch bis nach Deutschland, so war es für sie schwierig, staatliche Hilfe zu erlangen. Einerseits weil es ein generelles rassistisch motiviertes Misstrauen gegenüber Sinti/Sintizze und Roma/Romnja gibt, andererseits besitzen viele keine Pässe und konnten daher ihre Ansprüche nicht beweisen.

Eine weitere Gruppe, die zeigt, dass die Ukraine nicht so weiß ist, wie auch in den deutschen Medien gerne suggeriert, ist die Gruppe der Migrant:innen aus aller Herren Länder, die zum Arbeiten oder Studieren ins Land gekommen waren. Auch die Ukraine ist und war eine heterogene Gesellschaft. Dies wirkt sich auch auf die Lage der Frau sehr unterschiedlich aus – ein starkes Stadt-Land- wie auch Ost-Westgefälle sind hier zu sehen. Zu oft vergessen wird allerdings, dass auch die Gesellschaft ethnisch und sprachlich vielfältiger ist, als es häufig dargestellt wird, weswegen neben sexistischer Diskriminierung und auf Geschlecht basierender Vulnerabilität noch rassistische Diskriminierung hinzukommt. Egal ob noch im Land selbst oder auf der Flucht, befinden sich diese Personen noch mal in einer besonders prekären Situation.

Der Einmarsch des russischen Imperialismus hat die Lage der Frauen und der Minderheiten noch einmal dramatisch verschlechtert. In der Ukraine überzieht der russische Imperialismus das Land mit einem reaktionären Eroberungskrieg. Zugleich findet der Kampf zwischen dem russischen Imperialismus und den westlichen Mächten statt, nimmt der Krieg wichtige Aspekte eines Stellervertreter:innenkrieges an.

Nichtsdestotrotz haben die Ukrainer:innen natürlich das Recht, sich gegen die Invasion zur Wehr zu setzen, sich selbst zu verteidigen. Die historische Entwicklung und der Krieg zeigen jedoch auch, wie untrennbar der Kampf um Selbstbestimmung, gegen die Unterdrückung der Frauen und Minderheiten mit dem gegen westliches Großkapital, russische Oligarchie und die „eigene“ herrschende Klasse verbunden ist.




Erdbeben in Türkei und Syrien: Eine humanitäre Katastrophe – vor allem für die Minderheiten

Dilara Lorin, Zuerst erschienen bei der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Februar 2023

4.440 Tote forderte das Erdbeben in der Türkei und Syrien bis zum Morgen des 7. Februar. Und die Zahlen steigen stetig weiter. Hinzu kommen weit über zehntausend, teilweise schwer, verletzte Menschen.

Die humanitäre Katastrophe trifft die Masse der Bevölkerung in beiden Ländern, die ohnedies unter Krieg, brutaler Repression durch die Regime von Assad und Erdogan, unter der Inflation, Wirtschaftskrise und Korruption leiden. Die humanitäre Krise und die hohe Zahl der Toten sind daher nicht nur das Resultat einer Naturkatastrophe, sondern auch Folge brutaler Ausbeutung und Unterdrückung – eine Tatsache, die in der offiziellen Berichterstattung viel zu wenig oder gar nicht vorkommt.

Unterdrückte Minderheiten

Die Hauptbetroffenen der humanitären Katastrophe sind oft Angehörige unterdrückter Minderheiten  wie Kurd:innen, Alevit:innen, Araber:innen und Geflüchtete.

Seit den Morgenstunden am 6. Februar haben mehr als 100 Erdbeben die mehrheitlich kurdischen Regionen Maras über Antep, Nordost Syrien/Rojava bis nach Mersin erschüttert. Es wurden Erdbeben mit einer Stärke von 7,9 gemessen, welches somit seit 1939 das schlimmste Erdbeben in der Türkei ist. Die Situation ist katastrophal. Die aktuellen Todeszahlen stiegen allein für die Türkei auf 3600 und mehr als 15.000 Menschen sind verletzt, weitere Abertausende sind vermisst. Die Zahl der Vermissten, Verletzten und Toten steigt stündlich an und wird noch in den nächsten Tagen das Ausmaß dieser Katastrophe sichtbar machen.

