Nein zu den reaktionären Angriffen der Türkei – Solidarität mit Rojava!

Von Leonie Schmidt, Oktober 2023

Die Welt schaut gerade nach Israel und betrauert dabei fast ausschließlich die getöteten israelischen Zivilist_Innen, während das Töten palästinensischer Zivilist_Innen als Kampf gegen Terrorismus geframet und damit unsichtbar wird. Doch ebenso unsichtbar bleibt eine weitere humanitäre Katastrophe: In Nordsyrien, in den Gebieten der kurdischen Selbstverwaltung Rojava, fliegt die Türkei nun seit über einer Woche Bombenangriffe, die die Infrastruktur zerstören, Menschen töten und die Schwersten dieser Art seit langem sind. Seit dem 5.10.23 wurden 47 Menschen ermordet, darunter auch neun Zivilist_Innen und zwei Kinder (Stand 11.10.23). So wurden bereits mehrere Krankenhäuser durch die Angriffe zerstört, sowie ein Kraftwerk getroffen, außerdem die Wasser- und Energieversorgung, Schulen, Ölfelder, Fabriken, Warenlager, sowie Geflüchtetenlager und Dörfer. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Infrastruktur massiv angegriffen wird, was nach internationalem Recht ein Kriegsverbrechen darstellt. So ist in großen Teilen Rojavas nach den Angriffen die Stromversorgung eingebrochen. In vielen Fällen sollen die Luftschläge auch Menschen in Fahrzeugen und auf Motorrädern gegolten haben. Erdogan möchte den Menschen die Lebensgrundlage rauben und er legitimiert es wie Netanjahu mit dem Kampf gegen den Terrorismus. Am 2. Oktober kam es zu einem Anschlag der PKK in Ankara und nun wird behauptet, einer der Attentäter würde aus Nordsyrien stammen, wenngleich es dafür keine Beweise gibt. Aber Beweise braucht es für Erdogan schließlich auch nicht, da die Behauptung seiner Ideologie und seinem rassistischen Kampf gegen die Kurd_Innen entsprechen. Bereits im November 2022 wurde ein Anschlag in Istanbul als Vorwand genutzt einen zweiwöchigen Luftangriff auf die Region zu fliegen, wo ebenso Infrastruktur getroffen wurde und unter dessen Auswirkungen die Bevölkerung heute noch zu leiden hat. Seit den Angriffen gibt es nur einige Stunden am Tag Strom, Diesel ist rar und teuer geworden und auf eine neue Gasflasche zum Kochen muss man in der Regel eine Woche warten. Hinzu kommt die enorme psychische Belastung für die Bevölkerung, Drohnenangriffe sind allgegenwärtig. Und damit nicht genug: Innerhalb der Türkei wird das gerade damit begleitet, dass Dutzende prokurdische Aktivist_Innen inhaftiert und insgesamt ein harter Kampf gegen die fortschrittlichen Bewegungen geführt wird.

Doppelmoral so weit das Auge reicht

Erdogan sagte in einer gestrigen Ansprache an die Staatengemeinschaft, man solle sich hinsichtlich der Luftschläge gegen Gaza doch zurückhalten, denn es würde nicht den Menschenrechten entsprechen, Infrastruktur zu zerstören. Er prangerte des Weiteren das Schweigen der internationalen Staatengemeinschaft hinsichtlich dieser humanitären Katastrophe in Gaza an. Wenngleich seine Aussagen bezüglich Gazas einen wahren Kern haben, so ist das doch am Ende des Tages nichts weiter als dreckige Heuchelei. Scheinbar sind ihm Menschenrechte ziemlich egal, wenn es um den eigenen Dorn im Auge geht: den kurdischen Befreiungskampf.

Auch die USA und Russland nehmen die Angriffe ohne ein Augenzucken hin, denn sie sind es, die den Luftraum in Nordsyrien kontrollieren. Ohne die Zustimmung der beiden Militärs wären die türkischen Angriffe nicht möglich. Jedoch gibt es aktuell das unbestätigte Gerücht, die USA hätten eine Drohne des Nato-Bündnispartners Türkei über dem Ort Tal Baydar abgeschossen. Sollten diese Meldungen zutreffen, wäre es das erste Mal, dass US-Militär ein Flugobjekt der Türkei abgeschossen hat.

Ziele der Türkei

Die Türkei verfolgt mit dem Angriff ihr eigenes Ziel als Regionalmacht an der Neuordnung des Nahen Osten mitzuwirken, aber auch innenpolitische Ziele werden vom Regime in Ankara verfolgt.

Die Türkei steckt seit Jahren in einer Wirtschaftskrise, besonders die Inflation ist nach wie vor in einem sehr hohen Ausmaß und türkische Währung Lira ist weiterhin schwach. Im August lag die Teuerungsrate bei 58,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, was extrem hoch ist. Diese wird auf Arbeiter_Innen und Jugendliche abgewälzt. Der Krieg in Syrien schafft eine äußere Ablenkung von den sozialen Angriffen, aber bedient auch ganz unmittelbar ökonomische Interessen:

Die „Toki“ Häuser, die von staatlichen Bauunternehmen gebaut werden, sollen da, wo zerstört wird, aufgebaut werden und die Baubranche ankurbeln. Außerdem will Erdogan in diesem Gebiet bis zu 2 Millionen Geflüchtete zwangsansiedeln und das passt wiederum super in den Kram der EU, siehe die aktuelle GEAS-Gesetzgebung, bei der Menschen aus vermeintlich „sicheren Herkunftsstaaten“ (z. B. Türkei, Indien oder Tunesien) so schnell wie möglich dorthin abgeschoben werden sollen. Auch für Menschen aus Staaten, auf die diese Kategorie nicht zutrifft, finden die EU-Innenminister_Innen einen Weg, der an einem Asyl für diese vorbeiführt. Die Reform besagt, dass nun auch eine Abschiebung in ein „sicheres Drittland“, welches auf dem Fluchtweg passiert worden ist oder auf andere Weise mit der geflüchteten Person assoziiert wird (z.B. über entfernte Verwandtschaft), möglich sei.

