Nein zum Gender-Verbot an Schulen!

von Erik Likedeeler, REVOLUTION, Fight! März 2024 (aufgrund der Gesetzesänderung in Bayern leicht angepasst am 21. März 2024 im Vergleich zur Print-Ausgabe )

Es klingt absurd, ist aber wahr: der bayerische Ministerrat und Sachsens Kultusministerium haben sich dazu entschieden, eine geschlechtergerechte Sprache in Form von Sternchen, Doppelpunkt und Binnen-I an Schulen, in Unis und an Behörden (Bayern) sowie an Schulen und deren Behörden (Sachsen) zu verbieten. Der thüringische Landtag hat beschlossen, dass Landesregierung, Ministerien, Schulen, Universitäten und der öffentliche Rundfunk nicht mehr „gendern“ dürfen. Auch in Niederösterreich haben ÖVP und FPÖ durchgesetzt, dass die Nutzung von Sternchen und Binnen-I in den Landesbehörden untersagt wird. Ein FPÖ-Sprecher betonte, es gehe darum, den „Wahnsinn des Genderns“ zu beenden. Diese Gender-Verbote stellen eine weitere Folge des gesamtgesellschaftlichen Rechtsrucks in unseren Schulen dar. Sie sind eingebettet in einen internationalen Rollback gegen die Rechte von Frauen und queeren Personen, wie die Angriffe auf das Recht auf Abtreibung in den USA oder Italien oder gesetzliche Verbote für geschlechtsangleichende Maßnahmen oder Verbote von gleichgeschlechtlichen Ehen/Partnerschaften in osteuropäischen Staaten. So haben Rechtspopulist:innen auf der ganzen Welt die sogenannte „Trans- und Gender-Lobby“ zu einem ihrer Hauptfeinde erklärt. Auch unsere Schulen werden zur Zielscheibe ihrer Angriffe. Die zunehmenden Verwerfungen der kapitalistischen Krisen machen Teile des Kleinbürgertums und deklassierter Arbeiter:innen anfällig für diese Ideologie. So sorgen Inflation, zunehmende Konkurrenz, drohender Arbeitsplatzverlust und Sozialabbau dafür, dass viele Cis-Männer ihre zugewiesene Rolle des heldenhaften und starken Ernährers nicht mehr erfüllen können. Die Angst vor dem männlichen Macht- und Identitätsverlust wird zu einem rechten Kulturkampf umgeformt. Die Rückkehr zu konservativen Wertvorstellungen, zu einer Welt, in der doch alles noch besser war, wird ihnen dabei als Lösung verkauft. Der Wirbel um den angeblichen „Wahnsinn des Genderns“ dient als Ablenkung vom eigentlichen sozialen Elend. Doch auch die klassenlose Individualisierung des Kampfes um symbolische Repräsentation soll uns davon abhalten, die eigenen Klassenunterdrückungen zu erkennen. 

Den Rechtspopulist:innen geht es also nicht um eine vermeintlich „richtige“ oder „einfachere“ Sprache. Es geht ihnen darum, Frauen und Queers unsichtbarer zu machen und zurückzudrängen. Dabei greifen sie tief in die Mottenkiste der homophoben und sexistischen Vorurteile, indem sie ihre Gender-Verbote damit begründen, dass es angeblich die Kinder verwirre oder in ihrer Entwicklung beeinträchtige. Unter dem Schlagwort „Frühsexualisierung“ wird nicht nur Jagd auf Gender-Sternchen, sondern auch auf die gleichberechtigte Darstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungsmodelle im Unterricht gemacht. Die angeblichen Interessen der Schüler:innen werden hier argumentativ ins Feld geführt, ohne dass überhaupt die Schüler:innen gefragt wurden. Für den Kampf in der Schule bedeutet dies, dass wir uns nicht auf die Bildungsministerien verlassen können. Jede Errungenschaft kann scheinbar mit einem Regierungswechsel wieder zunichte gemacht werden. Schüler:innen müssen also selbst die Frage der Kontrolle über Lehrpläne und Verhaltensregeln in den Schulen stellen, um das Vordringen rechter und queerfeindlicher Ideologie in unsere Schulen zu stoppen. Was wir für eine gerechte und inklusive Bildung wirklich brauchen, sind Lehrpläne unter demokratischer Kontrolle von Organisationen der Arbeiter:innenklasse sowie Lehrer:innen und Schüler:innen. Selbige müssen selbstverwaltete Antidiskriminierungsstellen an den Schulen erkämpfen, um den Schutz von Mädchen, Frauen und queeren Personen an den Schulen zu garantieren. Es ist nicht das Gendern, was Schüler:innen Probleme bereitet, sondern es ist ein kaputtgespartes Bildungssystem, Lehrer:innenmangel und steigender Leistungsdruck. Doch die bayerische Regierung, das sächsische Bildungsministerium oder die FPÖ denken nicht einmal im Traum daran, an dieser Bildungsmisere etwas zu verändern. Dieser Umstand entlarvt nur noch mehr, dass es ihnen lediglich um den Kampf um ideologische Vorherrschaft und das Zurückdrängen von Frauen und LGBTIA geht. Doch auch Sachsens Lehrerverband (nicht jedoch die Gewerkschaft GEW!) sieht positiv, dass das Gender-Verbot „Klarheit“ und „Barrierefreiheit“ bringen würde. Der Sprecher der FPÖ führte sogar die „Integration“ von Migrant:innen als Grund dafür an, wieso die Partei es bei „einfachen und verständlichen“ Sprachregeln belassen will.

In sprachwissenschaftlichen Studien konnte das Argument jedoch widerlegt werden, dass Gendern für das Gehirn mühsam wäre oder zusätzlichen Aufwand bedeuten würde. Anders als häufig angenommen führen geschlechtergerechte Formulierungen nicht zu langsamerer Verarbeitung, schwächerer Erinnerungsleistung oder schlechterer Lesbarkeit. Das Maskulinum hingegen führt durchaus zu Zögern bei der Verarbeitung und langsamer Reaktion, sobald es geschlechtsübergreifend gemeint ist.

Gleichzeitig sollten wir auch als Linke nicht der Illusion verfallen, dass ein bloßes Ändern unserer Sprache automatisch zu einer tatsächlichen Überwindung gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse führt. Selbst, wenn nun mehr Leute geschlechtergerechte Sprache benutzen, ändert dies leider wenig am Gender-Pay-Gap oder an der Tatsache, dass Frauen immer noch einen Großteil der Haus- und Care-Arbeit leisten.

Anstatt jedoch wie manche Linke den “Kampf um eine inklusive Sprache” abzulehnen, sollten wir diesen viel eher in den Klassenkampf einbinden. Denn in Begriffen stecken implizite Sichtweisen und Wertungen, die beeinflussen können, wie wir bestimmte Gruppen und Ereignisse betrachten. Im besten Fall kann das Verwenden einer bestimmten Sprache unsere Sichtweisen einer breiteren Masse leichter zugänglich machen. Zudem vermittelt inklusive Sprache zusätzlich diskriminierten Personen, dass wir ihre Unterdrückung anerkennen und unsere Befreiungsbewegungen zusammendenken. In diesem Sinne dürfen wir uns keinesfalls der rechten Verbotskultur beugen, sondern müssen dem Gender-Verbot den Kampf ansagen! Denn das, was der bürgerliche Staat als Vertreter des Kapitals am meisten zu fürchten hat, ist eine Arbeiter:innenklasse und Jugend, die sich ihrer gemeinsamen Interessen bewusst ist und gegen die wahren Ursachen ihres Elends ankämpft.

Seid ihr an eurer Schule davon betroffen? Organisiert euch gegen das Verbot und werdet an eurer Schule aktiv! Wir unterstützen euch gerne, auch bei allen anderen politischen Fragen an der Schule!




Ist die AfD faschistisch?

Von Yorick F., September 2023

Spätestens seit dem Erstarken des Höcke-Flügels und dem Richterspruch, ihn Faschist nennen zu dürfen, wird die AfD in manchen Teilen der Linken als faschistisch bezeichnet. Unabhängig davon, dass man vor der faschistischen Gefahr warnen und gegen sie mobilisieren muss, wollen wir uns dennoch die Frage stellen: Ist die AfD denn tatsächlich eine faschistische Partei?

Was ist Faschismus überhaupt?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir erstmal klären, was wir mit dem Faschismusbegriff meinen. Es gibt verschiedene theoretische Ansätze zum Faschismus, doch wir verwenden dabei die Faschismusanalyse von Leo Trotzki, da sie den Faschismus mit einer Klassenanalyse und in dessen historischer Funktion definiert und damit besonders präzise in einer marxistischen Analyse verwendet werden kann. Oft erscheint es so, dass man sich umso linker und antifaschistischer gibt, je häufiger man den Begriff Faschismus droppt und je mehr Gruppen, Organisationen, Parteien und Strukturen man dazu zählt. Doch Faschismus ist kein Sammelbegriff für alles irgendwie rechts von der CDU stehende, sondern eine analytische Kategorie, welche die äußerste Form des konterrevolutionären Bürger_Innenkrieges gegen die soziale Revolution, zumeist in Zeiten sozialer Krisen, beschreibt. Was meinen wir nun aber damit?

Wir meinen damit, dass die herrschende Klasse in Zeiten wirtschaftlicher Stabilität eher versucht, die Arbeiter_Innenklasse zu integrieren, zu korrumpieren, mit schlechten Kompromissen abzuspeisen und ihren Widerstand im Rahmen des parlamentarischen Systems die Schlagkraft zu nehmen. In revolutionären Situationen, wenn die organisierte Arbeiter_Innenklasse eine Kraft entfaltet, die den bürgerlichen Staat und seine kapitalistische Ordnung ernsthaft bedroht – oft in Kombination mit wirtschaftlichen aber auch politischen Krisen – benötigt die Bourgeoisie für die Wiederherstellung bzw. Verteidigung ihrer bürgerlichen Ordnung radikalere Mittel. Diese Funktion übernimmt bereitwillig der Faschismus, dessen Zweck als organisierte und gewalttätige Massenbewegung darin besteht, über die „einfache“ staatliche Repression hinaus die Organisationen und Bewegungen der Arbeiter_Innen und Unterdrückten zu zerschlagen. Schlagkräftig ist der Faschismus dabei, da er sich auf eine militante Bewegung stützt, welche in der Lage ist, jeglichen Widerstand mittels Straßenkrieg niederzuschlagen, während er vom bürgerlichen Staat gedeckt wird. Charakteristisch ist hierbei, dass sich diese Bewegung auf das Kleinbürger_Innentum stützt, welches in der Krise sowohl von der großkapitalistischen Konkurrenz als auch von der Arbeiter_Innenbewegung bedrängt wird. Einerseits vom Großkapital bedroht, andererseits vom eigenen Kapital lebend, werden die Kleinbürger_Innen durch den antiproletarischen Aufstand der Faschos angesprochen. Dieser Aufstand scheint zwar Symptome der Krise zu benennen, projiziert dies aber auch immer vom Kapitalismus als System weg. Hiervon ist der Antisemitismus der klarste Ausdruck. Damit ist der Faschismus also keine vage und schon gar keine moralische Kategorie, sondern muss anhand seiner Klassenbasis und in seiner historischen Funktion verstanden werden.

Und was ist mit der AfD?

Da wir nun grob geklärt haben, was den Faschismus ausmacht, können wir uns nun ansehen, inwieweit dieser Begriff auf die AfD zutrifft oder nicht.

Gegründet als rechtsliberale Anti-Euro-Partei wurde die AfD erst wirklich massenwirksam mit einer rassistischen Mobilisation gegen die Migrationspolitik der GroKo unter Merkel, bei der sich ein schon immer existierender rechtsextremer Kreis immer mehr in der Führung der Partei durchsetzen konnte. Dies geschah im Zuge eines globalen Rechtsrucks, der die unmittelbare Antwort von Rechts auf die Niederlagen linker Massenbewegung wie dem Arabischen Frühling oder der Antikrisenproteste in Griechenland war. So ist eine globale Antwort von Links auf die Finanzkrise 2007/2008 ausgeblieben und Rechte überall auf der Welt konnten krisengeschüttelte Kleinbürger_innen und von der Globalisierung bedrohte binnenmarktorientierte Kapitalfraktionen hinter der Illusion eines „Zurück zur guten alten Vergangenheit“ hinter sich vereinen. Innerhalb der AfD wurde dabei ein führendes Gesicht nach dem anderen verschlissen, das die politische Rechtsentwicklung der Partei nicht mittragen wollte. Innerhalb der Partei erstarkte der völkisch-nationalistische, formell aufgelöste „Flügel“ unter Björn Höcke zunehmend. Ohne Zweifel tummeln sich heute in diesem Teil der Partei viele Faschist_Innen und diesen kann man die Absicht unterstellen, die AfD zu einer faschistischen Frontorganisation umbauen zu wollen. Also einer Organisation, welche aus einem faschistischen Kern mit einem zumeist rechtspopulistischen Außenbild besteht, welches es ihm ermöglicht als mehr oder weniger „normale“ Partei im Parlamentarismus zu agieren. Wichtig ist dabei aber jedoch, dass diese Organisationen den Faschist_Innen den Raum und auch die Möglichkeit bieten, realistisch die Frontorganisation als Mittel für den langfristigen Aufbau ihres militanten Kampfes der Machtübernahme zu nutzen und sie auch klare direkte Verbindungen zu der außerparlamentarischen (militanten) Rechten hat. Dies ist bei der AfD bislang nur eingeschränkt der Fall. Zwar duldet sie faschistischen Einzelpersonen in ihren Reihen, um anschlussfähig für eine rechtsextreme Wähler_Innenbasis zu sein. Jedoch ist weiterhin der rechtspopulistisch-wirtschaftsliberale Flügel klar dominant innerhalb der AfD. Dementsprechend organisiert sie ihr Klientel als Wähler_Innen und richtet ihre gesamte Politik auf den parlamentarischen Erfolg aus anstatt wie eine faschistische Partei, ihre Basis als Straßenkämpfer_Innen zu organisieren, mit dem strategischen Ziel die organisierte Arbeiter_Innenbewegung zu zerschlagen. Die Straße ist für die AfD nicht das eigentliche Kampffeld, sondern Mittel zum Zweck. Die punktuellen Mobilisierungen und Einflussnahmen in rechte Bewegungen folgen dem Kalkül, in ihrem eigentlichen Kampffeld, dem Parlament, mehr Einfluss zu gewinnen.

Eine direkte Verbindung zu mehr oder weniger offen faschistischen außerparlamentarischen Organisationen wie den „Freien Sachsen“ besteht zwar, ist aber recht konfliktbehaftet. Offen faschistische Organisationen sehen in der AfD eher eine „verbürgerlichte Verräterin“.