Vor allem betroffen sind die unterdrückten Minderheiten in der Türkei und Geflüchtete vor Ort. Dass in dieser Region mehrheitlich Kurd:innen und Alevit:innen leben ist einer der Gründe, warum das türkische Regime Jahrzehnte lang diese Region unterentwickelt ließ und kaum bis wenig in Infrastruktur, Bildung oder Gesundheitswesen investierte. Die benachteiligten Teile der Gesellschaft bilden, wie gesagt, mehrheitlich Kurd:innen und andere unterdrückte Minderheiten, es sind die Teile der Gesellschaft, welche aufgrund ihrer Armut oftmals gezwungen sind, in Häuser einzuziehen, die nicht nur mit billigen Materialien errichtet wurden, sondern in deren Konstruktion und Statik kaum investiert wurde, da sie ohnedies für die unteren Teile der Gesellschaft gedacht waren.

Dass also bei diesem Erdbeben so viele Häuser wie Spielkarten zusammenfallen, wäre in vieler Hinsicht vermeidbar gewesen. Aber es lag und liegt im Interesse staatlicher Institutionen, die Investitionskosten gering zu halten, und es lag und liegt im Interesse der Bauunternehmen, die Profite möglichst hoch zu halten.

Bis heute gibt es etliche alevitische und kurdische Dörfer, in welchen kein Leitungswasser fließt, in denen Stromnetze nur spärlich ausgebaut sind oder in denen keine asphaltierte Straße errichtet wird, aber in dem türkischen Nachbardorf konnte es ermöglicht werden. Diese bewusste Nicht-Entwicklung ist ein politisches Machtinstrument, um unerwünschte Minderheiten aus der türkischen Bevölkerung hinauszudrängen, aber sie eben zugleich als billige Arbeitskräfte auszubeuten.

Kurdische Regionen

Auch ist es mehreren Wissenschaftler:innen zufolge Tage vorher bekannt gewesen, dass ein Erdbeben dieser Stärke die Region erschüttern wird, aber Vorkehrungen, wie z.B. Evakuierungen, wurden nicht ansatzweise eingeleitet, die Bevölkerung wurde einfach nicht informiert.

Mehr noch. Der Wissenschafter Prof. Naci Görür wies im Live TV bei Fox darauf hin, dass nicht nur Jahr lang bekannt war, dass es früher oder später in der Region Erdbeben geben wird. Sie hat außerdem als Wissenschaftlerin Bürgermeister und Gouverneure mehrmals angesprochen und sogar eine Art Rettungs- und Aktionsprogramme für den Katastrophenfall vorgelegt. Die Verantwortlichen abwinkten aber nur ab.

In den türkischen Medien ist von all dem kaum die Rede. Schaltet man die Kanäle ein, welche von der AKP koordiniert und kontrolliert werden, will keiner davon etwas wissen. Bilder werden lediglich aus einigen wenigen Gebieten gestreamt. Regionen wie Pazarcık, Elibstan, Gölbaşı oder Hatay, welche durch die Erdbeben erschüttert wurden und die zu 90 % kurdisch geprägt sind, werden nicht gezeigt. Dabei sind es diese Gebiete, in welchen viele Gebäude dem Erdboden gleichgemacht wurden. Dies spiegelt auch die reale und aktuelle Lage der Menschen vor Ort wieder. Unterstützung und Hilfe erreichten kaum jemand in den genannten Regionen. Die Menschen versuchen, mit ihren eigenen Händen die Betonplatten der Häuser zu entfernen, denn sie hören immer wieder noch Hilferufen und Schreie der Überlebenden unter den Trümmern, können aber in den meisten Fällen nichts unternehmen. Die Social-Media-Kanäle sind voller Hilferufe, voll mit Adressen von zusammengefallenen Häusern, in welchen Menschen um ihr Leben ringen. Diese werden eben gepostet, weil es sonst kaum Möglichkeiten gibt, denen eine Stimme zu verleihen, und aus verzweifelten Hoffnung, dass vielleicht doch eines der wenigen Rettungsteams, die schon vor Ort sind, dies liest.

