Selbstbestimmungsgesetz – der große Durchbruch oder nur ein kleiner Schritt in die richtige Richtung?

Von Pauline P., August 2023

Das Selbstbestimmungsgesetz ist vom Bundeskabinett beschlossen und die 40 Jahre lange Diskriminierung von trans, inter und nicht-binären Personen durch das TSG (Transsexuellengesetz) hat ab dem 1. November 2024 (dann soll das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft treten und das TSG ersetzen) ein Ende. So berichten es zumindest viele Medien. Doch kann man das wirklich so pauschalisieren? Klar ist: Es ist nicht zu leugnen, dass es ein Schritt in die richtige Richtung ist. Es ermöglicht trans, inter und nicht-binären Personen eine Änderung des Geschlechtseintrags sowie ihrer Vornamen im Personenstandsregister durch eine einfache Erklärung beim Standesamt. Ein Fortschritt, denn das Transsexuellengesetz erforderte zur Personenstandsänderung die Vorlage eines ärztlichen Attests und in den meisten Fällen sogar die Einholung von Gutachten in einem Gerichtsverfahren – beides nervenaufreibende und letzteres kostenintensive Prozesse. Während die diskriminierenden und entmenschlichenden Gutachten bei der Änderung von Geschlechtseintrag und Vornamen künftig wegfallen, bleiben sie an anderer Stelle jedoch erhalten. Für geschlechtsangleichende Maßnahmen sind häufig weiterhin langwierige ärztliche Gutachten notwendig.

Das Selbstbestimmungsgesetz trieft vor Misstrauen

Schaut man sich das Selbstbestimmungsgesetz genauer an, bemerkt man schnell: Eine große Portion Misstrauen ist mit eingeflossen. So besteht für die Änderung von Namen und Geschlechtseintrag eine dreimonatige Anmeldefrist, bis ein Termin angetreten werden kann und auch nach erfolgreicher Änderung gilt eine einjährige Sperrfrist für eine erneute Änderung. Diese Paragraphen sprechen trans, inter und nicht-binären Personen die Ernsthaftigkeit ab, unterstellen willkürliche Änderungen und sind damit nichts anderes als diskriminierend. Leider sind dies nicht die einzigen Misstrauens-Paragraphen. Veranstalter*innen und Eigentümer*innen ist es laut Selbstbestimmungsgesetz erlaubt, trans, inter und nicht-binäre Personen aus expliziten Frauenräumen (z.B. Frauensauna, Frauenhäuser) auszuschließen, was jenen die Identität abspricht und sie als potentielle Gefahrenquelle für andere Frauen abstempelt. Auch im Sport sind Veranstalter*innen nicht dazu verpflichtet, den Geschlechtseintrag ernst zunehmen, was schlichtweg diskriminierend ist und das Vorurteil eines angeblichen Leistungsvorteils gesetzlich festnagelt.

Die Identität wird ebenfalls im Falle einer Kriegsbeteiligung Deutschlands nicht ernst genommen. Ist die Änderung des Geschlechtseintrages nicht vor mindestens 2 Monaten erfolgt, so müssen trans Personen, in deren Ausweis zuvor ein „männlich“ stand, zum Wehrdienst anrücken. In Zeiten der imperialistischen Neuaufteilung der Welt, zunehmender aggressiver Militarisierung und Sondervermögen ist also klar, dass die herrschende Klasse an dieser Stelle nicht auf ihr Kanonenfutter verzichten will. So weit, so menschenverachtend.

Das Selbstbestimmungsgesetz trieft vor Misstrauen und zeigt, dass selbsternannte transexkludierend „Feministinnen“ ebenso viel, wenn nicht sogar mehr, Geltung geschenkt wird, wie Betroffenen. Es scheint so, als wage die Bundesregierung mit diesem Selbstbestimmungsgesetz den Versuch einer Befriedung zwischen TERFs (transeexkludierend Radikalfeministinnen) und progressiven Kräften. Wir sagen ganz klar: transfeindlichen Personen und Positionen darf kein Gehör geschenkt werden!

