Austritt aus der Revolutionären Linken (in [solid'] ) – aber warum?

Entwicklung der Revolutionären Linken (RL)

Anfang Juli 2015 gründete sich in der linksjugend [solid‘] die RL, die den Anspruch hatte, für eine klassenkämpferische Jugendorganisation einzutreten. Eine Jugendorganisation, die in der Lage ist den Kapitalismus zu stürzen. Da einige unserer Mitglieder, die vormals in der [solid‘] Fulda aktiv waren, schon ein Jahr zuvor versucht hatten eine revolutionäre Fraktion zu gründen, waren wir über die Gründung und die Dynamik der RL sehr erfreut. Dieser Schritt war bitter nötig, weil [solid‘] einem sozialistischen Anspruch bei weitem nicht gerecht wurde. Dafür sorgen proimperialistische Antideutsche, eine reformistische Führung und ein linker Flügel, welcher sich zwar „Revolution“ auf die Fahnen schreibt, aber praktisch bestenfalls zentristische (SAV,Funke) oder gar offen reformistische Politik (BAK AuF) macht. Um die vergangenen und aktuellen Klassenkämpfe zu verarbeiten und eine Anleitung zum Handeln zu geben braucht es ein Programm. Genau das wollten wir mit Anträgen bei den Treffen der RL in Hamburg, wo seitens der SAV ein zweiseitiger Wisch als Programm verkauft werden sollte, und beim zweiten Treffen in Dortmund versuchen. Dort wurden unsere entsprechenden Anträge mit der Begründung, es brauche „Bewegung“ und kein Programm abgelehnt. Auch unsere Bemühungen eine demokratische Grundlage innerhalb der RL in Form eines Statuts zu schaffen wurde abgelehnt. Paradoxerweise wurde anschließend ein Koordinierungskreis, also eine nicht-demokratisch legitimierte Leitung, gewählt.

In den letzten Monaten gab es außerdem keine zahlenmäßige oder aktionistische Weiterentwicklung der RL. Zwar gab es am 18. Dezember einen bundesweiten Aktionstag, dieser ging allerdings nicht über die RL hinaus. Andere Gruppen oder gar unorganisierte Einzelpersonen einzubinden, wurde nicht einmal versucht. Man beging also genau die Fehler, die jetzt fälschlicherweise an Jugend gegen Rassismus kritisiert werden.

Jugend gegen Rassismus (JgR)

Ende März gab es ein weiteres Treffen der RL. Das Thema war hauptsächlich die über Deutschland hereinbrechende rassistische Welle. Für uns ist das natürlich untrennbar verknüpft mit der Frage: „Was tun gegen Rassismus?“ Eine Beteiligung der RL an dem dynamischsten, bundesweiten Antirassismusbündnis „Jugend gegen Rassismus“ schien uns der beste Weg für die RL an dem Aufbau einer Gegenbewegung mitzuwirken. Unser Antrag einer Beteiligung der RL an JgR wurde allerdings bis auf wenige Gegenstimmen abgelehnt, obwohl bundesweit mittlerweile Teile der SAV „Jugend gegen Rassismus“ unterstützen. Die Argumente waren, man wolle keine Bewegung von oben erzwingen, soziale Forderungen fehlten und die Massen seien nicht bereit mit Forderungen wie „Offene Grenzen“ oder „Selbstverteidigung gegen rassistische Angriffe“ konfrontiert zu werden. Mit einer solchen opportunistischen Argumentation sich einer Einheitsfront zu verweigern, ist schon ziemlich sektiererisch. Vor allem wenn man bedenkt, dass die SAV keinen Alternativvorschlag vorstellte.

Auch das „Argument“, dass JgR keine unorganisierten Jugendlichen ansprechen würde, ist lächerlich. Dass „Jugend gegen Rassismus“ gerade vom Refugee Schul- und Unistreik (RSUS) ins Leben gerufen wurde, an dem sich viele unorganisierte Jugendliche beteiligen, die soziale Fragen sehr wohl Beachtung findet und das Bewusstsein der Massen mit den entsprechenden Forderungen gehoben werden muss, sah die Mehrheit der RL nicht. Der wahre Grund für diese Blamage war viel eher, dass die SAV, die die RL dominiert, kein Projekt unterstützen möchte, bei welchem sie nicht die Führung innehat. Der Aufbau der eigenen Vorfeldstruktur wurde hier über die objektive Notwendigkeit des Aufbaus eines antirassistischen Bündnisses, welche die Keimform einer antirassistischen Bewegung sein kann, gestellt.