Eine schnelle Besserung der Situation ist nicht in Sicht. Die meisten Menschen, befinden sich außerhalb der Häuser, um sich richtigerweise vor weiteren Erdbeben zu schützen. Aber bei den Temperaturen, welche  zwischen 3 und -7 Grad in der Nacht liegen, drohen viele Menschen im Freien zu erfrieren. Trotz dieser Bedrohungen sind die Rettungskräfte der türkischen Regierung – nach Zeugenberichten aus den Gebieten – kaum anzutreffen bzw. nicht sichtbar, und wenn, dann sind es viel zu wenige an den Katastrophenorten.

In den Grenzregionen verschärft sich die Lage außerdem für die vielen Geflüchteten, die auch bislang nur in heruntergekommenen Gebäuden Unterschlupf finden konnten. Es ist außerdem der Rassismus gegenüber Geflüchteten, der vielen Menschen Angst macht, denn dieser wird in den kommenden Tagen nicht nachlassen. Das altbekannte Spiel, dass man lieber nach unten tritt als nach oben, droht hier ein Ausmaß anzunehmen, das uns nur grausen lässt.

Syrien

Auch wenn wir uns im Artikel vor allem mit der Türkei beschäftigt haben, so darf die Katastrophe in Syrien nicht übersehen werden. In dem Land sind bisher rund 1500 Menschen dem Erdbeben zum Opfer gefallen. Die nordöstlichen Regionen und Teile von Rojava sind vom Erdbeben massiv betroffen. Es sind dies Gebiete, die durch den jahrelangen Bürgerkrieg gebeutelt und ausgeblutet sind und nicht zur Ruhe kommen. Sie verfügen über wenig bis gar keine Infrastruktur, um Bergungsarbeiten durchzuführen. Assads Stellungnahme dagegen sind blanker Zynismus. Kaum staatliche Unterstützung wurde in diese Region entsendet, denn es sind zum Teil Gebiete, die nicht mehr unter Assads Kontrolle stehen. Die Türkei wiederum setzte die Angriffe auf Rojava auch während des Erdbebens fort!

Wer hilft?

In der aktuellen Situation sind Sach- und Geldspenden dringend erforderlich, welche die Menschen vor Ort direkt erreichen. Für alle, die Geld überweisen wollen, verweisen wir auf die Webseite und das Konto von Heyva Sor (Kurdischer Roter Halbmond; https://www.heyvasor.com/de/alikari/) Dabei ist recht sicher, dass die Spenden auch dort ankommen, wo sie gebraucht werden.

Denn nicht jeder Spendenaufruf ist einer, der die Teile der Bevölkerung erreicht, die am härtesten von der Katastrophe betroffen sind. Spenden, die an den türkischen oder an den syrischen Staat gehen, sind oftmals welche, die in den Taschen des Regimes oder deren Mittelsmänner landen und nicht die Menschen vor Ort erreichen. In vielen Städten Deutschlands werden aktuell auch Sachspenden gesammelt, womit dann Menschen oftmals mit dem Auto in die Gebiete fahren und die Sachspenden dann an den Stellen weitergeben, in welchen sich gerade (notgedrungen) die meisten Menschen aufhalten. Dabei fehlt es fast an allem, denn die meisten Menschen mussten ihre Wohnungen innerhalb von Sekunden verlassen.

Es ist aber klar, dass die humanitäre Hilfe, egal welcher Art, nur die Auswirkungen der Katastrophe lindern kann. Was sind aber politische Forderungen, die Revolutionär:innen in diesen Momenten aufwerfen müssten?

Es muss die Frage gestellt werden, wie es sein kann, dass gerade die Regionen, in welchen die kurdischen, arabischen, alevitischen Minderheiten leben, dies sind, die am schlechtesten auf Naturkatastrophen vorbereitet sind, obwohl es bekannt ist, dass in dieser Region die anatolische Platte auf die arabische trifft. Rassismus und Unterdrückung führen direkt zur Armut, zu einer Lage, die von Immobilienhaien und kapitalistischen Unternehmen bewusst ausgenutzt wird. Die Frage, die hier also hauptsächlich gestellt werden muss, ist auch die Frage der Verbindung des Befreiungskampfes der Kurd:innen und aller unterdrückten Minderheiten in der Türkei und in Syrien mit dem der Arbeiter:innenklasse. Wir fordern:

  • Massive Hilfsgüter und Personal für alle betroffenen Regionen! Private Spenden sind gut, aber eigentlich müssen die Reichen, die Profiteure, der Staat und die imperialistischen Länder gezwungen werden, für die Katastrophenbekämpfung aufzukommen!
  • Damit die Hilfsgelder nicht im Korruptionssumpf versinken, muss ihre Verteilung und Verwendung von Ausschüssen der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten und von Beschäftigten bei den Hilfsorganisationen kontrolliert werden. Auch Beschäftigte bei den Banken und Finanzinstitutionen können hier eine wichtige Kontrollfunktion übernehmen.
  • Um den Zugang für Hilfsgüter, Helfer:innen, Katastrophenschutz zu allen Regionen, frei von Repression und Angst vor Unterdrückung, zu ermöglichen, ist der Rückzug der Armee und der Polizei notwendig. Schluss mit der Verfolgung und Unterdrückung kurdischer und anderer oppositioneller Organisationen! Rückzug von Assads Schlächter-Truppen! Bleiberechte für alle Geflüchteten!
  • Rettungs- und Wiederaufbauprogramm, finanziert aus der Besteuerung der Profite und großen Privatvermögen unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Bäuer:innen in den betroffenen Regionen!



Solidarität mit der Jugend in Sheikh Jarrah! Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand!

Zuerst veröffentlicht unter: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/05/11/solidaritaet-mit-der-jugend-in-sheikh-jarrah-solidaritaet-mit-dem-palaestinensischen-widerstand/

Dilara Lorin, Martin Suchanek, Infomail 1149, 11. April 2021

Seit Montag, den 10. Mai, bombardiert die israelische Luftwaffe
Gaza. Mindestens 24 Menschen, darunter 9 Kinder, wurden nach Angaben
des palästinensischen Gesundheitsministeriums bis zum Morgen des 11.
Mai getötet, 109 wurden verletzt. Insgesamt flogen die israelischen
Streitkräfte 150 Angriffe.

Die Regierung Netanjahu und die Armeeführung präsentieren und
rechtfertigen die Bombardierungen einmal mehr als Akt der
Selbstverteidigung – und in ihrem Gefolge auch die westlichen
imperialistischen Schutzmächte und Verbündeten Israels. Die Aktion
wird als Reaktion auf den Abschuss von über 100 Raketen aus Gaza
dargestellt, als Vergeltung auf eine vorhergehende Aktion der Hamas
und des palästinensischen Widerstandes, die als „Terrorist_Innen“,
„Islamist_Innen“ oder blutrünstige „Antisemit_Innen“
diffamiert werden.

Kurzum, der ideologischen Rechtfertigung der zionistischen
Regierung wie ihrer westlichen Unterstützer_Innen gelten die
Palästinenser_Innen als Aggressor_Innen. Die Vergeltungsschläge
sollen bloß „verhältnismäßig“ bleiben und, so das
stillschweigende Kalkül, nach einigen Tagen verebben.

Verschwiegen wird, worum es im „Konflikt“ eigentlich geht,
worin seine Ursachen eigentlich bestehen. Dabei verdeutlicht der
Kampf gegen die Räumung palästinensischer Wohnungen und Häuser im
Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah exemplarisch, worum es sich
dreht: um die fortgesetzte, systematische Vertreibung und nationale
Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung. Ostjerusalem soll
die nächste Etappe der Vertreibung und Annexion durch den
zionistischen Staat darstellen – eine fortdauernde, die mit der
Gründung Israels und dessen Expansion untrennbar verbunden ist.

Sheikh Jarrah

Auch wenn mittlerweile die internationalen Medien voll sind mit
Berichten über Sheikh Jarrah, die Zusammenstöße von Polizei,
zionistischen, rechten Siedler_Innen und palästinensischen
Jugendlichen, so dienen diese wohl eher dem Einschwören auf die
israelische und westliche politische Linie denn der Information.

