Anakin, Han Solo und der Konsens: Wie in Filmen übergriffiges Verhalten normalisiert wird

Von Jona Everdeen, März 2024

Wer kennt sie nicht, die romantische Szene, in der sich die beiden Hauptfiguren zum ersten Mal küssen? Was in der Regel fehlt: der Konsens. Warum sollte unser Filmheld auch seine Love Interest fragen, bevor er sie an sich zieht und seinen Mund auf ihren drückt? Es war doch eh schon von Anfang an klar, dass sie ihn auch will – oder?

Diese Darstellung von romantischen Beziehungen und körperlicher Intimität ist nicht bloß eine filmische Entscheidung, sondern hat für Zuschauende Vorbildfunktion. Insbesondere Jugendliche werden dazu verleitet, sich an der Popkultur zu orientieren, weil der Sexualkundeunterricht in der Schule dieses Thema kaum behandelt.

Fehlender Konsens im Film trägt dazu bei, dass die Frage nach Konsens auch im echten Leben entweder als überflüssig und ungewohnt wahrgenommen wird, und dass ein „Nein“ für manche Männer so wirkt, als wäre ihnen ein fundamentales Recht entzogen worden.

Wenn wir diesen Ablauf immer wieder präsentiert bekommen und nie eine alternative Möglichkeit gezeigt wird, bleibt irgendwann nur noch eines hängen: „Mein Filmheld küsst seinen Crush bei romantischer Musik einfach auf den Mund; warum sollte ich das bei meinem Crush nicht auch dürfen?“

Anakin mag keinen Konsens

Veranschaulichen lässt sich das Problem an Star Wars, einem der weltweit beliebtesten Film-Franchises. In der Original-Trilogie wird die Romanze zwischen Prinzessin Leia und dem Schmuggler Han Solo erzählt, in den Prequels die zwischen Padmé Amidala und Anakin Skywalker. Diese Beziehungen werden als süß und romantisch porträtiert, obwohl sich beide Filmhelden nicht konsensuell verhalten.

So erzählt Anakin Padmé in Episode II – Angriff der Klonkrieger ausführlich, dass er keinen Sand mag, fragt sie aber nicht, wie sie es findet, dass er mit seiner Hand ihren Rücken streichelt und sie küsst. Zwar erwidert Padmé Anakins Gefühle und wirkt nicht abgeneigt, allerdings konnte Anakin das vorher nicht wissen, da ihr Auftreten ihm gegenüber zuvor rein freundschaftlich wirkte.

Wenn ein Schweigen als Zustimmung gedeutet wird, besteht die Möglichkeit, dass eine Person sich nicht aus freiem Willen an einer Handlung beteiligt, sondern aus Angst oder gesellschaftlichem Druck, oder weil sie überrumpelt wurde und nicht schnell genug reagieren konnte. Deshalb zählt nur ein explizites „Ja“ als Zustimmung, und auch weiteres Nachfragen zwischendurch schadet nie.

Han Solo, der Macker

Während Anakin in Kauf nimmt, Padmés Grenzen zu missachten, handelt es sich bei Han Solos Verhalten um eine eindeutige sexuelle Grenzüberschreitung. In Episode V – Das Imperium schlägt zurück macht Leia Han klar, dass sie kein Interesse an romantischen oder sexuellen Interaktionen mit ihm hat.

Anstatt das zu respektieren, nutzt Han die Situationen aus, in denen er mit ihr allein ist, indem er sie begrabscht, scheinbar versehentlich, in Wahrheit aber ganz bewusst. In der berühmten Kussszene auf dem Millennium Falken können insgesamt 8 verbale und nonverbale Signale von Leias Ablehnung gezählt werden. Daraufhin macht Han sich sogar über ihre Ablehnung lustig und redet ihr ein, dass sie eigentlich das Gegenteil meinen würde.

Han verhält sich kalkuliert übergriffig und sein Bro Chewie macht das, was Typen eben machen, wenn es ihre Homies betrifft: wegschauen. Der Film stellt das nicht als problematisch dar, sondern als süße Romanze. Die Rebellenallianz verpflichtet Han nicht etwa dazu, seine Handlungen zu reflektieren und sein Verhalten zu ändern; stattdessen wird sein übergriffiges Vorgehen als „coole Gangstermanieren“ verklärt.

Wie geht Konsens?

Anstatt über die Beschaffenheit von Sand zu reden, sollte Anakin Padmé fragen: „Ist es okay, wenn ich deinen Rücken streichle?“ und „Darf ich dich küssen?“, und diese Handlungen erst durchführen, wenn sie mit „Ja“ antwortet – so sieht Konsens aus. Das ist natürlich jetzt sehr verkürzt, denn nicht immer heißt ein „Ja“ auch, dass die andere Person es gerade wirklich möchte. Rollenbilder und Unterdrückung sind ein Grund dafür. Daher sollte auch auf den Kontext geachtet werden und auf die Körpersprache.

Es ist aber wichtig, dass solche Zeilen nicht nur als „Formsache“ ins Drehbuch hinzugefügt werden, bevor die intime Szene wie selbstverständlich erfolgt. Stattdessen sollte auch abgebildet werden, wie Figuren klare Grenzen setzen und wie diese vom Gegenüber respektiert werden. Zum Beispiel in Form von: „Nein“, „Ja, aber nur auf diese Körperstelle“ oder „Nur ohne Zunge“. Bestenfalls geht die Kommunikation über Grenzen und Bedürfnisse aber nicht erst dann los, wenn es auch zur Sache kommt. Das kann Druck rausnehmen und sollte daher keineswegs optional sein.

Hinsichtlich der filmischen Gestaltungsmittel sollten diese Szenen nicht als „cringe“ dargestellt werden. Ja, das kann manchmal alles ganz schön unangenehm sein! Noch unangenehmer ist es aber, so eine wichtige Sache wie Konsens auf der Leinwand unauthentisch und karikiert darzustellen. Denn Konsens ist nicht immer sexy, Konsens ist immer notwendig! Falls du mehr darüber erfahren möchtest, als wir in diesem Text abbilden können, empfehlen wir dir, unsere Konsensbroschüre durchzulesen, die viel Anregung und Tipps bereithält.

Außerdem sollten Filmproduzent:innen lernen, andere Wege als Küsse finden, um romantische Gefühle zu signalisieren. So bekommen Jugendliche die Chance zu lernen, dass es keine Pflicht gibt, den sexuellen Wünschen anderer Personen nachzukommen – auch, wenn sie sich in einer romantischen Beziehung befinden.

Ebenfalls muss gezeigt werden, dass die Figuren nach einer Zurückweisung weiterhin in Kontakt stehen können, ohne, dass der Protagonist sich in einen beleidigten Incel verwandeln muss. Übergriffige Macker sollten in Filmen nicht als Helden gefeiert, sondern als die Täter dargestellt werden, die sie sind!

Die Vorbildfunktion von Medien

Weil Leia sich gerade aufgrund von Han Solos Art in ihn verliebt, sendet der Film den Zuschauenden falsche Signale. Er suggeriert Mädchen, dass es okay wäre, wenn Typen sie bedrängen und anfassen, obwohl sie das nicht wollen, und dass diese Typen besonders cool wären.

Jungs hingegen gibt der Film zu verstehen: „Wenn sie dich abweist, kannst du ruhig weitermachen, irgendwann wird sie sich in dich verlieben und erkennen, was für ein cooler Typ du bist!“ Jungs und Männer mit genau dieser Einstellung verschicken dann auf Instagram Dick Pics an fremde Mädchen oder belästigen als „Pick-up-Artists“ Frauen auf der Straße.

Nun könnte man sagen, dass es okay wäre, wenn Filme, die der Unterhaltung dienen sollen, nicht unsere Wunschvorstellung von Sexualität widerspiegeln. Allerdings haben Filme immer auch eine Vorbildfunktion. Dass Medien großen Einfluss auf Kinder und Jugendliche haben, ist kein Geheimnis, wie die FSK/USK-Regelungen beweisen.

Dass Episode V erst ab 12 Jahren freigegeben ist, liegt jedoch nicht an der Grabsch-Szene, sondern an der Folter, der Han Solo im späteren Verlauf der Handlung ausgesetzt ist. Hier zeigt sich, welche Gewalt der Jugendschutz als solche erkannt und welche nicht. Auf eine solche verbietende Instanz können wir also nicht vertrauen, wenn es darum geht, Medienkompetenz zu entwickeln und Jugendliche zu schützen!

Sexualkundeunterricht: Ungenügend

Die Vorbildfunktion von Filmen wird dadurch verstärkt, dass wir nirgendwo anders lernen, wie man sich konsensuell verhält, weshalb Jugendliche häufig auf die Darstellung in Medien zurückgreifen. Schuld daran ist auch unsere Bildung.

Im Sexualkundeunterricht, insofern er überhaupt stattfindet, lernen wir bestenfalls, wie man ein Kondom über eine Gurke zieht und wie Genitalien aufgebaut sind – und selbst da können wir uns nicht darauf verlassen, dass die Klitoris richtig abgebildet wird. Wir erfahren nicht, worauf wir noch achten müssen, wenn wir mit anderen intim werden, der Unterricht bleibt heteronormativ, und wie man konkret Sex hat, bleibt ein Mysterium.

Dass die zentrale Bedeutung von Konsens im Sexualkundeunterricht schlichtweg ignoriert wird, ist grob fahrlässig und sorgt dafür, dass es Jugendlichen meist nicht möglich ist, konsensuelles Handeln zu lernen.

Seit der Anpassung des Sexualstrafrechts im Jahr 2016 ist das „Nein heißt Nein“ Prinzip einigermaßen bekannt. Doch das „Nur Ja heißt Ja“ Prinzip bekommt man nur durch anderweitige Sozialisierung beigebracht, wie progressive Freund:innen oder linke Politgruppen.

Was wir zusätzlich brauchen, ist eine zeitgemäße, tabulose Aufklärung durch Lehrkräfte, denen klar ist, dass sexistische Gewalt für viele von uns Alltag ist! Wir sollten die Möglichkeit bekommen, uns all den Faktoren bewusst zu werden, die uns in unserer freien Entscheidung einschränken, von Amatonormativität bis Slutshaming, damit wir anfangen können, gegen diese vorzugehen.

Zudem sollten wir im Unterricht lernen, Filme nicht nur allein und passiv zu konsumieren, sondern die Darstellungen von Intimität zu hinterfragen, das Gesehene und Gehörte zu reflektieren und darüber mit anderen in Austausch zu gehen.

Das Patriarchat auf der Leinwand

Star Wars ist nur einer von vielen Fällen, in denen fehlender Konsens der Start für eine romantische Beziehung ist. Bei jüngeren Filmproduktionen ist die Aufmerksamkeit für das Thema zwar gestiegen und ein Filmheld wie Han Solo würde vermutlich nicht mehr so krass übergriffig dargestellt werden. Aber echter Konsens ist immer noch kaum zu finden.

Das liegt daran, dass Filme und Serien Produkte sind, die von kapitalistischen Großkonzernen geschaffen werden. Auch, wenn in letzter Zeit oberflächliche linke Positionen Einzug in manche Genres erhalten haben, bleibt die Funktion dieser Medien die Reproduktion bürgerlicher Ideologie. Dazu gehört auch das Patriarchat, denn die Frauenunterdrückung entwickelte sich, um in Klassengesellschaften das Eigentum zu schützen und hat heute u.a. die Funktion, die Reproduktion der Arbeitskraft abzusichern. Die fehlende Selbstbestimmung bei der Sexualität dient im Kapitalismus beispielweise dazu, Frauen in die Rolle des Gebärens und Aufziehens neuer zukünftiger Arbeitskräfte zu drängen.

Von Disney, Warner und Co. Können wir daher sicher keinen tatsächlichen Antisexismus erwarten, sondern höchstens weichgespültes Pseudo-Empowerment, welches den aktuellen Zeitgeist zu Geld macht, aber das Fundament der Unterdrückung nicht ankratzt.

Was es stattdessen braucht

Diese Konzerne müssen wir unter der Kontrolle der Arbeiter:innen enteignen und die Produktion von Filmen und Serien sowie den Jugendschutz mithilfe von Arbeiter:innenkomitees demokratisieren!

Das wäre nicht nur ein erster Schritt, um reaktionäre Ideologien und daraus resultierende Umgangsformen aus der Popkultur zu verbannen – die Demokratisierung der Filmbranche ist zudem notwendig, um den zahlreichen sexualisierten Übergriffen hinter der Kamera ein Ende zu setzen und allen Nachfolgern von Weinstein und Schneider für immer das Handwerk zu legen.

Wir können natürlich nicht einfach darauf hoffen, dass Jugendliche dann durch Zufall die „richtigen“ Filme sehen und sich davon abschauen, wie sie sich ihrem Crush gegenüber korrekt zu verhalten haben. Ein stumpfes Ursache-Wirkung-Verhältnis ist beim Medienkonsum nicht gegeben, denn unsere Sozialisierung setzt sich aus zahlreichen, komplizierten Faktoren zusammen, die miteinander in Wechselwirkung stehen.

Um einen echten Ausweg aus der Rape Culture zu finden, müssen wir das darunterliegende System, den Kapitalismus, restlos zerschlagen und an seine Stelle eine sozialistische Gesellschaftsordnung ohne Ausbeutung setzen, in dem Selbstbestimmung und Gleichberechtigung nicht nur auf dem Papier existieren, sondern Teil des Fundaments sind und täglich gelebt werden.