Der Bundeskongress 2016

Der Bundeskongress von solid (BuKo) ist offiziell das höchste demokratische Gremium in solid. Faktisch kann sich der Kongress in die Reihe von Kongressen einreihen, auf denen irgendwas beschlossen wird, das aber faktisch keine Auswirkungen hat, nichtmal für die eigene Organisation. Der linke Flügel macht was er will und ihm ist egal, was der rechte beschlossen hat. Andersrum gilt dasselbe. Dass ein nicht unbedeutender Teil von solid vollkommen ignoriert was beim BuKo passiert, drückt sich auch im BuKo selbst aus. Nur 190 von 250 Delegierten, sprich 74 %,[1] kamen und das trotz der Möglichkeit bei Krankheit, etc. Ersatzdelegierte zu schicken. Auch der Funke, der Teil der RL ist, kritisiert, dass der BuKo keine Auswirkungen auf die Arbeit in den Ortsgruppen und Landsverbänden hat: „Viele Beschlüsse des höchsten Gremiums verschwinden oftmals in der Schublade – wodurch die Frage nach dem Sinn und Zweck von Bundeskongressen provoziert werden kann.“[1]

Dass die RL ohne Programm und Statut innerhalb solid nicht fraktionsfähig sein kann, sah man dann während wie auch nach dem BuKo. Während ein Genosse, den man getrost als Linken in der RL bezeichnen kann, von „gemischten Gefühlen“ spricht, tobt auf Facebook ein Kampf zwischen der SAV und dem Funken, wie man sich zu Sexarbeit verhält. Von Diskussion nach innen, Geschlossenheit nach außen, wie es für leninistische Organisationen üblich ist, sah man nichts.

Dank eines Leaks mit dem Hashtag #NuernbergPapers ist uns bekannt, dass auf dem BuKo über JgR etwas beschlossen wurde und AntiDs dem wohl zustimmen wollten. Jedoch können wir, trotzdem wir teilweise zum jetzigen Zeitpunkt noch Mitglieder von solid sind, nicht nachvollziehen, wie das eigentlich ausgegangen ist. Grund dafür ist, dass wir keinen Zugang zu Protokollen des höchsten demokratischen Entscheidungsgremiums haben und auch noch nie hatten. Damit sollte alles zum BuKo gesagt sein.

Taktiken und Positionen

Ein weiterer Grund für das Stagnieren des Aufbaus der RL sind taktische Fehler. Auf der letzten Versammlung der RL wurde klar, dass sie unter keinen Umständen mit der SPD zusammenarbeiten will, weil die SAV diese als bürgerliche Partei charakterisiert. Das ist aber aus unserer Sicht ein grober Fehler, welcher taktische Folgen mit sich bringt. Die SPD ist eine bürgerliche Arbeiter_Innenpartei. Die Führung macht zwar Politik im Interesse der Bourgeoisie, aber ihre soziale Basis ist historisch und aktuell die Arbeiter_Innenklasse. Dies lässt sich auch einfach an ihrer Stärke in den DGB-Gewerkschaften, die sicher keine gelben Gewerkschaften sind, feststellen.

Die Illusionen der Arbeiter_Innenklasse in den Reformismus, wie auch ihr reformistisches Bewusstsein, kann nur durch gemeinsame Aktionen wie einer Einheitsfront mit JgR gebrochen werden. In dieser können Revolutionär_Inne durch eigenständige Propaganda und Kritik an der Führung aufzeigen, dass Diese einer fortschrittlichen Bewegung in Wege steht. Darüber hinaus, können revolutionäres Bewusstsein, wie auch der Einfluss von Revolutionär_Innen, in der Klasse gestärkt werden.

Gleichzeitig verhält sich die RL auch sektiererisch gegenüber anderen linksradikalen Organisationen, was ihre Weigerung „Jugend gegen Rassismus“ aufzubauen zeigt. Dieses Sektierertum geht Hand in Hand mit einer opportunistischen Politik gegenüber der LINKEN und [solid‘]. Hier steckt man tief in den Strukturen, ohne einen offenen Kampf um die Führung zu führen. Echter Entrismus, wie Trotzki ihn sich als Taktik für Revolutionär_Inne in reformistischen Parteien vorstellte, um einen linken Flügel wegzubrechen oder die Partei zu übernehmen, sieht anders aus.