Die Scheinheiligkeit der Bundesregierung

Dass die Bundesregierung jedoch genau dies tut, versucht sie unter den Tisch zu kehren. So fallen Zitate wie „Mit dem Selbstbestimmungsgesetz verwirklichen wir das Recht jedes Menschen, in seiner Geschlechtsidentität geachtet und respektvoll behandelt zu werden. Das Selbstbestimmungsgesetz dient dem Schutz lang diskriminierter Minderheiten und ist ein gesellschaftspolitischer Fortschritt“ von Seiten der Bundesfamilienministerin Lisa Paus. Aber in Wirklichkeit kann sich die herrschende Klasse hier als linksbürgerlich und progressiv hinstellen, ohne viel dafür tun zu müssen. Eine kleine Gesetzesänderung für den fortschrittlichen Anstrich kostet eben nichts im Gegensatz bspw. zum Ausbau von Schutzhäusern für Frauen und queere Personen oder eine kostenfreie Gesundheitsversorgung für trans Personen und für alle anderen auch. Des Weiteren profitiert die herrschende Klasse auch massiv um die Debatte um trans Personen und das SBG, es ist absolut nicht in deren Sinne, dass es einfach stillschweigend angenommen wird. Denn durch den öffentlichen Aufschrei rechter und konservativer Kräfte hinsichtlich der Gesetzesänderungen lässt sich zum einen dafür sorgen, dass die Arbeiter_Innenklasse ihr gemeinsames Interesse aus den Augen verliert und sich spalten lässt und zum anderen, dass die immer wiederkehrenden kapitalistischen Krisen und ihre massiven Auswirkungen auf den Lebensstandard und die Rechte der Arbeiter_Innnenklasse einfach in den Hintergrund gedrängt werden können. Das heißt natürlich nicht, dass wir uns nicht für die Rechte von trans Personen einsetzen sollten, wir müssen aber im Hinterkopf behalten, dass die herrschende Klasse überhaupt kein Interesse an der Befreiung sozial und geschlechtlich Unterdrückter hat.

Dass die Geschlechtsidentität durch das Selbstbestimmungsgesetz nicht vollumfänglich geachtet und respektiert wird, wurde bereits aufgezeigt. Doch wie sieht es mit der Sicherheit aus? Die Meldebehörde informiert die Bundespolizei, das Bundeskriminalamt, das Bundesamt für Verfassungsschutz sowie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge über jegliche Änderungen von Geschlechtseinträgen, damit diese auch danach die Möglichkeit haben, Identitäten lückenlos nachzuverfolgen. Listen von trans, inter und nicht-binären Personen zu erstellen und an die Behörden weiter zu reichen ist mit angeblichen „Schutz lang diskriminierter Minderheiten“ nicht zu vereinbaren. In das Recht der Selbstbestimmung wird zudem eingegriffen, wenn eine Abschiebung bevorsteht. Das Bundesministerium äußerte die Sorge, dass sich Betroffene durch eine Änderung vom Geschlechtseintrag vor ausländerrechtlichen Ausweisungen drücken können. Misstrauen blitzt auch hier durch. Aber für uns als Marxist_Innen ist klar: da steckt noch mehr dahinter. Die Änderungen von Namen und somit Identitäten widersprechen dem bürgerlichen Rechtsverständnis und verhindern den reibungslosen Ablauf der Strafverfolgung. Die Interessen von trans Personen stehen also in einem unüberwindbaren Widerspruch zum bürgerlichen Staat.

Was tun?

Wir sehen also: Das Selbstbestimmungsgesetz grenzt an vielen Punkten das ein, was es sich auf die Fahne schreibt – nämlich die Selbstbestimmung. Wir nehmen das nicht ohne weiteres hin. Bis das Gesetz in Kraft tritt, bleibt noch einiges an Zeit, unsere Unzufriedenheit kund zu tun. Wir müssen die diskriminierenden Aspekte des Selbstbestimmungsentwurfs aufzeigen und für deren Streichung kämpfen. Doch da soll unser Kampf keinen Halt machen! Das Selbstbestimmungsgesetz ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, doch – auch wenn die diskriminierenden Paragraphen gestrichen sind – es kratzt nur an der Oberfläche. Um die Befreiung alles Geschlechter zu erreichen, müssen wir die Ursache aller Diskriminierung bekämpfen: das ausbeuterische, kapitalistische System, welches jegliche Identitäten jenseits von cis und heterosexuell fürchtet, da diese das Ideal der bürgerlichen Familie hinterfragen und somit die Ausbeutung in Form von unbezahlter Reproduktionsarbeit innerhalb der Familie gefährden, welche für das Fortbestehen des Kapitalismus aber elementar ist.