Verhütung als Klassenfrage: Wie ein deutscher Pharmakonzern die Bevölkerung im Globalen Süden kontrolliert

von Erik Likedeeler, Juli 2023

Einleitung

Zwischen 2015 und 2018 klagten weltweit Anwender_Innen der Verhütungsspirale Essure über Schmerzen, Blutungen, Fieber, Depressionen und ungewollte Schwangerschaften. Der Hersteller Bayer war gezwungen, das Produkt vom Markt zu nehmen – doch Schmerzensgeld bekamen nur die Betroffenen aus Europa und den USA, nicht diejenigen aus Brasilien.

Rassistische Unterdrückung in der Verhütungsbranche lässt sich nicht als einzelner „Vorfall“ oder „Skandal“ beschreiben – vielmehr gehörte sie von Anfang an zur grundlegenden Aufgabe dieser Industrie.

Im Jahr 2020 war der globale Verhütungsmarkt mehr als 26 Milliarden US-Dollar schwer und soll sich bis 2030 auf 50 Milliarden US-Dollar vergrößern. In Lateinamerika, Afrika und im „Nahen Osten“ stellt die Verhütungsindustrie den am stärksten wachsenden Markt dar.

Doch welche Rolle spielt Verhütung im imperialistischen System, und wie trägt sie zur Unterdrückung von Halbkolonien bei?

Beginn der Hormonforschung: Vernichtungspolitik

Die Geschichte der Verhütungstechnologie ist nicht ohne die Geschichte der gezielten Bevölkerungskontrolle vorstellbar. Denn Reproduktion ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die wirtschaftliche und kulturelle Expansion.

So war die erste Motivation für die Forschung an hormoneller Verhütung keine Gleichstellungs- sondern Vernichtungspolitik. Maßgeblich etabliert wurde sie durch das NS-Regime.

In den 1930er Jahren fand der SS-Arzt Carl Clauberg heraus, dass sich durch synthetische Hormone die Menstruation und damit auch der Eisprung verhindern lassen. 1942 wurde er im Auftrag von Heinrich Himmler in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau geschickt. Sein Ziel war es, eine „effiziente“ Methode zu finden, um möglichst viele Frauen ohne eine komplizierte Operation unfruchtbar zu machen. Bis zum Kriegsende führte er schmerzhafte bis tödliche Experimente an Hunderten von Menschen durch.

Verhütung unter kolonialem Vorzeichen

Die ersten Verhütungspillen wurde in den 1950er Jahren in den USA entwickelt. Zunächst wollte die männlich dominierte Pharmaindustrie nichts mit dieser Angelegenheit zu tun haben. Deshalb übernahm die Biologin und Millionenerbin Katharine McCormick die Finanzierung der Forschung.

Ihr Motiv war es, Schwangerschaften bei armen und ungebildeten Personen zu verhindern, um ganz im Sinne der Eugenik die „Qualität“ des Bevölkerungsdurchschnitts zu heben. Ihre Testpersonen waren unter anderem Patientinnen einer psychiatrischen Anstalt. Dabei wurde 16 Frauen der Uterus aufgeschnitten, um die Wirkung der Hormone an den Organen nachzuvollziehen.

Bei diesen Experimenten waren koloniale Bestrebungen schon von Beginn an eingeplant. Es gab eine großangelegte Studie an puerto-ricanischen Frauen, die in Slums lebten. Diese wurden nur unzureichend über das Medikament aufgeklärt; die Nebenwirkungen wurden heruntergespielt. Fünf Frauen sollen während der Testreihe ums Leben gekommen sein, eine davon durch Suizid.

Erst als der wirtschaftliche und neokoloniale Nutzen der Verhütungsmittel Bekanntheit erlangte, erfuhr ihre Herstellung und Vermarktung gesellschaftliche Akzeptanz. Mitte der 1960er Jahre entstanden in den USA Gesundheitszentren, die sich mit Familienplanungsprogrammen und kostenlosen Verhütungsmitteln besonders an die Schwarze Bevölkerung richteten.

Es entstanden neue Gesetze, welche Sterilisationen und den Einsatz von minderwertigen Langzeitverhütungsmitteln bei Schwarzen Frauen rechtfertigen sollten. Beispielweise wurden Sozialwohnungen manchmal nur dann an Schwarze Frauen vergeben, wenn diese zustimmten, sich Verhütungsimplantate einsetzen zu lassen. Doch wenn das finanzielle und soziale Überleben auf dem Spiel steht, kann von „Zustimmung“ keine Rede mehr sein.

Wie viel Selbstbestimmung steckt im Hormonimplantat?

Mit diesen Gesetzesänderungen begann eine neue Reihe von medizinischen Verbrechen. Ab 1971 bekamen insgesamt 2,8 Millionen Frauen die Spirale Dalkon Shield eingesetzt, darunter hauptsächlich Women of Color. Viel zu spät wurde bekannt, dass Dalkon Shield zu heftigen Verletzungen des Uterus, Entzündungen des Vaginaltrakts, ungewollten Schwangerschaften und zum Tod führte. Obwohl das Risiko den zuständigen Wissenschaftler_Innen bewusst war, wurde die Spirale erst 1974 vom Markt genommen. Sie wurde direkt nach Asbest zum weltweit zweitgrößten Fall von Schadensersatzanklagen.

Ebenfalls in den 1970er Jahren wurde in den USA die Verhütungsspritze Depo Provera verboten, nachdem sie an Schwarzen und an verarmten weißen Frauen getestet worden war. Ihre Nebenwirkungen sind unter anderem Krebs und dauerhafte Unfruchtbarkeit. In Großbritannien und Australien wurde sie in den 1980ern weiterhin Schwarzen, Indigenen und verarmten weißen Frauen verabreicht, denen nichts von der Gefahr mitgeteilt wurde.

In den 1990ern wurde Depo Provera auch in den USA erneut eingeführt. Noch heute verhüten damit 74 Millionen Frauen, hauptsächlich in Sub-Sahara-Ländern wie Namibia, Südafrika und Madagaskar.

Ebenfalls in den USA der 1980er und 1990er mussten sich Schwarze Menschen, die positiv auf Drogen getestet worden waren, zwischen Gefängnis und dem Verhütungsimplantat Norplant entscheiden. Norplant ist dafür bekannt, Schmerzen, Blutungen, Kopfschmerzen und Schwindel auszulösen. Aufgrund von Nebenwirkungen wie Depressionen, Blindheit und Hirntumoren wurde es 2002 vom Markt genommen.

Neuer Name, altbekannte Nebenwirkungen

Nur wenige Jahre nach der internationalen Kritik zu Norplant lieferte Bayer bereits das Nachfolgermodell Jadelle. Der Name des Produkts hat sich zwar verändert, doch der Wirkstoff, die Anwendungsart und die Nebenwirkungen sind genau die gleichen wie zuvor. Der einzige Unterschied ist die Anzahl der Stäbchen, die in den Oberarm implantiert werden.

Heute bringt Bayer minderwertige Langzeitverhütungsmittel wie Jadelle gezielt in die Arztpraxen von Halbkolonien. Das funktioniert so, dass Regierungen oder internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen oder die Bill & Melinda Gates Foundation die Implantate und Spritzen in gigantischen Summen von Bayer kaufen, um sie billig oder kostenlos an Frauen aus Afrika und Südasien zu verteilen.

Jedes Jahr werden Millionen von Frauen Hormonpräparaten mit schwerwiegenden Nebenwirkungen ausgesetzt. Das ist der Grund dafür, warum 58% der Nutzerinnen von Jadelle das Produkt bereits vor dem Ablauf der veranschlagten 5 Jahre entfernen lassen. Während der Anwendungszeit kann das Implantat so fest in den Oberarm einwachsen, dass Haut und Fleisch mitentfernt werden müssen.

Der Mythos Überbevölkerung

Der eigentliche Grund für die globale „Entwicklungspolitik“ ist die weit verbreitete und zutiefst rassistische Vorstellung, es gäbe in Halbkolonien eine Überbevölkerung, die bekämpft werden müsste. Dadurch sollen gesellschaftliche Krisen, welche eigentlich durch den Kapitalismus hervorgerufen werden, im Sinne der imperialistischen Machtverteilung vorübergehend abgemildert werden.

Als Kommunist_Innen wissen wir, dass es keine Überbevölkerung gibt und dass Hunger und Armut sich nicht auf ein Bevölkerungswachstum zurückführen lassen. Das eigentliche Problem ist die kapitalistische Produktionsweise, bei der ein Großteil der Anbaufläche für Tierfutter genutzt wird und Lebensmittel im Müll landen anstatt auf dem Teller. Eine Produktionsweise, bei der Kapitalist_Innen den Mehrwert unserer Arbeit für sich behalten und sich die Ressourcen von Halbkolonien aneignen.

Die globalen Ausbeutungsverhältnisse aufzuheben, liegt nicht im Interesse der herrschenden Klasse. Statt durch Umverteilung und Planwirtschaft sollen Krisen aufgehoben werden, indem die bürgerliche Kleinfamilie mit wenigen Kindern zum allgemeinen Emanzipationsideal erklärt wird.

In den ärmsten Ländern der Welt ist das kaum umzusetzen, denn dort ist die Kindersterblichkeit hoch und Nachkommen stellen die einzige Form der Altersvorsorge dar. Auch in Deutschland verlor das Interesse an vielen Nachkommen erst an Relevanz, nachdem die Arbeiter_Innenbewegung die Rentenversicherung erkämpft hatte.

Sollte die Pille abgeschafft werden?

Angesichts all dieser Probleme wäre es leicht, die Forderung aufzustellen, dass solche Giftmittel wie Hormonimplantate und Verhütungsspritzen sofort verboten gehören. Doch die Abschaffung der aktuellen Verhütungsmittel wäre ein komplett falscher Schritt, solange keine besseren Alternativen existieren.

Wir stehen vor dem sogenannten Verhütungsparadox: Ein Verhütungsmittel kann gleichzeitig zur Selbstbestimmung und zur Fremdbestimmung dienen, je nachdem, zu welchen Teilen es freiwillig und aus einer selbstbestimmten Entscheidung heraus angewendet wird, und zu welchen Teilen Zwang und fehlende Alternativen die Ursache sind.

Umso relevanter ist es heute für uns, progressivere Forderungen zu vertreten und dem Recht auf Selbstbestimmung die oberste Priorität einzuräumen. Die Frage nach der Verhütung ist essentiell für den Kampf gegen Frauenunterdrückung. Deshalb müssen wir für die Ausweitung der Forschung in medizinisch gut verträgliche und sichere, nicht-hormonelle Alternativen eintreten – für alle Geschlechter.

Forderungen

  • Kostenlosen Zugang zu sicherer Verhütung, medizinischer Beratung und sexueller Aufklärung weltweit!
  • Entschädigungszahlungen für alle Betroffenen von gesundheitsgefährdenden Präparaten!
  • Enteignung der Pharmaindustrie unter Arbeiter_Innenkontrolle! Mit unserer Gesundheit darf kein Profit gemacht werden!
  • Schluss mit den erpresserischen Verfahren der Geburtenkontrolle in halbkolonialen Ländern! Zugang zu Sozialleistungen und medizinischer Versorgung für alle, ohne Gegenleistung und finanziert durch die Besteuerung der Reichen!
  • Kampf dem Imperialismus! Für eine revolutionäre, antikapitalistische Bewegung der Jungend, Arbeiter_Innen und allen Unterdrückten dieses Systems!



Die Rolle der Pharmaindustrie im Kampf um sexuelle Selbstbestimmung

von Erik Likedeeler, Juli 2023

Erst vor kurzem wurde in Italien beschlossen, dass Verhütungspillen in Zukunft kostenlos an Menschen aller Altersgruppen ausgegeben werden sollen. Auch in Frankreich bekommen unter 26-Jährige seit diesem Jahr Kondome und Notfallverhütung gratis in Apotheken. England geht einen Schritt weiter: Dort sind sämtliche Verhütungsmittel für alle kostenfrei zugänglich.

In diesem Artikel wollen wir uns anschauen, wie die Lage diesbezüglich in Deutschland aussieht und was getan werden muss, um die Situation zu verbessern. Denn obwohl das Thema den meisten Jugendlichen aus dem Sexualkundeunterricht bekannt sein dürfte, ist das gesellschaftliche Bewusstsein gering, wenn es um Verhütung als Klassenfrage und die Rolle der Pharmakonzerne geht.

Die Einführung der Pille in der BRD und DDR

Um den Stellenwert der Verhütung in Deutschland nachzuvollziehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. In der DDR wurden die ersten Verhütungspillen ab 1965 vom Unternehmen Jenapharm produziert. Innerhalb der Sozialversicherung wurden sie ab 1972 kostenlos angeboten. Obwohl sich mit dem Namen „Wunschkindpille“ um ein positives Image bemüht wurde, wurden Stimmen laut, die vor einer „gesteigerten Wollust der Weiber“ warnten.

In der BRD wurde das erste hormonelle Verhütungsmittel ab 1961 von der Schering AG herausgegeben, einem Vorgänger-Unternehmen des deutschen Pharmakonzerns Bayer. Zunächst wurde die Pille als Mittel gegen Menstruationsschmerzen vermarktet. Auf die empfängnisverhütende Wirkung wurde nur am Rand hingewiesen, da eine negative Reaktion der Bevölkerung befürchtet wurde.

Als der eigentliche Zweck des Medikaments bekannt wurde, wurde tatsächlich vermehrt die Befürchtung geäußert, hormonelle Verhütung würde zum „Aussterben der Deutschen“ führen.