Dass die rechtspopulistische Taktik dominiert, lässt sich aus der Lage im Klassenkampf schließen: Die AfD wäre in dieser Schwächephase der Arbeiter_Innenbewegung dazu im Stande, ihr politisches Programm innerhalb der bürgerlichen Demokratie umzusetzen und tut das auch schon, indem sie die anderen Parteien vor sich hertreibt. Das ist katastrophal für Linke, Unterdrückte und die gesamte Arbeiter_Innenklasse.

Wenn wir die Politik der AfD verstehen wollen, müssen wir diese also zuerst einmal als widersprüchliches Herumlavieren und schlechte Kompromisse zwischen ihren verschiedenen Flügeln verstehen, wovon der wirtschaftsliberale Flügel die Partei aktuell dominiert und ihr ein rechtspopulistisches und kein faschistisches Profil gibt. Weidel und Co. machen in ihren Reden klar, dass es ihr strategisches Ziel ist, sich als anerkannte bürgerliche Partei zu „normalisieren“ und sich langfristig als Vertreterin des radikalisierten Kleinbürger_innentums und binnenmarktorientierten Kapitals als regierungsfähige Partei zu etablieren. Das ähnelt der FPÖ in Österreich, welche, auch als sie an der Regierung war, keine faschistische Diktatur errichtet hat. Dass wir die AfD nicht als faschistische Partei charakterisieren, heißt aber nicht, dass wir sie damit verharmlosen. Eine AfD als etablierte bürgerliche Partei kann aktuell auch mitunter gefährlicher für uns sein, als eine radikalisierte faschistische Kleinstpartei am Rande der Gesellschaft. So konnte die AfD beispielsweise mit Blick auf die aktuelle Asylrechtsverschärfung durchsetzen, dass die Grünen an die Regierung die Abschaffung des individuellen Asylrechts unterschreiben, was sich in den 90er Jahren nur die härtesten Neonazis getraut haben zu fordern. Wir sagen auch nicht, dass es nicht möglich wäre, dass sich die AfD in einer sich zuspitzenden Krisensituation und einer internen Machtübernahme durch den faschistischen Flügel zu einer faschistischen Frontorganisation werden könnte. Aktuell dominiert jedoch der wirtschaftsliberale Flügel die Politik der Partei.

Warum ist das relevant?

Okay, jetzt haben wir erklärt, warum wir die AfD nicht als faschistisch einstufen würden, doch wofür ist das überhaupt wichtig? Wir hatten doch bereits gesagt, dass wir sie dennoch bekämpfen müssen? Ist das dann nicht einfach nur Wortklauberei?

Nein! Die genaue Analyse der AfD und die Klarheit, ob diese als faschistisch charakterisiert wird oder nicht, hat nämlich gravierende Unterschiede für die daraus resultierende Taktik gegen sie. Da Faschist_Innen ihre gesellschaftliche Macht im Kampf auf der Straße und in der massenhaften Terrorisierung ihrer Feind_Innen sehen, müsste unsere erste Aufgabe sein, antifaschistische Selbstverteidigungs- und Einheitsfrontstrukturen aufzubauen, wenn es eine offen faschistische Partei mit der Stärke der AfD in Deutschland gäbe. Diese Frage ist im Rechtsruck definitiv relevant, aber nicht unmittelbar wegen der AfD. Mit Selbstverteidigungsstrukturen kommen wir der AfD nicht bei. Ihre Macht liegt in den Parlamenten. Und ihre Relevanz bezieht sie aus der schweren gesellschaftlichen Krise und dem Fehlen einer linken Antwort auf diese.

Dementsprechend müssen wir in unseren Mobilisierungen gegen die AfD immer betonen, dass wir auch ein linkes Programm gegen die multiplen Krisen des Kapitalismus brauchen. Sei es nun die wirtschaftliche, die politische, die kriegerische, die gesundheitliche, die Bildungs- oder die Klimakrise: Wenn hier keine überzeugende, das heißt radikale Antworten von links kommen und diese von einer Bewegung getragen werden, haben die Rechtspopulist_Innen leichtes Spiel, den verständlichen Frust der Massen für sich zu nutzen! Neben unseren eigenen Mobilisierungen müssen wir als Revolutionär_Innen die führenden reformistischen Arbeiter_Innenparteien und die Gewerkschaften unter Druck setzen, mit ihrer bürgerlichen Krisenpolitik zu brechen und sich in den gemeinsamen Kampf im Rahmen einer Arbeiter_inneneinheitsfront gegen kapitalistische Angriffe und rechte Hetze einzureihen.




CDU auf dem Weg zum Rechtspopulismus?

Von Jona Everdeen, Juli 2023

Gerade erst erregte die CDU/CSU Aufsehen mit der Forderung, es müssten in Deutschland mehr Nationalflaggen gezeigt und häufiger die Nationalhymne gespielt werden. Ein Aufruf an die Bevölkerung, gerade die junge Generation, doch bitte etwas patriotischer zu sein. Was vielleicht erst einmal als altbackene Marotte abgetan werden könnte, ist in Wahrheit Teil eines Prozesses, der in den letzten Monaten massiv an Fahrt gewonnen hat: Dem Rechtsruck der Union, der auch für einen Anstieg populistischer Rhetorik sorgt.

Die Union in der geänderten Weltlage

In Klassenbegriffen steht sowohl die Politik von Rechtspopulist_Innen wie die AfD als auch die von „Demokrat_Innen“ wie CDU, FDP oder Grüne im Interesse der Bourgeoisie. Worin besteht also der Unterschied? Naja, selbst in einem einzigen Nationalstaat bildet das Kapital keinen homogenen Block. Neben einem gemeinsamen Grundinteresse daran, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Ausbeutung und Profit aufrechtzuerhalten, bestehen verschiedene Kapitalfraktionen mit punktuell auch widersprüchlichen Einzelinteressen. Ein vereinfachtes Beispiel dafür ist der Widerspruch zwischen dem globalisierten Großkapital mit über die gesamte Welt und insbesondere Europa verteilten Produktionsketten und Absatzmärkten auf der einen Seite und kleinem oder mittelständigem Kapital mit stärkerer Orientierung zum Binnenmarkt auf der anderen Seite. Typisch für den Rechtspopulismus ist dann die Bezugnahme auf das „deutsche Volk unten“ gegen „die Eliten da oben“. Auf politischer Ebene spiegelt sich dieser Widerspruch z. B. darin wider, dass die eine Fraktion auf eine gewisse Durchlässigkeit der Nationalgrenzen besteht, während die andere maximale nationale Abschottung fordert. Diese Voraussetzungen für die ursprüngliche Abgrenzung von Union und AfD ändern sich jedoch mit der Entwicklung der politischen Weltlage. Durch Krise, Krieg und Pandemie sind internationale Produktionsketten zusammengebrochen und es haben sich Tendenzen zur Deglobalisierung eingestellt. Gleichzeitig hat der Aufstieg Chinas die hegemoniale Stellung der USA in Frage gestellt, auch in diesem Spannungsfeld muss sich das deutsche Kapital aufs Neue verorten. Dabei haben in den letzten Jahren vor allem die Grünen sich zur Repräsentation der auf die USA ausgerichteten Teile entwickelt.

Die CDU nach Laschet

Nach ihrem Machtverlust mit dem Ende der Ära Merkel war die CDU zunächst sehr planlos.Mit der Ampel hatte sich eine Koalition gefunden, die die Interessen der bürgerlichen Klasse in der Krise besser umsetzen konnte als sie selber. Dazu kam, dass vor allem die Grünen im Zuge dieser Ampel und der jüngsten Verschärfung der Krise in Form von Krieg und Inflation massiv nach rechts rückten. Ansätze einer Politik der sozialen Gerechtigkeit wurden von Habeck endgültig über Bord geworfen und mit Hohn über die verschwenderischen Armen in der Energiekrise ersetzt. Waren die Grünen einstmals energische Gegner_Innen der NATO, wurden sie nun unter Baerbock die energischsten Verfechter_Innen des imperialistischen Militärbündnisses des Westens und machen sich stark für Aufrüstung. Dabei gelang es Baerbock gut den aggressiver werdenen deutschen Imperialismus propagandistisch mit „Kampf für Menschenrechte“ zu rechtfertigen. Selbst ihr einstiges Steckenpferd, den Klimaschutz, opferten die Grünen schulterzuckend den Kapitalinteressen.

Gleichzeitig gelang es auch der FDP sehr gut, sich als verlässliche Wahl für das auf Neoliberalismus setzende Großkapital zu verkaufen. So blockierte die FDP unter Lindner in der Koalition vehement alles, was irgendwie Vorteile für Arbeiter_Innen und Nachteile für das Kapital bedeutet hätte. In der Koalition bleibt die SPD weitgehend farblos und verwaltet den Kapitalismus mit.

Doch was sollte mit der CDU passieren? War sie überflüssig geworden? Würde sie das Feld frei machen Habeck und Lindner? Nein, sicher nicht: Unter Merz erkannte die Partei, dass die Zeit des merkelschen Konservativismus vorbei ist. In der sich immer stärker zuspitzenden Krise zieht die Verwaltungs-Logik von „es ist gut so wie es ist, bloß nichts überstürzen“ nicht mehr, denn in der zugespitzten Krisensituation benötigt die herrschende Klasse soziale Angriffe, um sich zu erhalten. Um nicht in der relativen Bedeutungslosigkeit zu versinken, sondern weiter die erste Wahl der Bourgeoisie als Regierungspartei zu bleiben und ihre Wähler_Innen-Basis zu erhalten, muss die Union ihr Auftreten verändern und programmatisch nach rechts rücken.

Wegner in Berlin

Nachdem die post-Merkel CDU nach der letzten Bundestagswahl in einer tiefen Krise steckte, katapultierte sie ein phänomenaler Wahlsieg ausgerechnet im „links-grünen Berlin“ endgültig aus der Misere. Nach 20 Jahren erreichte mit Kai Wegner zum ersten Mal wieder ein Unionspolitiker das Amt des Regierenden Bürgermeisters.

Den Wahlkampf, der ihm diesen Sieg bescherte und die CDU zur dominanten Partei in den bürgerlichen Randbezirken machte, setzte durchweg auf ein klares rechtskonservatives Programm flankiert durch teils rechtspopulistische Rhetorik.

So versprach Wegner ein „Bürgermeister der Autofahrer“ zu sein und diese vor weiteren „Angriffen“ zugunsten einer verkehrsberuhigten und fahrradfreundlichen Innenstadt zu „schützen“.

Auch hetzte Wegner massiv gegen Migrant_Innen, vor allem im Zuge der sogenannten Silvesternachtskrawalle, wo er in einer parlamentarischen Anfrage die Vornamen der Verdächtigen erfragte. Auch wenn das Resultat, die meisten Namen waren deutsch gelesene, seiner Logik widersprach, nutzte er weiterhin das Framing von den „kriminellen Ausländern“, gegen die er vorgehen wolle. In dieser Framing reiht sich auch nahtlos die Law and Order Logik von Wegners Wahlkampf ein. Er wolle dafür sorgen, dass in Berlin wieder „Sicherheit und Sauberkeit“ herrsche und dafür die Polizei massiv ausbauen.

Vor allem aufgrund der Unfähigkeit der linksliberal-reformistischen R2G Regierung, die wirklichen Probleme der Stadt, steigende Mieten und die allgemeinen Folgen der Krise zu lösen, zog Wegners Wahlkampf vor allem im Berliner Kleinbürgertum und der rückschrittlichen Arbeiter_Innenschaft gut. Wobei auch gesagt werden muss, dass er sein Amt in erster Linie der Rechtssozialdemokratin Giffey zu verdanken hat die, obgleich R2G mehr Stimmen als die GroKo hatte, lieber unter dem Rechten Wegner regieren wollte, als sozial- und umweltpolitische Zugeständnisse an Grüne und Linke machen zu müssen.

Einen Skandal stellte dann die Bürgermeisterwahl im Senat da, wo mindestens nicht auszuschließen ist, dass Wegner auch mit AfD-Stimmen ins Amt gewählt wurde, das spielte allerdings weder für ihn noch für Giffey eine Rolle.

Wird Bayern zum deutschen Florida?

Noch mehr als in Berlin zeigt sich in einem anderen Bundesland die Union immer rechtspopulistischer: In Bayern.

In Bayern herrscht schon lange mit dem tendenziell rechtesten Teil der Union, die CSU, eine Partei quasi alleine, wobei ihre sinkende Popularität sie erst jüngst dazu zwang, sich mit Aiwangers „Freien Wählern“ eine Partei mit ins Boot zu holen, die nochmal deutlich rechtspopulistischer auftritt. Entsprechend wenig verwunderlich ist es auch, dass hier der Rechtsruck die schärfsten Züge annimmt. So reiste eine Abordnung von CSU-Spitzenpolitiker_Innen kürzlich nach Florida, um dem dortigen erzreaktionären Republikaner Ron DeSantis einen Freundschaftsbesuch abzustatten und brachte sogleich dessen Politik mit nach Hause. So forderte wenige Tage nach dem Besuch die CSU in DeSantis-Manier ein Verbot von Dragshows und verbreiteten die republikanische Lüge, Dragqueens würden das Kindeswohl gefährden.

Auch trat Markus Söder prominent auf einer rechtspopulistischen Demo gegen die Heizungspläne der Ampelregierung auf, wo sein Schulterschluss mit rechten und verschwörungsideologischen Kräften daran scheiterte, dass er sich zwar als Teil des rechten Sammelsuriums sah, dieses ihn aber nicht als Teil von ihrer „Volksbewegung“.

Ist die CDU jetzt eine zweite rechtspopulistische Partei?

Es ist zwar zu sehen, ob in Bayern, Berlin oder bundesweit, dass sich die Unionsparteien immer mehr populistischer Rhetoriken bedienen, vor allem um gegen die Politik der Ampelregierung, die Klimabewegung oder Migrant_Innen zu schießen. Zudem rückt die Union generell in ihrer Politik stärker nach rechts und nähert sich der AfD an. Dennoch kann noch nicht davon geredet werden, dass es sich bei der Union bereits um eine rechtspopulistische Partei handelt, wie es die AfD ist.

Vielmehr ist sie eine zunehmend rechtere konservative Partei, die sich in der Krise gezwungen sieht, vermehrt auf rechtspopulistische Rhetoriken zurückzugreifen, um ihre Wähler_Innen-Basis nicht an die AfD zu verlieren und ihr Programm für soziale Angriffe im Interesse der Großbourgeoisie zu vertuschen. Die Union stützt sich nicht auf Protestbewegungen und ist programmatisch weiterhin auf das dominante, globalorientierte Großkapital ausgerichtet. Es ist zwar möglich, dass CDU/CSU langfristig auf eine rechtspopulistische Taktik umschwenken, wie es bei PiS, Fidesz und Teilen der Republikaner bereits passiert ist, sicher ist diese Entwicklung aber nicht. Viel eher hängt sie von der weiteren Entwicklung der Krise ab und davon, ob sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der Fraktionen der herrschenden Klasse verschieben. Fakt ist aber sicherlich, je mehr bürgerliche Parteien „gezwungen“ sein werden, Kapitalinteressen mit massiven Angriffen auf Arbeiter_Innen, Migrant_Innen und sozialen Bewegungen durchzusetzen, desto nötiger werden sie es auch haben, diese Angriffe sowie dafür benötigten autoritäreren Regierungsformen mit populistischen und nationalistischen Parolen zu legitimieren und damit Verwirrung über die Klassenverhältnisse zu erzeugen. 