Wir fordern:

  • Selbstbestimmungsrecht über die eigene Identität und den eigenen Körper!
  • Kostenlose Beratung und operative, geschlechtsangleichende Behandlung, wenn dies von der betroffenen Person gewünscht wird! Vollständige Finanzierung durch das öffentliche Gesundheitswesen!
  • Kampf gegen die transphobe Hetze der Rechten und sog. Radikalfeministinnen!
  • Kampf der Diskriminierung in Beruf und Alltag! Für breite Aufklärungskampagnen, Selbstverteidigungskomitees und Schutzräume der Unterdrückten in Verbindung mit der Arbeiter_Innenbewegung



Keine Sexualität, kein Problem? – Über Asexualität und echte sexuelle Befreiung

Von Erik Likedeeler, April 2023

„I was angry at the world for making me hate who I was. It was all because of that, that this new identity felt like a loss, when in reality, it should have been a beautiful discovery.” So beschreibt Georgia, die Hauptfigur aus Alice Osemans Jugendroman „Loveless“, ihre Erkenntnisse zum Coming Out als asexuell und aromantisch.

Ihre Gefühle des Verlustes und Selbsthasses sind in der asexuellen Community kein Einzelfall: Ohne sexuelle Anziehung zu leben, kann beängstigend sein in einer Welt, in der Sex einen Warencharakter hat und Desinteresse mit Gefühlskälte gleichgesetzt wird. Die Befürchtung, nicht „normal“ zu sein, ist verständlich in einer Welt, in der Anpassung scheinbaren Schutz vor Diskriminierung bietet. Auch das Gefühl, die eigene Zukunft zu verlieren, ergibt sich unmittelbar aus einer Gesellschaft, die viel Spannung und Drama künstlich aus Sexualität herauszieht.

Asexualität wird häufig als irrelevanter Aspekt der queeren Identität eingeordnet und nur selten als Ursache für Diskriminierung erkannt. Doch es gibt viele Arten, auf die sexuelle Befreiung im Kapitalismus verhindert wird. Wie asexuelle Menschen davon betroffen sind und wie dagegen vorgegangen werden kann, soll in diesem Artikel dargestellt werden.

„Keine Angst, das kommt schon noch“: Outing und Jugendunterdrückung

Einerseits werden Jugendliche durch Beschämung, Tabuisierung, Verbote und Homofeindlichkeit daran gehindert, ihre Sexualität frei zu erkunden. Andererseits wird ihnen Sexualität als biologisch alternativlos vermittelt: als etwas Selbstverständliches, das sie unweigerlich eines Tages tun werden. Im Sexualkundeunterricht wird davon gesprochen, sich Zeit zu lassen und auf „die richtige Person“ zu warten. Doch dass ein „Nein“ auch eine dauerhafte Option sein darf, wird selten vermittelt.

Jugendliche, die sich als asexuell outen, bekommen häufig unterstellt, sie wären „Spätzünder_Innen“ und würden ihre Präferenzen ändern, wenn sie älter wären. Das passt perfekt in das Vorurteil, Jugendliche wären impulsive und entscheidungsunfähige Opfer ihres Hormonhaushalts. Es wird so getan, als wüssten Jugendliche so wenig über sich selbst, dass ihre aktuelle Identität wertlos wäre und sie eines Tages als völlig andere Menschen aufwachen könnten. Viele Jugendliche kennen ihre Gefühle und Bedürfnisse, bekommen jedoch beigebracht, sich selbst nicht zu vertrauen. Das ist der Grund, warum asexuelle Menschen im Durchschnitt länger als andere queere Personen brauchen, um ihre sexuelle Orientierung herauszufinden.