Jahrelang wurde die Pille nur mit Einverständnis des Ehemannes an verheiratete Frauen verschrieben. Zudem wurden Frauenärzt_Innen gebeten, das Mittel nur an Frauen mit mindestens zwei Kindern herauszugeben. Hier zeigten sich bereits Versuche, durch hormonelle Verhütung die Bevölkerungsentwicklung zu kontrollieren, denn Kinder sind für den Kapitalismus vor allem zukünftige Arbeitskräfte.

Der historische Vergleich von BRD und DDR zeigt, dass es in der BRD nach der Einführung der Verhütungspille tatsächlich einen Rückgang von Geburten gab. Dieser sogenannte „Pillenknick“ blieb in der DDR aus. Daraus können wir schließen, dass die Geburtenrate nicht als isolierter Faktor betrachtet werden sollte, sondern dass auch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben müssen.

Vielmehr lässt sich der „Pillenknick“ damit erklären, dass die Lebensmodelle der Frauen in der BRD im Wandel waren; immer mehr gingen studieren und arbeiten. Weil die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kaum gewährleistet war, fiel die Geburtenrate ab.

In der DDR hingegen wurden zeitgleich mit der Einführung der Pille Kinderkrippen und Wohnungen für Familien bereitgestellt, sowie bezahlte Elternzeiten angeboten. Durch die erhöhte Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurden in der DDR auch mehr Kinder geboren, wobei natürlich auch diese demographische Entwicklung mit einer zusätzlichen Belastung der Frauen durch Lohn- und Reproduktionsarbeit erkauft wurde.

Bayer und die Pille: Ein weiterer Grund zur Enteignung

Viele von uns kennen es: Schon beim ersten Besuch bei der Frauenärztin wird uns die Pille verschrieben, ohne dass eine sorgfältige Aufklärung über die Nebenwirkung stattgefunden hat. 8 Euro bekommen Frauenärzt_Innen für jede Person, die sie über Verhütung beraten – meist bleiben für die Aufklärung weniger als 10 Minuten Zeit.

Durch die 68er-Bewegung wurde die Verhütungspille in der BRD zu einem Symbol der Freiheit und Emanzipation. Dennoch ist nicht abzustreiten, dass sie auch heute noch massive Nebenwirkungen mit sich bringt, wie zum Beispiel Thrombosen, Lungenembolien und Herzinfarkte.

Viele Nebenwirkungen sind nicht genau erforscht, wie der Zusammenhang zu Depressionen und Suizidgefährdung. Zusätzlich wird vermutet, dass auch die Lernfähigkeit, die Konzentration und das Erinnerungsvermögen durch die Anwendung der Pille leiden.

In Deutschland werden jährlich Verhütungspillen im Wert von 580 Millionen Euro herausgegeben; seit Jahrzehnten ist Bayer der unangefochtene Marktführer. Bis 2019 sind mehr als 100 Menschen durch die Bayer-Pillen Yaz und Yasmin ums Leben gekommen. Zehntausende haben Herz-, Gallenblasen- und Bluterkrankungen bekommen.

Mittlerweile musste Bayer rund 2 Milliarden Euro Schadensersatz an die Betroffenen und Hinterbliebenen zahlen – doch die Produkte sind immer noch auf dem Markt.

Seit mehr Erfahrungsberichte an die Öffentlichkeit geraten, sind viele Anwender_Innen von der Pille desillusioniert. Doch auch gegen die viel beschworene „Pillenmüdigkeit“ haben die Pharmakonzerne ein Rezept: Hormonringe, welche mehrere Wochen lang im Körper verbleiben.

Dabei hält sich hartnäckig der Mythos, Hormonringe würden nur „lokal“ wirken. Doch synthetische Hormone wirken niemals nur lokal. Damit sie Signale im Gehirn auslösen, müssen die Wirkstoffe auch dorthin transportiert werden. Die Nebenwirkungen sind auch hier folgenreich: Hormonringe können jahrelange Nierenbeckenentzündungen zur Folge haben.

Entzugsblutung? Was soll das denn sein?

Zusätzlich zu all diesen Nebenwirkungen ist die Entzugsblutung ein wichtiger Faktor. Wer die Pille anwendet, weiß vermutlich, dass ein Pillenzyklus aus 21 Tabletten mit Hormonpräparaten und 7 Placebos besteht. Durch die einwöchige Pause wird die sogenannte Entzugsblutung herbeigeführt. Von medizinischer Seite aus wird meist vermittelt, dabei würde es sich dabei um die Menstruation handeln.

In Wirklichkeit hat diese Blutung keinen medizinischen Nutzen und kann sogar schädlich sein. Eine Entzugsblutung als Menstruation zu bezeichnen, spricht Menschen das Recht ab, über die Funktionen ihres eigenen Körpers Bescheid zu wissen.

Es stellt sich die Frage: Warum wurde diese Placebo-Woche überhaupt eingeführt, wenn man die Pille auch bequem durchgehend einnehmen und auf die Blutung verzichten könnte? Der ausschlaggebende Grund dafür war die Besänftigung der katholischen Kirche, welche sich in den 1960er Jahren gegen die Einführung der Pille wehrte. Allerdings stellt sie sich auch heute noch gegen jegliche Art der Verhütung, daher war die gesamte Aktion hinfällig, und Millionen von Menschen bluten jeden Monat ohne ihr Wissen völlig sinnlos.

Immer noch keine Smarties: Die Pille Danach

Sollte einmal die Pille versagen oder das Kondom reißen, gibt es immer noch die Pille Danach. Dabei handelt es sich um ein Medikament, welches den Eisprung verhindert, und damit auch eine Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle sowie die Einnistung in die Gebärmutter. Deshalb zählt sie als Verhütungsmittel, nicht als Abtreibungsmittel, obwohl sie nach dem Geschlechtsverkehr eingenommen wird.

Dabei ist wichtig zu wissen, dass die Unterscheidung zwischen Verhütung und Abtreibung eine relativ neue Grenze ist, die nicht immer eine so große Rolle gespielt hat wie heute. Dass ausgerechnet die Einnistung in die Gebärmutter als der Beginn des Lebens definiert wird, ist keine biologische Gegebenheit, sondern eine kulturelle Entscheidung.

Seit 2015 ist die Pille Danach rezeptfrei in der Apotheke erhältlich. Zuvor musste man mit seinem Anliegen in die Notaufnahme, wenn am Wochenende die Arztpraxen geschlossen hatten. Allerdings sind viele deutsche Krankenhäuser katholisch und verschreiben die Pille Danach nicht. Deshalb war die Aufhebung der Rezeptpflicht ein entscheidender Schritt.

Damit wurde jedoch zeitgleich ein „Werbeverbot“ für die Pille Danach eingeführt. Frauenärzt_Innen dürfen diese Option nicht ansprechen oder darüber informieren. Das führt zu gravierenden Wissenslücken: Nur 50% der Frauen ist klar, dass die Pille Danach rezeptfrei erhältlich ist, mehr als jede vierte Frau kennt sie noch nicht einmal.

Wer in der Apotheke nach der Pille Danach fragt, wird meist zu einem belehrenden Aufklärungsgespräch in ein Hinterzimmer geführt. Dabei kommt es häufig zu Vorwürfen, Bloßstellungen und wertenden Äußerungen. Immer wieder kommt es vor, dass Minderjährigen der Verkauf verweigert wird.

 „Die Pille Danach ist kein Smartie!“, formulierte es der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn und sprach damit Frauen und Mädchen ab, eine unabhängige und informierte Entscheidung über ihren eigenen Körper zu treffen. Gleichzeitig wird durch solche Äußerungen der Stereotyp junger, sexuell aktiver Frauen gezeichnet, welche scheinbar sorglos und leichtfertig ungeschützten Sex haben, weil sie danach ja einfach die Pille Danach nehmen könnten. Das entspricht einerseits weder der Realität, produziert sexistische Klischees und verstärkt andrerseits die Auffassung, Verhütung sei einzig und allein Verantwortung der Frau. An solchen Debatten zeigt sich immer wieder, wie der Kapitalismus versucht, weibliche Sexualität zu limitieren und auf das Ziel der Familiengründung auszurichten, da sie innerhalb der Familie unbezahlte Reproduktionsarbeit leisten und zukünftige Arbeitskräfte bereitstellen.

Keine Hormone, keine Probleme? Die Kupferspirale

Wer sich als junge, kinderlose Frau ohne sichtbare Behinderung eine Kupferspirale einsetzen lassen will, bekommt von Frauenärzt_Innen oft zu hören, dass der Uterus einer kinderlosen Frau zu klein für eine Spirale sei. Dabei empfiehlt die WHO Spiralen für Frauen und Mädchen jedes Alters, und in anderen Ländern scheint es kein Problem mit der Uterus-Größe zu geben. Was also ist der Grund dafür?

Eine Ursache liegt in der Regelung, dass deutsche Krankenkassen die Finanzierung der Spirale bis zum 22. Lebensjahr übernehmen, dafür aber nur einen Minimalbetrag an Ärzt_Innen zahlen. Eine von der Kasse bezahle Spirale erwirtschaftet für die ärztliche Praxis also viel weniger Gewinn als eine, die ab dem 23. Lebensjahr privat gezahlt wird.

Eine Option, die noch weniger Menschen bekannt sein dürfte, ist die Kupferspirale Danach. Denn eine Kupferspirale kann ebenfalls zur Notfallverhütung genutzt und sogar bis zu 5 Tage nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr eingesetzt werden. Sie beeinträchtigt die Beweglichkeit der Spermien und verhindert die Einnistung einer befruchteten Eizelle in die Gebärmutter. Obwohl sie deutlich zuverlässiger ist als die Pille Danach, wird sie in Deutschland fast nie genutzt. Die Kosten dafür sind für viele Menschen zu hoch, um sie spontan aufzubringen.

Problematisch ist auch, dass es noch viele Forschungslücken gibt, was die Verhütung mit Kupfer angeht: Es ist nicht bekannt, wie oft die Spirale unbemerkt ausgeschieden wird oder wie stark sie das Risiko für Eileiterschwangerschaften erhöht. Das Budget für aussagekräftige Langzeitstudien haben nur die großen Pharmakonzerne – und die haben kein Interesse daran, dass weitere unerwünschte Nebenwirkungen aufgedeckt werden.

Immer wieder wird von mangelhaften Spiralen und gebrochenen Kunststoffarmen berichtet, die lose in der Gebärmutter herumschwimmen und von Frauenärzt_Innen herausgefischt werden müssen, meist ohne Narkose. Erst 2018 kam ans Licht, dass zig Tausende Europäerinnen eine brüchige Spirale des Herstellers Eurogine eingelegt bekommen hatten, welches dringend entfernt werden musste. Die meisten Betroffenen wurden darüber nicht in Kenntnis gesetzt.

Mental Load und Verhütungsverantwortung

Selten wird darüber gesprochen, dass Verhütung mit einem dauerhaften Mental Load verbunden ist. Der Begriff Mental Load bezeichnet die geistige Arbeit, ständig an etwas denken zu müssen oder etwas organisieren zu müssen, damit die Funktionalität des täglichen Lebens gewährleistet ist.

In diesem Fall heißt das, die Verhütungsmethode auszuwählen, sich mit ihrer Funktionsweise auseinanderzusetzen, sie fortlaufend korrekt durchzuführen und ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Das kann bedeuten, ärztliche Beratung einzuholen, die Temperatur zu messen, um den Eisprung zu bestimmen, Pillenrezepte zu holen, Kondome einzukaufen, Schwangerschaftstests zu machen, sowie vor dem Sex ein Gespräch über das Thema zu beginnen. Auch körperlich ist Verhütung in den meisten Fällen eine Belastung.

In den meisten Fällen sind es Frauen und Mädchen, die sich diesen Strapazen aussetzen. Dass Frauen mehr Verhütungsverantwortung übernehmen, liegt nicht nur daran, dass die meisten Verhütungsmittel für ihre Körper entwickelt wurden – auch vor der Erfindung der hormonellen Verhütung war das bereits der Fall.

Vielmehr liegt es daran, dass Männer und Jungen weniger Konsequenzen zu befürchten haben, falls es zu einer ungewollten Schwangerschaft kommen sollte. Einerseits, weil sie ihren Körper nicht der Belastung einer ungewollten Schwangerschaft aussetzen müssen, andererseits, weil gesellschaftlich von Müttern viel mehr elterliches Engagement verlangt wird als von Vätern.

Häufig haben Männer und Jungen Wissenslücken, oder ihnen fehlt die Bereitschaft, sich an der Verantwortung zu beteiligen. Beispielsweise ist die häufigste Ursache für gerissene Kondome, dass Männer sich zu wenig mit verschiedenen Größen, Formen und Materialien auseinandersetzen. Dadurch kaufen bis zu 80% der Kunden das falsche Größenmodell.

Vielen Männern scheint nicht klar zu sein, dass jemand anders für sie die Verhütungsarbeit übernimmt, die ihnen zu unangenehm, unpraktisch oder lästig erscheint. Sie neigen dazu, die Verantwortung als gleichberechtigt aufgeteilt wahrzunehmen, auch wenn das nicht der Fall ist.

Und was ist mit der Pille „für den Mann“?

Trotz dieser Ungerechtigkeiten haben 25 internationale Studien und Umfragen der letzten Jahrzehnte gezeigt, dass die meisten Männer verhüten wollen. Doch der gute Wille allein ist nicht genug, und immer wieder wird die berechtigte Frage aufgeworfen: Warum gibt es noch keine Pille „für den Mann“? Wann wird die Verantwortung endlich gerecht aufgeteilt? Denn Kondom und Sterilisation reichen als Optionen nicht und dieser Mangel ist eine Verletzung von reproduktiven Rechten. Gibt es denn keine Alternative?