Es wird nicht erwähnt, dass der zionistische Staat seit seiner
Gründung unablässig fortfährt, Palästinenser_Innen aus ihren
Wohnungen und Häusern zu vertreiben und dadurch in die Flucht zu
zwingen. Es werden die ultraorthodoxen und rechten Gruppierungen
nicht erwähnt, die friedlich Fasten brechende oder protestierende
Palästinenser_Innen angreifen, sie aus ihren Häusern werfen und
tatkräftig von den staatstragenden Parteien hofiert und unterstützt
werden. Es wird beim Lob für Israels  Impfkampagne nicht
erwähnt, dass in den vom Staat besetzten israelischen Gebieten die
Bevölkerung nicht nur keinen Zugang zum Impfstoff erlangt, sondern
auch das gesamte Gesundheitssystem permanent vor dem Zusammenbruch
steht. Palästinenser_Innen sind faktisch Menschen zweiter Klasse.
Ihnen werden gleiche bürgerliche Rechte vorenthalten, Westbank und
Gaza werden immer mehr von der Außenwelt abgeschottet.

Die rechte Regierung Netanjahu setzt seit Jahren auf einen
aggressiveren Kurs der Vertreibung und der Annexion von Land in der
Westbank infolge des Siedlungsbaus. Unter der Administration Trump
und deren „The Deal of the Century“ wurde Jerusalem offiziell als
Hauptstadt Israels anerkannt, eine Einladung an die zionistische
Regierung, an Behörden und Gerichte sowie an rechte Siedler_Innen,
die Annexion Ostjerusalems voranzutreiben.

Was hat all dies mit Sheikh Jarrah zu tun?

Sheikh Jarrah ist ein Viertel in Ostjerusalem, welches auch nach 
1948, der Gründung des israelischen Staates, mehrheitlich von
Palästinenser_Innen bewohnt war, während im Westen mehrheitlich
israelische Staatsbürger_Innen wohnen und Palästinenser_Innen
diesen Teil der Stadt nicht einfach so betreten dürfen. Diese
Aufteilung und das Verbot für die palästinensische Bevölkerung
sind Teil einer bewussten Politik, die immer mehr versucht, den
Wohnraum und die Existenz von Palästinenser_Innen einzuschränken.
Zwischen 2004 bis 2016 wurden 685 palästinensische Häuser in
Jerusalem zerstört. 2513 Menschen wurden obdachlos.

Heute leben mehr als 700.000 israelische Siedler_Innen in
illegalen Siedlungen in Palästina und Ostjerusalem. Aber damit
leider nicht genug, denn die Situation um Sheikh Jarrah hat 
kein Alleinstellungsmerkmal. Diese Zwangsräumungen der dort seit
Jahrhunderten ansässigen Palästinenser_Innen hat israelische
Tradition und ist tragische Geschichte von mehr als 538 Städten und
Dörfern. Den Bewohner_Innen dieses Stadtteils droht Vertreibung und
die damit einhergehende Flucht – entweder auf „legalem“ Weg,
indem israelische Gerichte Ansprüche von Siedler_Innen auf Häuser
legitimieren, die seit Jahrzehnten von Palästinenser_Innen bewohnt
wurden, oder auf „illegalem“, indem der Bau von Häusern und
Wohnungen durch Siedler_Innen nachträglich anerkannt wird. Die
Besatzungsbehörden planen außerdem den Bau von 200
Siedlungseinheiten auf dem Land und in den Häusern der Bevölkerung
von Sheikh Jarrah. Diese Vertreibung ist seit mehr als 40 Jahren ein
Teil des israelischen Siedlungsplans, um auf diesen Flächen
Siedlungen zu errichten, so wie es im Westjordanland tagtäglich
geschieht.

Al-Aqsa, Jerusalem und der Widerstand

Gegen die Räumung palästinensischer Häuser und Wohnungen wehren
sich seit Tagen vor allem Jugendliche in Ostjerusalem. Dagegen ging
die Polizei mit äußerster Brutalität, mit Blendgranaten und
Wasserwerfern vor. Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt, um
Unrecht und die Ordnung der Herrschenden aufrechtzuerhalten.

Anlässlich des „Jerusalem-Tages“, an dem in Israel die
Annexion Ostjerusalems im Zuge des 6-Tage-Krieges von 1967 gefeiert
wird, eskalierten rechte Siedler_Innen am 10. Mai bewusst die Lage,
indem sie trotz der Spannungen ihren jährlichen reaktionären
Fahnenmarsch durchführten. Diesmal wurde aus der gezielten
Provokation faktisch ein Angriff auf die Al-Aqsa-Moschee. Diese
befindet sich auf der Westseite Jerusalems in der Altstadt und bildet
für die Muslime/a eines der 3 wichtigsten Heiligtümer. Tage zuvor
schon hingen Plakate an den Wänden der Stadt, welche diese Angriffe
seitens rechter Siedler_Innen propagierten und dazu aufriefen, sich
daran zu beteiligen.