 „Hattest du schon einmal Sex?“ ist eine häufige Fangfrage, bei der asexuellen Menschen abverlangt wird, möglichst viele negative Erfahrungen vorzuweisen. Sie sollen ihre ganze Jugend lang leiden, an sich zweifeln und sich traumatisieren lassen, bevor sie erwarten dürfen, dass ihnen geglaubt wird. Die Behauptung, sie hätten einfach noch nicht „den_die Richtige_n“ gefunden, ist nutzlos und irrelevant. Es ist makaber, von asexuellen Personen zu verlangen, sie sollten ihr ganzes Leben auf der Suche nach etwas verbringen, das es ihnen ermöglicht, sich an unterdrückerische sexuelle Normen anzupassen.

„Du hast bestimmt ein leichtes Leben“: Asexualität ist kein Ausweg aus dem Patriarchat

Asexuelle Menschen werden regelmäßig als naiv und unreif abgestempelt. Das Recht auf Selbstbestimmung und Vernunft wird ihnen abgesprochen. Hier zeigt sich die sogenannte Chrononormativität: die Idee, dass Menschen ihr Leben nicht nach ihrem eigenen Tempo leben sollten, sondern dass es Meilensteine gibt, die ab einem bestimmten Alter erreicht werden müssen, wie zum Beispiel das „Erste Mal“. Dieser Kampf gegen unsichtbare Deadlines wird im Kapitalismus absichtlich provoziert, um Menschen effizienter auszubeuten.

Häufig müssen asexuelle Menschen sich herablassende Kommentare darüber anhören, wie „einfach“ ihr Leben doch wäre. Aber Asexualität ist nur dann einfach, wenn sie auf einen einzigen Satz heruntergebrochen wird, wie es in Mainstream-Medien oft der Fall ist. Genau wie jede andere sexuelle Orientierung hat Asexualität viele Facetten und sexuelle Anziehung zu empfinden ist keine mystische Schwelle, die den Unterschied zwischen Kindheit und Erwachsensein markiert.

Asexualität ist keine Freikarte, um der Unterdrückung durch das Patriarchat zu entkommen. Tatsächlich sind asexuelle Menschen massiv von sexualisierter Gewalt betroffen. Durch die anerzogene Verunsicherung gegenüber den eigenen Bedürfnissen geraten sie leicht an manipulierende Täter_Innen, die ihre Verletzlichkeit ausnutzen, um ihnen Schuldgefühle einzureden. Nicht selten kommt die Gewalt in Form von „korrektiver“ Vergewaltigung daher, mit dem Ziel, die Person wieder „normal“ zu machen.

Viele asexuelle Menschen erlernen ein hypersexuelles Verhalten, um die eigene Orientierung vor sich selbst und anderen zu verstecken. Sie erfahren weder von Asexualität, noch von Konsensprinzipien wie „Nur Ja heißt Ja“. Deshalb wachsen sie mit dem beängstigenden und verstörenden Gedanken auf, eines Tages Sex haben zu müssen. Miranda Fricker bezeichnet das als hermeneutische Ungerechtigkeit: Sprache und Diskurse sind von den Belangen der Herrschenden geprägt, deshalb haben unterdrückte Menschen kaum Möglichkeiten, ihre eigene Unterdrückung zu erkennen, über sie nachzudenken und sie sprachlich auszudrücken.

„Empower dich doch einfach“: Was bedeutet sexuelle Befreiung?

Die rückständigsten Teile des bürgerlichen Familienideals abzulehnen, gilt mittlerweile als aufgeklärt und emanzipiert. Doch ein gewisses Maß an harmloser „Ich mag den Valentinstag nicht“-Rebellion darf nach wie vor nicht überschritten werden. So gilt Sexualität immer noch als unverzichtbarer Teil jeder romantischen Beziehung.

In linken Strukturen werden insbesondere asexuelle Frauen oft als verklemmt abgestempelt. Sie gelten als Objekte des Mitleids, die sich noch von anerzogener Prüderie und Scham befreien müssen. Kein aufregendes Sexualleben vorweisen zu können, wird mit konservativen Ansichten gleichgesetzt. Weibliche Sexualität soll kultiviert werden, um „feministische“ Politik zu performen – damit auch Frauen Sex konsumieren und sich „empowert“ fühlen können. Das Patriarchat wird dabei als der einzige valide Grund genannt, warum manche Frauen keinen Sex haben möchten.