Aktuell sind der Wissenschaft über 100 Methoden bekannt, mit denen man für die Verhütung an Penis und Hoden ansetzen könnte. Diese Möglichkeiten ergeben sich aus allen Stadien der Spermienproduktion: Man könnte sie am Wachsen hindern, ihnen die Beweglichkeit nehmen oder ihnen den Durchgang versperren.

Eine tatsächliche Pille ist nach dem aktuellen Stand der Forschung unwahrscheinlich, weil Testosteron im Magen zu schnell abgebaut wird. Eine vielversprechendere Methode wäre zum Beispiel ein Gel, welches die Samenleiter vorübergehend verschließt.

Auch die wärmebasierte Verhütung hat sich bereits als effektiv erwiesen: Beim Verhütungsring handelt es sich um einen einfachen Silikonring, mit dem die Hoden zurück in den Körper gedrückt werden. Durch die Körpertemperatur wird die Spermienproduktion außer Kraft gesetzt. Diese Methode ist günstig, nebenwirkungsarm und umweltschonend.

In Frankreich kommt der Verhütungsring schon seit Jahren zur Anwendung, wurde jedoch nie offiziell zugelassen. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Erstens ist der Ring technisch so einfach gehalten, dass die Industrie sich nicht für ihn interessiert. Zweitens gibt es noch große Forschungslücken beim Thema Spermienproduktion: Die Andrologie, der medizinische Fachbereich für Männergesundheit, ist bis heute ein unterfinanziertes Randgebiet. Auch im Medizinstudium wird das Thema wärmebasierte Verhütung nicht behandelt.

Damit neue Verhütungstechnologien sich durchsetzen können, bedarf es jedoch einer kompletten Umstrukturierung des Gesundheitswesens: Die Ausbildung unzähliger Fachleute, das Errichten von Gesundheits- und Forschungszentren, das Durchführen von Langzeitstudien, das Drucken neuer Medizinlehrbücher, die Durchführung von Aufklärungskampagnen samt Plakaten, Filmen und Werbeanzeigen. Es braucht ein über Jahre aufgebautes Netzwerk aus ärztlichen Praxen, Apotheken und Privatpersonen, die das Mittel kennen, bewerben und verschreiben, sowie aufklären und beraten.

Nur wenige Konzerne hätten genug Kapital, um so ein Projekt durchzuführen. Aber warum sollte ein Konzern im Privatbesitz auf gut Glück in irgendeine unerforschte Technologie investieren, wenn das bisherige Modell blendend funktioniert und so viel Gewinn abwirft? Warum neue Vertriebswege aufmachen, wenn das gesellschaftliche Einverständnis für die bestehenden Produkte seit Jahrzehnten gegeben ist?

Kein Luxus, sondern Grundbedürfnis

Verhütung ist nicht nur eine körperliche, sondern auch eine finanzielle Belastung. Eine Pillenpackung für 3 Monate kostet zwischen 20 und 60€, eine Kupferspirale ca. 200€. Den Anspruch auf die finanzielle Übernahme durch die gesetzliche Krankenkasse haben nur Menschen unter 22, und selbst dann kann es im Einzelfall schwierig sein, den Anspruch durchzusetzen.

Bei Hartz-4-Empfänger_Innen sind ca. 15€ pro Monat für die Gesundheit vorgesehen und damit auch für die Verhütung. Es können zwar Anträge für die Kostenübernahme von Pille oder Spirale gestellt werden, ein grundsätzliches Recht darauf gibt es aber nicht.

Aufgrund dieser prekären Situation werden von einzelnen Städten Finanzierungsprogramme organisiert, z.B. durch Pro Familia. Doch von diesem Angebot wissen nur die wenigsten. Das führt dazu, dass die Geldsummen ungenutzt liegen bleiben.

Für Jugendliche ohne finanzielle Mittel bleiben meist Hormone die einzige Option. Denn Kondome können nicht von der Krankenkasse übernommen werden, weil sie nicht rezeptpflichtig sind. Und viele Frauenärzt_Innen weigern sich, jungen Menschen eine Kupferspirale einzusetzen.

Wie drastisch die Lage ist, stellte eine Studie im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung fest: ein Drittel der Studienteilnehmer_Innen verhüten aus finanziellen Gründen gar nicht. Weil mit der Inflation der Preis für die Verhütungsmittel angestiegen ist, hat sich die Lage weiter verschärft. Als Folge ist die Zahl der ungewollten Schwangerschaften bei Sozialleistungsbezieher_Innen dreimal so hoch wie bei Nichtbezieher_Innen.

All diese Zahlen zeigen, dass Verhütung eine Klassenfrage ist und dass die Barrieren für die Kostenübernahme viel zu hoch sind.

Forderungen

Eine befreite Gesellschaft kann es nicht ohne befreite Sexualität geben. Kein Konzern darf seine Profite über unsere reproduktive Gesundheit stellen. Dafür stellen wir folgende Forderungen auf:

  • Die Reformierung des Sexualkundeunterrichts, Information über alle Verhütungs- und Abtreibungsmethoden, auch über unbekannte Optionen wie die Spirale Danach.
  • Keine Verschreibung von Verhütungsmitteln ohne ärztliche Aufklärung über die Nebenwirkungen. Information auch darüber, dass die Entzugsblutung optional ist. Schluss mit der Moralisierung und Beschämung bei der Pille Danach.
  • Die vollständige finanzielle Übernahme für alle Verhütungsmittel und Abtreibungen durch den Staat, unabhängig von Alter, Aufenthaltsstatus, Versicherung oder ärztlicher Verschreibung.
  • Die Finanzierung von Langzeitstudien, um sichere Verhütungsmittel zu gewährleisten. Die Entwicklung von nebenwirkungsarmen Verhütungsmitteln für alle Geschlechter, gemeinsam mit dem Ausbau der Andrologie.
  • Den Ausbau von Kinderbetreuung, Elternzeit und sozialem Wohnungsbau, damit bei der Familienplanung tatsächlich eine freie Entscheidung gewährleistet ist.
  • Enteignung der Pharmakonzerne! Der Kampf gegen die Frauenunterdrückung muss mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verknüpft werden. Dafür brauchen wir ein Gesundheitssystem unter Arbeiter_Innenkontrolle, welches sich an unseren Bedürfnissen orientiert.



Keine Sexualität, kein Problem? – Über Asexualität und echte sexuelle Befreiung

Von Erik Likedeeler, April 2023

„I was angry at the world for making me hate who I was. It was all because of that, that this new identity felt like a loss, when in reality, it should have been a beautiful discovery.” So beschreibt Georgia, die Hauptfigur aus Alice Osemans Jugendroman „Loveless“, ihre Erkenntnisse zum Coming Out als asexuell und aromantisch.

Ihre Gefühle des Verlustes und Selbsthasses sind in der asexuellen Community kein Einzelfall: Ohne sexuelle Anziehung zu leben, kann beängstigend sein in einer Welt, in der Sex einen Warencharakter hat und Desinteresse mit Gefühlskälte gleichgesetzt wird. Die Befürchtung, nicht „normal“ zu sein, ist verständlich in einer Welt, in der Anpassung scheinbaren Schutz vor Diskriminierung bietet. Auch das Gefühl, die eigene Zukunft zu verlieren, ergibt sich unmittelbar aus einer Gesellschaft, die viel Spannung und Drama künstlich aus Sexualität herauszieht.

Asexualität wird häufig als irrelevanter Aspekt der queeren Identität eingeordnet und nur selten als Ursache für Diskriminierung erkannt. Doch es gibt viele Arten, auf die sexuelle Befreiung im Kapitalismus verhindert wird. Wie asexuelle Menschen davon betroffen sind und wie dagegen vorgegangen werden kann, soll in diesem Artikel dargestellt werden.

„Keine Angst, das kommt schon noch“: Outing und Jugendunterdrückung

Einerseits werden Jugendliche durch Beschämung, Tabuisierung, Verbote und Homofeindlichkeit daran gehindert, ihre Sexualität frei zu erkunden. Andererseits wird ihnen Sexualität als biologisch alternativlos vermittelt: als etwas Selbstverständliches, das sie unweigerlich eines Tages tun werden. Im Sexualkundeunterricht wird davon gesprochen, sich Zeit zu lassen und auf „die richtige Person“ zu warten. Doch dass ein „Nein“ auch eine dauerhafte Option sein darf, wird selten vermittelt.

Jugendliche, die sich als asexuell outen, bekommen häufig unterstellt, sie wären „Spätzünder_Innen“ und würden ihre Präferenzen ändern, wenn sie älter wären. Das passt perfekt in das Vorurteil, Jugendliche wären impulsive und entscheidungsunfähige Opfer ihres Hormonhaushalts. Es wird so getan, als wüssten Jugendliche so wenig über sich selbst, dass ihre aktuelle Identität wertlos wäre und sie eines Tages als völlig andere Menschen aufwachen könnten. Viele Jugendliche kennen ihre Gefühle und Bedürfnisse, bekommen jedoch beigebracht, sich selbst nicht zu vertrauen. Das ist der Grund, warum asexuelle Menschen im Durchschnitt länger als andere queere Personen brauchen, um ihre sexuelle Orientierung herauszufinden.

 „Hattest du schon einmal Sex?“ ist eine häufige Fangfrage, bei der asexuellen Menschen abverlangt wird, möglichst viele negative Erfahrungen vorzuweisen. Sie sollen ihre ganze Jugend lang leiden, an sich zweifeln und sich traumatisieren lassen, bevor sie erwarten dürfen, dass ihnen geglaubt wird. Die Behauptung, sie hätten einfach noch nicht „den_die Richtige_n“ gefunden, ist nutzlos und irrelevant. Es ist makaber, von asexuellen Personen zu verlangen, sie sollten ihr ganzes Leben auf der Suche nach etwas verbringen, das es ihnen ermöglicht, sich an unterdrückerische sexuelle Normen anzupassen.

„Du hast bestimmt ein leichtes Leben“: Asexualität ist kein Ausweg aus dem Patriarchat

Asexuelle Menschen werden regelmäßig als naiv und unreif abgestempelt. Das Recht auf Selbstbestimmung und Vernunft wird ihnen abgesprochen. Hier zeigt sich die sogenannte Chrononormativität: die Idee, dass Menschen ihr Leben nicht nach ihrem eigenen Tempo leben sollten, sondern dass es Meilensteine gibt, die ab einem bestimmten Alter erreicht werden müssen, wie zum Beispiel das „Erste Mal“. Dieser Kampf gegen unsichtbare Deadlines wird im Kapitalismus absichtlich provoziert, um Menschen effizienter auszubeuten.

Häufig müssen asexuelle Menschen sich herablassende Kommentare darüber anhören, wie „einfach“ ihr Leben doch wäre. Aber Asexualität ist nur dann einfach, wenn sie auf einen einzigen Satz heruntergebrochen wird, wie es in Mainstream-Medien oft der Fall ist. Genau wie jede andere sexuelle Orientierung hat Asexualität viele Facetten und sexuelle Anziehung zu empfinden ist keine mystische Schwelle, die den Unterschied zwischen Kindheit und Erwachsensein markiert.

Asexualität ist keine Freikarte, um der Unterdrückung durch das Patriarchat zu entkommen. Tatsächlich sind asexuelle Menschen massiv von sexualisierter Gewalt betroffen. Durch die anerzogene Verunsicherung gegenüber den eigenen Bedürfnissen geraten sie leicht an manipulierende Täter_Innen, die ihre Verletzlichkeit ausnutzen, um ihnen Schuldgefühle einzureden. Nicht selten kommt die Gewalt in Form von „korrektiver“ Vergewaltigung daher, mit dem Ziel, die Person wieder „normal“ zu machen.

Viele asexuelle Menschen erlernen ein hypersexuelles Verhalten, um die eigene Orientierung vor sich selbst und anderen zu verstecken. Sie erfahren weder von Asexualität, noch von Konsensprinzipien wie „Nur Ja heißt Ja“. Deshalb wachsen sie mit dem beängstigenden und verstörenden Gedanken auf, eines Tages Sex haben zu müssen. Miranda Fricker bezeichnet das als hermeneutische Ungerechtigkeit: Sprache und Diskurse sind von den Belangen der Herrschenden geprägt, deshalb haben unterdrückte Menschen kaum Möglichkeiten, ihre eigene Unterdrückung zu erkennen, über sie nachzudenken und sie sprachlich auszudrücken.

„Empower dich doch einfach“: Was bedeutet sexuelle Befreiung?

Die rückständigsten Teile des bürgerlichen Familienideals abzulehnen, gilt mittlerweile als aufgeklärt und emanzipiert. Doch ein gewisses Maß an harmloser „Ich mag den Valentinstag nicht“-Rebellion darf nach wie vor nicht überschritten werden. So gilt Sexualität immer noch als unverzichtbarer Teil jeder romantischen Beziehung.

In linken Strukturen werden insbesondere asexuelle Frauen oft als verklemmt abgestempelt. Sie gelten als Objekte des Mitleids, die sich noch von anerzogener Prüderie und Scham befreien müssen. Kein aufregendes Sexualleben vorweisen zu können, wird mit konservativen Ansichten gleichgesetzt. Weibliche Sexualität soll kultiviert werden, um „feministische“ Politik zu performen – damit auch Frauen Sex konsumieren und sich „empowert“ fühlen können. Das Patriarchat wird dabei als der einzige valide Grund genannt, warum manche Frauen keinen Sex haben möchten.

