Care-Arbeit: Eine unsichtbare Form patriarchaler Gewalt?

Von Erik Likedeeler, November 2023

Im Zuge des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen wollen wir uns nicht nur die offensichtlichen Formen von patriarchaler Gewalt anschauen, sondern auch das Verhalten, das erst auf den zweiten Blick als Gewalt erkennbar ist. Beispielsweise kann der lebenslange Zwang zur Care-Arbeit, unter dem proletarische Frauen stehen, als eine Form der Gewalt betrachtet werden – genauso wie sämtliche Strategien, die Männer anwenden, um sich vor dieser Arbeit zu drücken. In diesem Artikel wollen wir uns anschauen, welches Verhalten in Bezug auf Care-Arbeit in heteronormativen Beziehungen, Ehen und Familien vorherrschend ist und welche schädlichen Folgen das mit sich bringen kann.

Wer trägt die Verantwortung im Haushalt?

Wenn Frauen ihren Partnern mitteilen, dass diese zu wenig im Haushalt arbeiten, bekommen sie häufig folgende Antwort: „Du hättest mich einfach fragen müssen.“ Doch wenn jemand erwartet, dass man ihm Aufgaben überträgt, dann weigert er sich, seinen Teil der Planung und Verantwortung zu übernehmen.

Denn das Organisieren von Care-Arbeit, auch Mental Load genannt, ist bereits ein Vollzeit-Job. Es ist keine gerechte Aufteilung gewährleistet, wenn eine Person die gesamte Planung macht und die Arbeit selbst dann auch nochmal 50/50 aufgeteilt wird. In seinem eigenen Haushalt „hilft“ man nicht – man macht einfach seine Aufgaben.

Das Wegschieben der Verantwortung zeigt sich zum Beispiel dann, wenn Männer nur mit Schlüssel und Handy aus dem Haus gehen, während Frauen in ihrer Tasche alles mitschleppen, was sie selbst, der Mann, das Baby oder der Hund potentiell brauchen könnten. Männer machen sich gern darüber lustig, dass Frauen so „kompliziert“ seien und alles tausend Mal überdenken würden. Die Wahrheit ist: Frauen sind dazu gezwungen, gedanklich alle möglichen Katastrophen durchzuspielen, weil sie die Verantwortung für so vieles tragen müssen und Männer sich keine Mühe machen, ihnen diese Last abzunehmen.

Zudem zeigt sich die Tendenz, dass Männer das überschätzen, was sie im Haushalt tun. Viele von ihnen glauben, sie würden mehr machen als das, was sie eigentlich leisten. Sie nehmen den Haushalt als gleichberechtigt aufgeteilt wahr, doch das können nur die wenigsten Frauen bestätigen.

Emotionale Arbeit ist Care-Arbeit

Teil der Care-Arbeit ist auch die emotionale Arbeit, also alle unsichtbaren Aufgaben, die mit Rücksicht, Einfühlung und Empathie zu tun haben. Dazu gehören zum Beispiel Streitschlichten, ein Geschenk besorgen, einen Ausflug organisieren, bei Problemen zuhören, ein Zimmer schön dekorieren, eine Massage geben oder jemanden trösten.

Emotionale Arbeit lässt sich schwer messen und vergleichen, weil sie nicht wie Care-Arbeit in einer bestimmten Zeit geleistet wird, sondern immer im Hintergrund existiert. Wenn man sich über fehlende emotionale Arbeit beschwert, fühlt man sich schnell, als würde man übertreiben, da es ja nur um „kleine Dinge“ geht, die man halt mal „aus Nettigkeit“ macht.

Die Feststellung, dass es häufig Frauen sind, die diese Aufgaben übernehmen, wird von Männern oft so gekontert, dass ja niemand Frauen dazu zwingen würde, emotionale Arbeit zu leisten, dass sie das quasi freiwillig machen würden und einfach damit aufhören könnten.