Während sich ein Teil der Palästinenser_Innen noch im
Fastenmonat Ramadan befindet, kämpfen diese und andere gegen die
Angriffe und Attacken. Es verbreiteten sich Bilder wo in der
Al-Aqsa-Moschee Jugendliche Steine sammeln, Barrikaden bauen, um dem
angekündigten Angriff entgegenzuwirken, und ein wütender Mob
Siedler_Innen an den Türen und Toren der Altstadt rüttelt. Die
Situation dauert schon seit mehreren Tagen an und es wurden mehr als
300 Palästinenser_Innen verletzt.

Der Angriff auf die Al-Aqsa-Moschee stellt dabei eine gezielte
Provokation nicht nur der Palästinenser_Innen, sondern aller
Muslime/a, ja aller Unterdrückten im Nahen Osten dar.

Dabei wurden bewusst und provokant religiöse Gefühle verletzt.
Im Kern geht es aber um keine Glaubensfrage, sondern darum, den
national und rassistisch Unterdrückten ihre Ohnmacht, ihre
Chancenlosigkeit vorzuführen.

Der Widerstand gegen die Räumungen bildet daher nur einen Aspekt
eines größeren Kampfes gegen ein System der Unterdrückung, der
Vertreibung, der fortgesetzten Kolonisierung und imperialistischen
Ausbeutung. An vorderster Front bei den Demonstrationen und Kämpfen
steht dabei oft die palästinensische Jugend.

Flächenbrand

Der Kampf um Sheikh Jarrah und um Al-Aqsa wirkt wie der berühmte Funken, der das Pulverfass zu entzünden droht. In zahlreichen Städten in der Westbank gingen Jugendliche, Arbeiter_Innen, Bauern/Bäuerinnen und die verarmten Massen auf die Straße. In Nazareth, Kafr Kana oder Schefar’am brachen in der Nacht vom Montag zum Dienstag lokale Aufstände aus. In Gaza marschieren Hunderte, wenn nicht Tausende, an die von der israelischen Armee hermetisch abgeriegelte und hochmilitarisierte Grenze.

Hamas und verschiedene Gruppen des palästinensischen Widerstandes
feuern Raketen auf Israel, wohl wissend um die blutige Antwort von
dessen Luftstreitkräften. Doch diese verzweifelten Aktionen in einem
asymmetrischen Krieg verdeutlichen auch die Entschlossenheit des
palästinensischen Volkes, dessen Würde und Existenz untrennbar mit
dem Widerstand gegen die Besatzung verbunden ist.

Dieser Widerstand gegen die Besatzung ist in all seinen Formen
legitim. Auch wenn die taktische und strategische Nützlichkeit von
Raketenangriffen auf Israel fraglich ist, so unterscheiden wir als
Revolutionär_Innen klar zwischen der Gewalt der Unterdrücker_Innen,
des israelischen Staates und seiner Armee, und der Unterdrückten und
solidarisieren uns mit dem Widerstand.

Eine neue Intifada liegt in der Luft. Die entscheidende politische
Frage ist jedoch, wie sich diese ausweiten, wie sie siegen kann. Die
zionistische Vertreibung und Expansion und die offene Unterstützung
durch Trump haben schon in den letzten Jahren die Palästinenser_Innen
in eine immer verzweifeltere Lage gebracht und auch die politische
Führungskrise in der Linken und Arbeiter_Innenklasse massiv
verschärft. Auch wenn die Palästinensische Autonomiebehörde und
die Hamas die Bewegung in Ostjerusalem unterstützen, so kollaboriert
erstere nach wie vor mit dem zionistischen Staat und jagt einer
Verhandlungslösung nach. Auch die Hamas verfügt über keine
Strategie zum Sieg und bietet eine reaktionäre, religiöse und keine
fortschrittliche, demokratische oder gar sozialistische Perspektive
im Interesse der Arbeiter_Innenklasse.