Es wird an der Idee festgehalten, dass gesellschaftlich tabuisierte Formen von Sex, wie z.B. BDSM, einen Menschen inhärent befreiter machen würden. Das Bedürfnis, Sex zu einer lässigen Performance werden zu lassen, um sich selbst als aufgeschlossen zu inszenieren, hängt damit zusammen, dass die politisch Konservativen sich in der Öffentlichkeit auch gern sexuell konservativ präsentieren.

Es stimmt, dass sexuelle Praktiken Menschen dabei helfen können, Scham abzubauen und sich in ihrem Körper selbstbewusst zu fühlen und natürlich unterstützen wir die freie sexuelle Entfaltung aller Menschen- insofern sie das Bedürfnis danach haben. Doch Sex allein hat nicht die Macht dazu, die Welt zu einem gerechten Ort zu machen. Er ist keine antikapitalistische Praxis, die auf magische Weise gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen aushebeln könnte.

„Wer zweimal mit derselben pennt…“: Sex als Waffe gegen Krieg und Faschismus?

Schon die 68er-Bewegung definierte die sexuelle Befreiung damit, möglichst viel unverbindlichen Sex zu haben und betrachtete dies als Mittel gegen Krieg und Unterdrückung. Diese Idee mag sich richtig anfühlen, ist jedoch fehlgeleitet. Wie Angela Chen schreibt: „The revolution will not come on the tidal wave of your next multiple orgasm, on the floor of your communal living space. It will only happen if you have an actual plan for destroying systems of oppression and exploitation.” Asexualität ist kein politisches Versagen, das überwunden werden muss, sondern eine Identität, die respektiert gehört.

Auch psychoanalytische Ansätze versuchen, Sex als Patentlösung zu verkaufen und jedes gesellschaftliche Problem in Bezug darauf zu erklären. Die Idee der 68er, mit einer „befreiten“ Sexualität die Antikriegsbewegung zu stärken, geht auf den Freud-Schüler Wilhelm Reich zurück. Dieser glaubte, eine unterdrückte Sexualität wäre die Ursache des Faschismus. Doch der Faschismus ist in den materiellen Verhältnissen einer Gesellschaft begründet. Er ist ein Phänomen des Imperialismus und das letzte Mittel zur Niederschlagung des Klassenkampfes. Ihn mit unterdrückter Sexualität zu begründen, ist eine faule Erklärung für ein komplexes Phänomen. Das menschliche Verhalten ist vielfältiger als das und es ist übergriffige Spekulation, Menschen heimliche, unbewusste sexuelle Wünsche zu unterstellen.

Nicht selten müssen asexuelle Menschen sich auf respektlose Weise mit sogenannten Incels vergleichen lassen. Häufig wird davon ausgegangen, ein Mangel an Sex hätte die extrem frauenverachtenden Incels zu frustrierten Sexisten und Faschisten gemacht. Dabei wird ausgeblendet, dass das traditionelle Bild des Mannes als Ernährer und Beschützer angesichts kapitalistischer Krisen und sich wandelnder Rollenbilder ins Wanken geraten ist. Incel zu werden ist nicht die Folge von zu wenig Sex, sondern die Ausweitung einer Sozialisation, in der Abwertung und Erniedrigung Teil des Systems sind und man als Jugendliche_r oder Arbeiter_In ständig Angst vor dem Abstieg haben muss. Unterdrückungsformen wie Sexismus lassen uns dabei die Schuldigen in anderen Teilen der Arbeiter_Innenklasse suchen, anstatt bei den Kapitalist_Innen, die tatsächlich von unserer Ausbeutung profitieren. In unterdrückerischen Verhältnissen ist die Incel-Ideologie ein leichter Weg, um sich selbstwirksam zu fühlen. Dieses toxische Verhalten führt mitunter dazu, dass sexuelle Erfolge ausbleiben und nicht umgekehrt.

„Bist du eigentlich depressiv?“: Asexuelle Menschen sind nicht krank!

Unsere Gesellschaft wird von der gewaltvollen Norm strukturiert, dass alle Menschen romantische und sexuelle Anziehung spüren sollen. Wer diese Erwartung nicht erfüllen kann oder möchte, wird schnell für krank erklärt, also pathologisiert. Genau wie es früher bei Homosexualität der Fall war, wird Asexualität oft als Traumafolge verbucht. Allerdings gibt es keine wissenschaftliche Studie, die beweisen kann, dass Trauma die sexuelle Orientierung ändern kann.

Auch für Depressionen ist fehlendes Interesse an Sex ein Diagnosekriterium. Normerfüllende, romantisch-sexuelle Beziehungen werden von Therapeut_Innen als Beweis dafür gesehen, dass sich soziale Ängste verringert haben. Eine bestimmte Art von menschlicher Intimität als Idealfall zu verbuchen, führt zu Fehldiagnosen und falschen Behandlungen. Für trans Personen können „falsche“ Antworten auf die Abfrage der Sexualität zur Verweigerung der Behandlung führen, weil davon ausgegangen wird, dass sexuelle „Erfüllung“ und psychische Gesundheit sich proportional zueinander verhalten.

40% der asexuellen Menschen wurde schon einmal angeboten, sie zu „heilen“. Für Menschen mit geringem sexuellem Verlangen gibt es die Diagnose HSDD (hypoactive sexual desire disorder), umgangssprachlich Frigidität genannt. Nach dem DSM-4, einem wichtigen psychiatrischen Leitfaden, konnte HSDD bis 2013 selbst dann diagnostiziert werden, wenn ausschließlich der_die Partner_In darunter litt. Seit der Erscheinung des DSM-5 wird die Störung nur noch diagnostiziert, wenn die Person selbst leidet und sich nicht als asexuell identifiziert.

Auch diese neuen Diagnosekriterien ergeben wenig Sinn. Keine oder wenig sexuelle Anziehung zu verspüren, ist keine Krankheit, unabhängig davon, welches Wort dafür verwendet wird. Der Unterschied zwischen einer psychischen Krankheit und einer sexuellen Orientierung besteht nicht darin, wie eine Person sich damit fühlt. Ist ein schwuler Mann nur dann schwul, wenn er mit seiner Homosexualität glücklich ist?

HSDD und Asexualität haben unterschiedliche intellektuelle Ursprünge. HSDD stammt aus dem medizinischen Bereich, während Asexualität im Bereich der sozialen Gerechtigkeit verwurzelt ist. Bei der Diagnose von HSDD sind Ärzt_Innen die Autorität, während asexuelle Menschen betonen, dass jeder Mensch selbst entscheiden muss. Bei HSDD wird eine Abweichung zum Problem erklärt, bei der Asexualität geht es darum, Vielfalt zuzulassen, auch wenn sie sich unbequem anfühlt.

Asexuelle Menschen glauben nicht an eine moralische Verpflichtung zur Steigerung des sexuellen Verlangens. Sie kritisieren, dass Menschen ihre Asexualität erst dann akzeptieren dürfen, wenn eine „Heilung“ ausgeschlossen wurde. Die HSDD-Diagnose ist nutzlos, weil es eine sinnvollere Alternative gibt: zu akzeptieren, dass das Leid durch Stigmatisierung zustande kommt, und gegen diese Diskriminierung anzukämpfen.

„Das ist doch keine gesunde Beziehung“: Diskriminierung durch den Staat

Die Diskriminierung gegen asexuelle Menschen wird auch von staatlicher Seite getragen: Die Kosten für eine künstliche Befruchtung werden nur in heterosexuell gelesenen Partner_Innenschaften von der Krankenkasse übernommen, bei denen der „natürliche Weg“ nicht funktioniert.  Auch beim Adoptionsverfahren muss eine „stabile“ Ehe vorgewiesen werden. Dazu zählt üblicherweise auch körperliche Intimität.

Wenn eine verheiratete Person keine deutsche Staatsbürger_Innenschaft besitzt, kann der Verdacht aufkommen, dass sie diese über die Heirat erlangen wollte. Menschen in Ehen mit getrennten Schlafzimmern haben kaum eine Möglichkeit zu beweisen, dass es sich nicht um eine Scheinehe handelt. Daran zeigt sich, wie willkürlich Beziehungsnormen zusammengewürfelt sind. Heutzutage fallen getrennte Schlafzimmer unter den Begriff „Eheproblem“, früher waren sie im Bürgertum die Norm. Daran, wie vielen gesetzlichen, kulturellen und moralischen Erwartungen Sexualität unterworfen ist, lässt sich leicht erkennen, dass sie alles andere als die „natürlichste Sache der Welt“ ist.

Fazit

Asexuell zu sein ist mühsam in einer Welt, die Sex als das Highlight einer jeden Beziehung markiert. Doch sexuelle Interaktion ist nicht die einzige bedeutungsvolle Verbindung, die Menschen in ihrem Leben eingehen können. Sie ist weder die Quelle des höchsten Glücks, noch der ultimative Beweis dafür, dass Menschen sich lieben. Die Verbundenheit zu Freund_Innen, Familie, Natur, Sport, Wissenschaft, Politik oder Kunst ist für viele Menschen ein ebenso erfüllender Teil des Lebens.

Ziel der sexuellen Befreiung ist, dass es eines Tages selbstverständlich und leicht sein wird, ohne Zwang oder Rechtfertigung nach Konsensprinzipien zu leben. Wenn soziale Skripte wie das Ideal der bürgerlichen Familie absterben, kann Sexualität vom Profitdruck gelöst werden. Das heißt, sie wird nicht länger als Marketingstrategie ausgeschlachtet werden oder ein Werkzeug sein, um den Nachschub an Lohnarbeitenden sicherzustellen. Eine Gesellschaft, die Asexualität vollends akzeptieren möchte, muss sich nicht nur von hierarchischen Beziehungsformen, Vergewaltigungskultur und oberflächlichen Vorstellungen von vertraglichem Konsens verabschieden, sondern letztendlich auch von Leistungsdruck, kapitalistischer Ausbeutung und Profitmaximierung, sowie von geschlechtlicher Arbeitsteilung. 

Deshalb fordern wir:

  • Gegen die Vergewaltigungskultur! Für einen inklusiven Sexualkundeunterricht, der eine Vielfalt an sexuellen Orientierungen vermittelt und sich an Konsensprinzipien orientiert.
  • Für den vollen Zugang zu Elternschaft, Adoptionsrechten und reproduktionsmedizinischen Behandlungen auch für queere Menschen. Gegen das Ideal der bürgerlichen Familie und die kulturelle Überhöhung von Sexualität.
  • Gegen Konversionstherapien, korrektive Gewalt und die Pathologisierung von Asexualität. Für eine echte sexuelle Befreiung, auch für Jugendliche.

Literaturverzeichnis

  • Chen, Angela. Ace. What Asexuality Reveals About Desire, Society, and the Meaning of Sex. New York 2020: Random House.
  • Decker, Julie Sondra. The Invisible Orientation. An Introduction to Asexuality. New York 2015: Simon & Schuster.
  • DeWinter, Carmilla. Das asexuelle Spektrum. Eine Erkundungstour. Hamburg 2021: Marta Press.
  • Kroschel, Katharina; Baumgart, Annika. [un]sichtbar gemacht. Perspektiven auf Aromantik und Asexualität. Münster 2022: Edition Assemblage.



Geschlechterrollen, Familienideal & Kommodifizierung: Sind Liebe und Sexualität im Kapitalismus unterdrückerisch?

Von Leonie Schmidt, Februar 2023

Heute, am 14. Februar, wird vielerorts der Valentinstag gefeiert, an dem sich Pärchen gegenseitig beschenken oder einander auf viel zu teure Dates in noble Restaurants einladen. Manche beschließen von vorneherein, da nicht mitzumachen, weil sie schon ein Bauchgefühl haben, dass die Kommerzialisierung von zwischenmenschlichen Beziehungen befremdlich ist. Manche Feminist_Innen kritisieren, dass cis Männer lieber Blumen verschenken, anstatt den Gender Orgasm Gap zu schließen, welcher sich auf die Tatsache bezieht, dass Frauen in heterosexuellen Beziehungen um einiges seltener zum Orgasmus kommen als ihre Partner. Häufig wird suggeriert, die 68er Bewegung hätte die Sexualität befreit und jede_r dürfte sowieso jede_n lieben.  Doch nicht nur am Valentinstag sind Liebe und Sexualität eng mit dem Kapitalismus verwoben. Sie sind nicht frei von unserer Gesellschaftsordnung, und erfüllen im Kapitalismus bestimmte Funktionen, Das wollen wir uns in diesem Artikel näher anschauen.

Liebe und Sexualität sind nicht frei

Beginnen wir mit der Grundlage: Während unserem Sozialisierungsprozess wird uns beigebracht, das höchste aller Ziele wäre eine monogame, heterosexuelle Paarbeziehung, aus welcher bestenfalls eine Familie mit Kindern wird. Diese Idee manifestiert sich in den Medien, im Freund_Innenkreis, und wenn die Großeltern nachbohren, ob man denn endlich in einer Beziehung sei. Auch, wenn wir anfangen, einen Menschen interessant zu finden, kommt von allen Seiten die Erwartung auf, dass diese Gefühle in etwas ‚Handfestem‘ resultieren müssen. Dieses Ideal ist ausschließend für alle, die es nicht erfüllen können oder wollen, zum Beispiel LGBTIA+ Personen, insbesondere Personen auf dem asexuellen und aromantischen Spektrum. Aber auch polyamoröse Personen und alle, die noch nicht die ‚richtige‘ Person gefunden haben, werden unter Druck gesetzt.