Der Kampf um Befreiung ist international

Rojava muss gegen die Angriffe des türkischen Staates verteidigt werden. Der Kampf gegen die Militärmaschinerie in der Türkei, gegen das PKK-Verbot in Europa, für uneingeschränkte legale Betätigung aller Befreiungsbewegungen und, wann immer möglich, das Leisten materieller Hilfe für die Verteidigung von Rojava ist aktuell notwendig und könnte den entscheidenden Unterschied ausmachen.

Gleichzeitig müssen wir auf die Doppelmoral und auf die Ähnlichkeiten der Kämpfe in Gaza und in Nordsyrien hinweisen: one struggle, one fight! Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung!

  • Schluss mit den Angriffen auf Rojava! Solidarität mit dem kurdischen Volk!
  • Nein zu allen Abschiebungen in die Türkei! Niederschlagung aller Verfahren gegen kurdische Aktivist_Innen!
  • Aufhebung der sog. Antiterrorliste der EU! Weg mit dem Verbot der PKK und anderer kurdischer Vereine!



Erdbeben in Türkei und Syrien: Eine humanitäre Katastrophe – vor allem für die Minderheiten

Dilara Lorin, Zuerst erschienen bei der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Februar 2023

4.440 Tote forderte das Erdbeben in der Türkei und Syrien bis zum Morgen des 7. Februar. Und die Zahlen steigen stetig weiter. Hinzu kommen weit über zehntausend, teilweise schwer, verletzte Menschen.

Die humanitäre Katastrophe trifft die Masse der Bevölkerung in beiden Ländern, die ohnedies unter Krieg, brutaler Repression durch die Regime von Assad und Erdogan, unter der Inflation, Wirtschaftskrise und Korruption leiden. Die humanitäre Krise und die hohe Zahl der Toten sind daher nicht nur das Resultat einer Naturkatastrophe, sondern auch Folge brutaler Ausbeutung und Unterdrückung – eine Tatsache, die in der offiziellen Berichterstattung viel zu wenig oder gar nicht vorkommt.

Unterdrückte Minderheiten

Die Hauptbetroffenen der humanitären Katastrophe sind oft Angehörige unterdrückter Minderheiten  wie Kurd:innen, Alevit:innen, Araber:innen und Geflüchtete.

Seit den Morgenstunden am 6. Februar haben mehr als 100 Erdbeben die mehrheitlich kurdischen Regionen Maras über Antep, Nordost Syrien/Rojava bis nach Mersin erschüttert. Es wurden Erdbeben mit einer Stärke von 7,9 gemessen, welches somit seit 1939 das schlimmste Erdbeben in der Türkei ist. Die Situation ist katastrophal. Die aktuellen Todeszahlen stiegen allein für die Türkei auf 3600 und mehr als 15.000 Menschen sind verletzt, weitere Abertausende sind vermisst. Die Zahl der Vermissten, Verletzten und Toten steigt stündlich an und wird noch in den nächsten Tagen das Ausmaß dieser Katastrophe sichtbar machen.

Vor allem betroffen sind die unterdrückten Minderheiten in der Türkei und Geflüchtete vor Ort. Dass in dieser Region mehrheitlich Kurd:innen und Alevit:innen leben ist einer der Gründe, warum das türkische Regime Jahrzehnte lang diese Region unterentwickelt ließ und kaum bis wenig in Infrastruktur, Bildung oder Gesundheitswesen investierte. Die benachteiligten Teile der Gesellschaft bilden, wie gesagt, mehrheitlich Kurd:innen und andere unterdrückte Minderheiten, es sind die Teile der Gesellschaft, welche aufgrund ihrer Armut oftmals gezwungen sind, in Häuser einzuziehen, die nicht nur mit billigen Materialien errichtet wurden, sondern in deren Konstruktion und Statik kaum investiert wurde, da sie ohnedies für die unteren Teile der Gesellschaft gedacht waren.

Dass also bei diesem Erdbeben so viele Häuser wie Spielkarten zusammenfallen, wäre in vieler Hinsicht vermeidbar gewesen. Aber es lag und liegt im Interesse staatlicher Institutionen, die Investitionskosten gering zu halten, und es lag und liegt im Interesse der Bauunternehmen, die Profite möglichst hoch zu halten.

Bis heute gibt es etliche alevitische und kurdische Dörfer, in welchen kein Leitungswasser fließt, in denen Stromnetze nur spärlich ausgebaut sind oder in denen keine asphaltierte Straße errichtet wird, aber in dem türkischen Nachbardorf konnte es ermöglicht werden. Diese bewusste Nicht-Entwicklung ist ein politisches Machtinstrument, um unerwünschte Minderheiten aus der türkischen Bevölkerung hinauszudrängen, aber sie eben zugleich als billige Arbeitskräfte auszubeuten.