Die zentrale Frage besteht daher darin, wie die fortgesetzten
Bombardements Israels gestoppt und die lokalen Aufstände der Jugend
verbreitert werden können und in diesem Zug auch eine neue,
revolutionäre Kraft in Palästina aufgebaut werden kann. Dies ist
nicht so sehr eine organisatorische, sondern vor allem eine
programmatische Frage.

Um den Widerstand gegen die zionistische Aggression
voranzutreiben, braucht es eine neue Intifada, die die Form eines
Generalstreiks in den Werkstätten und auf den Feldern sowie der
Einstellung jeder Kooperation mit den Institutionen der
Besatzungsmacht annimmt. Die Möglichkeiten des rein ökonomischen
Drucks in Palästina sind aufgrund der Ersetzung palästinensischer
Arbeitskraft in vielen israelischen Unternehmen erschwert, wenn auch
nicht unmöglich.

Von entscheidender Bedeutung könnte und müsste die Solidarität
der Arbeiter_Innenklasse und Unterdrückten in den Ländern des Nahen
Ostens sein, indem sie Israel und seine militärische Maschinerie
durch Streiks und Weigerung, Waren zu transportieren oder
Finanztransaktionen durchzuführen, unter Druck setzt. Dies könnte
in Verbindung mit massenhaften Solidaritätsdemonstrationen auch die
reaktionären arabischen Regime in Ägypten und Saudi-Arabien oder
die vorgeblichen Freund_Innen der Palästinenser_Innen wie Erdogan
oder Chamenei entlarven und die Arbeiter_Innenklasse zur führenden
Kraft im Kampf gegen den Zionismus machen.

Dieser Druck kann auch die klassenübergreifende Einheit zwischen
Kapital und jüdischer Arbeiter_Innenklasse in Israel unterminieren
und damit die Perspektive eines gemeinsamen Kampfes von
palästinensischer Arbeiter_Innenklasse und Bauern-/Bäuer_Innenschaft
mit der jüdischen Arbeiter_Innenklasse gegen Zionismus und für
einen gemeinsamen, multinationalen Staat unter Anerkennung des
Rückkehrrechts aller Palästinenser_Innen eröffnen.

Schließlich müssen die Arbeiter_Innenklasse und die Linke in den
imperialistischen Ländern selbst in Solidarität mit dem
palästinensischen Volk auf die Straße gehen und mit Streik und
Boykott von Transporten den Druck auf Israel erhöhen, die
Luftangriffe auf Gaza und die Repression in Ostjerusalem
einzustellen. Solidaritätskundgebungen und die Unterstützung von
Demonstrationen zum Nakba-Tag wären dazu ein erster Schritt.

Die Bombardements seitens Israel, die Belagerung Gazas und die
Siedlungsbauten in der Westbank haben auch jede Hoffnung auf die
Zwei-Staaten-Lösung begraben. Angesichts der Vertreibung, der
Aggression und Unnachgiebigkeit der israelischen Regierungen erweist
sie sich nicht nur als reaktionär, sondern schlichtweg auch als
komplett illusorisch, als diplomatische Farce. Die einzig mögliche
demokratische Lösung besteht in der Zerschlagung des Systems der
Apartheid und der rassistischen Grundlage des zionistischen Staates,
im Recht auf Rückkehr für alle Palästinenser_Innen und in der
Errichtung eines binationalen Staates auf der Basis vollständiger
rechtlicher Gleichheit aller. Die imperialistischen Staaten wie die
USA, Deutschland, Britannien und die EU müssen dazu gezwungen
werden, die Kosten für diese Rückkehr und den Aufbau der nötigen
Infrastruktur und Wohnungen zu tragen. Damit diese ohne
nationalistische Gegensätze erfolgen kann, muss diese demokratische
Umwälzung mit einer sozialistischen, mit der Enteignung des
Großkapitals und Großgrundbesitzes verbunden werden.

  • Schluss mit der Besatzung! Keine Bomben auf Palästina!
  • Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand!
  • Für einen binationalen Staat, in dem alle Staatsbürger_Innen
    gleiche Rechte haben unabhängig von ethnischer Herkunft und
    Religion!
  • Für ein sozialistisches Palästina als Teil Vereinigter
    Sozialistische Staaten des Nahen und Mittleren Ostens!