Aber ist es nicht ein erschreckender Gedanke, dass manche Männer lieber in einer Welt ohne intime Gespräche und Geburtstagskuchen leben würden, als sich selbst darum zu kümmern?

Antrainierte Zuständigkeit

Ob man sich für bestimmte Aufgaben zuständig fühlt oder nicht, hängt natürlich nicht mit irgendwelchen Körperteilen, Hormonen oder angeborenen Fähigkeiten zusammen, sondern damit, ob einem vermittelt wird, dass man für eine Aufgabe zuständig ist.

Es gibt den sogenannten Priming-Effekt: Wenn wir einen bekannten Gegenstand sehen, wird unser Gehirn geprimet, also darauf vorbereitet, ihn schneller zu erkennen, weil eine Verbindung zwischen dem Gegenstand und unserem Gedächtnis hergestellt wird. Ein Gegenstand, den wir schon mal gesehen und benutzt haben, ist uns vertraut und wir können ihn schneller erkennen. Wir haben ein mentales Bild davon in unserem Gedächtnis eingespeichert und das Gehirn benötigt weniger Zeit, um Informationen darüber zu verarbeiten.

Das führt uns zur sogenannten Affordanz-Auffassung: So wird es genannt, wenn wir eine Situation wahrnehmen und darin eine Aufgabe erkennen, die erledigt werden muss. Bei Jungs und Männern bildet sich durch die Sozialisation ein unerfahrener Blick auf Haushaltsgegenstände und Care-Arbeit heraus. Eine Ratlosigkeit, aber auch die Unfähigkeit, zu erkennen, dass man gerade etwas machen sollte – häufig in Kombination mit dem arroganten Glauben, dass es ja gar nicht sein könnte, dass man etwas nicht auf den ersten Blick erfasst.

Wenn man im gemeinsamen Haushalt einen vollen Wäschekorb sieht, reicht es also nicht, zu denken: „Ah, ein Wäschekorb“. Sondern es muss der Gedanke einsetzen: „Ich sollte die Wäsche waschen, am besten gleich heute.“

Unterschiedliche Standards oder ästhetische Arbeit?

Leider haben Männer sich zahlreiche Strategien und Ausreden angeeignet, um in ihrer  Bequemlichkeit auszuharren. Diese zu entlarven ist ein wichtiger Schritt, um sie zur Verantwortung ziehen zu können.

Ein beliebter Trick, um sich aus der Care-Arbeit herauszuwinden, ist es, unterschiedliche Standards vorzutäuschen. Wer kennt es nicht?  Männern ist es halt einfach „nicht so wichtig“, dass das Bett alle paar Wochen bezogen wird oder der Abfluss gereinigt wird. Sie haben halt „nicht so hohe Standards“. Aber wieso kann es Männern eigentlich egal sein, wenn sie in einem Drecksloch hausen?

Das liegt zum Beispiel daran, dass sie für diese Nachlässigkeiten nicht befürchten müssen, gesellschaftlich abgestraft zu werden. Frauen hingegen müssen viel öfter erleben, dass vorwurfsvolle Kommentare zur unordentlichen Wohnung an sie gerichtet werden. Scham und Schuld bleiben an ihnen hängen.

Denn spätestens seit der bürgerlichen Revolution gehört auch die ästhetische Arbeit zum weiblichen Rollenbild. Der Haushalt soll nicht nur praktisch geführt werden, sondern auch repräsentativ. Als „Angel in the House“ hat die Frau nicht nur essbare Mahlzeiten zu kochen, sondern liebevoll zubereitete Menüs. Sie soll nicht nur kurz den Boden fegen, sondern schicke Teppiche besorgen und diese aufwändig reinigen.

In den letzten Jahren ist auch noch die Anforderung des „nachhaltigen Konsums“ obendrauf gekommen, denn auch dieser ist mit weiblich konnotierter Care-Arbeit verbunden: Hauptsächlich Frauen waschen Stoffwindeln, stecken Zeit und Energie in die Auswahl der „richtigen“ Produkte, um eine pflanzliche Ernährung zu gewährleisten oder Dinge selbst herzustellen, die man einfach fertig kaufen könnte.