Schwarz-blau, eine berechtigte Angst?

Dass rechtspopulistische Parteien häufig auch über Unterschiede hinweg zueinander finden, sieht man in Italien gut, wo gleich drei solcher Kräfte eine Regierungskoalition bilden. Doch auch traditionell rechtskonservative Parteien, die verstärkt auf rechtspopulistische Rhetoriken setzen, öffnen sich häufig für solche Bündnisse, so die „Volkspartei“ in Spanien, die sich mit der ultra-rechten VOX zusammengetan hat, um gemeinsam eine rechtspopulistische Front gegen die kriselnde sozialdemokratische Regierung zu bilden.

Doch wie sieht es in Deutschland aus? Mit der AfD gibt es hier ja eine rechtspopulistische Partei, der sich die Union zwar gerade politisch und vor allem rhetorisch immer mehr annähert, aber dennoch an der von CDU-Vorsitzenden Merz verkündete „Brandmauer“ hängen bleibt. Ist diese aber noch lange zu halten?

Tatsächlich sorgte erst gerade ein thüringischer Bürgermeister aus der CDU für Aufsehen, als er offen eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Rechtsparteien forderte und sich damit offen gegen die „Brandmauer“ auflehnt.

Eine Koalition des rechten Unionsflügels um Kretschmer, Kuban und die CSU mit der AfD oder zumindest eine Koalition auf Landesebene zum Beispiel in Thüringen sind zu einer realistischen Möglichkeit geworden. Die Ampelregierung hat es schließlich nicht geschafft, die Krise irgendwie adäquat zu lösen und die vorherige GroKo hat sich auch diskreditiert. Jedoch ist es auch fraglich, ob tatsächlich die Mehrheit der großbürgerlichen Klasse, die von der Union-Politik abgebildet wird, bereit ist, die mit so einer Rechtsregierung verbundenen Risiken in Kauf zu nehmen. Auch ist erst einmal nicht davon auszugehen, dass eine solche Regierung, innerhalb kürzester Zeit den bürgerlichen Parlamentarismus außer Kraft setzen würde. Viel eher wäre eine Politik wie die unter ÖVP-FPÖ in Österreich oder der Meloni-Regierung in Italien zu erwarten. Allerdings nur ein schwacher Trost, ist wenn man deren massive Angriffe auf Arbeiter_Innen und ihre gesellschaftspolitische Rückschrittlichkeit betrachtet.

Doch jetzt kommen wir zu der entscheidenden Frage: Was tun, wenn tatsächlich schwarz-blau siegt?

Wie kann der Rechtsruck geschlagen werden?

Zunächst einmal nicht dadurch, seine Narrative zu übernehmen und zu versuchen, irgendwie „links“ umzudeuten. Sahra Wagenknechts gescheiterter Linkspopulismus und auch Bewegungen wie Podemos in Spanien zeigen das deutlich!

Was es stattdessen braucht, ist eine starke Linke, im besten Falle in Form einer Einheitsfront gegen den Rechtsruck! Nur mittels einer Politik, die praktisch die Klassenfrage, und zwar die politische wie die ökonomische, in den Mittelpunkt stellt, kann der Rechtsruck zurückgeschlagen werden und CDU, Freien Wählern oder AfD den Wind aus den Segeln genommen werden! Revolutionär_Innen müssen innerhalb diese Einheitsfront aktiv auf die Widersprüche des Kapitalismus aufmerksam machen und für notwendig-radikale Forderungen kämpfen.

Auch sollte klar sein, dass wir eine Rechtsregierung nicht widerstandslos hinnehmen dürfen! Die Antwort auf eine schwarz-blaue Regierung muss der Generalstreik sein! Hierfür müssen wir heute schon Druck auf Linkspartei, SPD und Gewerkschaften ausüben, offene Mobilisierungen und Widerstand gegen den Rechtsruck zu organisieren.




Neues Abtreibungsrecht in Polen – dunkle Zukunft für Frauen

Arya Wilde, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9

Der 27. Januar 2021 erwies sich als ein dunkler Tag in der
polnischen Geschichte. Ein fast vollständiges Abtreibungsverbot trat
in Kraft, das Frauen die Rechte über ihren Körper verweigert und
dies mit dem Begriff „Pro Life“ verherrlicht. Kämpferische
Proteste, die im ganzen Land nach der Entscheidung des
Verfassungsgerichtshofs ((Trybunał Konstytucyjny;
Verfassungstribunal) vom 22. Oktober stattfanden, hatten dessen
Inkrafttreten über Monate verzögert. Ende Januar veröffentlichte
Staatspräsident Andrzej Duda jedoch den Gerichtsbeschluss, der somit
in Kraft tritt.

Bedeutung des Gesetzes

Mit der neuen Entscheidung wurde eines der restriktivsten
Abtreibungsgesetze Europas weiter verschärft. Schon seit Jahrzehnten
werden bei einer Bevölkerung von 38 Millionen höchstens 2.000
Schwangerschaftsabbrüche legal durchgeführt, im Jahr 2019 1.100. 97
% fanden aufgrund Missbildung des Fötus statt, was nun verboten ist.
Die geschätzte Gesamtzahl von Abtreibungen liegt
Frauenrechtler_Innen zufolge bei mindestens 150.000/Jahr. Konkret
müssen also zehntausende Polinnen im Untergrund oder mit
Abtreibungspillen zu Hause abtreiben bzw. nach Deutschland oder
Tschechien fahren. Nun dürfen nur noch Frauen, deren Gesundheit oder
Leben gefährdet ist oder die infolge einer kriminellen Handlung
schwanger wurden, legal Abtreibungen vornehmen lassen. Alle anderen,
Frauen mit finanziellen, sozialen Hindernissen oder jene, die einfach
kein Kind wollen, haben nicht das Recht, sich zu weigern, eines auf
die Welt zu bringen.

Situation in Polen

In Polen ist seit 2015 die rechtskonservative Prawo i
Sprawiedliwość (kurz: PiS: dt.: Recht und Gerechtigkeit) an der
Regierung und wurde damals von 37,6 % gewählt. Aufgrund des
undemokratischen Wahlrechts reichte dies zur absoluten Mehrheit im
Parlament. Der Erfolg der PiS ist auch Ausdruck des internationalen
Rechtsrucks. Die seitdem verabschiedeten reaktionären Gesetze und
unternehmensfreundliche Politik sorgten aber nicht für einen
Umschwung, nicht zuletzt dank einiger Zugeständnisse auch an ärmere
konservative Wähler_Innenschichten (Familienunterstützung).
Vielmehr vollzog sich der Rechtsruck weiter und bei der Wahl 2019
gewann die PiS nochmals 6 % der Stimmen hinzu. Zum Vergleich:
Lewica, das linke Wahlbündnis aus SLD, Wiosna, Razem, Polska Partia
Socjalistyczna (PPS) u. a., erhielt insgesamt 12,6 %.

Im Rahmen der PiS-Legislatur wurden sehr viele Gesetze erlassen,
die das öffentliche Leben sowie die Institutionen verändern. Eine
der ersten Institutionen, die fundamentalen Veränderungen ausgesetzt
war, war das Verfassungsgericht. Zwischen Oktober 2015 und Dezember
2016 brachte die PiS sechs Gesetze durch, die diesen Gerichtshof
betrafen. Ebenso wurde in den letzten fünf Jahren seine
Zusammensetzung maßgeblich verändert. Von 15 Richter_Innen wurden
14 durch die aktuelle Regierungsmehrheit ernannt.

Warum werden Abtreibungen verboten?

Seit 2016 hat die PiS immer wieder Versuche unternommen, das
Abtreibungsgesetz zu verschärfen. Dieses wurde aber aufgrund der
massiven Gegenbewegung und Frauenstreiks nicht umgesetzt. 2019 wurde
dann der Antrag eingereicht, dass das kontrollierte
Verfassungsgericht die Frage der Abtreibung ein für alle Mal klären
sollte. Fast ein Jahr nach Einreichung des Antrags traf der
Verfassungsgerichtshof seine Entscheidung – inmitten der
Corona-Pandemie. Diese aggressive reaktionäre Politik entspricht dem
rechtspopulistischen Charakter der gegenwärtigen Regierung.

Mit dem faktischen Totalverbot von Abtreibungen geht es auch
darum, eine reaktionäre, kleinbürgerliche Massenbasis bei der
Stange zu halten und gegen eine angebliche Bedrohung von außen zu
mobilisieren. Nationalismus und vor allem der Katholizismus bilden
hierfür die ideologischen Anknüpfungspunkte, um eine klassenmäßig
heterogene Anhänger_Innenschaft – von der eigentlichen Elite und
Staatsführung bis zu kleinbürgerlichen Schichten und rückständigen
Arbeiter_Innen in Stadt und Land – zu sammeln. Daher finden sich im
Schlepptau von Kirche und PiS auch die extrem nationalistischen und
faschistischen Kräfte unter den Abtreibungsgegner_Innen, die seit
Jahren sexuell Unterdrückte und deren Aktionen angreifen –
geduldet oder gar ermutigt von Polizei und Kirche.

Dem Volksglauben nach ist der Grund für das Abtreibungsgesetz
rein religiöser Natur. Es ist aber offensichtlich, dass es beim
Antiabtreibungsmythos nicht um das Wohl ungeborener Kinder geht.
Vielmehr geht es um den Erhalt einer patriarchalen Ordnung. Die
bürgerliche Familie muss um jeden Preis gestärkt werden. Das
passiert nicht aus Liebe oder „christlichen Werten“. Das
Abtreibungsverbot fesselt Frauen länger an den Herd und raubt ihnen
die Entscheidung, wie sie ihr Leben gestalten wollen. Davon
profitiert die herrschende Klasse, dass durch die Stärkung der
Familie Reproduktionskosten auf die Arbeiter_Innenklasse abgewälzt
werden können. Ebenso ist sie eine Garantin dafür, im nationalen
Rahmen billige Arbeitskräfte für die Zukunft zu schaffen und in ihr
Gehorsam und Unterordnung zu verinnerlichen.

Gleichzeitig trifft das Verbot nicht alle Frauen gleich. Für die
Mehrheit der Arbeiterinnen werden Abtreibungen unter extrem
unsicheren Bedingungen durchgeführt, da sie es sich oftmals nicht
leisten können, medizinische Versorgung in einem anderen Land
wahrzunehmen. Ebenso ist der Zugang zu Verhütungsmitteln
eingeschränkter aufgrund der Kosten. Für Bourgeoisie und
Kleinbürger_Innen gilt das Verbot auch, sie verfügen jedoch eher
über die nötigen Verbindungen und Mittel, um eine Wahl zu treffen.

Gegenproteste

Wie bereits geschrieben, konnten die vorherigen Angriffe auf das
Abtreibungsrecht abgewehrt werden. 2016 wurde vom Ogólnopolski
Strajk Kobiet (Allpolnischer Frauenstreik) und anderen Gruppen der
„Schwarze Protest“ organisiert. Als das Gesetz zum verschärften
Abtreibungsverbot debattiert wurde, mobilisierte dieser wochenlang
100.000 Demonstrant_Innen, nicht nur Frauen, sondern auch
unterstützende Männer und die LGBT-Gemeinschaft. Die Proteste
hatten teilweise Erfolg, insofern sie eine Verzögerung der Umsetzung
bewirkten.

Als im Oktober 2020 das Urteil dann erklärt wurde, löste dies
erneut landesweite Proteste aus – es waren die größten seit
Solidarnośćs-Streiks und Betriebsbesetzungen in den frühen 1980er
Jahren. Nicht nur in Warschau, sondern in rund 150 Städten wurden
Proteste organisiert. So fanden Straßenblockaden statt und am 28.
Oktober gipfelten die Aktion in einem gesamtpolnischen Frauenstreik
unter dem Motto: „Nie idę do roboty“ („Ich werde nicht
arbeiten gehen!“). Die Proteste wurden mit schwerer
Polizeibrutalität beantwortet, die im Laufe der Zeit zunahm.
Demonstrantinnen wurden in Gewahrsam genommen und von konservativen
Parteichef_Innen als „Usurpatorinnen“ bezeichnet, da dies ein
direkter Angriff auf Polen und die Kirche sei. Bis in den Dezember
hinein kam es immer wieder zu größeren Demos, spontanen Blockaden
und Auseinandersetzungen. Durch Polizeirepression und Maßnahmen
unter dem Deckmantel des „Infektionsschutzes“ vor Covid-19 wurde
versucht, den Protest zu ersticken. Am Mittwoch, dem 27. Januar, als
das Urteil des Verfassungsgerichts im Gesetzblatt veröffentlicht
wurde, brach er auf ein Neues aus.

Wie geht es weiter?

Zwar mag die Pandemie die Mobilisierung in gewisser Form
schwächen. Doch laut Umfragen lehnen fast 70 % der polnischen
Bevölkerung nicht nur die Gesetzesverschärfungen ab, sondern
stimmen auch der Aussage zu, dass Frauen selbst das Recht haben
sollten zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft abbrechen. Es
wurden Online-Plattformen geschaffen, die nicht nur auf das
Abtreibungsverbot aufmerksam machen, sondern auch den Einfluss der
Kirche auf die Regierung, Rechte für Menschen mit Behinderungen und
den Kampf gegen Homophobie thematisieren. Ebenso hat das Bündnis des
Allpolnischen Frauenstreiks am 1. November einen Konsultativrat (Rada
Konsultacyjna) gebildet. Vorbild dafür ist der auf Vorschlag von
Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja ausgerufene
Koordinierungsrat (Kaardynacyjnaja Rada), der 2020 in Belarus nach
der Präsidentschaftswahl während der Proteste gegründet worden
ist. Das Ziel: unabhängig von Parteien als Mittler zwischen
Regierung und Protestierenden eine Einigung zu finden.

Seine Forderungen:

(1) die Situation des Verfassungsgerichts, des Obersten
Gerichtshofs und der Ombudsperson zu regeln.

(2) Mehr Mittel für den Gesundheitsschutz und die Unterstützung
von Unternehmer_Innen.

(3) Volle Frauenrechte – legale Abtreibung, Sexualerziehung,
Empfängnisverhütung.

(4) Stopp der Finanzierung der katholischen Kirche aus dem
Staatshaushalt.

(5) Ende des Religionsunterrichts an Schulen.

(6) Rücktritt der Regierung.

Welche Strategie bringen Gesetz und Regierung zu
Fall?