Weiter bleibt die RL auf zentristischen Positionen hängen. Die Weigerung sich ein Programm zu geben ist ein deutlicher Indikator dafür. Brennende Forderungen, die es gerade seit dem massiven Aufkommen der Rassist_Innen und den verstärkten Flüchtlingsbewegungen seit Mitte 2015 braucht, werden nicht genannt. Dazu gehört, das keine offenen Grenzen gefordert werden und auch dem Aufbau von Selbstschutz keine Notwendigkeit zugesprochen wird.

Für eine revolutionäre Jugendorganisation!

Die sich anbahnende Krise und der katastrophale Rechtsruck in Europa machen die Notwendigkeit der Jugend eine einheitliche und revolutionäre Führung zu geben überdeutlich. Wir müssen endlich die aktuelle Führungskrise überwinden und uns für die kommenden Kämpfe wappnen! Dazu braucht es eine sozialistische Organisation mit einem klaren Programm, einem lebendigen demokratischen Innenleben und einheitlichen Aktionen nach außen. Gerade im Rahmen unserer Intervention in [solid‘] und der RL hat sich gezeigt, das keine dieser Strukturen in der Lage sind sich zu so einer Organisation zu entwickeln und die momentane Führungskrise der Jugend als auch der Klasse der Lohnabhängigen als Ganzes zu lösen. Schade auch, dass die SAV die Diskussion, wie eine solche Führung zu schaffen ist, nicht mehr mit uns weiter führen möchte. Dies zeigt sich dadurch, dass sie zum Beispiel Anträge innerhalb der RL durchboxte, die Programmdiskussionen auch auf kommenden Treffen unterbinden. Die SAV zeigt dadurch hervorragend, was sie von der reformistischen Bürokratie in der Linkspartei gelernt hat: bürokratische Manöver.

Ein Austritt unsererseits aus der RL und eine Konzentration auf die eigene Arbeit ist somit mehr als gerechtfertigt. Natürlich arbeiten wir gerne auch in Zukunft mit linken Teilen von [solid‘] und der SAV zusammen, um eine größere Aktionseinheit wie auch Gruppen übergreifende
Diskussionen innerhalb der Linken zu schaffen. Eine organisatorische Einheit ist allerdings nicht mehr gerechtfertigt. Unser eigentliches Ziel, nämlich den linken Flügel in [solid‘] organisatorisch auf die notwendigen Auseinandersetzungen mit der rechten Führung bis hin zum Bruch vorzubereiten, haben wir nicht erreicht. Trotzdem war unsere Arbeit nicht umsonst: Wir haben eine klare Kritik am Reformismus von [solid‘] und dem Zentrismus der RL und der SAV formuliert. Darüber hinaus haben wir REVOLUTION deutschlandweit bekannter gemacht, Kontakte herstellen können und einige Mitglieder in Fulda und Bonn dazu gewonnen. In Fulda wurde im Juni 2015 aus der solid-Gruppe eine sehr aktive REVOLUTION Ortsgruppe, die sich in einer konservativen 60.000 Einwohner_Innenstadt länger als sämtliche andere Jugendorganisationen links der Jungen Union halten konnte und kann.

[1] „Rückblick auf den Bundeskongress 2016“, Der Funke

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Brasilien – neoliberales Wunderland?

Brasilien gehört heute zu den aufstrebenden Schwellenländern, den sogenannten BRIC-Staaten. Als dieser Begriff 2001 von der Rating-Agentur Goldman Sachs geprägt wurde, machten die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) zusammen 12 % am Welt-BIP aus. Heute liegt dieser Anteil bei satten 25 % – die Rolle dieser Länder in der Weltwirtschaft hat also enorm zugenommen. In welche Richtung die ENtwicklung Brasiliens geht erläutert Rico Rodriguez.

Das trifft auch auf Brasilien zu, das heute vor allem Rohstoffe (Metalle, Erze etc.) und Agrarprodukte (Soja, Fleisch, Kaffee etc.) in die ganze Welt exportiert, aber auch die größte Industrie in Lateinamerika besitzt. Brasilianische Konzerne wie Petrobras (Öl und Gas), Vale (Bergbau) und Embraer (drittgrößter Flugzeughersteller der Welt) und Banken wie Bradesco und Itau spielen vor allem in Lateinamerika, aber auch zunehmend darüber hinaus eine große Rolle.