Inkompetenz ist kein Zufall

Eine weitere Strategie ist die Weaponized Incompetence oder auch strategisch eingesetzte Inkompetenz. Diese liegt vor, wenn jemand die Tatsache, dass er eine Aufgabe im Haushalt nicht beherrscht, als Ausrede benutzt, um sie jemand anderen machen zu lassen. Oder auch, Dinge gar nicht erst zu lernen, weil sie ja sowieso jemand anders übernimmt und man es eh nur falsch machen würde.

Diese Weigerung, dazuzulernen, kommt Frauen teuer zu stehen: Sie verbringen durchschnittlich 3 Stunden pro Woche damit, Arbeiten noch einmal auszuführen, die eigentlich ihrem Partner zugeteilt waren. Das Gespräch, in dem man Männern mitteilen muss, dass sie nicht gut genug waren, ist oft anstrengender, als die Arbeit selbst zu machen.

Als Paternal Underperformance wird es bezeichnet, wenn Männer, insbesondere Väter, Aufgaben absichtlich in den Sand setzen, einfach nur, damit sie beim nächsten Mal nicht mehr danach gefragt werden. Gern stellen sie sich als ein Opfer ihrer eigenen Sozialisation dar, weil sie nie beigebracht bekommen haben, wie man einen Backofen anschaltet oder den Boden wischt.

Der „Idiot Dad“ ist zu einer richtigen Kulturtechnik geworden. Aber ist es nicht eigentlich erbärmlich, wenn Frauen ihren Ehemann als ein „zusätzliches Kind“ bezeichnen, oder wenn Väter so tun, als wüssten sie nicht, wann ihr Kind Geburtstag hat oder wie man es wickelt?

Kein lustiges Klischee, sondern Gewalt

In diesem Verhalten kann man wirklich nur dann Unterhaltungswert sehen, wenn man nicht selbst darunter leidet und sämtliche Fehler ausbaden muss. Es handelt sich bei dieser Arbeitsverweigerung nicht um eine sympathische, gemütliche Faulheit oder Entspanntheit, sondern um psychische Gewalt. Die bittere Realität zeigt sich anhand einer Studie aus den USA, wo 21% der Männer ihre Frau verlassen, wenn diese schwerkrank ist. Umgekehrt sind es nur 3% der Frauen.

Außerdem hat die sich ständig wiederholenden Aufgaben Einfluss auf die geistige und körperliche Gesundheit. Personen mit repetitiven Aufgaben neigen stärker zu geistiger und körperlicher Ermüdung. Außerdem können Stress und Angstzustände sich verstärken. Ein Mangel an Abwechslung führt zu Langeweile, Unruhe und Unzufriedenheit. Es ist ein sich selbst verstärkender Prozess aus Leistungsabfall und Erschöpfung. Ebenso kann der ausgeübte Druck, der Rolle als Mutter oder Hausfrau zu entsprechen, eine explizit ausgeübte Form der psychischen Gewalt sein.

Care-Arbeit ist ein Skill!

Natürlich darf der Diskus über Care-Arbeit nicht damit enden, dass diese einfach nur als nervig, unnütze und überflüssig abgewertet wird. Nicht jede Care-Arbeit ist intellektuell einfach. Auch im Haushalt gibt es komplizierte Aufgaben, wie zum Beispiel Feiertage planen oder im Supermarkt Preise vergleichen und ausrechnen, ob das Geld bis zum Ende des Monats reicht. 

Zudem birgt Care-Arbeit einige Gefahren: Als Pfleger_In hebt man teils schwerere Gewichte als auf der Baustelle und setzt sich multiresistenten Keimen aus. Beim Putzen kommt man mit toxischen Substanzen in Berührung, die zu Atemproblemen, Hirnschäden und Krebs führen können – doch auch körperliche Folgen von Care-Arbeit werden kaum anerkannt.