Kurdische Regionen

Auch ist es mehreren Wissenschaftler:innen zufolge Tage vorher bekannt gewesen, dass ein Erdbeben dieser Stärke die Region erschüttern wird, aber Vorkehrungen, wie z.B. Evakuierungen, wurden nicht ansatzweise eingeleitet, die Bevölkerung wurde einfach nicht informiert.

Mehr noch. Der Wissenschafter Prof. Naci Görür wies im Live TV bei Fox darauf hin, dass nicht nur Jahr lang bekannt war, dass es früher oder später in der Region Erdbeben geben wird. Sie hat außerdem als Wissenschaftlerin Bürgermeister und Gouverneure mehrmals angesprochen und sogar eine Art Rettungs- und Aktionsprogramme für den Katastrophenfall vorgelegt. Die Verantwortlichen abwinkten aber nur ab.

In den türkischen Medien ist von all dem kaum die Rede. Schaltet man die Kanäle ein, welche von der AKP koordiniert und kontrolliert werden, will keiner davon etwas wissen. Bilder werden lediglich aus einigen wenigen Gebieten gestreamt. Regionen wie Pazarcık, Elibstan, Gölbaşı oder Hatay, welche durch die Erdbeben erschüttert wurden und die zu 90 % kurdisch geprägt sind, werden nicht gezeigt. Dabei sind es diese Gebiete, in welchen viele Gebäude dem Erdboden gleichgemacht wurden. Dies spiegelt auch die reale und aktuelle Lage der Menschen vor Ort wieder. Unterstützung und Hilfe erreichten kaum jemand in den genannten Regionen. Die Menschen versuchen, mit ihren eigenen Händen die Betonplatten der Häuser zu entfernen, denn sie hören immer wieder noch Hilferufen und Schreie der Überlebenden unter den Trümmern, können aber in den meisten Fällen nichts unternehmen. Die Social-Media-Kanäle sind voller Hilferufe, voll mit Adressen von zusammengefallenen Häusern, in welchen Menschen um ihr Leben ringen. Diese werden eben gepostet, weil es sonst kaum Möglichkeiten gibt, denen eine Stimme zu verleihen, und aus verzweifelten Hoffnung, dass vielleicht doch eines der wenigen Rettungsteams, die schon vor Ort sind, dies liest.

Eine schnelle Besserung der Situation ist nicht in Sicht. Die meisten Menschen, befinden sich außerhalb der Häuser, um sich richtigerweise vor weiteren Erdbeben zu schützen. Aber bei den Temperaturen, welche  zwischen 3 und -7 Grad in der Nacht liegen, drohen viele Menschen im Freien zu erfrieren. Trotz dieser Bedrohungen sind die Rettungskräfte der türkischen Regierung – nach Zeugenberichten aus den Gebieten – kaum anzutreffen bzw. nicht sichtbar, und wenn, dann sind es viel zu wenige an den Katastrophenorten.

In den Grenzregionen verschärft sich die Lage außerdem für die vielen Geflüchteten, die auch bislang nur in heruntergekommenen Gebäuden Unterschlupf finden konnten. Es ist außerdem der Rassismus gegenüber Geflüchteten, der vielen Menschen Angst macht, denn dieser wird in den kommenden Tagen nicht nachlassen. Das altbekannte Spiel, dass man lieber nach unten tritt als nach oben, droht hier ein Ausmaß anzunehmen, das uns nur grausen lässt.

Syrien

Auch wenn wir uns im Artikel vor allem mit der Türkei beschäftigt haben, so darf die Katastrophe in Syrien nicht übersehen werden. In dem Land sind bisher rund 1500 Menschen dem Erdbeben zum Opfer gefallen. Die nordöstlichen Regionen und Teile von Rojava sind vom Erdbeben massiv betroffen. Es sind dies Gebiete, die durch den jahrelangen Bürgerkrieg gebeutelt und ausgeblutet sind und nicht zur Ruhe kommen. Sie verfügen über wenig bis gar keine Infrastruktur, um Bergungsarbeiten durchzuführen. Assads Stellungnahme dagegen sind blanker Zynismus. Kaum staatliche Unterstützung wurde in diese Region entsendet, denn es sind zum Teil Gebiete, die nicht mehr unter Assads Kontrolle stehen. Die Türkei wiederum setzte die Angriffe auf Rojava auch während des Erdbebens fort!

Wer hilft?

In der aktuellen Situation sind Sach- und Geldspenden dringend erforderlich, welche die Menschen vor Ort direkt erreichen. Für alle, die Geld überweisen wollen, verweisen wir auf die Webseite und das Konto von Heyva Sor (Kurdischer Roter Halbmond; https://www.heyvasor.com/de/alikari/) Dabei ist recht sicher, dass die Spenden auch dort ankommen, wo sie gebraucht werden.

Denn nicht jeder Spendenaufruf ist einer, der die Teile der Bevölkerung erreicht, die am härtesten von der Katastrophe betroffen sind. Spenden, die an den türkischen oder an den syrischen Staat gehen, sind oftmals welche, die in den Taschen des Regimes oder deren Mittelsmänner landen und nicht die Menschen vor Ort erreichen. In vielen Städten Deutschlands werden aktuell auch Sachspenden gesammelt, womit dann Menschen oftmals mit dem Auto in die Gebiete fahren und die Sachspenden dann an den Stellen weitergeben, in welchen sich gerade (notgedrungen) die meisten Menschen aufhalten. Dabei fehlt es fast an allem, denn die meisten Menschen mussten ihre Wohnungen innerhalb von Sekunden verlassen.