Auf einem guten Weg?

Im Gegensatz zu China wird Brasilien heute von vielen auch eine positive politische Entwicklung unterstellt. Nach zwei Jahrzehnten Militärdiktatur (1964 – 1985) gilt das Land heute als vorbildliche Demokratie für Südamerika. In den letzten 10 Jahren hatte das Land fast ein konstantes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen, im Schnitt von ca. 5 %. 2010 nach der Finanzkrise konnte sogar ein Rekordwachstum von 7,5 % erreicht werden, was aber 2011 wieder recht harsch auf 4 % zurück fiel.

Die Finanzkrise konnte das Land bisher gut verkraften. Einerseits ist das Land weniger stark vom Export abhängig als andere Schwellenländer (der Export macht 13 % des BIP aus), andererseits hat das brasilianische Kapital auch von den hohen Weltmarkt-Preisen für Rohstoffe profitiert (in scharfem Gegensatz zu vielen Entwicklungsländern). Darüber hinaus haben viele Anleger aus den imperialistischen Ländern nach profitablen Anlegemöglichkeiten gesucht – und da ist gerade Brasilien hoch im Kurs. Als weiterer Grund spielt schließlich der relativ regulierte Bankensektor eine Rolle. Brasilianische Banken hatten ihre Finger relativ wenig bei globalen Finanzspekulationen im Spiel.

So konnte die Regierung auf ein solides Wachstum in den vergangenen 10 Jahren setzen und damit ein Ansteigen an Beschäftigung und des Binnenmarktes bei satten Gewinnen für die brasilianische Bourgeoisie verzeichnen.

Das Wachstumsmodell basiert auf einer stetigen Ausweitung des Konsums und einer Liberalisierung des Arbeitsmarktes und aller anderen Bereiche, also auf einem zügellosen Kapitalismus. Und das hat natürlich auch seine Schattenseiten, doch darauf kommen wir später.

Die PT-Regierung, sozial für die Arbeiter?

Dilma und Lula verstehen sich gut – untereinander und mit der Bourgeoisie

Seit 2001 regiert in Brasilien die Arbeiterpartei „Partido dos Trabalhadores“ (PT) mit einer Koalition aus anderen „linken“ Parteien. Als der Führer der PT Lula da Silva 2001 im vierten Anlauf die Wahlen gewann, war das eine Sensation in Brasilien, die gleichzeitig die Armen jubeln und die Reichen zittern ließ. Kein Wunder, Lula war Gewerkschaftsführer aus Sao Paulo. Die PT wurde 1983 im Zuge massiver Arbeitskämpfe gegründet, die auch einen politischen Charakter gegen die Militärdiktatur annahmen. Lula war Gewerkschafter in Sao Paulo und führte viele der damaligen Streiks an. Deswegen war er enorm beliebt unter den Arbeiter_innen im ganzen Land.

Außerdem war die PT schließlich eine Partei, die den Sozialismus zum Ziel hatte. Doch Lula hatte die Kapitalisten schon vor seiner Wahl beruhigt – die ganz großen Änderungen würden unter seiner Regentschaft nicht zu erwarten sein. Er machte ein Abkommen mit dem IWF, dass die Auslandsschulden weiter bediente und die Auflagen nicht brach. Nach seiner Wahl setzte er gleich Henrique Meirelles von der rechten Partei PSDB und Chef der „Bank Boston“ als Zentralbank-Chef ein. Ein „klares Signal“ an die einheimische und internationale Bourgeoisie.

So führte der „Arbeiterführer“ im Wesentlichen auch den neoliberalen Kurs seines Vorgängers Fernando Henrique Cardoso (FHC) fort. Er musste allerdings nicht mehr so viel privatisieren, das hatte sein Vorgänger schon erledigt. Die großen Versprechen hat er allesamt gebrochen. Er machte keine der Privatisierungen aus den 90ern rückgängig, eine konsequente Landreform wurde nie durchgeführt, die Mindestlöhne verbleiben auf einem niedrigen Niveau, der Raubbau an Mensch und Natur geht ungehindert weiter. Die Renten wurden unter seiner Regierung sogar weiter privatisiert: während FHC „lediglich“ die Renten für die Beschäftigten im privaten Sektor privatisiert hatte, dehnte Lula das auf die öffentlich Beschäftigten aus.