Auch wenn der Koordinierungsrat für eine Vermittlungslösung mit
der Regierung offen ist, so ist der Spielraum für einen Kompromiss
mit der Regierung bei den sechs Forderungen gering. Es besteht aber
die Gefahr, dass die Aktivist_Innen auf wahrscheinlich fruchtlose
Verhandlungen vertröstet werden.

Damit der Protest nicht versandet, sondern weitergeführt wird,
muss er vielmehr ausgeweitet werden. Der Frauenstreik vom 28. Oktober
stellt einen wichtigen Ansatz dar. Doch er darf kein einmaliges
Ereignis bleiben, sondern es muss Ziel sein, die Protestbewegung in
den Betrieben und Büros zu verankern. Dort sollten Versammlungen
einberufen werden, um die Arbeitsniederlegung zu organisieren und
Streikkomitees zu wählen. Die Frage des Eintretens für die Rechte
der Frauen und vor allem der Arbeiterinnen bedeutet in den Betrieben
und in der Arbeiter_Innenklasse zugleich auch einen Kampf,
Lohnabhängige von den Gewerkschaften wegzubrechen, die die PiS
unterstützen, und für eine einheitliche Gewerkschaftsbewegung
unabhängig von allen bürgerlichen Parteien einzutreten.

Der Allpolnische Frauenstreik muss Druck auf alle
regierungskritischen Gewerkschaften, insbesondere auch die OPZZ,
ausüben. Ziel ist es, sie dazu zu bringen, sich nicht nur mit der
Bewegung zu solidarisieren, sondern offen für den Kampf einzutreten
und ihre Mitglieder zu mobilisieren. Die Waffe des Streiks, also das
Stocken der Profitproduktion, ist das effektivste Druckmittel gegen
die PiS. Durch die Einberufung von Vollversammlungen an Unis, Schulen
und in Betrieben (die auch online durchgeführt werden können), wird
zusätzlich erreicht, dass mehr Menschen in ihrem direkten Alltag mit
den Inhalten des Protestes konfrontiert und diese alltäglichen Orte
politisiert werden. Gegen die Repressionen seitens des polnischen
Staates sowie zur Abwehr drohender rechter Angriffe müssen
demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees aufgestellt
werden, die die Mobilisierungen schützen.

Gleichzeitig bedarf es innerhalb der Bewegung einer Debatte über
die Strategie, mit welcher man die oben genannten Forderungen
umsetzt. Als Revolutionär_Innen unterstützen wir einige der
Forderungen wie das Recht auf Abtreibung, das Ende der Finanzierung
der Kirche aus dem Staatshaushalt oder des Religionsunterrichts an
Schulen ohne Wenn und Aber. Jedoch hegen wir keine Illusionen darin,
dass sich durch den Rücktritt einzelner Minister_Innen etwas ändert.
Die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung wirft aber ebenso die
Frage auf, was danach kommen soll. Würde die PiS-Regierung bei
etwaigen Neuwahlen bloß durch die neoliberale Bürgerkoalition
ersetzt, so würde sich für die Masse der Arbeiter_Innenklasse wenig
ändern.

Wenn der Protest erfolgreich ausgeweitet werden soll, muss nicht
nur in Betrieben mobilisiert, es müssen ebenso klare Forderungen im
Interesse der Lohnabhängigen aufgeworfen werden. Statt Unterstützung
für Unternehmer_Innen in der aktuellen Corona-Krise braucht es einen
Kampf gegen Lohnkürzungen und Entlassungen. Neben ihrer
Legalisierung sollte die Finanzierung von Abtreibung oder
Verhütungsmitteln nicht auf die Arbeiter_Innenklasse abgewälzt
werden, dadurch dass diese sie selber zahlen oder ihre Kosten durch
Steuern aufgebracht werden. Vielmehr müssen sie von jenen finanziert
werden, die von der aktuellen Krise profitieren. Statt also insgesamt
ein Bündnis mit liberalen Teilen der Bourgeoisie zu suchen, müssen
die Forderungen klar aufzeigen, dass die herrschende Klasse die
Kosten tragen soll.

Die Gründung des Rada Konsultacyjna zur Koordinierung der
Proteste ist sinnvoll. Allerdings bedarf es einer stetigen Wähl- und
Abwählbarkeit seiner Delegierten sowie ihrer vollständigen
Rechenschaftspflicht. Wichtig ist ebenso, dass dieser Rat mit
Aktions- und Betriebskomitees verbunden wird und sich aus deren
Aktivist_Innen zusammensetzt, also sich zum Arbeiter_Innenrat mit
eigenen Machtbefugnissen entwickelt, weg von einer Lobby, die nur
Druck auf Parlament, Regierung und Gerichte ausüben will. Ebenso
klar muss sein, dass er keine „Vermittlerrolle“ zwischen
Regierung und Protestierenden einnehmen darf. Er muss Ausdruck der
Protestierenden sein mit dem Ziel, die sich selbst gegebenen
Forderungen durchzusetzen mithilfe der Arbeiter_Innenklasse, und
etwaige Verhandlungen öffentlich führen. Es ist die Aufgabe von
Revolutionär_Innen im Rahmen des Protestes für den Aufbau einer
proletarischen Frauenbewegung und einer neuen revolutionären
Arbeiter_Innenpartei einzutrete




Das Corona-Virus und die Gesundheitskrise in den USA

Rebecca Anderson. Red Flag, Großbritannien, Fight!
Revolutionäre Frauenzeitung, März 2021

Das Corona-Virus hat sich unkontrolliert in allen fünfzig
Bundesstaaten ausgebreitet und Millionen von Infektionen und
Hunderttausende vermeidbarer Todesfälle verursacht. Von der
Untergrabung der öffentlichen Gesundheitsberatung über die
Verzögerung von Konjunkturpaketen bei gleichzeitiger Rettung des
Großkapitals bis hin zu verspäteten Lockdowns – die politische
Reaktion auf das Virus war katastrophal. Sogar die Einführung des
Impfstoffs in dem Land, das einen der wichtigsten herstellt, ist
schmerzlich langsam verlaufen. Die letzte Bastion gegen die Pandemie
– das Gesundheitssystem, das sich um die schlimmsten Fälle
kümmert, wo das Krankenhauspersonal unermüdlich daran arbeitet,
schwerkranke Patienten zu retten – hat ebenfalls den Test der
Pandemie nicht bestanden. Covid-19 hat die strukturelle Krise eines
lückenhaften Gesundheitssystems offengelegt, das eher auf Profit als
auf menschliche Bedürfnisse ausgerichtet ist.

Die Partei Democratic Socialists of America (Demokratische
Sozialist_Innen Amerikas; DSA) führt seit 2016 eine Kampagne namens
„Medicare for All“, ein Vorschlag, der von den Gewerkschaften
nicht aufgegriffen wurde. Dies liegt zum einen daran, dass ihre
bürokratischen Führungen kein Interesse an einer solchen Kampagne
haben. Zum anderen bietet Medicare vielen Arbeiter_Innen weniger
Gesundheitsschutz als ihre bestehende Versicherung. Als
Revolutionär_Innen in der DSA glauben wir, dass die DSA stattdessen
die Forderung nach einer universellen Gesundheitsversorgung für alle
aufstellen und die Gewerkschaftsbasis mobilisieren sollte, um
innerhalb der Gewerkschaften für diese Politik zu kämpfen.

Das Gesundheitssystem im reichsten Land der Welt

Das US-Gesundheitssystem ist versicherungsbasiert und selbst dort,
wo der Staat über Programme wie Medicare oder Medicaid die
Gesundheitsversorgung finanziert, wird der eigentliche Anbieter
(z. B. ein Krankenhaus) in der Regel von einem privaten
Unternehmen betrieben. Die Kosten für den Verzicht auf ein
geplantes, flächendeckendes System von Krankenhäusern und
Arztpraxen zugunsten der Finanzierung der Gewinne privater Anbieter
lassen sich beziffern: Pro Person kostet die medizinische Versorgung
in den USA 11.000 US-Dollar, mehr als doppelt so viel wie in anderen
Industrieländern.

Von diesen durchschnittlichen Ausgaben sind 4.993 US-Dollar
öffentliche Gelder. Das ist höher als in Frankreich (4.111
US-Dollar), aber niedriger als in Deutschland (5.056 US-Dollar). Das
Vereinigte Königreich, wo die Gesundheitsversorgung im
Behandlungsfall kostenlos ist, gibt pro Kopf 3.107 US-Dollar aus. In
den USA bedeuten die überdurchschnittlich hohen Ausgaben für die
Gesundheitsversorgung jedoch nicht eine bessere, sondern lediglich
eine teurere Versorgung. Einige Krankenhäuser und Kliniken sind
staatlich, aber die meisten befinden sich in privater Hand. Die
meiste Zeit werden die Ausgaben für die Gesundheit der Bürger_Innen
an private Unternehmen gezahlt.

Die staatlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen in den USA
decken den medizinischen Bedarf der meisten Menschen nicht ab,
weshalb private Krankenversicherungen einen riesigen Wirtschaftszweig
ausmachen. Eine solche private Krankenversicherung kostet
durchschnittlich 4.092 US-Dollar pro Person und Jahr. Für einige
Arbeit„nehmer“_Innen wird diese von den Arbeit„geber“_Innen
bezahlt – im Wesentlichen ein Abzug vom Lohn –, andere müssen
sie entweder selbst bezahlen oder darauf verzichten.

Selbst mit einer Krankenversicherung ist die Gesundheitsversorgung
bei weitem nicht kostenlos. Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen
bedeuten, dass diejenigen mit einer Versicherung es sich immer noch
zweimal überlegen müssen, ob sie eine/n Ärztin/Arzt aufsuchen.
Viele Menschen mit geringem Einkommen sind unterversichert, was
bedeutet, dass ihre Versicherung keine angemessene
Gesundheitsversorgung abdeckt.

Versicherungen schützen außerdem nicht vor den Kosten von
chronischen Langzeiterkrankungen. Die Prämien steigen oder
Versicherungen lassen teure, also kranke, Versicherungsnehmer_Innen
fallen. Eine Studie aus dem Jahr 2009 ergab, dass Schulden für
medizinische Kosten zu 46 Prozent aller Privatinsolvenzen beitragen.

Das U.S. Census Bureau (Volkszählungsbehörde) berichtete 2017,
dass fast neun Prozent der Amerikaner_Innen keine Versicherung haben.
Diese Zahl war in den Vorjahren höher, aber mit der Einführung des
„Affordable Care Act“ (ACA) 2010 begann die Zahl der
Unversicherten ab 2014 zu sinken. Diese 28 Millionen Menschen ohne
Krankenversicherung zahlen entweder aus eigener Tasche für die
Behandlung (die durchschnittlichen jährlichen Kosten pro Person
liegen bei 1.122 US-Dollar) oder müssen warten, bis ihre Notlage so
dramatisch ist, damit sie Zugang zu kostenloser Gesundheitsversorgung
von geringer Qualität erhalten. Das Fehlen einer Krankenversicherung
verursacht etwa 60.000 vermeidbare Todesfälle pro Jahr.

ACA, allgemein bekannt als „Obamacare“, sorgte im Wesentlichen
für eine gewisse Regulierung des Krankenversicherungsmarktes, indem
es Versicherungsgesellschaften zwang, Menschen mit Vorerkrankungen
aufzunehmen und grundlegende medizinische Bedürfnisse abzudecken. Es
halbierte die Zahl der nicht versicherten Menschen und verlangsamte
die steigenden Kosten der Gesundheitsversorgung. Trotz des enormen
politischen Widerstands gegen den ACA wurde jedoch nur an den Rändern
eines kaputten Systems herumgebastelt und viele Amerikaner_Innen sind
immer noch unterversichert, gar nicht versichert oder haben Schulden
wegen medizinischer Behandlungen.

Joe Biden plant, weiter zu basteln und 25 Millionen unversicherte
Amerikaner_Innen zu versichern, allerdings nicht die 6,5 Millionen
undokumentierten Migrant_Innen, die sich im Land aufhalten. Er würde
4 Millionen in Armut lebende Menschen, deren Bundesstaaten sich
geweigert haben, ihnen Medicaid anzubieten, automatisch anmelden. Für
andere würden mehr Versicherungsoptionen zur Verfügung gestellt
werden über das marktwirtschaftlich ausgerichtete Obamacare. Bidens
Pläne greifen jedoch nicht in die von den Unternehmer_Innen
gestellte Versicherung ein, so dass die 150 Millionen Menschen, die
ihre Versicherung darüber erhalten, nicht von der neuen Regelung
profitieren würden.

In Amerika sind die Preise für Arzneimittel eine weitere große
Belastung, da sie weit höher sind als in anderen Industrieländern.
Ein 10-ml-Fläschchen Insulin kostet in den USA 450 US-Dollar im
Vergleich zu nur 21 US-Dollar jenseits der Grenze in Kanada. Im Jahr
2015 riskierten fast 5 Millionen Amerikaner_Innen eine Strafanzeige,
um verschreibungspflichtige Medikamente aus anderen Ländern zu
kaufen.

Die Corona-Krise

Das Corona-Virus hat die US-Regierung gezwungen, direkt mit den
großen Pharmakonzernen zu verhandeln, um genügend Impfstoffe zu
einem ausreichend niedrigen Preis zu erhalten und damit ein
landesweites Impfprogramm zu starten. Der Impfstoff selbst ist
kostenlos, allerdings dürfen die Anbieter_Innen weiterhin Gebühren
für die Verabreichung erheben.

Bei dem Impfprogramm geht es um Prävention, um die
Wiedereröffnung von Schulen und die Rettung der Wirtschaft. Die
Regierung hat ein offensichtliches Interesse daran, die Impfung von
über 300 Millionen Menschen zu zentralisieren und sozialisieren.

In ähnlicher Weise hat das Corona-Virus die Regierung gezwungen,
einzugreifen und die Schulden der Krankenhauspatient_Innen zu
begrenzen und die Infizierten zu ermutigen, sich behandeln zu lassen,
anstatt das Risiko der Verbreitung des Virus einzugehen, indem sie
sich selbst zu Hause behandeln. Ende Januar befanden sich über
120.000 Corona-Virus-Patient_Innen in US-Krankenhäusern und die
durchschnittlichen Kosten für ihre Behandlung betrugen 30.000
US-Dollar bzw. 62.000 US-Dollar für Personen über sechzig Jahre.
Als das Ausmaß der Pandemie deutlich wurde, wurde eine Reihe von
Hilfspaketen auf Bundesebene verabschiedet, die die Kosten für die
Behandlung weitgehend abdeckten. Das Gesundheitssystem ist jedoch
immer noch ein Marktplatz und einige Krankenhäuser und andere
Gesundheitsdienstleister haben sich entschieden, nicht an den
Hilfsprogrammen teilzunehmen. Einige Patient_Innen fanden sich immer
noch mit hohen Rechnungen konfrontiert.