Natürlich kann man den Haushalt jetzt immer noch nervig finden. Aber noch nerviger ist es, wenn man ihn komplett allein machen muss – und wenn man als zickig und nörgelnd abgestempelt wird, nur weil man Beteiligung einfordert. Denn ausschließlich im Haushalt gilt man als pingelig, überkorrekt oder hat einen „Fimmel“, wenn man ihn richtig macht und sich Mühe gibt. Bei allen anderen Themen von Technik bis Finanzen hingegen gilt Genauigkeit als ein nützlicher Skill.

Weiblich kategorisierte Arbeit darf hingegen niemals als Skill gelten, der gelernt werden muss – sonst müsst ja als nächstes die Anerkennung erfolgen. Nach wie vor gilt Wissen über Care-Arbeit nicht als richtiges Wissen, so wie auch das ganze Thema als „Frauenthema“ gilt, welches mit „richtiger“ Politik nichts zu tun hätte.

Der unabhängige Mann: Ein Mythos

Dabei ist es Care-Arbeit, welche die gesamte Gesellschaft am Laufen hält. Immer noch hält sich die gesellschaftliche Vorstellung eines unabhängigen männlichen Künstlers, Wissenschaftlers, Herrschers oder Sportlers. Ein self-made Millionär, ein einsames Genie. Was unsichtbar bleibt, ist, dass all diese männlichen „Helden“, egal ob Berthold Brecht oder Karl Marx, im Hintergrund Frauen hatten, die ihre Termine verwaltet haben, ihre Entwürfe Korrektur gelesen haben und ihnen das Klo geputzt haben, teilweise auch für wichtige Erkenntnisse in ihren Werken verantwortlich waren und dafür nie Anerkennung bekommen haben.

Care-Arbeit und Mental Load hindern Frauen daran, eigene Arbeiten zu veröffentlichen. Das hat sich während der Corona-Lockdowns verstärkt gezeigt, als die wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Frauen um 30% zurückgingen.

Warum ist Care-Arbeit überhaupt privatisiert?

Diese strikte Rollenaufteilung ist natürlich kein Zufall, genauso wenig, wie sie sich auf irgendeine steinzeitliche Jäger_Innen-Sammler_Innen-Gesellschaft zurückführen lässt. Vielmehr liegt die Ursache in der Klassengesellschaft. In marxistischen Theorien wird Care-Arbeit auch als Reproduktionsarbeit bezeichnet, denn sie dient dazu, die Arbeiter_Innen wieder fit für einen weiteren Arbeitstag zu machen.

Bei der Reproduktionsarbeit wird allerdings kein Mehrwert erzeugt, den Kapitalist_Innen für sich selbst einstreichen könnten. Weil sie also kein Interesse daran haben, die Kosten für die Care-Arbeit zu tragen, wird diese in die Privathaushalte ausgelagert. Um diesen Zwang zu festigen, bildete sich die bürgerliche Kleinfamilie heraus, bestehend aus den Kindern, der Mutter als Zuständige für den Haushalt und dem Vater als Familienoberhaupt.

Wenn Frauen durch sozialen Druck und Gewalt eine feste Zuständigkeit dafür aufgedrückt wird, bedeutet das im Umkehrschluss, dass Männer mehr Lohnarbeit leisten können, was den Kapitalist_Innen mehr Gewinn gibt. Sozialleistungen werden insbesondere in wirtschaftlichen Krisen gekürzt, um Frauen im Privathaushalt die Kosten tragen zu lassen. Gleichzeitig verdienen Frauen durch diese Doppelbelastung meist weniger und sind somit vom Einkommen ihres Partners abhängig.

Aus der Care-Arbeit herauskaufen können sich nur bürgerliche Frauen, welche für diese Aufgaben proletarische Frauen anstellen. So sind die Global Care Chains entstanden, bei denen z.B. osteuropäische Frauen nach Westeuropa kommen, um unter miserablen Arbeitsbedingungen und für einen Hungerlohn Care-Arbeit für andere verrichten.