Es ist aber klar, dass die humanitäre Hilfe, egal welcher Art, nur die Auswirkungen der Katastrophe lindern kann. Was sind aber politische Forderungen, die Revolutionär:innen in diesen Momenten aufwerfen müssten?

Es muss die Frage gestellt werden, wie es sein kann, dass gerade die Regionen, in welchen die kurdischen, arabischen, alevitischen Minderheiten leben, dies sind, die am schlechtesten auf Naturkatastrophen vorbereitet sind, obwohl es bekannt ist, dass in dieser Region die anatolische Platte auf die arabische trifft. Rassismus und Unterdrückung führen direkt zur Armut, zu einer Lage, die von Immobilienhaien und kapitalistischen Unternehmen bewusst ausgenutzt wird. Die Frage, die hier also hauptsächlich gestellt werden muss, ist auch die Frage der Verbindung des Befreiungskampfes der Kurd:innen und aller unterdrückten Minderheiten in der Türkei und in Syrien mit dem der Arbeiter:innenklasse. Wir fordern:

  • Massive Hilfsgüter und Personal für alle betroffenen Regionen! Private Spenden sind gut, aber eigentlich müssen die Reichen, die Profiteure, der Staat und die imperialistischen Länder gezwungen werden, für die Katastrophenbekämpfung aufzukommen!
  • Damit die Hilfsgelder nicht im Korruptionssumpf versinken, muss ihre Verteilung und Verwendung von Ausschüssen der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten und von Beschäftigten bei den Hilfsorganisationen kontrolliert werden. Auch Beschäftigte bei den Banken und Finanzinstitutionen können hier eine wichtige Kontrollfunktion übernehmen.
  • Um den Zugang für Hilfsgüter, Helfer:innen, Katastrophenschutz zu allen Regionen, frei von Repression und Angst vor Unterdrückung, zu ermöglichen, ist der Rückzug der Armee und der Polizei notwendig. Schluss mit der Verfolgung und Unterdrückung kurdischer und anderer oppositioneller Organisationen! Rückzug von Assads Schlächter-Truppen! Bleiberechte für alle Geflüchteten!
  • Rettungs- und Wiederaufbauprogramm, finanziert aus der Besteuerung der Profite und großen Privatvermögen unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Bäuer:innen in den betroffenen Regionen!



Droht der Krieg in Syrien zum Flächenbrand zu werden?

von Dilara Lorin und Martin Suchanek, zuerst erschienen unter
http://arbeiterinnenmacht.de/2020/02/29/krieg-syrien/

Hunderttausende, wenn nicht Millionen, befinden sich in Syrien auf der Flucht. Die Offensive der syrischen Armee sowie ihrer russischen und iranischen Verbündeten sollte ein weiteres blutiges Kapitel im Bürgerkrieg zum Abschluss bringen – die Rückeroberung Idlibs samt Vertreibung Hunderttausender, der Zerschlagung der oppositionellen bewaffneten Gruppen – egal ob nur dschihadistisch, pro-westlich oder verbliebene Restbestände der demokratischen Opposition.

Zweifellos kalkulierten das syrische Regime wie auch seine Verbündeten, dass sie dieses mörderische Unternehmen rasch durchziehen konnten. Protestnoten der zur „Weltgemeinschaft“ hochstilisierten westlichen Mächte waren einkalkuliert, ein Stillhalten der Türkei, der Russland (und damit das Assad-Regime) wichtige Teile Nordsyriens und vor allem Rojavas überlassen hatten, ebenfalls.

Doch wie schon in Libyen erweist sich die Putin-Erdogan-Allianz als brüchig. Sie ist praktisch am Ende. Beide Räuber, beide „Sieger“ wollen ihren Teil vom Kuchen. Das Assad-Regime will erst recht nicht mehr auf die Türkei Rücksicht nehmen.

Umgekehrt droht nun der Krieg, selbst zu eskalieren, von einem StellvertreterInnenkrieg in einen heißen Krieg umzuschlagen. Selbst wenn keine der Parteien diese Entwicklung anstrebt, so spielen sie doch mit dem Feuer. Während Russland weitere Kriegsschiffe ins Mittelmeer beordert, ruft die Türkei die NATO-PartnerInnen an. Die Trump-Administration sieht die Chance gekommen, verlorenen Einfluss wiederherzustellen, und verspricht Unterstützung. Die NATO erklärt ihre Solidarität mit dem Mitgliedsstaat, auch wenn sie noch offenlässt, welche praktischen Formen diese annehmen soll. Bei allem Gerede von Besorgnis ob der Eskalation könnte sich die Konfrontation in den nächsten Tagen massiv zuspitzen, im extremsten Fall aus dem syrischen BürgerInnenkrieg ein Krieg zwischen Russland und NATO werden.

Lage in der Türkei

Im Folgenden wollen wir die Lage in der Türkei genauer betrachten.

In den vergangenen Tagen starben laut türkischen Nachrichtenagenturen bis zu 33 Soldaten in Idlib, einer Stadt im Nordwesten Syriens, durch syrische Luftangriffe. Laut der kurdischen Nachrichtenagentur ANF (Firatnews Agency) sind bis zu 113 Soldaten ums Leben gekommen. Mehrere Videoaufnahmen kursieren im Internet, die von mehreren hundert „Märtyrern“ sprechen, und türkische Soldaten beklagen, „man komme aus Idlib nicht mehr lebend heraus“.