Es wird an der Idee festgehalten, dass gesellschaftlich tabuisierte Formen von Sex, wie z.B. BDSM, einen Menschen inhärent befreiter machen würden. Das Bedürfnis, Sex zu einer lässigen Performance werden zu lassen, um sich selbst als aufgeschlossen zu inszenieren, hängt damit zusammen, dass die politisch Konservativen sich in der Öffentlichkeit auch gern sexuell konservativ präsentieren.

Es stimmt, dass sexuelle Praktiken Menschen dabei helfen können, Scham abzubauen und sich in ihrem Körper selbstbewusst zu fühlen und natürlich unterstützen wir die freie sexuelle Entfaltung aller Menschen- insofern sie das Bedürfnis danach haben. Doch Sex allein hat nicht die Macht dazu, die Welt zu einem gerechten Ort zu machen. Er ist keine antikapitalistische Praxis, die auf magische Weise gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen aushebeln könnte.

„Wer zweimal mit derselben pennt…“: Sex als Waffe gegen Krieg und Faschismus?

Schon die 68er-Bewegung definierte die sexuelle Befreiung damit, möglichst viel unverbindlichen Sex zu haben und betrachtete dies als Mittel gegen Krieg und Unterdrückung. Diese Idee mag sich richtig anfühlen, ist jedoch fehlgeleitet. Wie Angela Chen schreibt: „The revolution will not come on the tidal wave of your next multiple orgasm, on the floor of your communal living space. It will only happen if you have an actual plan for destroying systems of oppression and exploitation.” Asexualität ist kein politisches Versagen, das überwunden werden muss, sondern eine Identität, die respektiert gehört.

Auch psychoanalytische Ansätze versuchen, Sex als Patentlösung zu verkaufen und jedes gesellschaftliche Problem in Bezug darauf zu erklären. Die Idee der 68er, mit einer „befreiten“ Sexualität die Antikriegsbewegung zu stärken, geht auf den Freud-Schüler Wilhelm Reich zurück. Dieser glaubte, eine unterdrückte Sexualität wäre die Ursache des Faschismus. Doch der Faschismus ist in den materiellen Verhältnissen einer Gesellschaft begründet. Er ist ein Phänomen des Imperialismus und das letzte Mittel zur Niederschlagung des Klassenkampfes. Ihn mit unterdrückter Sexualität zu begründen, ist eine faule Erklärung für ein komplexes Phänomen. Das menschliche Verhalten ist vielfältiger als das und es ist übergriffige Spekulation, Menschen heimliche, unbewusste sexuelle Wünsche zu unterstellen.

Nicht selten müssen asexuelle Menschen sich auf respektlose Weise mit sogenannten Incels vergleichen lassen. Häufig wird davon ausgegangen, ein Mangel an Sex hätte die extrem frauenverachtenden Incels zu frustrierten Sexisten und Faschisten gemacht. Dabei wird ausgeblendet, dass das traditionelle Bild des Mannes als Ernährer und Beschützer angesichts kapitalistischer Krisen und sich wandelnder Rollenbilder ins Wanken geraten ist. Incel zu werden ist nicht die Folge von zu wenig Sex, sondern die Ausweitung einer Sozialisation, in der Abwertung und Erniedrigung Teil des Systems sind und man als Jugendliche_r oder Arbeiter_In ständig Angst vor dem Abstieg haben muss. Unterdrückungsformen wie Sexismus lassen uns dabei die Schuldigen in anderen Teilen der Arbeiter_Innenklasse suchen, anstatt bei den Kapitalist_Innen, die tatsächlich von unserer Ausbeutung profitieren. In unterdrückerischen Verhältnissen ist die Incel-Ideologie ein leichter Weg, um sich selbstwirksam zu fühlen. Dieses toxische Verhalten führt mitunter dazu, dass sexuelle Erfolge ausbleiben und nicht umgekehrt.

„Bist du eigentlich depressiv?“: Asexuelle Menschen sind nicht krank!