Mehr als 25 Millionen Fälle wurden registriert und die Zahl der
Todesfälle hat die 400.000-Marke überschritten, wobei kaum Zweifel
daran bestehen, dass mindestens eine halbe Million Amerikaner_Innen
an dieser Pandemie sterben werden. Es wird auch geschätzt, dass eine
von fünf Personen, die sich mit dem Virus infizieren, später an
„Long Covid“ leiden wird, einer chronischen Krankheit mit
unterschiedlichen Symptomen und Schweregraden. Viele, die an dieser
Krankheit leiden, können auf Grund der ständigen Müdigkeit nicht
mehr arbeiten. Einige haben bleibende Schäden an Herz, Lunge oder
Gehirn davongetragen. Die Frage, wer die Kosten für die fortlaufende
Behandlung von Patient_Innen mit „Long Covid“ übernimmt, ist
besorgniserregend für die Millionen von Amerikaner_Innen, die durch
die Krankheit ihren Arbeitsplatz und damit jede Versicherung
verlieren könnten.

Das Corona-Virus hat das Versagen des US-Gesundheitssystems
entlarvt. Die Anarchie des Marktes war nicht in der Lage, mit den
Herausforderungen der Pandemie fertigzuwerden, so dass sogar die
marktwirtschaftliche, für einen schlanken Staat stehende
republikanische Partei gezwungen war, einzugreifen und die
Verantwortung für das Impfprogramm zu übernehmen sowie Bundeshilfe
für die Krankenhauspatient_Innen bereitzustellen.

Die von Biden vorgeschlagene Erweiterung des ACA oder auch
Sanders‘ „Medicare for all“ gehen nicht weit genug. Das Geld,
das in den USA bereits für die Gesundheitsversorgung ausgegeben
wird, würde ausreichen, um einen nationalen Gesundheitsdienst zu
schaffen, der für alle, auch für Migrant_Innen ohne Papiere,
kostenlos ist. Im Gegensatz zum bestehenden Versicherungssystem
könnte die universelle Gesundheitsversorgung durch die Besteuerung
der Milliardär_Innen und Multimillionär_Innen finanziert werden,
die von der Pandemie profitiert haben.

Doch zwischen den Amerikaner_Innen und einer kostenlosen,
qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung stehen mächtige
Gesundheitsanbieter_Innen, die den Markt unter sich aufgeteilt haben
und sowohl bei den staatlichen als auch bei den privaten
Gesundheitsprogrammen einen massiven Gewinn abschöpfen. Auch die
Pharmaindustrie hat sich daran gewöhnt, den Gesundheitsmarkt in den
USA auszunutzen und weitaus mehr für ihre Produkte zu verlangen.

Der Kampf um kostenlose Gesundheitsversorgung

Die DSA setzt sich seit 2016 für „Medicare for All“ ein,
d. h. für ein Gesundheitssystem mit einer einzigen Kasse, in
das alle US-Bürger_Innen automatisch aufgenommen würden. Dies wäre
zwar ein großer Fortschritt für den Zugang zur
Gesundheitsversorgung und deren Kosten in den USA, würde aber die
Gesundheitsversorgung und das Eigentum an Arzneimitteln immer noch in
privaten Händen belassen. Es fehlt auch die Unterstützung durch die
Gewerkschaften, da viele von den Gewerkschaften ausgehandelte
unternehmensfinanzierte Versicherungen besser als „Medicare“
sind, wenn auch natürlich teurer. Die DSA muss über „Medicare for
All“ hinausgehen und ein System der universellen
Gesundheitsversorgung vorschlagen. Die Unterstützung der
Gewerkschaften kann gewonnen werden, indem zunächst die einfachen
Gewerkschaftsmitglieder davon überzeugt werden, die diese Argumente
in die Gewerkschaftsbewegung tragen können.

Während die Demokrat_Innen unter dem Druck ihrer Basis begrenzte
Reformen wie das ACA verabschiedet haben, haben sie bewiesen, dass
sie nicht gewillt sind, die Gesundheitsversorgung den privaten Händen
zu entreißen. Die Republikaner_Innen haben sich vehement gegen eine
Regulierung und Einmischung in den Gesundheitsmarkt gewehrt und
wettern trotz des Corona-Virus, das sie im Extremfall zum Eingreifen
zwingt, weiterhin ideologisch gegen eine sozialisierte
Gesundheitsversorgung. Auf keine der beiden Parteien kann man sich
verlassen, wenn es darum geht, ein Gesundheitssystem im Interesse der
Arbeiter_Innenklasse zu schaffen oder zu verwalten.

Bidens Vorschläge zur Ausweitung der Versicherung auf weitere 25
Millionen Amerikaner_Innen sind zwar eine sehr begrenzte Reform,
werden aber auf den Widerstand der Republikaner_Innen, der
Versicherungslobbys und großer Teile der Medien stoßen. Die
Horrorgeschichten, die in der Opposition zu „Obamacare“
kursierten, werden wieder auftauchen. Es wird enormen Druck auf die
Regierung geben, die Gesundheitsreform zu verwässern oder zu
verzögern. Daher müssen die Sozialist_Innen auch von links Druck
aufbauen, um sicherzustellen, dass die neuen Gesetze verabschiedet
werden, während sie gleichzeitig darauf hinweisen, dass sie nicht
weit genug gehen und weiter reichende Änderungen vorschlagen.

Jeder ernsthafte Plan zur Verstaatlichung des Gesundheitswesens
würde die Enteignung der privaten medizinischen und pharmazeutischen
Unternehmen erfordern. Die Krankenhäuser wurden mit den hart
verdienten Dollars der amerikanischen Arbeiter_Innenklasse gebaut und
zwangen diejenigen, die nicht zahlen konnten, in den Bankrott. Die
Forschungs- und Entwicklungskosten von Medikamenten wurden durch die
erpresserischen Gebühren der großen Pharmakonzerne um ein
Vielfaches bezahlt. Dennoch sind sie bereit, Menschen an Diabetes und
HIV/AIDS sterben zu lassen, anstatt ihre Gewinne sinken zu sehen. Den
Unternehmen, die von Krankheit profitieren, steht keine Entschädigung
zu. Ihre Patente sollten widerrufen und Sachwerte wie Labore und
Krankenhäuser in einem öffentlichen Gesundheitsdienst verstaatlicht
werden.

Wenn ein solcher Dienst durch Kampf errungen würde, wäre er bei
den Demokrat_Innen und Republikaner_Innen nicht sicher, aber die
Ärzt_Innen, Pfleger_Innen und anderen Mitarbeiter_Innen des
Gesundheitswesens, die während der gesamten Pandemie ihr Leben
riskiert haben, um ihre Patient_Innen zu versorgen, wissen, was es
bedeutet, für menschliche Bedürfnisse und nicht für private
Eigeninteressen zu sorgen. Ein verstaatlichter Gesundheitsdienst,
kostenlos für alle, finanziert durch die Besteuerung der Reichen und
betrieben von den Patient_Innen und dem Gesundheitspersonal, lautet
die Antwort auf Amerikas Gesundheitskrise.




Gewalt gegen Frauen in Bolsonaros Brasilien

Raquel Silva, Liga
Socialista/Brasilien
, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9,
März 2021

Der erste Jahrestag der Covid-19-Pandemie verging in Brasilien
ohne jegliche Feierlichkeiten. Tatsächlich gibt es in der aktuellen
Situation nichts zu feiern. Wie Studien ergeben, hat die soziale
Isolation, in der wir seit März 2020 leben, zu einem Anstieg der
Vorfälle an häuslicher Gewalt und Femiziden geführt. Im Oktober
2020 zeigten Erhebungen, dass in Brasilien zwischen März und August
497 Frauen getötet wurden. Das bedeutet, dass alle neun Stunden eine
Frau ermordet wurde. Die Bundesstaaten mit den höchsten Gewalt- und
Mordraten sind São Paulo, Minas Gerais und Bahia. Die von sieben
Journalistenteams durchgeführten Erhebungen weisen auf einen Anstieg
der Zahlen während der Pandemie hin. Sie verdeutlichen auch, dass
die niedrigen Zahlen gewaltbezogener Vorfälle in einigen
Bundesstaaten tatsächlich auf ihre Untererfassung zurückzuführen
sind. Die Daten zeigen, dass die Mehrheit der Opfer schwarze und arme
Frauen sind. In Minas Gerais zum Beispiel sind 61 % der Opfer
schwarze Frauen.

Indigene Frauen

Seit dem Putsch gegen Dilma Rousseff von der Partido dos
Trabalhadores (PT; Partei der Arbeiter_Innen) hat die Intensität der
Angriffe auf indigene Bevölkerungsgruppen stark zugenommen. Mit der
Zerstörung von Hilfs- und Unterstützungseinrichtungen für indigene
Völker wie Fundação Nacional do Índio (FUNAI; wörtlich:
Nationale Stiftung des Indios) sind die Dörfer nun noch
verwundbarer. Indigene Gemeinden werden auch durch illegalen Bergbau,
Brände und Agrobusiness angegriffen. Zudem hat die Gewalt gegen ihre
Vertreter_Innen zugenommen. Mehrere ihrer Sprecher_Innen wurden in
den letzten Jahren getötet.

Daten über die Situation indigener Frauen fehlen generell. Einige
Berichte deuten jedoch darauf hin, dass sich ihre Situation
verschlechtert hat, da häusliche Gewalt und Vergewaltigungen in den
Dörfern während der Pandemie zugenommen haben. Illegaler Bergbau
führt zu einer Situation der Verwundbarkeit und Gewalt in den
indigenen Gemeinden. Wie eine/r der Anführer_Innen berichtet, führt
die Schwierigkeit, sich selbst zu erhalten und ihre/seine Kinder zu
ernähren, oft dazu, dass indigene Frauen der gleichen oder sogar
noch härteren Gewalt ausgesetzt sind als nicht-indigene Frauen der
Arbeiter_Innenklasse. Sie alle leiden unter einem Mangel an
finanzieller und anderer Unabhängigkeit, was sie anfälliger für
Verbrechen wie häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung und in den
schlimmsten Fällen Femizid macht.

Zurücknahme von Errungenschaften

Wir sind uns bewusst, dass nicht erst die Regierung Bolsonaro
Gewalt gegen Frauen hervorgebracht hat. Der Kampf gegen Gewalt gegen
Frauen reicht Jahrzehnte zurück. Obwohl die Errungenschaften der
letzten 30 Jahre seit der Verfassung von 1988 unzureichend waren,
bedeuteten sie einen Schritt in die richtige Richtung, ebenso wie
alle anderen Fortschritte, die durch den Kampf sozialer Bewegungen
erreicht wurden.

Nach dem Putsch haben jedoch reaktionäre Sektoren, die mit der
Rechten und rechtsextremen evangelikalen Gruppen verbunden sind, die
die so genannte „Bibelbank“ (in den Parlamentskammern) bilden,
versucht, den Frauen ihre Rechte und Errungenschaften zu nehmen,
indem sie der großen Mehrheit der Frauen der Arbeiter_Innenklasse
ein reaktionäres und gewalttätiges Programm aufzwingen wollen. Dies
geht einher mit der kapitalistischen neoliberalen Agenda der Angriffe
auf die Rechte von Arbeiter_Innen. Zusätzlich zu Gesetzesänderungen,
die den Arbeiter_Innen verschiedene Rechte und Garantien entzogen
haben, ist der Angriff auf Frauen noch heftiger. Das liegt daran,
dass Frauen, ohnehin der Doppelbelastung von Lohn- und Hausarbeit
ausgesetzt, in der Arbeitswelt um ein Vielfaches mehr unter noch
niedrigeren Löhnen und verlängerten Arbeitszeiten leiden. Die
Rentenreform hat die Frauen der Arbeiter_Innenklasse noch stärker
getroffen, da sie nun mit einer Erhöhung der notwendigen
Lebensarbeitszeit konfrontiert sind, um länger in die Rentenkassen
einzuzahlen, wodurch der Rentenanspruch noch schwieriger zu erreichen
sein wird.

Die Regierung Bolsonaro hat bereits in ihrem ersten Amtsjahr 2019
die Mittel zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen drastisch gekürzt.
Sie schaffte das Sekretariat für Frauenpolitik ab und schuf
stattdessen das Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte
(das die LGBTQ+-Agenda ausschloss). Ein Ministerium, dessen
ideologische Agenda darin besteht, „Moral und gutes Benehmen“ zu
bewahren, hat sogar die begrenzten verfassungsmäßigen Rechte und
Garantien angegriffen wie z. B. den Zugang zur assistierten
Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung, Lebensgefahr für die
Mutter oder Anenzephalie (schwere Missbildung des embryonalen bzw.
fötalen Gehirns).

Der reaktionäre Charakter der gegenwärtigen Regierung und derer,
die sie unterstützen, wurde vor allem durch die skandalöse
Behandlung eines 10-jährigen vergewaltigten Kindes im Juli 2020
entlarvt. Das Recht auf Abtreibung dieses Vergewaltigungsopfers wurde
in Frage gestellt, sein Name veröffentlicht und es erlitt ein
schweres psychologisches Trauma, da Extremist_Innen versuchten, eine
Abtreibung zu verhindern. Ministerin Damares Alves vom Ministerium
für Frauen, Familien und Menschenrechte, eine evangelikale Pastorin,
erließ zwei Gesetze, die den Zugang zur assistierten Abtreibung
erschweren und peinliche und restriktive Maßnahmen für weibliche
Vergewaltigungsopfer schufen.

Ele Nao! Nicht er!

Unter den Bedingungen der Pandemie 2020 wurden viele der Angriffe
der Regierung Bolsonaro auf Frauen und die LGBTQ+-Community massiv
spürbar, da die Mobilisierung schwieriger wurde. Doch schon während
des Präsidentschaftswahlkampfes 2018 ist klar geworden, dass uns im
Falle eines Sieges von Bolsonaro schwere Rückschläge bevorstehen
würden. Seine Aussagen als Parlamentarier zeigten bereits, dass die
Angriffe auf Frauen, Schwule, Schwarze und Indigene hart ausfallen
würden.

Bolsonaro widmete seine Stimmabgabe für Dilmas Amtsenthebung dem
Oberst Brilhante Ustra, der während der Militärdiktatur für die
Folterung inhaftierter linker, militanter Frauen verantwortlich war.
Dilma war eine von ihnen gewesen. Bolsonaro griff auch eine
PT-Abgeordnete in der Abgeordnetenkammer an und rief: ,,Ich würde
sie nicht vergewaltigen, weil sie es nicht verdient hat.“ In einer
anderen Kampagne machte er deutlich, dass er die Quilombola-Schwarzen
angreifen würde, womit er sich auf die Dörfer der Schwarzen bezog,
die aus der Sklaverei geflohen sind, um ein selbstbestimmtes Leben zu
führen. Ihr Kampf wird im rassistischen Narrativ mit Chaos
gleichgesetzt. Er drohte auch damit, die Linke und die sozialen
Bewegungen anzugreifen.