Der Kurznachrichtendienst Twitter ist seit gestern Abend in der Türkei geschlossen, um keine weiteren Meldungen über den Krieg und die getöteten Soldaten zu verbreiten. Aber die Grenzregion zu Syrien liegt lahm, die Krankenhäuser sind überfüllt mit Leichen und das Gesundheitsministerium ruft die Bevölkerung dazu auf, Blut zu spenden. Das deutet darauf hin, dass die Opferzahlen wahrscheinlich viel höher sind als die 33.

Die Türkei führt gerade einen offenen Krieg in Syrien gegen das Assad-Regime, faktisch auch einen gegen seinen Verbündeten Russland. Dass die Türkei seit dem 27. Februar ihre Grenzen nach Europa für syrische Geflüchtete geöffnet hat und und diese nicht mehr darin hindert, dorthin auszureisen, bedeutet für sie nur, die Geflüchteten als Spielball zu benutzen. Sie möchte damit die EU unter Druck setzen und zwingen, im Krieg um Idlib auf ihrer Seite einzugreifen oder jedenfalls Unterstützung zu gewähren. Dies könnte auch zu einem Krieg zwischen Türkei, EU und Russland führen.

Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu steht im Telefonkontakt mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Dieser verkündete am 28. Februar, dass die NATO die Türkei auch militärisch unterstützen und die Luftverteidigung stärken wird. Teile der NATO stellten sich schon vorher und während des Manövers in Idlib auf die Seite der Türkei, welche mit dschihadistischen Truppen wie der Division Sultan Murad und Ahrar Al-Sharqiya (Freie Männer des Ostens) zusammen kämpft.

Das Leid der 3 bis 4 Millionen ZivilistInnen in Idlib jedoch wird in der Türkei kaum gehört. Mehrere tausende Menschen, welche vom syrischen Regime teils zwangsumgesiedelt wurden, befinden sich in Idlib unter türkisch-dschihadistischem und syrisch-russischem Beschuss.

Während Russland und Syrien, die Türkei und USA Stellung beziehen und eine weitere Eskalation droht, laviert die schwächelnde EU. Sie fordert ein Ende der Kampfhandlungen, unterstützt zur gleichen Zeit den NATO-Verbündeten. Mit der Türkei freilich hadert sie um die Frage der Geflüchteten, denen sie auf keinen Fall helfen will.

Die Öffnung der türkischen Grenzen bedeutet längst nicht, dass die Menschen, die fliehen, allzu weit kommen. Frontex wurde in den letzten Jahren weiter aufgerüstet, an die EU-Außengrenzen werden mehr und mehr Polizei und Grenzschutzeinheiten beordert. Wird der Andrang zu groß, kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass der bewaffnete Arm der Frontex auf Menschen an den Grenzen schießen wird. Es droht somit eine humanitäre Krise der Menschen in Idlib und der Millionen Flüchtlinge des Bürgerkriegs.

Aktuell sammeln sich größere Gruppen von Geflüchteten vor Edirne, einer türkischen Grenzstadt nahe Bulgarien und Griechenland, sowie in Izmir und anderen Hafenstädten im Westen der Türkei und versuchen, der Hölle von Bürgerkrieg und Vertreibung zu entkommen. Wir brauchen offene Grenzen für alle! Jetzt sofort! Wir müssen gemeinsam dafür kämpfen, dass alle, die nach Europa wollen, sichere Fluchtwege über Meer oder Land erhalten und sich in den Ländern ihrer Wahl niederlassen, arbeiten und eine Existenz aufbauen können.

Geostrategische Gründe

Der türkische Einmarsch in Syrien erfolgte – wie die Intervention aller anderen Mächten – aus geostrategischen Gründen. Ursprünglich ausgezogen, Assad selbst zu stürzen, will Erdogan nun ein möglichst großes Stück von der Beute, sprich die Neuordnung des Landes mitbestimmen. Den Einmarsch türkischer Truppen, die Eroberung Afrins und anderer kurdischer Städte stellt er als Akt der „Verteidigung“ des Landes dar, ganz so wie Russland, Iran und Syrien die brutale Wiedererrichtung des Assad-Regimes zum „Kampf gegen den Terrorismus“ verklären.

Doch der Krieg könnte für Erdogan leicht zum Bumerang werden. Die Türkei befindet sich in einer wirtschaftlich sehr schlechten Lage und ein Krieg trägt sicherlich nicht zu einer Erholung bei. Im Gegenteil, die ArbeiterInnenklasse wird zu den Kriegen einberufen und muss für die Interessen eines Staates sterben, der vielen nicht einmal genug zum Überleben bieten kann. Der Mindestlohn reicht kaum, um sich und seine Familie zu ernähren. Die Lebensqualität sinkt mit jedem anbrechenden Tag und nun werden junge Lohnabhängige auch noch zur Armee berufen, um in einem Krieg zu sterben, der in keinster Weise ihren Interessen dient.

So wie die ArbeiterInnenklasse Russlands oder Irans, so muss auch die türkische ArbeiterInnenklasse „ihrer“ Regierung jede Unterstützung verweigern. Der Krieg Erdogans ist nicht unser Krieg. Es hilft jedoch nicht, sich über den Tod türkischer Truppen und Soldaten zu freuen, es kommt darauf an, Erdogan und das Regime zum Rückzug aus Syrien zu zwingen – und zwar nicht nur aus Idlib, sondern auch aus Rojava und allen anderen Gebieten.