Unsere Gesellschaft wird von der gewaltvollen Norm strukturiert, dass alle Menschen romantische und sexuelle Anziehung spüren sollen. Wer diese Erwartung nicht erfüllen kann oder möchte, wird schnell für krank erklärt, also pathologisiert. Genau wie es früher bei Homosexualität der Fall war, wird Asexualität oft als Traumafolge verbucht. Allerdings gibt es keine wissenschaftliche Studie, die beweisen kann, dass Trauma die sexuelle Orientierung ändern kann.

Auch für Depressionen ist fehlendes Interesse an Sex ein Diagnosekriterium. Normerfüllende, romantisch-sexuelle Beziehungen werden von Therapeut_Innen als Beweis dafür gesehen, dass sich soziale Ängste verringert haben. Eine bestimmte Art von menschlicher Intimität als Idealfall zu verbuchen, führt zu Fehldiagnosen und falschen Behandlungen. Für trans Personen können „falsche“ Antworten auf die Abfrage der Sexualität zur Verweigerung der Behandlung führen, weil davon ausgegangen wird, dass sexuelle „Erfüllung“ und psychische Gesundheit sich proportional zueinander verhalten.

40% der asexuellen Menschen wurde schon einmal angeboten, sie zu „heilen“. Für Menschen mit geringem sexuellem Verlangen gibt es die Diagnose HSDD (hypoactive sexual desire disorder), umgangssprachlich Frigidität genannt. Nach dem DSM-4, einem wichtigen psychiatrischen Leitfaden, konnte HSDD bis 2013 selbst dann diagnostiziert werden, wenn ausschließlich der_die Partner_In darunter litt. Seit der Erscheinung des DSM-5 wird die Störung nur noch diagnostiziert, wenn die Person selbst leidet und sich nicht als asexuell identifiziert.

Auch diese neuen Diagnosekriterien ergeben wenig Sinn. Keine oder wenig sexuelle Anziehung zu verspüren, ist keine Krankheit, unabhängig davon, welches Wort dafür verwendet wird. Der Unterschied zwischen einer psychischen Krankheit und einer sexuellen Orientierung besteht nicht darin, wie eine Person sich damit fühlt. Ist ein schwuler Mann nur dann schwul, wenn er mit seiner Homosexualität glücklich ist?

HSDD und Asexualität haben unterschiedliche intellektuelle Ursprünge. HSDD stammt aus dem medizinischen Bereich, während Asexualität im Bereich der sozialen Gerechtigkeit verwurzelt ist. Bei der Diagnose von HSDD sind Ärzt_Innen die Autorität, während asexuelle Menschen betonen, dass jeder Mensch selbst entscheiden muss. Bei HSDD wird eine Abweichung zum Problem erklärt, bei der Asexualität geht es darum, Vielfalt zuzulassen, auch wenn sie sich unbequem anfühlt.

Asexuelle Menschen glauben nicht an eine moralische Verpflichtung zur Steigerung des sexuellen Verlangens. Sie kritisieren, dass Menschen ihre Asexualität erst dann akzeptieren dürfen, wenn eine „Heilung“ ausgeschlossen wurde. Die HSDD-Diagnose ist nutzlos, weil es eine sinnvollere Alternative gibt: zu akzeptieren, dass das Leid durch Stigmatisierung zustande kommt, und gegen diese Diskriminierung anzukämpfen.

„Das ist doch keine gesunde Beziehung“: Diskriminierung durch den Staat

Die Diskriminierung gegen asexuelle Menschen wird auch von staatlicher Seite getragen: Die Kosten für eine künstliche Befruchtung werden nur in heterosexuell gelesenen Partner_Innenschaften von der Krankenkasse übernommen, bei denen der „natürliche Weg“ nicht funktioniert.  Auch beim Adoptionsverfahren muss eine „stabile“ Ehe vorgewiesen werden. Dazu zählt üblicherweise auch körperliche Intimität.

Wenn eine verheiratete Person keine deutsche Staatsbürger_Innenschaft besitzt, kann der Verdacht aufkommen, dass sie diese über die Heirat erlangen wollte. Menschen in Ehen mit getrennten Schlafzimmern haben kaum eine Möglichkeit zu beweisen, dass es sich nicht um eine Scheinehe handelt. Daran zeigt sich, wie willkürlich Beziehungsnormen zusammengewürfelt sind. Heutzutage fallen getrennte Schlafzimmer unter den Begriff „Eheproblem“, früher waren sie im Bürgertum die Norm. Daran, wie vielen gesetzlichen, kulturellen und moralischen Erwartungen Sexualität unterworfen ist, lässt sich leicht erkennen, dass sie alles andere als die „natürlichste Sache der Welt“ ist.