Auch seine Nachfolgerin Dilma, seit Ende 2010 Präsidentin, ebenfalls von der PT, setzt diesen Kurs fort. Gerade hat sie ein Konjunkturpaket für brasilianische Firmen aufgelegt. Insgesamt 26,3 Milliarden Euro werden der brasilianischen Bourgeoisie geschenkt, demgegenüber stehen Kürzungen im Haushalt 2011 von 20 und 2012 von 24 Milliarden Euro. Geld das natürlich vor allem im sozialen Bereich gespart wird. Gleichzeitig wurde ein neues Waldgesetz verabschiedet (Código Florestal), dass es den Agrarmultis erleichtert, weiter Wald für ihre Monokulturen zu roden.

Die Kehrseite der Medaille…

Das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre basiert auf der extrem neoliberalen Politik unter FHC in den 90ern. Damals wurden alle großen Staatsbetriebe privatisiert und der Arbeitsmarkt liberalisiert. So haben prekäre Beschäftigungsverhältnisse überall in Brasilien zugenommen. Jugendliche finden fast nur noch über Leiharbeit eine Anstellung, werden schlecht bezahlt und können jederzeit entlassen werden (das kommt uns irgend woher bekannt vor…).

Die Bewohner_innen des „Pinheirinho“ rüsten sich gegen die Räumung ihres Viertels, das dem Erdboden gleichgemacht werden soll…

Zwar können sich heute viele Arbeiter_innen Handys und Fernseher kaufen. Doch was nützt das, wenn man in ständiger Unsicherheit lebt, das Bildungs- und Gesundheitssystem immer mehr ausgedünnt werden und die Rentenversicherung privatisiert wird? Ein großes Problem in Brasilien ist auch der Verkehr. Immer mehr Leute können sich Autos kaufen, was auch extrem propagiert wird. Ein Auto ist gleichbedeutend mit Entwicklung und Wohlstand. Doch der Verkehr in den Großstädten wird immer schlimmer. Es gibt praktisch keine Stadt- und Verkehrsplanung, und die Straßen sind hoffnungslos überfüllt. Stundenlange Staus stehen für Stadtbewohner_innen an der Tagesordnung. Der öffentliche Nahverkehr wurde natürlich auch privatisiert. Seitdem ist er teuer, wird immer schlechter und

ausgedünnt.

… doch gegen die Militärpolizei, die das Viertel mit massiver Brutalität – Tränengas, Schlagstöcken und Gummigeschossen – räumt, haben sie letztlich keine Chance, vorerst.

So ist auch die Wohnsituation in den Großstädten bei gleichzeitiger Landflucht ein großes Problem in Brasilien. Die Mieten sind unglaublich hoch, heute bereits auf europäischem Niveau. Ein Apartment in Rio de Janeiro für eine Person kostet locker 300 Euro. Ein Lehrer an einer staatlichen Schule verdient dem gegenüber gerade mal 500 Euro! In diesem Zusammenhang wurde Anfang dieses Jahres eine illegale Siedlung in Sao Paulo geräumt. Die Siedlung „Pineirinho“ wurde auf einem verlassenen Gelände errichtet, das einem Kapitalisten gehört. Die Bewohner haben es 2004 aus Wohnungsmangel besetzt und seitdem haben sich dort 6000 Menschen angesiedelt, darunter viele Familien mit Kinder. Der Kapitalist wollte sein Land jetzt wieder haben. Die Siedlung wurde Ende Januar von 2000 Militärpolizisten geräumt, die Bewohner_innen vertrieben – mit Tränengas, Schlagstöcken und Gummigeschossen. Und das ist keineswegs ein Einzelfall, sondern Programm in Brasilien.

Die Fußball-Weltmeisterschaft

Gerade sind die Menschen in Europa wieder im nationalistischen EM-Fieber. 2014 wird die WM in Brasilien stattfinden. Glaubt man der Regierung und der FIFA – ein Segen für das Land. Doch wie immer werden hier knallharte Geschäfte gemacht, die tatsächlichen Gewinner sind große Konzerne. Milliarden werden in Stadien investiert, gleichzeitig weigert sich die PT-Regierung seit Jahren, den Mindestlohn der Lehrer_innen zu heben (siehe dazu auch unseren Artikel zur WM in Südafrika).