Ein Rückzug aus Idlib allein – ob nun infolge syrisch-russischer Militärschläge oder durch ein weiteres „Waffenstillstandsabkommen“ – würde schließlich bedeuten, dass sie weiter Besatzungsmacht in Nordsyrien/Rojava bleibt. So kontrolliert sie strategisch wichtige Verkehrsknotenpunkte der nordsyrischen Region wie die Autobahn M14, die Antalya mit Mossul verbindet, und dem türkischen Staat dienen soll, im arabischen Raum besser Fuß zu fassen. Sie wird weiterhin Besatzungsarmee der kurdischen Gebiete sein und dschihadistische Strukturen weiter aufbauen, bewaffnen und unterstützen.

Nein zum Krieg! Abzug aller imperialistischen Truppen und Regionalmächte!

In der Türkei, in Russland und den NATO-Staaten brauchen wir eine breit aufgestellte Einheitsfront von Organisationen, Gewerkschaften und Parteien der ArbeiterInnenklasse. Denn nur die ArbeiterInnenklasse kann in internationaler Solidarität mit den Geflüchteten, KurdInnen, der ArbeiterInnenklasse und demokratischen Opposition in Syrien diesen Krieg stoppen! Wer soll eingezogen werden, wenn wir streiken? Wie soll die Türkei weiter Krieg führen, wenn die ArbeiterInnenklasse sich mit den bis zu vier Millionen ZivilistInnen in Idlib und den drei Millionen KurdInnen in Nordsyrien solidarisiert, auf die Barrikaden geht und einen Generalstreik ausruft?

Alle Räder stehen still, wenn die Klasse das auch will, und natürlich ist damit auch das Rad eines Panzers gemeint!

Wir brauchen keine weiteren imperialistischen AkteurInnen und Regionalmächte im Krieg in Syrien, die allesamt nur für ihre eigenen Profite und strategischen Interessen kämpfen. Es war schon ein richtiger Schritt, dass sich viele türkische und internationale Linke gegen den Einmarsch der Türkei in die kurdischen Gebiete in Syrien aussprachen und sich mit den KurdInnen solidarisierten, aber Solidarität darf und kann nicht bei Lippenbekenntnissen stehenbleiben! Es muss eine gemeinsame Mobilisierung diskutiert und umgesetzt werden, um die drohende Ausweitung des Kriegs zu verhindern und der Zivilbevölkerung in Idlib beizustehen.

Die ArbeiterInnenklasse, die Gewerkschaften müssen erkennen, dass die Intervention der Türkei in Syrien nicht dem Schutz der Bevölkerung dient, sondern nur eigenen Machtinteressen und der Verhinderung kurdischer Selbstbestimmung. Sie muss erkennen, dass eine etwaige US-amerikanische oder NATO-Intervention nur dazu führen, kann dass der Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten eine militärische Form annimmt, sich zu einem internationalen Flächenbrand ausweiten kann. Daher: Nein zu jeder NATO-Intervention! Abzug aller deutschen, französischen, US-amerikanischen Truppen, nein zu allen westlichen imperialistischen Sanktionen! Öffnung der EU-Grenzen für die Flüchtlinge! Sie muss aber auch erkennen, dass die Intervention Russlands und Irans keinen Akt des „Anti-Imperialismus“, sondern selbst nur nackte und brutale Verfolgung eigener geostrategischer Interessen bedeutet. Sie muss erkennen, dass sie mit dem Assad-Regime eine mörderische Kriegsmaschinerie am Leben hält, die für den Tod Hunderttausender und die Vertreibung von Millionen verantwortlich ist.

Ob sich der Krieg in Syrien zu einer internationalen Konfrontation ausweitet oder ob er am Verhandlungstisch auf dem Rücken der Bevölkerung“ befriedet” wird – wir dürfen nicht auf die Assads und Erdogans, die Putins und Trumps, aber auch nicht die Merkels und Macrons unsere Hoffnungen setzen. Sie sind alle Teil des Problems.

Nur eine gemeinsame, internationale Anti-Kriegsbewegung, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützt, kann in der Aktion verhindern, dass sich der syrische BürgerInnenkrieg weiter ausweitet, ja zu einer Konfrontation zwischen NATO und Russland wird.

  • Abzug aller imperialistischen Truppen und Regionalmächte aus Syrien, vor allem der türkischen, russischen und iranischen Truppen!
  • Nein zu jeder Intervention und Waffenlieferungen an Erdogan oder Assad!
  • Abzug aller NATO-Truppen aus der Region, Schließung der NATO-Basen in der Türkei!
  • Schluss mit dem EU-Türkei-Deal! Öffnung der europäischen Grenzen für alle Geflüchteten!
  • Unterstützung für Rojava sowie für die ArbeiterInnenklasse, die demokratische und sozialistische Opposition in Syrien!



Hände weg von Rojava!

Lukas Müller

Seit Montag hat der türkische Staat unter Führung des Diktators Recep Tayyip Erdogan von Trump grünes Licht: Die USA werden sich aus dem Nordosten Syriens vollständig zurückziehen und der Türkei freie Hand für einen Krieg gegen die Kurd_Innen in Rojava lassen.

Nachdem die USA die Kurd_Innen für den Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ einige Zeit unterstützt haben, wurden diese nun fallen gelassen. In den Augen von Trump haben die Kurd_Innen ihre Rolle gespielt: Der IS ist für Amerika keine direkte Gefahr mehr und der Stellvertreterkrieg gegen Assad und Russland ohnehin verloren. Interesse an einer Unterstützung des basisdemokratischen, feministischen und internationalistischen Projekts Rojava hatten die USA sowieso nie. Warum also einen Konflikt mit dem NATO-Partner Türkei riskieren, der schon seit Monaten klar macht, dass er sich von einem weiteren Krieg nicht abhalten lassen wird?