Fazit

Asexuell zu sein ist mühsam in einer Welt, die Sex als das Highlight einer jeden Beziehung markiert. Doch sexuelle Interaktion ist nicht die einzige bedeutungsvolle Verbindung, die Menschen in ihrem Leben eingehen können. Sie ist weder die Quelle des höchsten Glücks, noch der ultimative Beweis dafür, dass Menschen sich lieben. Die Verbundenheit zu Freund_Innen, Familie, Natur, Sport, Wissenschaft, Politik oder Kunst ist für viele Menschen ein ebenso erfüllender Teil des Lebens.

Ziel der sexuellen Befreiung ist, dass es eines Tages selbstverständlich und leicht sein wird, ohne Zwang oder Rechtfertigung nach Konsensprinzipien zu leben. Wenn soziale Skripte wie das Ideal der bürgerlichen Familie absterben, kann Sexualität vom Profitdruck gelöst werden. Das heißt, sie wird nicht länger als Marketingstrategie ausgeschlachtet werden oder ein Werkzeug sein, um den Nachschub an Lohnarbeitenden sicherzustellen. Eine Gesellschaft, die Asexualität vollends akzeptieren möchte, muss sich nicht nur von hierarchischen Beziehungsformen, Vergewaltigungskultur und oberflächlichen Vorstellungen von vertraglichem Konsens verabschieden, sondern letztendlich auch von Leistungsdruck, kapitalistischer Ausbeutung und Profitmaximierung, sowie von geschlechtlicher Arbeitsteilung. 

Deshalb fordern wir:

  • Gegen die Vergewaltigungskultur! Für einen inklusiven Sexualkundeunterricht, der eine Vielfalt an sexuellen Orientierungen vermittelt und sich an Konsensprinzipien orientiert.
  • Für den vollen Zugang zu Elternschaft, Adoptionsrechten und reproduktionsmedizinischen Behandlungen auch für queere Menschen. Gegen das Ideal der bürgerlichen Familie und die kulturelle Überhöhung von Sexualität.
  • Gegen Konversionstherapien, korrektive Gewalt und die Pathologisierung von Asexualität. Für eine echte sexuelle Befreiung, auch für Jugendliche.

Literaturverzeichnis

  • Chen, Angela. Ace. What Asexuality Reveals About Desire, Society, and the Meaning of Sex. New York 2020: Random House.
  • Decker, Julie Sondra. The Invisible Orientation. An Introduction to Asexuality. New York 2015: Simon & Schuster.
  • DeWinter, Carmilla. Das asexuelle Spektrum. Eine Erkundungstour. Hamburg 2021: Marta Press.
  • Kroschel, Katharina; Baumgart, Annika. [un]sichtbar gemacht. Perspektiven auf Aromantik und Asexualität. Münster 2022: Edition Assemblage.



Rest in Power, Malte. Schluss mit den Angriffen auf trans Personen!

Am 2.9. verstarb Malte nach einem queerfeindlichen Angriff auf dem CSD in Münster. Nur einen Tag später wird eine trans Frau in einer Bremer Straßenbahn brutal von einer Gruppe Jugendlicher zusammengeschlagen. Berichte über ähnliche Fälle häufen sich derzeit nicht nur in Deutschland und zeigen die Auswirkungen des momentanen Rechtsrucks in ihrer schockierendsten Form. Hintergründe zum Mord an Malte, aber auch Perspektiven für den Kampf für queere Rechte findet ihr in diesem Beitrag. Wir trauern. Und müssen uns umso mehr im Klaren sein, dass der Kampf gegen Queerfeindlichkeit nur ein gemeinsamer sein kann! Rest in power Malte.