Die bürgerliche Familie abschaffen!

Unsere Vorstellung davon, wie Care-Arbeit gerecht aufgeteilt werden kann, sieht völlig anders aus. Natürlich ist es wichtig, dass Männer lernen, endlich ihren Anteil zu übernehmen, aber am Ende bleiben wir damit immer noch von ihrer individuellen Motivation abhängig.

Damit das nicht so bleibt, müssen wir die bürgerliche Familie abschaffen und die Care-Arbeit vergesellschaften. Durch den Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung und die Einführung von gemeinsamen Wäschereien und Kantinen können wir der Isolation entgegenwirken. Auch eine massive Investition in das Gesundheitssystem ist nötig, um die Angehörigen von pflegebedürftigen Menschen zu entlasten.

Diese Vergesellschaftung kann nur durch eine soziale Revolution erreicht werden. Die Kontrolle über Lohn und Arbeitsbedingungen muss bei den Arbeiter_Innen liegen, welche diese Beschlüsse in Räten umsetzen. Nur so ist es möglich, sich von dem ausbeuterischen und gewaltvollen System der privatisierten Care-Arbeit zu verabschieden.




Toxische Beziehung? Nein, psychische Gewalt!

Von Leonie Schmidt, November 2023

Heute ist der 25.11., der Tag gegen patriarchale Gewalt. Und während auch heute wieder viel über körperliche Gewalttaten bis hin zu Femiziden gesprochen wird, bleibt psychische Gewalt eher im Dunkeln zurück. Und das obwohl den Schlägen, Tritten und Messerstichen oftmals Verbote, Verhöhungen und Drohungen zuvorkommen (BMFSJ 2014: 91f). Auch wird psychische Gewalt oft unter das Deckmäntelchen der „toxischen Beziehung“ gesteckt. Das passiert auch in linken Kreisen, wenn feministische Gruppen Dinge verlauten lassen wie: „Uns liegt kein Tätervorwurf vor, nur der Vorwurf einer toxischen Beziehung.“ Warum ist das aber so gefährlich? Im folgenden Beitrag wollen wir herausarbeiten, warum der Begriff der toxischen Beziehung die Machtverhältnisse verschleiert und Täter davor schützt, zur Verantwortung gezogen zu werden.

Laut einer Studie des BMFSJ ist in Deutschland ca. jede 5. Frau Opfer psychischer Gewalt in einer bestehenden Paarbeziehung (2014: 207). Eine andere Studie führte zu dem Ergebnis, dass 42 % der befragten Frauen im Erwachsenenalter bereits unter psychischer Gewalt litten (Schröttle & Müller 2004: 7). Hierbei ist natürlich anzumerken, dass die Dunkelziffer höher sein dürfte, denn viele Betroffene erkennen oftmals nicht die Gewalt, die ihnen angetan wird, oder trauen sich nicht, diese auszusprechen. 87,5 % der Frauen, die „lediglich“ psychischer Gewalt in Form von Drohungen ausgesetzt waren, ohne darauffolgend auch noch körperliche Gewalt zu erleben, gaben an, dass sie das als belastend empfinden und unter erheblichen psychischen Beschwerden leiden würden (BMFSJ 2014: 24). Psychische Gewalt ist also alles andere als harmlos. Was aber genau wird unter psychische Gewalt gezählt? Bei der erwähnten Studie wurde das unter den folgenden Begriffen zusammengefasst: Extreme Eifersucht, Kontrolle & Dominanz, verbale Aggressionen & Drohungen, Demütigungen, sexuelle Übergriffigkeiten und ökonomische Kontrolle. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass der Täter der Betroffenen den Kontakt zu Freund_Innen verbietet, finanzielle Ausgaben überwacht oder einschränkt, verbietet, was die Betroffenen anziehen dürfen, Drohungen ausspricht, die Betroffenen beleidigt, als dumm bezeichnet, vor anderen runtermacht, ihre Anwesenheit komplett ignoriert und nicht auf sie reagiert oder auch explizit einfordert, dass die Betroffene ihrer Geschlechterrolle als Hausfrau oder Mutter nachkommen solle. Es gibt natürlich noch viele weitere Beispiele, mit denen man unzählige Seiten füllen könnte. Wichtig ist aber noch, dass das Ganze natürlich im Ausmaß variieren kann und es nicht alles Genannte auf einmal auftreten muss und die verschiedenen Formen auch abwechselnd auftreten können.