Zu diesem Ausschluss kommen noch Erwartungen an alle Personen in Form von Geschlechterrollen. Diese sind gesamtgesellschaftlich vertreten, aber besonders im Bereich der Romantik und Sexualität anzutreffen. Dazu gehören zum Beispiel die Annahme, Frauen müssten beim Sex immer frisch rasiert sein, oder das Narrativ, Männer wären genervt, wenn Frauen sie zu sehr kritisieren. Besonders perfide sehen wir Rollenerwartungen bei Schönheitsidealen, durch die gerade Frauen extrem viel Geld ausgeben müssen, um an ein unerreichbares Ideal heranzukommen. Außerdem herrscht maßgeblich unter Frauen ein starker misogyner Konkurrenzkampf, der einige dazu bringt, sich mithilfe von Abwertung und Selbstvermarktung über vermeintliche Gegenspielerinnen zu erheben.

Bürgerliche Sexualmoral

Auch die bürgerliche Sexualmoral sorgt dafür, dass Liebe und Sexualität im Kapitalismus nicht frei sind, sondern prüde und moralisierend. Über Sexualität darf zwischen Sexualpartner_Innen kaum offen gesprochen werden. Die meisten Äußerungen müssen aus ironischer Distanz heraus erfolgen, da ehrliche Bekenntnisse zu Slutshaming führen können. Im schulischen Aufklärungsunterricht geht der Inhalt über einfache, teils falsche Beschreibungen der Vorgänge und knappe Erklärungen klassischer Verhütungsmethoden nicht hinaus. Außerdem geht die bürgerliche Sexualmoral davon aus, dass es eine normale, brave, heterosexuelle und monogame Sexualität gäbe, welche sich von einer anormalen und perversen Sexualität grundlegend unterscheiden würde. Diesen Gegensatz sieht man zum Beispiel im Madonna-Hure-Komplex. In der psychoanalytischen Literatur wird mit diesem Begriff beschrieben, dass cis Männer gewisse sexuelle Praktiken nicht mit ihrer Ehefrau oder Freundin ausführen können, oder sie gar nicht erst begehren können. Hingegen können sie sie mit einer Frau umsetzen, mit der sie nicht in einer romantischen Beziehung stehen, und die sie erniedrigen dürfen, oftmals eine Prostituierte. Das geht damit einher, dass die eigene Frau als unschuldige Heilige vergöttert wird. Diese Teilung der Frauen nach ihrer Funktion existierte bereits im antiken Griechenland, wo eine Dreiteilung vorherrschte: Es gab die Ehefrau, zuständig für Haushalt und Familie, die Frau für die romantische Liebe und die Frau für die sexuelle Befriedigung. Wie Engels schon beschrieben hat, sind das Ideal der bürgerlichen Familie mitsamt braver Sexualität und die Nachfrage von Prostitution unmittelbar miteinander verknüpft.

Das Ideal der bürgerlichen Familie

Was ist überhaupt das Ideal der bürgerlichen Familie? Dieses hat sich über die Geschichte der Menschheit hin entwickelt. Früher, in der sogenannten Urgesellschaft, gab es keine monogam lebende Familie, bestehend aus Mutter, Vater und Kindern. Stattdessen gab es einen Stamm ohne monogame Einschränkung und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Sowohl Männer als auch Frauen waren an der Jagd beteiligt, während Alte, Kranke und Schwangere sich um das Aufziehen der Kinder und um den ‚Haushalt‘ kümmerten. Erst mit der Entstehung des Privateigentums aufgrund von gestiegener Produktionskraft differenzierte sich die monogame Ordnung heraus. Es entstand ein Überschuss, mit dem gehandelt werden konnte, und irgendwie musste die Frage des Erben geklärt werden.

Heutzutage ist das Ideal der bürgerlichen Familie dafür da, die Reproduktion der Ware Arbeitskraft ins Private zu drängen. Die Reproduktionsarbeit bezieht sich sowohl auf die Produktion neuer Arbeiter_Innen durch die Kindererziehung, als auch auf die Regeneration der bereits vorhandenen Arbeiter_Innen durch Care-Arbeit, bestehend zum Beispiel aus Nahrungsaufnahme. Frauen werden in diese unbezahlte Arbeit hineingedrängt, was die Basis der Frauenunterdrückung im Kapitalismus darstellt. Frauen der Arbeiter_Innenklasse werden doppelt ausgebeutet, einerseits durch die Lohnarbeit, andererseits durch die Reproduktionsarbeit. Auch wenn cis Männer sich gern öffentlich damit brüsten, wie toll sie ihren Frauen unter die Arme greifen würden, verbringen Frauen zusätzlich zur eigenen Care-Arbeit im Durchschnitt mehrere Stunden pro Woche damit, die unzureichend erledigten Aufgaben ihres Partners nachzubessern, oder ihn an anstehende Aufgaben zu erinnern. Nur die Frauen des Bürger_Innentums können sich durch Hauspersonal von ihren Pflichten freikaufen.

Das Ideal der bürgerlichen Familie wird durch die bereits erwähnten Geschlechterrollen aufrecht erhalten. Der Mythos, dass Frauen natürliche Mutterinstinkte hätten, traumatisiert viele Frauen nachhaltig, wenn sie aufgrund von fehlender Erfahrung als „schlechte Mutter“ abgestempelt werden oder dafür beschämt werden, auch auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten. Außerdem wird die ökonomische Abhängigkeit durch den Gender Pay Gap aufrecht erhalten. Besonders in Zeiten von kapitalistischen Krisen, wenn Männer es nicht mehr schaffen, als Beschützer und Ernährer der Familie zu fungieren, wird das Fundament der bürgerlichen Familie angegriffen. Das führt zu vermehrter Gewalt gegen Frauen und LGBTIA+-Personen, um diese Form der Unterdrückung aufrecht zu erhalten.

Kommodifizierung von Liebe und Sexualität

Kommodifizierung bedeutet, dass etwas zur Ware oder zur Dienstleistung gemacht wird. Sexualität zum Beispiel kann ein Mittel zur Erzeugung von Mehrwert sein, wie wir es bei erotischen Werbungen in der Parfümbranche sehen können. In Bezug auf Sexualität existiert das Attribut der Attraktivität, welches zur Ware im Konkurrenzkampf werden kann. Außerdem können Produkte gekauft werden, welche versprechen, die eigene Attraktivität zu erhöhen. Die Selbstaufwertung durch eine besonders erfolgreiche oder schöne Beziehungsperson kann ebenfalls als Warenwerdung von Attraktivität charakterisiert werden. Auch Erfahrungen in Sachen Sexualität können bei Männern positiv bewertet werden und zum Teil der Selbstvermarktung werden.

Auch Liebe kann zur Ware werden, wie uns der Valentinstag vor Augen führt. Geschenke, besondere Dates, Blumen, Schmuck, etc.: Wir vermitteln unsere Gefühle gern über Waren. Die Soziologin Eva Illouz betrachtet in ihren Werken den Konsum der Romantik. Damit ist gemeint, dass im letzten Jahrhundert die Praktik entwickelt wurde, Romantik mit dem Konsum von Waren zu verbinden, was die Waren zugleich ‚romantischer‘ erscheinen lässt. Ein prägnantes Beispiel: Ein Sektfrühstück gilt als romantischer, als eine Currywurst zu essen, zumindest nach dem gesamtgesellschaftlichen Standard.

Auch bei Dating-Apps können wir erkennen, wie Liebe zur Ware wird: Für bestimmte Interaktionen, die mehr Erfolg versprechen, werden wir zur Kasse gebeten. Natürlich müssen hier besonders diejenigen tief in die Tasche greifen, die sonst keine Erfolge verbuchen, etwa weil sie nicht als normschön gelten. Algorithmen messen auch eine Attraktivitätsskala aus und es werden einander nur Menschen angezeigt, die als gleich attraktiv bewertet wurden.

Sexualität kann durch Prostitution und Pornographie zur Ware werden. Zur genauen Einordnung davon, warum wir der Meinung sind, dass Prostitution eine Dienstleistung sein kann, solange es sich nicht um Zwangsprostitution handelt, möchten wir auf einen anderen, ausführlicheren Artikel zum Thema verweisen.

Die bürgerliche Ehe bleibt ebenfalls nicht von der Kommodifizierung verschont. Hier tauscht der Mann die ökonomische Sicherheit der Frau gegen den unbegrenzten Zugriff auf sexuelle Gefälligkeiten ein.

Perspektive

Das alles klingt ziemlich scheiße. Aber wie können wie als Kommunist_Innen dafür sorgen, dass Sexualität und Liebe uns nicht mehr zwanghaft aufgestülpt und dem bürgerlichen Bewusstsein unterworfen werden? Wir sind der Ansicht, dass wir dafür den Kapitalismus und die Klassengesellschaft überwinden müssen. Solange die Existenz von unbezahlter Reproduktionsarbeit dem Kapital nützt, wird auch das Ideal der bürgerlichen Familie aufrecht erhalten werden.

Deshalb schlagen wir vor, die Reproduktionsarbeit im Sozialismus kollektiv zu organisieren. In jedem Viertel soll es eine Mensa geben, sowie Waschküchen und gemeinsame Kindererziehung, wo jede_r einmal an der Reihe ist. Dadurch wird es möglich, dass sich die Wohnsituationen ändern. Die sowjetischen Kommunistin Alexandra Kollontari schlug eine Art WG vor, in der jedes Mitglied einen eigenen Rückzugsort hat. Diese Wohnverhältnisse würden, mitsamt der vergesellschafteten Reproduktionsarbeit, die Familie als Wohn- und Gesellschaftsort obsolet machen. Die Abkehr vom Ideal der bürgerlichen Familie könnte auch ein Ende von Monogamie und Paarbeziehung bedeuten, wie wir sie kennen. Zwischenmenschliche Beziehungen müssten nicht mehr derart gelabelt werden, Freund_Innenschaften müssten nicht mehr als zweitklassig neben der romantischen Paarbeziehung gelten. Des Weiteren würde das Ende dieses Ideals ein Ende von Geschlechterrollen und dem damit einhergehenden Optimierungszwang bedeuten.  Die bürgerliche Sexualmoral würde an Relevanz verlieren und absterben.

An dieser Stelle finden wir es wichtig, ordentlichen Aufklärungsunterricht zu fordern, der die zwischenmenschlichen Aspekte der Intimität in den Vordergrund rückt und das aktive Konsensprinzip vermittelt. Der Unterricht sollte vielfältige Beziehungskonstellationen vorstellen und nach den Bedürfnissen der Lernenden in Zusammenarbeit mit den Lehrenden organisiert werden.




Let’s talk about sex: Über Konsens reden – aber wie?

Von JK Singh

Im Sexualkundeunterricht in der Schule
wird uns nicht viel beigebracht. Zwar können wir uns glücklich
schätzen, dass wir lernen, wie wir Kondome über Bananen stülpen
und wir auch mal einen seitlichen Anschnitt einer Vagina sehen oder
bekommen ’nen Tampon in die Hand gedrückt. Aber so wirklich
hilfreich ist’s dann auch nicht, wenn man versucht Sex zu haben. Im
Unterricht liegt der Fokus auf Genitalien, wobei die weiblichen an
der Stelle oftmals falsch dargestellt werden, (So ist beispielsweise
die Klitoris kein kleiner Punkt, der gaaaanz schwer zu finden ist),
Homo-, Bi- und Asexualität werden nicht wirklich angerissen und über
Intimität, Verantwortung oder Gefühle wird so gut wie nie geredet.
Stattdessen können wir dann auf die breite Palette der verzerrten
Darstellung von Intimität und Sexualität in der bürgerlichen
Gesellschaft zurückgreifen.

Ähm, was?

Ob in Filmen oder Serien: Intimität
wird in Extremen dargestellt. Entweder ist die Grundlage Liebe bis
ans Ende des unendlichen Universums, oder es geht darum seinen
eigenen Wert zu beweisen, in dem man Jemanden ins Bett bekommt.
Dazwischen gibt’s nicht viel zu finden. Voll romantisch und so.
Meist weiß der Mann auch natürlich, was die Frau braucht. Ohne zu
fragen, kann er einfach fühlen, dass die Frau jetzt geküsst werden
will und per Gedankentelekinese fügt sich alles nahtlos in einander
bis man auf einmal nackt ist –und die Frau durch reine Penetration
einen Orgasmus bekommt. Das ist noch die nette Variante, schließlich
gibt’s noch genügend Momente, wo die Frau auch Nein sagt, aber der
Mann natürlich ganz genau weiß, dass das nur ein geheimes Codewort
für „Fick‘ mich“ ist. Dementsprechend wird auch gehandelt und
als Zuschauer_In weiß man nicht, was man nun mit der Form der
sexuellen Gewalt, die man gerade gesehen hat, anfangen soll.

Was kann dadurch passieren?

Zusammengefasst hört sich das eher
ungeil an. Ist es auch. Die Idee, dass man sein Gegenüber erobern
muss, führt in der Praxis zu vielen Problemen. So kommt es zum
Überschreiten von sexuellen Grenzen und zu Übergriffen. Das kann
bewusster passieren, beispielsweise wenn man ein „Nein“ nicht als
„Nein“ wertet, weil man glaubt, man(n) muss die andere Person
überzeugen. Oder unbewusster, wenn man es einfach macht, weil man
glaubt, dass Nachfragen ein Zeichen des Unwissens und von Schwäche,
ist. Ebenso fühlt man sich selber unter Druck gesetzt, weil man
versucht einem Idealtyp zu entsprechen, den es so gar nicht gibt.
Sexualität verkommt also vielmehr zu einer Einzelleistung bei der
man auf magische Art und Weise weiß, was der Andere denkt und sich
selber „beweisen“ muss.