Aus der Administration von Erdogan wurde diese Woche verkündet, der Krieg werde in Kürze beginnen. Die Türkei kann dabei auf die Unterstützung allermöglichen islamistischen Milizen zählen, welche bereits im letzten Jahr Seite an Seite mit türkischen Truppen den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung des Kanton Afrin führten. Nichts ist Erdogan mehr ein Dorn im Auge, als das in den Wirren des syrischen Bürgerkriegs entstandene kurdische Autonomieprojekt. Zu groß ist für ihn die Gefahr, die Unabhängigkeit der syrischen Kurd_Innen werde die kurdische Minderheit im eigenen Land stärken und den gemeinsamen Kampf gegen Unterdrückung und für einen eigenen Staat, ein freies Kurdistan, neu entfachen.

Das Projekt Rojava ist in dieser Form auf der Welt etwas Einmaliges, gerade für den Nahen Osten. Auch wenn es kein wirklich sozialistisches Projekt ist, das heißt ein Projekt unter dem der Privatbesitz an Land, Rohstoffen und Maschinen vergesellschaftet ist, so ist es doch der Versuch die Gesellschaft basisdemokratisch und im Interesse aller zu organisieren. Rojava verfügt auf verschiedenen Ebenen über eigene Frauenstrukturen und hat den Anspruch diese in der Gesellschaft gleichberechtigt zu stellen. Außerdem versuchen die Kurd_Innen explizit alle anderen ethnischen und religiösen Gruppen der Region in das Projekt und die Strukturen miteinzubeziehen – eine Grundbedingung, um Frieden im Nahen Osten zu schaffen. Die Niederlage des Projekts wäre deshalb nicht nur ein schmerzhafter Rückschlag für die Kurd_Innen und ihren Befreiungskampf, es wäre eine Niederlage für den gesamten Nahen Osten und alle fortschrittlichen Kräfte auf der Welt.

Das Gebot der Stunde ist nun weltweit und massenhaft Solidarität zu organisieren und praktisch werden zu lassen. Nur mit vereinten Kräften haben die Genoss_Innen vor Ort eine Chance zu bestehen. Lasst uns Öffentlichkeit schaffen und Druck auf die Regierungen ausüben.

Hände weg von Rojava! Kein türkischer Einmarsch in Nordost-Syrien!

Solidarität mit den Menschen und Kämpfer_Innen vor Ort!

Für den Abzug aller Truppen aus Syrien! Kein Vertrauen in die USA oder andere Mächte!

Für weltweiten und massenhaften Widerstand zur Verteidigung des Projekts!




Afrin: Was passiert eigentlich gerade in Syrien?

von Jonathan Frühling, REVOLUTION Kassel

Seit dem 20. Januar 2018 rollen Panzer, schwere Artillerie und hunderte Fahrzeuge mit türkischen Soldaten und islamistischen Milizionären über die Grenzen des mehrheitlich kurdisch bewohnten Kantons Afrin. Seitdem wird ein erbitterter Kampf um das ca. 30 x 40 km große Stück Land geführt, den die kurdisch dominierten „Syrian Demokratic Forces“ (SDF) wegen zahlenmäßiger und waffentechnischen Unterlegenheit kaum gewinnen können. Ihr erbitterter Widerstand machen die Kämpfe jedoch deutlich langwieriger und verlustreicher, als der türkische Diktator Erdogan geplant hatte.

Vorgeschichte

2011 entwickeltet sich die syrische Revolution in einen Bürgerkrieg, indem das Assad-Regime schnell die Kontrolle über ein Großteil des Landes verlor. Die kurdischen Siedlungsgebiete im Norden machten sich sowohl vom syrischen Staat als auch von den Zielen der syrischen Revolution unabhängig. Dort wird seit dem ein System aufgebaut, welches demokratisch ist und in dem Frauen Mitbestimmungsrecht genießen. Auch gegen die Angriffe des IS konnte das Kanton Rojava erfolgreich verteidigt werden.

Ein Zusammenschluss mit dem am nord-westlich gelegenen Kanton Afrin gelangte 2017 allerdings nicht, weil von der Türkei gesteuerte Rebellen die Gebiete zwischen den Kantonen vom IS eroberten. Die Türkei sieht in dem Aufstieg der kurdischen Befreiungsbewegung in Syrien eine Bedrohung, auch, weil er Angst hat, dass sie die kurdische Bewegung in der Türkei stärken könnte. In der Türkei selbst hat sich Erdogan 2016 mit einem Krieg und der fast vollständigen Zerschlagung kurdischer Medien und der pro-kurdischen Partei HDP die Gefahr einer mächtigen Autonomiebewegung vorerst vom Hals geschafft. Der Angriff auf Afrin ist nun der Versuch die kurdische Autonomie auch im Nachbarland mit militärischer Gewalt zu unterbinden.

Aktuelle Entwicklung

Die Türkei greift Afrin von nahezu allen Seiten gleichzeitig an. Jeden Tag werden ein paar mehr Hügel und Dörfer erobert, auch wenn die Fortschritte der Offensive glücklicherweise sehr langsam sind. Erdogan schickt jedoch hunderte neue Panzer und Spezialeinheiten, um einen Sieg zu erzwingen. Obwohl hunderte Jugendliche aus ganz Rojava und Afrin in die Reihen der SDF ziehen, wird deshalb eine Niederlage immer wahrscheinlicher.