Toxische Beziehung? Was soll das überhaupt sein?

Seit das Modewort „toxisch“ einen Einzug in unseren Sprachgebrauch gefunden hat, hören wir es ständig, so auch, wenn beschrieben werden soll, dass eine Beziehung vor allem verbale Gewalt beinhaltet. Aber die „toxische Beziehung“ ist überhaupt kein Fachbegriff, und so ist es schwierig, näher zu definieren, was das alles konkret beinhalten soll. Jedoch wird das Wort „toxische Beziehung“ oftmals gleichbedeutend mit psychischer Gewalt verwendet. Allerdings wird es noch mit einer zusätzlichen Bedeutung versehen, und zwar: Es gibt nicht einen Haupttäter, sondern beide Parteien sind irgendwie einfach „toxisch“ füreinander und das Zusammenspiel aus ihrem Verhalten führt zu diesem explosiven, giftigen Gebräu. Wir wollen an dieser Stelle nicht leugnen, dass es diese Konstellationen auch gibt. Jedoch dürfte die Mehrheit der Fälle einen zumeist männlichen Haupttäter haben und der Begriff der „toxischen Beziehung“ macht aus einem gesamtgesellschaftlichen strukturellen Problem ein individuelles. Studien kommen zwar immer wieder zu unterschiedlichen Ergebnissen, ob die Haupttäter_Innen psychischer Gewalt nun Männer oder Frauen sind, aber Verzerrungen basieren oftmals ebenso auf Geschlechterrollen, insofern, dass Frauen in ihrer Sozialisierung eher lernen, Fehler einzugestehen, oder eher etwas als psychische Gewalt kategorisieren, als Männer das tun. So spricht das BMFSJ in einer Pressemitteilung von 2023 davon, dass 80,1% der Betroffenen von Partnerschaftsgewalt im Jahr 2022 weiblich sind, während 78,3 % der verdächtigten Täter männlich sind. Offensichtlich kann es auch an dieser Stelle zu Verzerrungen kommen, denn diese Zahlen basieren auf den kriminalstatistischen Auswertungen des Bundeskriminalamts, und viele Fälle, insbesondere psychischer Gewalt, werden natürlich nicht gemeldet, teilweise auch, weil sie nach deutschem Recht keine Straftat darstellen.

Weswegen entsteht (psychische) Gewalt in Partnerschaftsbeziehungen?

Um uns der Antwort zu nähern, warum wir von mehrheitlich männlichen Tätern ausgehen, gilt es, sich anzuschauen, weswegen (psychische) Gewalt überhaupt entsteht. Beziehungsgewalt basiert nämlich auf einem ungleichen Machtverhältnis, denn all die vorher beschrieben Formen der psychischen Gewalt zielen darauf ab, dass sich die betroffene Person (weiterhin) unterordnet. Macht in zwischenmenschlichen Beziehungen ist aber nichts, was einfach in einem Vakuum entsteht, genauso wie der Anspruch, Macht ausüben zu dürfen. Denn häusliche Gewalt findet im Rahmen der bürgerlichen Familie oder einer ihr ähnlichen Beziehung statt, welche als Institution elementar für das Fortbestehen des Kapitalismus ist.