Im Angesicht dieser Drohungen wurde die Bewegung „Ele Nao!“
(Nicht er!) in den sozialen Medien populär, die eine beeindruckende
Demonstration gegen die Wahl Bolsonaros organisieren konnte. In einem
erbitterten Kampf gewann Bolsonaro die Wahl. Es war eine Wahl, die
von einer Politik des Hasses gegen die PT, dem Verbot der Kandidatur
Lulas und vielen Enthaltungen geprägt war.

In der neuen Regierung gingen Sparmaßnahmen gegen die
Arbeiter_Innen Hand in Hand mit der Weiterführung der konservativen
Agenda der rechtsextremen Evangelikalen. Die Frauenbewegung hat in
verschiedenen Kollektiven, die sich im ganzen Land ausbreiten,
versucht, diese Angriffe zu stoppen. Aber die aktuelle Situation
führte dazu, dass die Pandemie eine entmutigende Wirkung auf die
Bewegungen ausübte. Die soziale Isolation hat viele
Straßenbewegungen gelähmt. Viele Kollektive agieren virtuell,
andere gehen in extremen Fällen auf die Straße (wie im Fall des
vergewaltigten Mädchens, als Rechtsextremist_Innen versuchten, eine
Abtreibung zu verhindern und das Frauenkollektiv das Recht des
Mädchens wahrte, indem es die Extremist_Innen von der Krankenhaustür
vertrieb).

Die Linke und soziale Bewegungen

Generell finden Aktionen gegen die Angriffe der Regierung
Bolsonaro seit letztem Jahr über soziale Medien statt. Die soziale
Isolation schafft eine sehr starke Barriere gegen Aktionen. Die Angst
vor Ansteckung, aber auch die, als „Corona-Leugner_In“ wie
Bolsonaro zu erscheinen, hindert Bewegungen daran, außerhalb des
Internets zu agieren.

Bei den landesweiten Kommunalwahlen 2020 (in Brasilien finden sie
alle am selben Tag statt), bei denen Tausende von Stadträt_Innen und
Bürgermeister_Innen gewählt wurden, konzentrierte sich die Linke
oft auf Kandidaturen, die die Unterdrückten repräsentieren –
Frauen, Schwarze und Trans-Personen.

Die Webseite der Deutschen Welle Brasilien bewertet die Vielfalt
in Bezug auf Geschlecht, sexuelle und ethnische Identität bei den
Wahlen 2020 als Fortschritt. Der Anstieg der Kandidaturen von
Unterdrückten war höher als 2016. Von den 503 Trans-Kandidat_Innen
wurden 82 gewählt. In Hauptstädten wie Belo Horizonte (Minas
Gerais) und Aracaju (Sergipe) erhielten Trans-Kandidat_Innen die
meisten Stimmen. Die Zahl der Frauen im Allgemeinen sowie die Zahl
der schwarzen Frauen, die in gesetzgebende Ämter gewählt wurden,
hat ebenfalls zugenommen. In 18 Städten gibt es 16 % weibliche
Abgeordnete. Parteien wie Partido Socialismo e Liberdade (PSOL;
Partei für Sozialismus und Freiheit) und PT stellten die größte
Anzahl von Kandidat_Innen aus den sozial unterdrückten Schichten
auf, aber auch die konservativen und liberalen Mainstream-Parteien
erhöhen die Anzahl der Kandidaturen von Frauen und rassistisch
Unterdrückten. Kommentator_Innen führen diese Veränderung auf eine
Reaktion gegen die Wahl Bolsonaros und seine rechtsextreme Plattform
zurück. Sie sehen darin einen Versuch der Reorganisation von Teilen
der Linken, indem Kandidat_Innen der sozialen Bewegungen aufgewertet
werden. Darüber hinaus wird vielen Kandidat_Innen zugesprochen, dass
sie über die LGBTQ+- und Frauenagenda hinausgehen und sich auf
Fragen des Wohnungsbaus, der Bildung und Gesundheit der
Arbeiter_Innen zubewegen.

Verstärkte Polarisierung

Analyst_Innen weisen aber auch darauf hin, dass rechtsextreme
Kandidaturen zugenommen haben und es in den gesetzgebenden Kammern zu
vielen Auseinandersetzungen kommen wird.

Die Situation hat sich während der Pandemie für verschiedene
Schichten verschlechtert. Die Versäumnisse, vor allem nach der Krise
in Manaus (Amazonas), als Patient_Innen wegen Sauerstoffmangels zu
sterben begannen, sowie das Ende der Katastrophenhilfe, ein Anstieg
der Arbeitslosigkeit (allein die Schließung von Ford Brasilien
führte zum Verlust von 55.000 direkten und indirekten
Arbeitsplätzen), Korruptionsskandale und die Veruntreuung von
Geldern aus der Covid-Hilfe, beginnen die Regierung Bolsonaro immer
mehr zu zermürben. Angriffe auf die Presse haben Unzufriedenheit
erzeugt, sogar bei Teilen, die die PT angegriffen und Bolsonaro zum
Wahlsieg verholfen haben.

Viele harte Kämpfe liegen noch vor uns. Ohne Impfstoffe werden
die Kämpfe jeden Tag härter, besonders jetzt, wo wir mit einer sehr
starken zweiten Welle der Pandemie und der neuen Variante des Virus
konfrontiert sind. Die PT und PSOL, linke Parteien mit
parlamentarischer Vertretung, agieren zaghaft im Aufruf zu Protesten
auf der Straße, während sie sich darauf konzentrieren,
Unterstützung für „moderate“ Parteien im Rennen um die
Präsidentschaft des Bundeskongresses zu sammeln (obwohl diese
Parteien Teil des Putsches gegen die Linke waren!).

Gleichzeitig können wir aber auch Anzeichen für ein mögliches
Wiederaufleben von Massenmobilisierungen sehen. Die 8M
(Weltfrauenstreik) und Kollektive, die Teil des „World March of
Women“ (Weltfrauenmarsch) sind, nehmen an den aktuellen
Mobilisierungen gegen Bolsonaro teil, die in den „Carreatas“
(Autokorsos) der Gewerkschaften ihren Mittelpunkt haben. Dies sind
wichtige Schritte für die Frauenbewegung, sich mit den
Mobilisierungen und Kämpfen der Arbeiter_Innen zu verbinden.

Nieder mit Bolsonaro!

In diesem Zusammenhang sehen wir die Notwendigkeit, den Kampf mit
dem Aufbau einer Einheitsfront gegen die Regierung Bolsonaro, den
rechten Flügel und die Angriffe der Bosse voranzutreiben. Die
Bewegung müsste für drastische Maßnahmen zur Bekämpfung der
Pandemie und gegen die Versuche der Bosse, die Arbeiter_Innen für
die Krise zahlen zu lassen, kämpfen. Aber eine solche Einheit wird
nur erreicht werden, wenn der Kampf für die Rechte der Frauen, gegen
Gewalt im Haus und in der Öffentlichkeit und gegen Femizide ein
zentraler Teil dieser Auseinandersetzung wird, der die Frauen der
Arbeiter_Innenklasse an die Spitze der Frauenbewegung sowie des
breiteren Kampfes der Arbeiter_Innenbewegung gegen den
brasilianischen Kapitalismus bringt.

Versuche, eine Einheitsfront aufzubauen, sind bereits im Gange mit
der Autokorso-Kampagne, die Impfstoffe für alle und die
Amtsenthebung Bolsonaros fordert. Aber Autokorsos allein können
diese Ziele nicht erreichen. Wir müssen mehr Autokorsos und
Straßendemonstrationen organisieren, mit dem klaren Ziel, einen
Generalstreik auszurufen, der ein Ende der Regierung Bolsonaro
fordert.

Trotz der Untätigkeit der Führung der linken Parteien darf die
Einheitsfront niemals vor echten militanten Aktionen gegen die
Regierung zurückschrecken und muss die bewusstesten und
kämpferischsten Schichten der sozial Unterdrückten zusammen mit den
militanten Teilen der Gewerkschaftsbasis und der Linken einbeziehen.

  • Für einen Generalstreik!
  • Nieder mit Bolsonaro!
  • Für eine Regierung der Arbeiter_Innen und Bauern/Bäuerinnen!



Über Islamophobie und die Frage, ob es eine religiöse Revolutionärin geben kann

von Dilara Lorin

Antimuslimischer Rassismus, sogenannte Islamophobie ist in den letzten Jahren so dauerpräsent geworden, dass man irgendwie das Gefühl hat, er gehöre zum „guten Ton“ der spätkapitalistischen Gesellschaft. Gerade aktuell ist in den Medien die Debatte wieder aufgeflammt: „Ist der Islam an sich rückschrittlich?“. Wir wollen daher die Gelegenheit nutzen, um mit diesem, wie mit anderen Mythen mal wieder ein wenig aufzuräumen.

Vorab
sei bemerkt, dass bei der Betrachtung von antimuslimischem Rassismus
auch die Frage, was eigentlich „Islamismus“ sei, eine große
Rolle spielt, der wir jedoch in dieser Zeitung nicht den angemessenen
Platz einräumen können und die wir daher in der nächsten Ausgabe
behandeln wollen.

Was
ist Islamophobie?

Islamophobie ist laut Wörterbucheintrag die Abneigung gegen den Islam (und seine Anhänger_Innen) und die negative, feindliche Einstellung gegenüber Muslim_Innen. Politisch diente das Schüren von Islamophobie dazu jedes imperialistische Eingreifen und sogar Besetzung und Kriege in der muslimischen Welt zu rechtfertigen, ebenso wie den staatlichen Rassismus im eigenen Land, d.h. repressive Gesetze und sonstige Unterdrückung gegen nationale oder religiöse Minderheiten. Antimuslimischer Rassismus ist im Spätkapitalismus ein Hauptbestandteil imperialistischer Ideologie geworden. Ihm bedienen sich auch rechtspopulistische Kräfte wie AfD, Marine Le Pen, FPÖ und andere, die ihn nutzen um ihre rassistischen Propaganda darauf aufzubauen. Auch wenn Islamophobie als relativ neues Phänomen erscheint, wurzeln viele der heute präsenten Bilder tief in der europäischen Geschichte. Darstellungen des Orients als primitiv, rückständig und despotisch im Vergleich zum modernen und aufgeklärten Westen oder das in Europa verbreitete Schreckbild des expandierenden Osmanischen Reiches als Bedrohung des christlichen Abendlands haben eine lange Geschichte und werden im modernen antimuslimischen Rassismus oftmals wieder aufgegriffen und auf die „Rasse“, „Natur“ oder „Kultur“ der Betroffenen zurückgeführt. In Westeuropa und Nordamerika führt er zu rassistischer Agitation gegen Immgirant_Innen aus dem Nahen Osten, dem indischen Subkontinent und Ostafrika geworden.

Er
führt dazu, dass Grenzen geschlossen werden, Überwachung der
Bevölkerung zunimmt, Attentate auf Migrant_Innen zunehmen und vieles
mehr.

Wie
auch andere Spielarten von Rassismus hat Islamophobie in
imperialistischen Ländern die Funktion, dass ein Teil der
Arbeiter_Innenklasse noch schlechter bezahlt wird als die anderen und
daher als Lohndrücker_Innen wirkt. Darüber hinaus werden die
Arbeiter_Innen gegeneinander ausgespielt, anstatt gemeinsam für ihre
Interessen einzustehen.

Hintergrund
in den Weltordnung

Schauen
wir uns die heutigen Staaten im Nahen/Mittleren Osten an, erkennen
wir schnell, dass sie von westlichen Medien als zurückgeblieben,
barbarisch angesehen werden und diese Zuschreibung auch immer
einhergeht mit einer islamfeindlichen Anschauung. So als würde
gerade der Islam diese Zurückgebliebenheit der Regionen verursachen.
Dabei sind diese Staaten, weil sie Halbkolonien sind, wirtschaftlich
künstlich unterentwickelt, d.h. die imperialistischen Staaten, von
denen sie abhängen, wollen erst gar nicht, dass sie sich weiter
entwickeln und am Ende noch wirtschaftlich unabhängig machen. Mit
der wirtschaftlichen Abhängigkeit, können auch die Staaten gar
nicht selber entscheiden worin sie investieren, wird die Korruption
erhöht und vor allem die Arbeiter_Innen, Jugendliche und Frauen
leiden darunter und müssen unter unmenschlichen Lebensbedingungen
leben und arbeiten und werden dabei systematisch ausgebeutet. Diese
Perspektivlosigkeit, diese künstlich unterentwickelte Wirtschaft hat
dabei nichts mit dem Islam zu tun, so wie es viele konservative,
Rechte aber auch Bürgerliche behaupten, sondern schlicht und einfach
mit der wirtschaftlichen Ausbeutung und dem imperialistischen
Machtgefüge.

Es
ist daneben kein Zufall, dass das Aufleben der Islamophobie im 21.
Jahrhundert zeitlich mit der Intervention der USA in ölreiche aber
muslimisch geprägte Regionen wie z.B. der Irak zusammenfällt. Die
traditionelle islamische Kultur wurde so ein Brennpunkt
US-imperialistischer Kritik – mit arroganten Aufforderungen, sich
selbst zu modernisieren, d.h. zu verwestlichen. Doch genau das ist
ein überhebliches, ekliges und unmögliches Verfangen. Denn Staaten
die der Imperialismus von sich abhängig macht, können sich nicht
aus den Fesseln befreien, unabhängig werden und entwickeln um
„westlichen“ Standards zu entsprechen.

Religion
nur Opium fürs Volk?

Wenn
man sich vor Augen führt wie die Mehrheit der Menschen auf dieser
Welt leben, meist ohne eine Zukunft, mit Krieg, Armut, Unterdrückung
und Leid als ständigen Begleiter ist, steht für viele von Ihnen der
Glaube an eine höhere Macht, an Gerechtigkeit und an ein besseres
Leben nach dem Tod nicht weit. Es ist diese Hoffnung und die Kraft,
die es ihnen ermöglicht das Leid zu ertragen. Darum dürfen wir als
Revolutionär_Innen den religiösen, an einem Gott/Allah glaubenden
Teilen der Arbeiter_Innenklasse nicht uninteressiert entgegenstehen.

Als
Kommunist_Innen ist gleichzeitig der dialektische Materialismus
unsere philosophische Grundlage, die daher im Widerspruch zu allen
religiös-idealistischen Erklärungsansätzen steht. Das heißt
jedoch nicht, dass nicht auch ein_e ehrliche_r Revolutionär_In sich
rekreativ religiösen Ritualen widmen kann, wenn er_sie daraus Kraft
schöpft. Religion bleibt also Privatsache, und wir sollten keine_n
entschlossene_n Klassenkämpfer_In wegen seiner religiösen
Vorstellungen zurückweisen.