Der Mord am trans Mann Malte beim CSD in Münster bildet einen weiteren traurigen Höhepunkt der langen Reihe queerfeindlicher Angriffe in Deutschland und weltweit. Er war angegriffen worden, weil er sich an die Seite einer Gruppe Frauen gestellt hatte, die homofeindlich beleidigt worden waren. Gerade aus radikalfeministischen Kreisen hört man daher die Argumentation, die Tat sei eigentlich überhaupt nicht transfeindlich gewesen. Dass diese Scheindebatte in erster Linie dazu dient, die Solidarisierung von LGBTIA+-Menschen untereinander zu untergraben, sollte auch klar so benannt werden. Radikalfeminist_Innen fallen schon länger durch ihre transphoben Angriffe, wie beispielsweise auf die Grünen-Abgeordnete Tessa Ganserer, auf, indem sie trans Personen ihre Identität absprechen und diese aus feministischen Kämpfen ausschließen wollen. Tatsächlich sind Homo- und Transfeindlichkeit miteinander untrennbar über das strikte binäre Geschlechterverständnis der kapitalistischen Gesellschaft verbunden, welches vorschreibt, wie ein Mann und wie eine Frau zu sein haben – in allen körperlichen, charakterlichen wie romantischen und sexuellen Aspekten. Davon profitieren die Kapitalist_Innen am Ende, weil sie Frauen die Rolle der Hausfrau und Mutter zuschreiben können, die sich dann kostenlos um Haushalt und Familie (Reproduktionsarbeit) kümmern soll, während Männer Lohnarbeit für sie verrichten. Dieses System stützt sich auf eine binäre Einteilung in Mann und Frau und bekommt mit sozialen Geschlechterrollen und Klischees einen pseudo-natürlichen Anstrich. Homosexuelle, trans Personen und alle, die nicht in diese Vorstellung passen wollen, stellen das System damit in Frage und gefährden den maximalen Profit der Kapitalist_Innen. Deshalb reagiert der Staat darauf mit Repression, wie z.B. Heiratsverboten, Kriminalisierung oder unnötiger Bürokratisierung von geschlechtsangleichenden Behandlungen. Das gemeinsame Ziel muss es also sein, diese Rollenbilder und die damit einhergehende Zwangseinteilung in die binären Geschlechter gemeinsam mit dem Kapitalismus – dessen geschlechtliche Produktionsaufteilung diese notwendig macht – abzuschaffen, statt Kämpfe zu trennen, die eigentlich gemeinsam gekämpft werden müssen.

Auch Rufe nach einer verstärkten Polizeipräsenz auf Pride-Veranstaltungen gehen in eine völlig falsche Richtung. Auch wenn der Wunsch nach mehr Sicherheit verständlich ist, hilft es niemandem, die Polizei als politisch neutrale oder gar progressive Kraft zu verklären. Dazu muss man den Blick nicht einmal auf die Historie des Christopher-Street-Days werfen- auch heute noch zeigt die Polizei uns regelmäßig, auf wessen Seite sie steht, wenn sie unsere Demonstrationen angreift oder in geleakten Chat-Verläufen ihre rechte Gesinnung offengelegt wird. Eine erhöhte Polizeipräsenz kann letztendlich nur für weniger, nicht für mehr Sicherheit sorgen.

Letztendlich gilt das alte Credo: „Wir können uns nur selbst befreien!“ Dazu gehört organisierter Selbstschutz genauso wie ein organisierter Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse, die diesen erst nötig machen. Denn Angriffe, wie der auf Malte zeigen: Wir sind noch lange nicht am Ziel!

Wir fordern:

  • Organisierte Selbstverteidigung von LGBTIAQ+-Menschen gegen jegliche queerfeindliche Übergriffe, auch gemeinsam mit anderen unterdrückten Gruppen und der Arbeiter_Innenbewegung!
  • Das Recht auf medizinische Geschlechtsangleichung an die soziale Geschlechtsidentität – kostenfrei und ohne unnötigen bürokratischen Akt!
  • Die Abschaffung der erzwungenen binären Einteilung in Mann und Frau – auch gerade in offiziellen Dokumenten!
  • Zurückdrängung aller Formen der Rollenklischees, Diskriminierung und Ausgrenzung in der Jungend und Arbeiter_Innenklasse!
  • Reproduktionsarbeit muss vergesellschaftet werden und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung beendet werden!
  • Gleiches Geld für gleiche Arbeit! Schluss mit dem Gender Pay Gap!