Während die bürgerliche Familie in der herrschenden Klasse eine andere Funktion hat, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, übernimmt sie in der Arbeiter_Innenklasse wesentliche Aufgaben zur Reproduktion der Klasse selbst und somit letztendlich auch des Kapitalismus. Denn hier findet die Reproduktion der Ware Arbeitskraft statt, was alle Tätigkeiten meint, die notwendig sind, damit die Arbeitenden am nächsten Tag wieder am Arbeitsplatz erscheinen und ihrer Arbeit nachgehen können. Darunter zählt also Kochen, Putzen, Wäsche waschen, aber auch emotionale Sorgearbeit. Auch die Erziehung von Kindern fällt mit unter diese Kategorie, damit sich so die Arbeiter_Innenklasse als Ganzes neu reproduzieren kann.

Um eine für das Kapital so günstig wie mögliche Reproduktion durchzusetzen, wird diese ins Private gedrängt. Die Arbeiten werden vor allem von Frauen unentlohnt verrichtet. Dies bildet die Basis für reaktionäre Rollenbilder, so dass diese ihrerseits stetig zur Reproduktion der geschlechtlichen Arbeitsteilung beitragen. Das beginnt schon im Kleinkindalter durch Sozialisierung und erstreckt sich über das ganze Leben.

Die Familie existierte aber nicht schon immer, sondern entwickelte sich über die Klassengesellschaften zur heutigen Form hin, und die konkrete Ausprägung heutzutage ist von der jeweiligen Gesellschaftsverfassung abhängig. Im Allgemeinen gilt der Mann als Ernährer der Familie, wohingegen die Frau als Hausfrau tätig wird. Das ist natürlich ein Ideal, was besonders für die Arbeiter_Innenklasse schwer zu erreichen ist, jedoch zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs zumindest für die bessergestellten Schichten der Lohnabhängigen ansatzweise etabliert werden kann. Zugleich wird sowohl mit der Expansion des Kapitalismus wie auch in der Krise die ökonomische Basis der lohnabhängigen Familie massiv unterhöhlt.

Die Krise der Familie bildet die strukturelle Grundlage der Gewalt gegen Frauen in der Arbeiter_Innenklasse innerhalb von Familien oder partnerschaftlichen Beziehungen, welche der Familie ähneln. Denn durch diese hat der Mann das Problem, dass er der Rollenerwartung als Ernährer der Familie nicht mehr nachkommen kann, während die Frauen einerseits in die Lohnarbeit gezwungen werden und andererseits aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor, in welchem sie oft tätig sind, nicht die Möglichkeit haben, dem Täter zu entfliehen. Dieses widersprüchliche Verhältnis zwischen Idealbild, Geschlechterrolle und Notwendigkeit der Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht im Rahmen des Kapitalismus aufzulösen und sorgt letzten Endes in seiner Unabdingbarkeit und Perspektivlosigkeit auch dafür, dass die extremste Form der häuslichen Gewalt, der Femizid, zu Tage tritt.

Hinzukommt, dass aggressives Verhalten in der männlichen Sozialisation und im männlichen Rollenbild nicht geahndet, sondern eher bestärkt wird. Kontrolle und Eifersucht werden gar als romantisch angesehen, Vorschreiben der Kleidung als Sorge um die Sicherheit, eine nichtarbeitende Hausfrau haben zu wollen als „provider mindset“, usw.

Betroffene wehren sich – und werden selbst zu Täter_Innen?!