Wofür
wir aber einstehen und kämpfen müssen,

ist
die unbedingte Trennung von Religion und Staat, egal ob man
Atheist_In, oder religiös ist, das heißt: keine
religiös inspirierten Gesetze, keine Finanzierung von religiösen
Schulen, kein verpflichtender Religionsunterricht, keine
Zurschaustellung religiöser Symbole durch öffentliche Einrichtungen
(wie zum Beispiel Kreuze in Schulen) und die Offenlegung aller
Finanzquellen von religiösen Institutionen. Trotz freier
Religionsausübung darf niemand in seinen demokratischen Rechten
eingeschränkt werden. Wir verteidigen jede Person, die auf Grund
ihrer Religion diskriminiert wird und stellen uns gegen jede
Diskriminierung, die mit religiöser Überzeugung gerechtfertigt
wird.

Wir
verteidigen das Recht von Muslim_Innen, ihre Religion auszuüben und
Moscheen zu erbauen. Ebenso haben Frauen das Recht, sich zu
verschleiern, auch mit einer Burka, wenn sie es wollen. Dass wir für
diese Freiheit zur Ausübung ihres Glaubens eintreten, geht für uns
darüberhinaus Hand in Hand damit, gegen den Zwang zu kämpfen, dass
sich Frauen und Jugendliche diesen oder jenen religiösen
Vorstellungen wider eigenen Willens unterwerfen müssen.

In
unserem Kampf, den wir gemeinsam führen, verfallen wir nicht
islamfeindlichen Gedanken, sondern rufen die Arbeiter_Innenbewegung
dazu auf ihren muslimischen Geschwistern beizustehen, wo sie
unterdrückt werden. Auf diese Weise kann die Arbeiter_Innenbewegung
den Einwander_Innen und religiösen Minderheiten in den
imperialistischen Ländern demonstrieren, dass sie die
demokratischste und fortschrittlichste Kraft ist und kann dadurch
auch dem Islam seine Führungsrolle streitig machen.




USA: Stellungnahme zu Trumps faschistischer Provokation

Zuerst veröffentlicht unter: Workers Power (USA) und Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1133, 7. Januar 2021 / https://arbeiterinnenmacht.de/2021/01/08/trumps-faschistische-provokation/

Die Erstürmung des US-Kapitols durch einen Mob von Faschist_Innen, auf Veranlassung von Donald Trump, war ein gescheiterter Versuch des in die Enge getriebenen, aber immer noch bissigen Präsidenten, den Kongress (und den Vizepräsidenten) zu zwingen, die Anerkennung des demokratischen designierten Präsidenten Joe Biden aufzugeben.

Vor, während und nach der Wahl peitschte Trump den harten Kern seiner Anhänger_Innen mit der Behauptung auf, dass die Demokratische Partei im Begriff wäre, die Wahl zu „stehlen“, und dies dann in die Tat umgesetzt hätte. Eine kleine Ironie daran, dass Trump selbst dabei ertappt wurde, als er den  Republikaner aus dem Bundesstaat Georgia, Brad Raffensperger, anbettelte, 11.000 Stimmen zu „finden“, um ihm den Sieg in diesem Staat zu gewähren.

In mehreren Tweets rief er seine Anhänger_Innen am 6. Januar zu einem „wilden“ Versuch, Biden aufzuhalten, nach Washington auf. Am Tag selbst sprach er persönlich auf der Kundgebung, forderte seine Anhänger_Innen auf, „stark zu sein“ und stachelte sie an, die Pennsylvania Avenue hinunter zum Sitz des Kongresses zu „laufen“, um die Minderheit der Republikaner_Innen zu unterstützen, die versuchten, die Bestätigung der Wahl von Joe Biden zu verhindern. Sein persönlicher Anwalt, Rudy Giuliani, rief sogar zu einem „Prozess durch Kampf“ auf.

Offensichtlich war es kein Zufall, dass der normalerweise schwer bewachte Capitol-Komplex nur mit einer symbolischen Polizeipräsenz versehen war, um mit einer Massendemonstration fertig zu werden, die von Trump zur Raserei aufgepeitscht worden war. In der Tat: Bilder zeigen, dass die Polizei Metallbarrieren öffnet, um den Mob durchzulassen.

Welche Intrigen auch immer hinter diesem höchst verdächtigen Einsatz der Sicherheitskräfte steckten, der in lebhaftem Kontrast zu den schwer bewaffneten paramilitärischen Kräften stand, die im Juni letzten Jahres friedliche Black-Lives-Matter-DemonstrantInnen angriffen, das Ergebnis war die weite Öffnung der Gräben innerhalb der Republikanischen Partei zwischen Trump-Anhänger_Innen und einem Großteil des republikanischen Establishments. Es hat auch die Übereinkunft des Kapitals herbeigeführt, wenn nicht hinter Joe Biden, so zumindest in der Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung.

Vier Jahre lang hat sich das „respektable“ republikanische Establishment auf einen unberechenbaren Demagogen verlassen müssen, um die WählerInnen für sich zu mobilisieren. Viele von ihnen haben seinen vergeblichen Versuch, das Wahlergebnis zu unterlaufen, gerne mitgemacht. Eine große Anzahl von republikanischen Abgeordneten stimmte noch gegen die Ratifizierung.

Das Lancieren von lästigen Klagen, das Aufstellen von nachweislich falschen Behauptungen über Betrug, das Auffordern von Generäl_Innen zum Eingreifen und sogar der Versuch einer dreisten Wahlmanipulation waren für viele von ihnen offenbar akzeptabel.

Aber zu einer Demonstration aufzurufen, um den Sitz der bürgerlichen
Vertretung einzuschüchtern und das heilige Ritual der Übertragung der
Exekutivgewalt von einer Partei auf die andere mit einer gewalttätigen
Provokation zu unterbrechen, ging zu weit, wie die Kader des „tiefen
Staates“ zweifellos deutlich machten.

Trotz des schmachvollen Scheiterns des Putsches hat er eine zweifache
Bedeutung. Wie der Münchner Bierkeller-Putsch von 1923 hat er allen
AnhängerInnen der „white supremacy“ (Überlegenheit der weißen „Rasse“)
und faschistischen Gruppen einen gemeinsamen Bezugspunkt gegeben und sie
in eine rechtsextreme Massenbewegung gezogen. Es bleibt abzuwarten, wie
sich diese entwickeln wird, aber es ist sicher, dass Biden und die
DemokratInnen an der Regierung, die die Politik des
Wirtschaftsliberalismus verfolgen, den rassistischen Sumpf, in dem sie
gedeiht, nicht trockenlegen werden.

Trotzdem hat Joe Biden die Kontrolle über beide Häuser gewonnen, und nun wird sein Programm auf die Probe gestellt. Es ist unvermeidlich, dass er wenig oder nichts für die Gesundheitsversorgung für alle tun wird, die bei der Pandemie so lebenswichtig ist, wenig, um die Killer-Cops zu kontrollieren, wenig, um die Massenwelle der Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Nicht zuletzt wird sich die Demokratische Partei als völlig nutzlos erweisen, wenn es darum geht, die demokratischen Rechte zu verteidigen, sei es gegen die staatlichen Kräfte oder gegen die wachsenden der Faschist_Innen.

Der erste Test, den faschistischen Provokationen zu widerstehen, könnte schon bei Bidens Amtseinführung kommen. Die Arbeiter_Innenbewegung, BLM und die Jugend, die DSA (Demokratische Sozialist_Innen), müssen mächtige Selbstverteidigungskräfte mobilisieren, um die FaschistInnen von den Straßen zu fegen, wo und wann immer sie auftauchen.

Aber alle Ausgebeuteten und Unterdrückten brauchen ein Programm der Arbeiter_Innenklasse, um mit den miteinander verbundenen Covid-, ökonomischen, Klima- und Demokratiekrisen fertig zu werden: ein Programm der Hoffnung, das auf der Enteignung des Reichtums der Bosse und einer demokratischen Planung im Weltmaßstab beruht und die einzige Alternative zu den neoliberalen DemokratInnen und der rechtsextremen Politik der Verzweiflung darstellt.

Dies zu tun bedeutet, eine Partei der Arbeiter_Innenklasse aufzubauen, unabhängig von den prokapitalistischen Fälscher_Innen Bernie Sanders und der „Riege“ (prominenter demokratischer SozialistInnen); eine Partei, deren Mitglieder die ArbeiterInnenklasse am Arbeitsplatz, in den Gemeinden und auf der Straße organisieren, als Teil des Klassenkampfes, um den Kapitalismus zu stürzen und zur sozialistischen Revolution zu führen.




Solidarität mit dem Generalstreik der indischen Gewerkschaften!

Zuerst veröffentlicht am 26. November 2020 unter: https://arbeiterinnenmacht.de/2020/11/26/solidaritaet-mit-dem-generalstreik-der-indischen-gewerkschaften/

Martin Suchanek

Seit dem Morgen des 26. November erfasst ein weiterer Generalstreik
Indien. Die Gewerkschaften rechnen mit bis zu 250 Millionen
TeilnehmerInnen. Begleitet wird die Arbeitsniederlegung außerdem von
Massenaktionen von Bauern/Bäuerinnen und LandarbeiterInnen gegen neue
drakonische Gesetze, die Farm Laws, die die Arbeit auf dem Land
(de)regulieren sollen.

Zur Vorbereitung und Durchführung des Generalstreik haben sich
zahlreiche landesweite Verbände und regionale Organisationen in der 
Joint Platform of Central Trade Unions (CTUs; Vereinigte Plattform der
Gewerkschaftszentralen) zusammengeschlossen.

Diese besteht aus folgenden Verbänden Indian National Trade Union
Congress (INTUC), All India Trade Union Congress (AITUC), Hind Mazdoor
Sabha (HMS), Centre of Indian Trade Unions (CITU), All India United
Trade Union Centre (AIUTUC), Trade Union Coordination Centre (TUCC),
Self-Employed Women’s Association (SEWA), All India Central Council of
Trade Unions (AICCTU), Labour Progressive Federation (LPF) und United
Trade Union Congress (UTUC). Politisch repräsentieren sie das volle
Spektrum von der bürgerlich-nationalistischen Kongresspartei
nahestehenden Verbänden über die den kommunistischen Parteien
verbundenen bis hin zu unabhängigen, teilweise radikaleren
klassenkämpferischen Organisationen. Wenig überraschend fehlt mit
Bharatiya Mazdoor Sangh (BMS), der „gewerkschaftliche“ Arm der
regierenden, hinduchauvinistischen Bharatiya Janata Party (Indische
Volkspartei; BJP), die sich faktisch wieder einmal als gelber Verband
von StreikbrecherInnen betätigt.

Historischer Angriff

Der Generalstreik am 26. November richtete sich – wie schon jene der
letzten Jahre, die mehr als 100 Millionen Lohnabhängige mobilisieren
konnten – gegen einen fundamentalen Angriff durch die
KapitalistInnenklasse und die Modi-Regierung. Die Regierung brachte seit
2019 vier neue Arbeitsgesetze in die Look Sabha (Parlament) ein, die 44
bisher gültige ersetzen sollen. Im Grunde sollen damit die Überreste
der Beziehungen zwischen Kapital und Lohnarbeit, wie sie nach der
Unabhängigkeit Indiens etabliert wurden, endgültig beiseitegeschoben
werden. Dieser Prozess begann zwar mit der neoliberalen Wende der
Kongress-Partei und der Öffnung der indischen Wirtschaft nach 1980,
beschleunigte sich jedoch seit dem Ausbruch der globalen Krise 2007 und
der Regierungsübernahme der hindu-chauvinistischen Bharatiya Janata
Party (BJP) 2014. Das ist auch der Grund, warum sich entscheidende
Fraktionen des Großkapitals vom Kongress, der traditionellen Partei der
indischen Bourgeoisie, abwandten und, ähnlich den imperialistischen
Großunternehmen, in der BJP die verlässliche Sachwalterin ihrer
Interessen sehen.

Die Ideologie des Hindutva, nach der Indien ausschließlich den Hindus
gehöre und in der religiöse Minderheiten wie Muslime, Indigene, die
„unteren“ Kasten, Frauen und sexuelle Minderheiten BürgerInnen zweiter
Klasse sein sollen, bildet den Kitt, um große Teile der Mittelschichten,
des KleinbürgerInnentums und rückständige ArbeiterInnen vor den Karren
des Kapitals zu spannen. Die „größte Demokratie der Welt“ bildet die
Fassade für die zunehmend autoritäre, bonapartistische Herrschaftsform
des Regimes Modi, das sich dabei auf extrem reaktionäre und auf
faschistische Massenorganisationen stützen kann. In den letzten Jahren
forcierte sie die Angriffe auf demokratische Rechte und ging brutal
gegen  Proteste vor, die sich gegen die nationalistische „Reform“ der
Melde- und Staatsbürgerschaft richteten. Vielerorts, wie in Delhi
provozierten Parteiführer der BJP Pogrome gegen Muslime und
Protestierende. Indien annektierte Kaschmir und beendete dessen formal
autonomen Status endgültig. Die „Reform“ der Arbeitsgesetze stellt ein,
wenn nicht das klassenpolitische Kernstück der Politik der
Modi-Regierung dar. Hier nur einige zentrale Aspekte:

  • Das neue Arbeitsgesetz erlaubt die fristlose Entlassung ohne
    weitere Angabe von Gründen und ohne Zustimmung der Behörden von bis zu
    300 Beschäftigten. Bisher war diese Zahl auf 100 ArbeiterInnen
    festgelegt. Dies schafft wichtige Beschränkungen der Unternehmenswillkür
    in Klein- und Mittelbetrieben ab, die in den letzten Jahren ebenfalls
    zunahm.
  • Das Fabrikgesetz von 1948 galt bislang für alle Betriebe mit
    mehr als 10 Beschäftigten, sofern sie mit Elektrizität versorgt wurden,
    und für alle mit mehr als 20, die diese nicht haben. Jetzt werden diese
    Zahlen verdoppelt, auf 20 bzw. 40 Beschäftigte.
  • Diese Methode durchzieht zahlreiche andere Bestimmungen der
    neuen Arbeitsgesetze. Die Mindestzahl an regulär Beschäftigten, ab denen
    sie überhaupt erst gelten, wurde deutlich erhöht, oft auf das Doppelte
    oder Dreifache der ursprünglichen Zahl. Dies betrifft insbesondere
    Mindeststandards für Arbeitssicherheit.
  • Erhöht wurde außerdem die Quote für LeiharbeiterInnen unter den Beschäftigten.

All diese Maßnahmen zielen auf die Ausweitung der
UnternehmerInnenfreiheit. Die weitgehende Entrechtung, die schon heute
die Lage eines großen Teils der indischen ArbeiterInnenklasse prägt, der
in verschiedene Formen der Kontraktarbeit (wie  Tagelöhnerei,
Leiharbeit, prekäre Beschäftigung, …) gezwungen wird, soll weiter
ausgedehnt werden. Auch bisher „regulär“ Beschäftigte sollen von ihr
erfasst werden.