Die Wohnungsnot wird durch die WM massiv verschärft. In den Großstädten steigen die Mieten weiter, internationale Investoren wüten auf dem Wohnungsmarkt, die lokale Bevölkerung wird verdrängt. Und der Staat hilft kräftig nach. Unliebsame Siedlungen werden von der Regierung zerstört. In der Nähe der Stadien
liegen oft Favelas. Doch die Regierung will Brasilien der Welt als Land des Fußball und des Samba präsentieren: ärmliche Wohngegenden stören da nur. So wird den Bewohner_innen eine Ersatzwohnung im Randgebiet der Städte angeboten. Wenn sie dem Angebot nicht nachkommen, werden sie geräumt und die Wohnungen zerstört.

Dieses Schicksal erlitt z.B. die Favela „Metro“ in der Nähe des weltberühmten Stadions Maracana in Rio. Heute sind nur noch Reste der Häuser übrig.

Einige Arbeiter_innen der Stadienbaustellen dachten sich, sie wollen mehr von dem Kuchen abhaben. Also streikten sie für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Prompt wurde eine Gesetzesinitiative vorgebracht, die den Arbeiter_innen das Streiken verbieten soll – von einem Senator der PT! Begründung: die Weltmeisterschaft sei nationales Interesse und die Arbeiter_innen würden das zum persönlichen Vorteil ausnutzen. Bei allem Verrat der PT ein Satz, der einem die Sprache verschlägt.

Welche Aufgaben für die revolutionäre Linke?

Die Liste von Schweinereien und Problemen könnte noch weiter fortgesetzt werden. Bei all diesen Dingen wird klar: der Kapitalismus bietet auch für die brasilianische Arbeiterklasse und die Bauernschaft keine Perspektive. Er zerstört die Umwelt in rasantem Ausmaß und beutet die Menschen immer schärfer aus. Dass dabei bei hohem Wirtschaftswachstum ein paar Krümel vom Tisch fallen, darf darüber nicht hinweg täuschen!

Die PT hat mehr als bewiesen, dass von ihnen keine ernsthaften Änderungen zu erwarten sind. Sie sind heute treue Handlanger des Kapitals. Es ist zu erwarten, dass bei sinkendem Wirtschaftswachstum weitere Angriffe auf die Arbeiterklasse unter ihrer Regierung zu erwarten sind. Auch die 2004 gegründete Linkspartei PSOL stellt keine Alternative für die Arbeiterklasse dar. Sie hat zwar ein weit linkeres Programm als die PT, hat es aber nie über den Reformismus hinaus geschafft.

Was in Brasilien notwendig ist, ist der Aufbau einer revolutionären Partei der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der Jugend. Eine Partei, die den Sturz des Kapitalismus auf die Tagesordnung setzt und dafür ein Programm entwickelt. Eine sozialistische Revolution in dem wirtschaftlich starken und politisch bedeutsamen Brasilien würde eine unglaubliche Ausstrahlung auf ganz Lateinamerika haben, allen voran die Länder mit links populistischen Regierungen wie in Venezuela, Bolivien und Ecuador, deren Präsidenten der Bevölkerung seit Jahren „einen neuen Sozialismus“ versprechen.

Dafür muss vor allem eine Einheitsfront-Politik entwickelt werden. Ob wir es wollen oder nicht – die PT hat immer noch die Führung über die Arbeiterklasse inne. Deshalb muss die PT aufgefordert werden, ihre Versprechungen einzuhalten und umzusetzen. In der Praxis müssen die Arbeiter_innen erkennen, dass von dieser Regierung nichts mehr zu erwarten ist.

Gleichzeitig muss jedoch ohne Schonung der Kampf gegen die Angriffe der brasilianischen und internationalen Kapitalist_innen geführt werden – auch dort, wo die PT den Kampf verweigert. Das muss und kann der Ausgangspunkt für den Aufbau einer neuen, revolutionären Partei in Brasilien werden. REVOLUTION unterstützt und begrüßt daher die Gründung der neuen Sektion der „Liga für die fünfte Internationale“ in Brasilien und wird gemeinsam mit ihr für die Interessen der Jugend und der Arbeiterklasse in Brasilien eintreten.

Ein Artikel von Rico Rodriguez, REVOLUTION-Hamburg