Aber warum ist das so?

Das liegt vor allem daran, dass in der
bürgerlichen Gesellschaft Sex in erster Linie dazu da ist, die
Fortpflanzung zu sichern. Für die herrschende Klasse Nachkommen, an
die sie ihren Besitz vererben (diese Vererbung findet meist über die
männliche Linie statt). Für die Arbeiter_Innenklasse wird so die
Existenz der Familie weiter gesichert, die unter anderem auch der Ort
ist an dem man sich selber erholen kann und die eigene Arbeitskraft
reproduzieren kann. Das hört sich jetzt stark veraltet an, ist aber
die Grundlage auf der sich heute viel abspielt. Das liegt daran, dass
im Kapitalismus 1. Immer bürgerliche Staaten und Großkonzerne in
wirtschaftlicher Konkurrenz stehen und daher möglichst viele neue
Arbeitskräfte auf dem Markt benötigen. Und 2. Insbesondere bei der
Unterdrückung von Frauen, dass diese in die unbezahlte Hausarbeit
und das Rollenklischee der Erzieherin gedrängt werden müssen, damit
die Kapitalist_Innen möglichst wenig aufbringen müssen für die
Reproduktionsarbeit, denn sonst würden sie ja weniger Profit machen.
So wird diese ins Private verdrängt. Sowohl die patriarchale
Vererbung, als auch die private Reproduktionsarbeit sorgen dafür,
dass sich Frauen in die typisch bürgerliche Familie einordnen
sollen, denn nur so kann der Mann sein Eigentum auch an „seine
Kinder“ vererben und hat in der Arbeiter_Innenklasse einen
Rückzugsort zur Erholung. Die Frauen werden zu reinen Geburten- und
Erziehungsmaschinen degradiert, die an Sex keinen Spaß haben müssen.
Sie sollen sich nur auf einen Mann fixieren, den sie ein Leben lang
lieben, und um zu rechtfertigen, dass sie nun auch noch den Großteil
der Hausarbeit (neben ihrer Arbeit) unbezahlt leisten müssen, werden
sie als weniger wert und dümmer dargestellt. All dies spiegelt sich
also in unserer Gesellschaft wider. Auch das Thema Sex, wie die
Hausarbeit, wird weiter ins Private verdrängt. Die 68er-Bewegung hat
für viele Errungenschaften in Bezug auf die Zurückdrängung von
veralteter Sexualmoral eine wichtige Rolle gespielt, trotzdem konnte
sie das Grundproblem nicht aufbrechen. So kommt es dazu, dass wir nun
an vielen Stellen einen offeneren Umgang mit Sexualität haben, aber
im Zuge dessen auch eine Liberalisierung des Sexualmarktes mit all
seinen negativen Facetten.

Das heißt: Sexualität im Kapitalismus
hat gar nicht den Zweck der eigenen Entfaltung. Auch wenn es so
scheint, dass man als Individuum unbegrenzte Freiheiten genießen
kann, geht es darum gar nicht. Vielmehr ist Sexualität stark davon
geprägt, dass existierende Unterdrückungsmuster wie Rassismus,
Sexismus und LGBTIA+ Diskriminierung mitreproduziert werden, die
aktiv verhindern, dass wir uns frei entfalten und Vorurteile wieder
spiegeln. So kommt es beispielsweise auch dazu, dass nicht-weiße
Frauen stark exotisiert werden oder es allgemein eine sehr starke
Fokussierung auf den Mann als Initiator gibt, während die Frau
oftmals stummes Beiwerk ist. Unser Sex-Leben ist also auch immer eine
Frage unserer Sozialisierung und kann nicht getrennt von der
Gesellschaft betrachtet werden.

Was hilft dagegen?

Die feministische Bewegung hat in
diesem Rahmen zwei Konzepte erarbeitet. Zum einen gibt es das „Nein
heißt Nein!“-Konzept. Das basiert darauf, ein Nein als solches
anzuerkennen, ohne nochmal Nachfragen zu stellen, die Druck aufbauen
können (Bist du dir sicher? Willst du nicht noch mehr trinken? Etc.)
und die Grenzen des Gegenübers zu akzeptieren. Das sollte eigentlich
recht klar sein, ist es aber vielerorts nicht. Allerdings klammert
dieses Konzept auch ein paar wichtige Dinge aus. So werden wir in
dieser Gesellschaft mit bestimmten Rollenbildern sozialisiert. Nicht
Jede_R hat die Möglichkeit aus sich heraus „Nein“ zu sagen.
Hinzu kommt, dass man erst wenn’s zu spät ist Feedback bekommt –
also, wenn man dabei ist eine Grenze zu überschreiten. Deswegen
wurde das Zustimmungskonzept „Ja heißt Ja“ entwickelt. Durch
aktives Nachfragen soll eine Verletzung der Grenzen vermieden werden,
damit sexuelle Handlungen nicht nur eine Einbahnstraße sind.

Das sagt sich so einfach, oder doch
nicht?

Wir wollen ehrlich sein: Aktiv
nachzufragen ist verdammt schwer. Das allgemein existierende Bild von
Sex in unserer Ecke der Gesellschaft gibt uns zu verstehen: Sex ist
immer toll und super heiß, dein eigener Wert wird dadurch bestimmt,
dass du ohne zu reden dein Gegenüber zum Orgasmus bringst und
einfach so total geile Sachen machst. Sex wird dadurch mehr zur
individuellen Leistung und nicht etwas, dass man gemeinsam hat. Oben
drauf kommen die stereotyphaften Erwartungen. Bei der männlichen
Sozialisierung gilt Nachfragen als schwach – schließlich nimmt
sich ein richtiger Mann, was er haben will und zeigt so seine Stärke.
Die weibliche Sozialisierung zeichnet sich dadurch aus, Sachen
hinzunehmen, schließlich muss man dem Typen auch gefallen.

Davon abgesehen, mischen sich je nach
Situation noch Versagensängste und die Angst aufgrund der eigenen
Bedürfnisse verurteilt zu werden rein. Insgesamt ergibt das also
eher einen Cocktail voller Zweifel, den man nicht so einfach
heruntergeschluckt bekommt. Also nein. Aktiv nachzufragen oder über
die eigenen sexuellen Wünsche zu reden, fällt vielen von uns
verdammt schwer. Es ist unangenehm, peinlich und man hat Angst. Aber
es lohnt sich. Die Frage ist nur:

Wo fängt man überhaupt an?

Auseinandersetzung mit sich selbst?

Sexuellen Konsens zu lernen, klappt
nicht von heute auf morgen. Es ist ein Prozess. Dabei lohnt es sich,
sich erst mal mit sich selber auseinander zu setzen. Mit den eigenen
Bedürfnissen, den eigenen Wünschen, den eigenen Grenzen. Wer das
noch nie gemacht hat, dem fällt das wahrscheinlich ganz schön
schwer. Weibliche Sozialisierung und auch manche psychischen
Krankheiten erschweren die Auseinandersetzung damit. Praktisch kann
das dann so aussehen, dass man sich selber Fragen stellt und diese
nach und nach beantwortet. Beispielsweise: Kann ich gut „Nein“
und „Ja“ sagen? Kann ich mich selber akzeptieren? Worauf habe ich
eigentlich Lust, was will ich erleben? Habe ich Angst vor
Zurückweisungen? Wenn ja, was macht das mit mir? Daneben kann es
helfen, sich mit seinem Körper auseinanderzusetzen.
Gesellschaftliche Schönheitsideale können einen riesigen Druck
ausüben – ob zu große Brüste, ein zu kleiner Penis letzten Endes
wird dafür gesorgt, dass sich 99% aller Menschen nicht wohl in ihrer
Haut fühlen. Das hat auch automatisch Auswirkungen darauf, wie wir
uns vor anderen fühlen. Dessen sollte man sich bewusst sein und
anfangen, existierende Schönheitsideale kritisch zu hinterfragen.

Und zuletzt: Redet ernsthaft mit
Freund_Innen über Sexualität. Hört sich komisch an mit Menschen
mit denen man nicht intim werden will drüber zu reden, aber der
Austausch mit anderen kann einen aufzeigen, wie Grenzen bei Anderen
aussehen oder man vielleicht gar nicht alleine mit seinen Ängsten
und Schwierigkeiten ist. Das ist gerade in männlichen
Freundeskreisen schwer, da es eine große Hemmschwelle gibt über
Gefühle zu reden und gerade in der Schule Sexualität was ist, mit
dem sich profiliert wird. Aber auch das kann angegangen werden. Dort
hilft es vielleicht, so etwas nicht gleich in einer Gruppe, sondern
im Zwiegespräch mit einem besonders guten Freund, zu besprechen.
Wenn es keine Möglichkeit gibt mit Freunden darüber zu reden, kann
man sich natürlich auch noch andere Wege suchen. Wenn man z.B.
relativ offene Eltern hat oder, wenn gar nichts mehr geht, kann man
auch versuchen eine Psychologin/ einen Psychologen auf zu suchen. Im
Gegenteil zu gängigen Klischees, sind diese nicht nur für
psychische Krankheiten, sondern auch einfache psychische Probleme da.

Auch wenn sich das anstrengend anhört,
lohnt es sich diese Schritte auszuprobieren und sich daran
weiterzuentwickeln. Seine eigenen Bedürfnisse, Grenzen und Wünsche
herauszufinden – und dann auch aussprechen zu können, ist eine
gute Grundlage, um das Gespräch mit Anderen zu suchen.

Wo fängt man zu zweit an?

In Realität schlägt das Herz wie wild
und man ist sich nicht so ganz sicher was gerade passiert und
irgendwie küsst man sich dann. Oder man ist betrunken auf ’ner
Party. Oder, oder, oder. Aber selten hat man sich vorher mal die
Zeit genommen, zu fragen, was das Gegenüber will. Hat man ja auch
nicht gelernt. Dabei ist das recht leicht. Ein guter Einstieg ist es
am Anfang zu fragen, wie gut sie/ er die eigenen Bedürfnisse und
Grenzen äußern kann. Also: Wie leicht fällt es einem überhaupt
„Nein“ in konkreten Momenten zu sagen? Klappt das einfach oder
wäre ein Handzeichen besser? Woran merke ich, was der anderen Person
gefällt? Wie kommt man aus unangenehmen Situationen raus? Was gibt
Sicherheit? Was macht Angst? Was ist einem verdammt peinlich?

Die Fragenliste kann man noch um ein
paar mehr erweitern. Dabei gilt die Regel: Statt anzunehmen, dass man
weiß, was man macht, fragt man einfach mal nach. Auf Basis dessen
können dann Vereinbarungen untereinander entstehen, wie
beispielsweise non-verbale Kommunikation. Oder einem fällt es schwer
die Initiative zu ergreifen und man findet es gut, dass der andere
sie ergreift und das auch praktisch machen soll. Aber nicht einfach
aus dem Nichts heraus.
Gleichzeitig sollte man sich bewusst sein,
dass es auch Machtverhältnisse gibt, die die Antworten verzerren
können und die einem Umgang auf Augenhöhe im Weg stehen können.
Diese gehen oftmals mit existierenden Unterdrückungsmechanismen, wie
Sexismus oder Rassismus einher, wie beispielsweise die typisch
weibliche Sozialisierung, die dafür sorgt, dass man eher hinnimmt,
was die andere Person macht. Aber auch andere Dynamiken wie
Wissenshierachien/ Erfahrungshorizont, Drogenkonsum,
Abhängigkeitsverhältnisse (finanzielle beispielsweise) oder ein zu
großer Altersunterschied können beispielsweise dazu führen kann,
dass dem einem Gegenüber mehr Bewusstsein zugeschrieben wird, als da
ist und die eine Person sich einfach unterordnet.

Das bedeutet auch, sich bewusst zu
sein, Konsens nicht immer dafür sorgt, dass Alles gut geht. Das
Zustimmungsprinzip Ja heißt Ja ist an der Stelle kein abstraktes,
starres Regelwerk. Manche Sachen sind klar, wie „Nein heißt Nein“.
Aber sexueller Konsens beschreibt eigentlich ein Verhältnis zwischen
den Menschen, die miteinander intim werden und kann deswegen sehr
unterschiedlich praktiziert und ausgeübt werden. Es geht darum, zu
versuchen keine Gewalt zu reproduzieren und sein eigenes Bedürfnis
nicht einfach so durchzusetzen, sondern gemeinsam das zu machen, was
einander Spaß macht. In dem Wissen und unter Berücksichtigung, dass
es Sozialisierung und gesellschaftliche Unterdrückungsmuster gibt,
die dabei im Weg stehen können bzw. den Zugang dazu erschweren.
Manchmal merkt man erst im Nachhinein, dass die Situation gar nicht
so abgelaufen ist, wie man es gewollt hat. Das kann passieren, auch
wenn man sich Mühe gibt. Sexualität ist von Natur aus ein
Spannungsfeld und gleichzeitig gibt es in unserer Gesellschaft
unfassbar viele Unterdrückungsmomente. Deswegen gehört auch dazu,
dass man im Nachhinein bereit ist, über das Erlebte zu reden, Kritik
anzunehmen oder Sachen, bei denen man sich unsicher war, selber aktiv
anzusprechen. Sex ist also unmöglich wirklich angenehm und schön
für beide, ohne Zusammenarbeit und gegenseitige Rücksichtnahme und
Vertrauen.