Manche Betroffene, welche nicht aus der gewaltvollen Situation fliehen können und Tag ein Tag aus missbräuchlichem Verhalten ausgesetzt sind, haben irgendwann genug und beginnen sich zu wehren, denn es gibt immer eine Grenze hinsichtlich dessen, was eine Person ertragen kann. Das wird auch als reactive abuse bezeichnet. Die Bezeichnung ist aber eigentlich eher ungenau, da es sich in diesem Moment viel mehr um eine Art Selbstverteidigung handelt, da die Betroffenen durch die andauernde Gewalt in einen „Fliehen oder Kämpfen“-Modus gebracht werden. Diese Reaktion auf konstante Gewaltausübung wird vom Täter aber genutzt, um eine Täter-Opfer-Umkehr durchzuführen oder auch um den Begriff der toxischen Beziehung zu verwenden. Denn immerhin hat die betroffene Person sich ja jetzt auch mal falsch verhalten. Hier zeigt sich auch wieder, was wir gesamtgesellschaftlich als Bild von dem „perfekten Opfer“ haben. Das „perfekte Opfer“ soll stillsitzen, ertragen, schüchtern und am Boden zerstört sein, damit die Gesellschaft ihr wirklich Glauben schenken kann. Wenn sie dann aber nach monate- oder jahrelanger psychischer Gewalt anfängt, nicht alles hinzunehmen, hat sie jegliche Chance darauf vertan, dass zumindest anerkannt wird, dass es sich wirklich um ein missbräuchliches Verhältnis handelt. Hier wird eben auch der Begriff der „toxischen Beziehung“ zum Mittel für den Täter, um sich aus der Verantwortung zu ziehen. Denn der Begriff kann schließlich beschreiben, dass es sich nicht um Missbrauch, sondern um ein gegenseitiges falsches Verhalten handelt.

Es heißt psychische Gewalt!

Als Marxist_Innen dürften wir die Augen nicht davor verschließen, dass Beziehungsgewalt, auch wenn sie so vermeintlich unsichtbar daherkommt wie psychische Gewalt, ein patriarchal geprägtes Phänomen ist. Da es sich um kein individuelles Problem handelt, sollten Begriffe wie „toxische Beziehung“, die diesen Missbrauch verharmlosen und Täter-Opfer-Umkehr begünstigen, zwingend hinterfragt und geprüft werden. Um Beziehungsgewalt also zu beenden, müssen wir den Kapitalismus mitsamt seinen patriarchalen Strukturen überwinden. Aber es gilt selbstverständlich, im Hier und Jetzt anzusetzen, weswegen wir den massiven Ausbau von Beratungsstellen und Unterkünften für Betroffene von partnerschaftlicher und/oder häuslicher Gewalt fordern. Diese sollen bezahlt werden durch die Gewinne der Kapitalist_Innen und der Enteignung ihrer Betriebe. Des Weiteren setzen wir uns ebenso für massive Investitionen in den Gesundheitssektor ein, damit es genügend Therapiemöglichkeiten gibt. Natürlich braucht es auch massive Aufklärungskampagnen in den Gewerkschaften und Organisationen der Arbeiter_Innenklasse und Jugend. Ebenso relevant ist die Vergesellschaftung der Hausarbeit, um einen Grundstein zu legen, das gesellschaftliche Zusammenleben zu transformieren. Einerseits würde das die Isolation aufheben, in der partnerschaftliche und häusliche Gewalt oftmals erst möglich wird, und andererseits wäre es ein wichtiger Schritt, dem Ideal der bürgerlichen Familie und somit den Geschlechterrollen an den Kragen zu gehen.

Quellen:

BMFSJ (2014): Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen. Eine sekundäranalytische Auswertung zur Differenzierung von Schweregraden, Mustern, Risikofaktoren und Unterstützung nach erlebter Gewalt,
https://www.bmfsfj.de/resource/blob/93968/f832e76ee67a623b4d0cdfd3ea952897/gewalt-paarbeziehung-langfassung-data.pdf.

BMFSJ (2023): Häusliche Gewalt im Jahr 2022: Opferzahl um 8,5 Prozent gestiegen – Dunkelfeld wird stärker ausgeleuchtet,
https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/haeusliche-gewalt-im-jahr-2022-opferzahl-um-8-5-prozent-gestiegen-dunkelfeld-wird-staerker-ausgeleuchtet-228400.

Laderer, Ashley (2022): If you’ve ever lashed out against your abuser, it doesn’t make you abusive — here’s why, https://www.insider.com/guides/health/sex-relationships/reactive-abuse.

Schröttle, M. & Müller, U. (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland,
https://www.bmfsfj.de/resource/blob/84316/10574a0dff2039e15a9d3dd6f9eb2dff/kurzfassung-gewalt-frauen-data.pdf