Zugleich werfen diese Maßnahmen auch ein bezeichnendes Licht auf das
Geschäftsmodell des indischen Kapitalismus. Die vom Weltmarkt und den
internationalen Finanzmärkten abhängige halbkoloniale Ökonomie kann die
Profitabilität der wachsenden kleineren Kapitale nur sichern, wenn diese
weiter die Arbeitskräfte extrem ausbeuten, also unter ihren
Reproduktionskosten kaufen und verwerten können. Ansonsten sind sie
nicht in der Lage, sich auf dem Markt zu halten, die Vorgaben von
Konkurrenzbedingungen, die das multinationale Großkapital aus den
imperialistischen Ländern diktiert, zu erfüllen. Zugleich begünstigt
diese Form der Überausbeutung auch die indischen Großkonzerne, die
ihrerseits um größere Anteile am Weltmarkt ringen.

Diese Ausweitung selbst erschwert schon die Möglichkeiten der
gewerkschaftlichen Organisierung massiv, die durch neue legale
Einschränkungen zusätzlich eingeschränkt werden sollen.

Ergänzt werden die Angriffe auf die Arbeitsgesetze auch durch
drastische Verschlechterungen für die Landbevölkerung, also für die
ärmsten Schichten der Bauern und Bäuerinnen sowie für LandarbeiterInnen.
Das ist auch der Grund, warum das All India Kisan Sangharsh
Coordination Committee (AIKSCC) den Generalstreik unterstützt und mit
Aktionstagen am 26. und 27. November verbindet.

Über die Forderung nach Abschaffung der gesamten reaktionären
Reformen des Arbeitsgesetzes hinaus verlangen die Gewerkschaften
außerdem eine monatliche staatliche Unterstützung von 7.500 Rupien (rund
85 Euro) für alle Familien, die keine Einkommenssteuer zahlen müssen,
sowie 10 Kilogramm kostenloser Lebensmittel für alle Bedürftigen. Diese
und ähnliche Forderungen verdeutlichen, dass die Corona-Pandemie und die
kapitalistische Krise Millionen ArbeiterInnen und  Bauern/Bäuerinnen in
Not und Elend stürzen, sie gegen Armut, Hunger und Tod ankämpfen
müssen.

Internationale Solidarität und Perspektive

Der Generalstreik der indischen Gewerkschaften erfordert unsere Solidarität – und zwar weltweit.

Zugleich macht er aber – gerade vor dem Hintergrund etlicher
Massenstreiks der letzten Jahre – deutlich, dass die
ArbeiterInnenbewegung und alle Bewegungen von Unterdrückten gegen das
Hindutva-Regime eine Strategie brauchen, die über beeindruckende, aber
auch nur auf einen Tag beschränkte Aktionen hinausgeht. Die Regierung
Modi wird sich davon nicht stoppen lassen. Das haben die letzten Jahre
gezeigt. Wie die letzten Monate verdeutlicht haben, wird sie auch die
Pandemie und die Krise zu nutzen versuchen, weitere Angriffe
durchzuziehen.

Es geht daher darum, dem permanenten Angriff einen permanenten
Widerstandskampf entgegenzusetzen – auf den eintägigen Generalstreik
einen unbefristeten gegen die Arbeitsgesetze und für ein
Mindesteinkommen und Mindestlohn für alle in Stadt und Land
vorzubereiten und durchzuführen.

Die Koordinierung der Gewerkschaften und BäuerInnenorganisationen
muss sich einer solchen Aufgabe stellen und zur Bildung von
Aktionskomitees in den Betrieben, den Stadtteilen, in den Gemeinden und
auf dem Land aufrufen, also Kampforgane bilden, die alle Schichten der
Lohnabhängigen und der Klein- und MittelbäuerInnen einschließen,
unabhängig von Religion, Nationalität, Kaste, Geschlecht oder sexueller
Orientierung.

Angesichts der staatlichen Repression und der reaktionären
hinduchauvinistischen Verbände müsste ein solcher Streik auch
Selbstverteidigungsstrukturen aufbauen.

Ein politischer Generalstreik, der das Land dauerhaft lahmlegt, würde
unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und somit auch die Möglichkeit
und die Notwendigkeit, vom Abwehrkampf zur Offensive überzugehen. Diese
erfordert freilich mehr als nur gewerkschaftlichen Widerstand. Sie
erfordert die Verbindung dieses Kampfes mit dem gegen alle Formen der
Unterdrückung, die Verbindung des Kampfes gegen die BJP-Regierung mit
dem gegen den Kapitalismus, den Aufbau einer revolutionären politischen
Partei der ArbeiterInnenklasse, die sich auf ein Programm von
Übergangsforderungen stützt und die für eine ArbeiterInnen- und
BäuerInnenregierung kämpft, die eine Räteherrschaft errichtet, das
Großkapital enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt.

Zur Zeit existiert keine politische Kraft in Indien, die ein solches
Programm vertritt. Die verschiedenen kommunistischen Parteien haben sich
vom revolutionären Sturz des Kapitalismus faktisch schon lange
verabschiedet, die radikale Linke ist zersplittert und oft
desorientiert. Die politische Krise zu überwinden, erfordert daher nicht
nur die Unterstützung der Mobilisierungen der ArbeiterInnenklasse und
sozialen Bewegungen. Alle, die nach einer sozialistischen und
internationalistischen Antwort suchen, stehen auch vor der Aufgabe, in
Diskussion um die programmatischen Grundlagen einer revolutionären
Partei zu treten und deren Aufbau in Angriff zu nehmen.




Woher kommen eigentlich Verschwörungsideologien?

von
J.J.Wendehals

Bei
den “Querdenker”-Demos kommen aktuell so viele Leute auf die
Straße wie sogar die Rassist_Innen von Pegida selbst zu ihren
Hochzeiten nur hätten träumen können. Dabei handelt es sich zwar
keineswegs um eine einheitliche Masse aus knallharten Faschist_Innen,
aber es gibt doch ein ideologisches Dach, unter dem alle diese
verschiedenen Leute (auf eine infektionspolitisch nicht vertretbare
Nähe) zusammenkommen: Es handelt sich um (mal mehr und mal weniger)
wilde Theorien darüber wie mystische Kräfte oder Personen die
Geschicke der Welt lenken und sie gegen den “kleinen Mann”
lenken, der sein einfaches Leben unterhalten will. Wir nennen diese
Verschwörungsideologien.

Woran glaubt ein_e
Verschwörungsideolog_In?

Typischer
Weise richten sie sich gegen tatsächlich relativ einflussreiche
Personen wie Konzernchefs (Bill Gates) oder Regierungsangehörige
(Merkel, Obama) aber es gibt auch weitaus phantastischere Ziele
(Echsen, außer- oder überirdische Wesen) und offen rassistische
(Juden und Jüdinnen, Geflüchtete). In den einzelnen Theorien sind
dann diese verschiedenen Feindbilder oft miteinander kombiniert und
verflochten wie z.B. im Fall von antisemitischen Verleumdungen des
George Soros (ein Investor jüdischer Abstammung, der sein Vermögen
auch für Bildungs- und bürgerrechtliche Zwecke einsetzt) oder wenn
behauptet wird Bill Gates (eigentlich ein getarntes Echsenwesen)
stehe hinter der Coronapandemie, um damit Geld in die Taschen der
Pharmakonzerne zu lenken, an denen er beteiligt ist. So absurd und
lächerlich diese Theorien einstweilen wirken, so real sind aber
offenbar doch ihre Auswirkungen und Hintergründe, dafür sind die
Mobilisierungen in Berlin nur der aktuellste von vielen Belegen.
Schon der Hitlerfaschismus verband seinen Antikommunismus mit
antisemitischen Motiven, wenn er die Gefahr einer
“bolschewistisch-jüdischen Weltverschwörung” an die Wand malte
und hatte am Ende den unfassbaren Terror von Zweitem Weltkrieg und
Shoah zur Folge. Wir wollen also in diesem Text das Phänomen ein
wenig analysieren.

Was
ist die ideologische Struktur der Verschwörungstheorien?

Auch
wenn Bebel sagte, Antisemitismus sei der “Sozialismus der dummen
Kerls”, beschränken Verschwörungsideologien sich nicht darauf
Hirngespinste “dummer” Menschen zu sein. Als Ausgangspunkt haben
sie tatsächlich oft eine reale Ungerechtigkeit der kapitalistischen
Verhältnisse, so z.B. die sich öffnende Schere zwischen Arm und
Reich, die Profitmacherei in der Pharmaindustrie, Arbeitslosigkeit
oder das zu Grunde gehen von kleinen Unternehmen. Jedoch bleiben sie
unfähig die systematischen Ursachen dieser Missstände in der
Struktur des Kapitalismus’ zu erkennen. Stattdessen greifen sie zu
vereinfachten Modellen, die allerdings jene mystischen Elemente
benötigen, um eine lückenlose “Argumentation” bilden zu können.
Wenn beispielsweise nicht erkannt wird, dass die kapitalistische
Konkurrenz die Kapitalist_Innenklasse dazu zwingt, ihre Profite immer
weiter zu maximieren oder unterzugehen, dann muss das Verhalten der
Konzerne in dem bösartigen Charakter liegen, den gewisse Personen
haben sollen, die für diese Konzerne verantwortlich gemacht werden.
Oder eben darin, dass diese Personen von Echsen kontrolliert werden
usw. usf. Dies ist auch oft ein Punkt, an dem Antisemitismus Einzug
erhält in jene Ideologien, da das Bild vom “gierigen Juden”, der
für seine eigenen Ziele bereit ist “die ganze Gemeinschaft” zu
betrügen, schon seit vielen hundert Jahren genutzt wird, um die
verschiedenen Formen des Judenhass’ zu begründen, die über die
Geschichte aufgetreten sind. So auch die Nationalsozialist_Innen, die
unterschieden zwischen einem “schaffenden” Kapital und einem
(jüdischen) “raffenden” Kapital, das für die kapitalistischen
Missstände wie Arbeitslosigkeit und insbesondere die
Weltwirtschaftskrise Ende der 20er verantwortlich sei. Seitdem sind
Wirtschaftskrisen, die die kapitalistischen Widersprüche auf die
Spitze treiben, immer wieder ein fruchtbarer Nährboden für
Verschwörungsideologien gewesen, der seine Wirksamkeit besonders
dann entfalten kann, wenn durch Schwäche und Niederlagen der Linken
Raum dafür gemacht wird (Was hat eigentlich die Linkspartei zum
Coronamanagement der Bundesregierung zu sagen?).

Es
sei an sich durchaus möglich, so ist das Fazit dieser Theorien, ein
gutes Leben im Kapitalismus zu führen, wenn nicht gewisse böse
Elemente vorhanden wären, die dem immer wieder entgegen wirken,
entweder durch Zersetzung von innen oder Fernsteuerung von außen.
Demnach ist die logische Konsequenz auch nie der vollständige
Umsturz des kapitalistischen Systems, sondern immer nur die
Beseitigung dieses oder jenes spezifischen Phänomens, das für alles
Übel verantwortlich sei, wie einzelne Kapitalist_Innen, die Jüdinnen
und Juden oder Geflüchteten. Um das zu erreichen werden Appelle an
den Staat gerichtet (z.B. Merkel und Spahn sollen vor Gericht) und im
schlimmsten Fall wird zu „Selbstjustiz“ gegriffen wie bei
dem Anschlag in Halle.

Welches
Sein steht hinter diesem falschen Bewusstsein?

Als
Marxist_Innen spielen für uns jedoch nicht nur die ideologischen
Merkmale einer Bewegung eine Rolle, sondern vor allem auch die Frage,
wer vertritt diese Ideologie und in welchem Zusammenhang steht sie zu
den materiellen Verhältnissen, mit einem Wort was ist ihr
Klassencharakter? Zwar ist die Soziologie der “Hygienedemos” noch
wenig erforscht, allerdings zeichnet sich eine Tendenz ab, die auch
bei NSDAP und gewissen Teilen der AfD zu beobachten ist. Neben
besonders prekarisierten Teilen der Arbeiter_Innenklasse wird der
hauptsächliche Anteil durch das Kleinbürger_Innentum ausgemacht,
also z.B. Besitzer_Innen von kleinen Läden oder Betrieben aber auch
Selbstständige im Handwerk, in der Gastro- oder Kulturbranche. Das
Kleinbürger_Innentum steht im Kapitalismus zwischen den Fronten der
beiden Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat. Es kann daher auch
kein konsistentes Klasseninteresse entwickeln, sondern schwankt
vielmehr die ganze Zeit zwischen den beiden Polen von Bourgeoisie und
Proletariat. Wenn sich ihm auch immer wieder kleine Nischen öffnen,
in die das große Kapital (noch) nicht vorgedrungen ist (Beispiele
sind bei Start-Ups oder im Dienstleistungssektor zu finden), so ist
es doch der Konkurrenz eines großen Konzerns niemals gewachsen.
Insbesondere in Krisenzeiten ist es anfällig, es fehlen ihm
Verteidigungsmittel wie Rücklagen und viele werden zerrieben und in
das Proletariat hinabgedrückt.

Möglich
ist dann, dass Teile von ihm sich der Arbeiter_Innenbewegung
anschließen, die gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die
Bevölkerung ankämpft. Da das Kleinbürger_Innentum nämlich nicht
nicht nur Produktionsmittel besitzt, sondern sich gleichzeitig auch
selber ausbeuten muss, kann ihre Situation nur so positiv aufgelöst
werden. Aber diese Möglichkeit besteht natürlich auch nur, falls so
eine Bewegung überhaupt existiert und es schafft ein revolutionäres
Programm aufzuwerfen. Andernfalls können daraus große reaktionäre
Bewegungen werden, die gefährlich sind für die Arbeiter_Innenklasse
und alle anderen unterdrückten Gruppen.

Keinen
Boden, keine Straße den Rechten!

Als
Revolutionär_Innen ist es also unsere Aufgabe für die Entstehung
jener linken Bewegung einzutreten. Wir müssen die Gewerkschaften und
Arbeiter_Innenparteien unter Druck setzen, dass sie linke Antworten
auf die Angriffe der Herrschenden formulieren und für diese auf die
Straße gehen sollen, anstatt sich klein zu machen und die Interessen
der eigenen Basis zum Teilbedürfnis der Konzerne zu pervertieren,
wie es die IG Metall vormacht, wenn sie sich für die unsägliche
Abwrackprämie einsetzt.

Jenen
Verschwörungsideologien muss aber eine Bewegung der
Arbeiter_Innenklasse eine unmissverständliche Absage erteilen. Den
Rechten und Verwirrten sollten wir jetzt vor allem keinen Raum auf
der Straße lassen. Blockieren wir sie, wo sie mobilisieren und bauen
wir dabei eine Gegenbewegung auf, die die Fragen der Krise von links
beantwortet!