Das hört sich alles anstrengend und
0 romantisch an!

Für Manche ist’s anstrengend, sich mit
sich und den Bedürfnissen anderer auseinander zu setzen. Wenn du
aber nicht gerade darauf stehst, andere zu verletzen (was, wenn es im
konsensualen Rahmen passiert, wiederum voll ok ist) und dein eigenes
Bedürfnis über Andere zu stellen, dann merkst du, dass das der
praktikabelste Weg ist. Die Idee von Romantik, die uns in Filmen und
Serien beigebracht wird, basiert darauf, dass sie grenzüberschreitend
ist. Und was ist daran bitte romantisch? Es scheint nur oftmals
leichter, weil man sich der Gefahr entzieht einen Korb zu bekommen.
Solche Aussagen sind an der Stelle nur Aussagen mit der man sich aus
der Verantwortung ziehen möchte.

Also machen wir das alle so und wir
haben eine befreite Gesellschaft?

Nein. Leider ist dem nicht so. Es gibt
es Leute, die von der aktuellen Gesellschaftsdynamik profitieren.
Diese haben gar kein Interesse Etwas zu ändern, denn um die
Grundlage dieser Unterdrückungsformen zu beenden, müssten diese
Menschen ihren Besitz und ihre Privilegien aufgeben. Dementsprechend
kann die Grundlage, die das Bewusstsein erzeugt, dass es in Ordnung
ist, einfach so mit Leuten zu schlafen, ohne zu Fragen nicht einfach
so verschwinden und wird weiter reproduziert. Es ist also gar nicht
möglich, dass alle Menschen das einfach so machen. Schließlich
wurden die Meisten anders sozialisiert. Wir müssen also erst eine
Grundlage dafür schaffen.

Also können wir es auch gleich
lassen?

Auch nein. Als Revolutionär_Innen
wissen wir zwar, dass wir in der bürgerlichen Gesellschaft nicht
einfach so befreit leben können. Schließlich sind wir uns den
Zwängen, wie beispielsweise dem Zwang unsere Arbeitskraft verkaufen
zu müssen, nicht einfach so entledigen. Oder einfach so die Art und
Weise, wie wir sozialisiert wurden, abwaschen und neu anfangen. Aber
wir können uns den Mechanismen innerhalb der bürgerlichen
Gesellschaft bewusst sein. Wir können, aber müssen auch
gleichzeitig. Schließlich kämpfen wir für eine befreite
Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Das klappt am
besten, wenn wir schon im Hier und Jetzt für Verbesserungen kämpfen
und versuchen mit gesellschaftlichen Diskriminierungen einen Umgang
zu finden, statt das Ganze auf die Zeit „nach der Revolution“ zu
verschieben. Deswegen fordern wir beispielsweise: die
Vergesellschaftung der Hausarbeit, weil sie eine Grundlage des
Sexismus in der bürgerlichen Gesellschaft angreift, und eine enorme
Entlastung für die Arbeiter_Innenklasse wäre. Zudem haben wir uns
als Organisation dazu entschieden, aktiv sexuellen Konsens als
Bestandteil in unserer Debattenpraxis aufzunehmen. Erfolgreich kann
das Ganze aber nur sein, wenn wir dem System die Grundlage entziehen,
indem wir die bürgerliche Familie und die geschlechtlichen
Stereotype auf den Müllhaufen der Geschichte verbannen! Dies können
wir aber erst in einem System ohne Lohnarbeit machen, wo die
Entscheidung nicht mehr in den Händen der (meist männlichen)
herrschenden Klasse liegt. Deswegen müssen wir kollektiv die
Produktion in unseren Besitz nehmen, die Kernindustrien enteignen und
unter demokratische Planung der Arbeiter_Innenklasse stellen. Erst
dadurch können wir auch die Reproduktion der Arbeitskraft kollektiv
bestimmen und damit der doppelten Ausbeutung der Frau, Sexismus und
Rollenklischees den Boden entziehen. So wird sich auch die
Sozialisierung und das Recht auf guten Sex für alle, der nicht ins
Privatgespräch gedrängt wird, verändern.




Cardi B & Co. – Sex Sells oder sexuelle Befreiung?

Von Sani Meier

Einer der erfolgreichsten Hip-Hop-Songs
im Jahre 2020 war auch einer der am meist diskutierten, sodass, als
letzten August “WAP” (“Wet Ass Pussy“) von Cardi B &
Megan Thee Stallion erschien, die Welt der Popkultur kurz stillstand.
Während der Song in sozialen Medien wie TikTok direkt viral ging und
sich wochenlang an der Spitze der internationalen Charts hielt, löste
die explizite, sexpositive (= Bejahung einvernehmlicher Sexualität
in all ihren Formen) Message innerhalb der Hiphop-Szene und der
US-amerikanischen Politik eine hitzige Debatte aus. Gestritten wird
darüber, ab wann offene, weibliche Sexualität vulgär und moralisch
verwerflich ist. Wir gehen in diesem Artikel der Frage nach, warum
diese Thematik überhaupt so kontrovers ist und welche Perspektiven
Künstlerinnen wie Cardi B & Co. für eine befreite Sexualität
von Frauen bieten.

„WAP“ ist sicherlich nicht der
erste Song seiner Art, sondern steht in einer Tradition sexpositiven
weiblichen Hiphops von Künstlerinnen wie u.a. Lil Kim, Missy
Elliott, Trina oder Nicky Minaj. Ihre Songs stehen dafür, dass
Frauen Sex haben können, wann und wie sie wollen und dabei ihr
eigenes Vergnügen im Zentrum steht. Eine Perspektive, die in unserer
patriarchalen Gesellschaft üblicherweise tabuisiert und beschämt
wird, vor allem wenn sie von Frauen selbst aufgeworfen und gelebt
wird. Das wird vor allem daran deutlich, dass männliche Künstler
völlig ungehemmt über ihre Sexualität reden können, selbst wenn
ihre Inhalte dabei Gewalt gegen Frauen verherrlichen. Deutschrapper
wie die „187 Straßenbande“ beispielsweise sprechen in ihren
Texten davon, Frauen mit K.O.-Tropfen zu betäuben, um sie später zu
vergewaltigen und werden dafür höchstens aus feministischen Kreisen
kritisiert. Währenddessen brechen sie Spotify-Rekorde und
profitieren somit materiell von der sexuellen Unterdrückung von
Frauen. Es macht also offensichtlich einen Unterschied, wer über
Sexualität sprechen darf- Warum ist das so?

Weibliche Sexualität wird in unserer
Gesellschaft stark reglementiert und unsichtbar gemacht. Um zu
verstehen, warum das so ist und wer davon profitiert, müssen wir zu
den Ursprüngen des Patriarchats zurückgehen. Kurz zusammengefasst
lässt sich historisch eine gesellschaftliche Ungleichbehandlung von
Frauen ab dem Zeitpunkt nachweisen, an dem Menschen anfingen,
sesshaft zu werden und Privateigentum zu besitzen. Ab diesem
Zeitpunkt spielte also auch die Vererbung genau dieses Eigentums eine
wichtige Rolle und dies geschah meist über die Erblinie des Vaters.
Um eine korrekte Vererbung zu gewährleisten, musste also eindeutig
nachweisbar sein, welche Kinder zu welchem Vater gehörten. Ohne
moderne Techniken der Vaterschaftstests oder ähnlichem bedeutete
dies die Einführung der Monogamie- für Frauen. Nur wenn es sicher
war, dass Frauen nur mit ihren Männern Sex hatten, war eine
Vaterschaft eindeutig nachweisbar. Was ihre Männer währenddessen
machten, wurde erst deutlich später relevant. Es gab also eine
materielle Notwendigkeit dafür, dass Frauen ihre Sexualität nicht
mehr frei auslebten, sondern einzig auf ihren Partner oder Ehemann
beschränkten. Dass ihre Bedürfnisse möglicherweise ganz andere
waren, musste negiert und unterdrückt werden. Die Auswirkungen
dessen spüren wir noch heute: Weibliche Körper werden von klein auf
durch Politik, Gesetze und kulturelle oder religiöse Vorstellungen
fremdbestimmt. Frauen wird anerzogen, sich für ihre Sexualität und
Körper zu schämen, ihre „Reize“ zu zügeln. Abweichendes
Verhalten wird moralisch abgewertet, was sich unter anderem daran
zeigt, dass ein Großteil aller sexistischen Beleidigungen für
Frauen auf ihre ungehemmte Sexualität abzielt. Diese Vorstellungen
sind oft so verinnerlicht, dass sich Frauen dahingehend selbst und
gegenseitig überwachen.

Aber nicht nur vor einigen
Jahrtausenden, sondern auch heute noch ist genau diese Kontrolle im
Interesse des kapitalistischen Systems: Indem aus Frauen sexuell
passive Wesen gemacht werden, lassen sie sich besser kontrollieren
und fügen sich einfacher in ihre zugeteilte gesellschaftliche
Funktion der Reproduktion ein. Im Rahmen der bürgerlichen
Kleinfamilie sollen sie im besten Fall möglichst viele Kinder
kriegen und Fürsorge für andere leisten. Für sexuelle
Selbstverwirklichung bleibt da kein Platz. Sex wird als Aktivität
erlebt, die den eigenen Körper zwar involviert, aber dem eigenen
Vergnügen wenig bis keinen Stellenwert einräumt. An der aktuellen
Kontroverse zeigen sich zusätzlich auch rassistische Aspekte, denn
vor allem schwarze Frauen sind stark eingeschränkt in den
Möglichkeiten ihrer sexuellen Selbstbestimmung. Besonders ihre
Darstellung in pornographischen Filmen hat einen Stereotyp der
„ungezügelten & wilden schwarzen Sexualität“ erschaffen,
den es zu „zähmen“ gelte.

Vor diesem Hintergrund ist es also
nicht mehr überraschend, dass Künstlerinnen wie Cardi B & Megan
Thee Stallion vor allem in Zeiten von Krise und sexistischen
Rollbacks Wut ernten, denn ihre Texte fordern die Kontrolle über
sexuelle Narrative und ihre Körper zurück. Dies ist ein großer
Fortschritt hinsichtlich der Frage, wer über weibliche Sexualität
sprechen und von ihr profitieren darf, allerdings muss es bis zu
einem bestimmten Punkt auch als das bewertet werden, was es ist: Ein
Produkt auf dem kapitalistischen Markt, welches möglichst viel
Profit einbringen muss. So ist es zwar sicherlich relevant, dass die
Künstlerinnen zwei Women of Colour sind, die ihre Sexualität und
Körper in ihrer Musik thematisieren, anstelle von männlichen
Künstlern, die diese Themen lediglich für ihren Profit nutzen,
indem Frauen als Accessoires in ihren Musikvideos auftauchen.
Allerdings stehen auch sie unter dem Druck, sich selbst möglichst
erfolgreich zu vermarkten, was in unserer Gesellschaft leider am
effektivsten über „sex sells“ funktioniert. Der Text ist auch
ziemlich auf sexuelle und Schönheitsklischees der bürgerlichen
Gesellschaft ausgelegt (Frauen mit enger Scheide, und Männer mit
großem Penis), und so dürfte ihr Erfolg auch zum Teil durch die
damit erreichte Provokation zu erklären sein. Wie bereits vorher
ausgeführt, liegt der Ursprung der sexuellen Unterdrückung der Frau
im Kapitalismus selbst und kann deshalb auch nur im Kampf gegen
diesen überwunden werden. Empowernde Texte können diesen vielleicht
unterstützen, indem sie das Bewusstsein der Konsument_Innen
beeinflussen, sie können ihn aber nicht ersetzen. Im Gegenteil kann
es bei sehr sexistisch eingestellten Menschen und insbesondere
mackerhaften Männern, auch zu einer vermehrten Ablehnung oder noch
vermehrten Objektivierung des weiblichen Körpers führen, während
es insbesondere Frauen natürlich auch ermutigen kann. Dennoch wird
es die sexistische Unterdrückung nicht beenden, weil es ihre Ursache
nicht angreift. Es braucht also eine revolutionäre Perspektive, die
die materielle Grundlage dieser Gesellschaft als Ganzes verändert
und nicht nur die Musik, die höchstens die Reproduktion dieser
verhindern kann.

Trotzdem lassen sich einige positive
Effekte festhalten: So ist das klare Aussprechen sexueller Wünsche
auch ein wichtiger Bestandteil von sexuellem Konsens und Texte, dies
das thematisieren, könnten dabei helfen, einen offenen Umgang damit
zu normalisieren. Wenn du noch mehr zum Thema Konsens wissen willst,
haben wir in dieser Zeitung auch einen ganzen Artikel dazu
geschrieben:„Let’s talk about Sex: über Konsens reden – Aber
wie?“
. Weiterhin brechen sie mit dem Anspruch, dass alle von
der Sexualität von Frauen profitieren können, außer sie selbst und
machen weibliche Perspektiven, Wünsche und Fantasien sichtbar. In
einer Gesellschaft, in der sich sexuelle Medien wie Musik und
Pornographie vor allem an ein männliches Publikum richten, bieten
sie Identifikationsfläche für viele junge Frauen und erschaffen
Narrative, in denen sie nicht nur passive Teilnehmerinnen sind,
sondern selbst aktiv ihre Lust in den Fokus stellen.