Die Ereignisse können nicht getrennt vom gesamten Bürgerkrieg gesehen werden. Anfang des Jahres startete das syrische Assad-Regime eine gewaltige Offensive, in dessen Zuge weite Teile Provinz Idlib erobert wurden, welche das Kernland verschiedenster bewaffneter, islamistischer Oppositionsgruppen darstellt. Die Türkei hat, als einer der entschiedensten Gegner Assads, damit begonnen Panzer zu schicken und Militärbasen in Idlib aufzubauen, um ein weiteres Vorstoßen Assads zu erschweren. Im Gegenzug schicken die Rebellen immer wieder hunderte Fußsoldaten, um die türkische Offensive in Afrin zu unterstützen. Nun zeigt sich, wie bitter es sich rächt, dass die Kurd_Innen 2011 nicht für eine Revolution in ganz Syrien eingetreten sind. So konnten sich reaktionären Islamisten als führenden Kräfte im Bürgerkrieg etablieren. Von den revolutionären Deserteuren der syrischen Armee, die nicht mehr auf ihr eigenes Volk schießen wollten, ist nichts mehr übrig. Im Gegenteil: Mit der Schändung der Leiche einer SDF-Kämpferin zeigen die islamistischen Kettenhunde Erdogans, was für reaktionäre Ansichten sie vertreten.

Eine türkischer Sieg in Afrin würde ein Ende des demokratischen und emanzipatorischen Projektes in Afrin und damit eine Niederlage der Linken weltweit bedeuten.

Die Rolle der Imperialisten

Russland stellt einen mächtigen Verbündeten Assads dar. Es lässt die Türkei in Syrien gewähren, indem sie den Luftraum über Afrin für die türkischen Jets freigab. Grund dafür ist vor allem die Wichtigkeit der russichen Öl- und Gasexporten in die Türkei. Assad dagegen ist über die türkische Präsenz in Syrien weniger erfreut und lässt SDF-Konvois von Rojava nach Afrin über sein eigenes Territorium passieren.

Am interessantesten ist jedoch die Rolle der USA. Sie unterstützen den Kampf der Kurd_Innen gegen den IS und schafften es so in Syrien mit zahlreichen Militärbasen oder sogar Militärflughäfen Fuß zu fassen.

Da die USA am allermeisten von der NATO profitiert, ist ihre Angst groß, dass es eine offene Konfrontation mit der Türkei gibt, die die gesamte NATO in Frage stellen könnte. Die Türkei weiß darum und droht deshalb ganz offen auch US-Soldat_Innen abzuschießen, wenn sie ihren Zielen in Syrien im Weg stehen. Das wäre eine Demütigung der USA und würde ihre ohnehin schon massiv angekratzten Stellung als Weltmacht weiter untergraben. Das ist auch der Grund, wieso die USA Afrin fallen gelassen hat. Im östlichen Rojava halten sich jedoch nach wie vor US-Soldaten auf, um ein Angriff der von der Türkei unterstützen Milizen zu verhindern. Welchen faulen Deal es letztlich zwischen den beiden Ländern gegeben wird sich erst zeigen.

Welches Interesse die USA wirklich hat, zeigt sich sehr deutlich im Osten des Landes nahe der Stadt Deir ez-Zor. Dort helfen sie dabei die Angriffe regierungstreuer Milizen auf die SDF abzuwehren. Grund für die Angriffe ist der Versuch die von der SDF kontrollierten Ölfelder zu erobern. Die USA unterstützt die kurdische Bewegung also vor allem aus geostrategischen Gründen und, um Kontrolle über Ölfelder in Syrien zu erhalten. Die NATO ist der USA aber zweifelsohne wichtiger.

Der Widerstand und Repression in Deutschland

Wenn auch nicht in der bürgerlichen Presse, ist der Aufschrei gegen die türkische Aggression in Syrien innerhalb der Linken und der kurdischen Bevölkerung in Deutschland enorm. Laufend finden lokale und überregionale Demonstrationen statt.

Der deutsche Staat reagiert darauf mit Repression: Vor ca. 1,5 Jahren wurde ein Verbot fast aller Fahnen des kurdischen Befreiungskampfes erlassen. Bis Anfang diesen Jahres wurden das Verbot allerdings faktisch nicht durchgesetzt. Anfang des Jahres jedoch wurde eine Großdemo in Köln wegen verbotener Fahnen aufgelöst. Andere Demos wurden gleich ganz Verboten, weil man während Karneval angeblich überfordert sei.

Perspektive

Natürlich gilt unsere Solidarität dem kurdischen Befreiungskampf im Nahen Osten, auch wenn es selbst ohne das Eingreifen der Türkei noch ein langer Weg bis zum Sozialismus wäre. Abstrakte Forderungen die Waffen niederzulegen und Appelle an die UN bringen uns hier nicht weiter. Nur ein militärischer Sieg der SFD-Milizen, einschließlich der Rückeroberung der in den letzten Wochen von der Türkei besetzten Gebiete, können wahren Frieden bringen.

Weiterhin treten wir für den Abzug aller ausländischen Truppen ein, ohne deren Hilfe Syrien heute kein Trümmerhaufen wäre. Obwohl die USA Rojava vor dem Untergang gerettet hat, vertritt sie in Syrien einzig die Interessen der us-amerikanischen Bourgeoisie und ist deshalb kein zuverlässiger Verbündeter.

Die Forderung nach Befreiung und Sozialismus muss, um erfolgreich zu sein, auf alle Völker und Religionen des Nahen Ostens ausgedehnt werden. Die einzigen wahren Verbündeten sind die Bäuerinnen, Bauern und Arbeiter_Innen, die sich endlich gemeinsam gegen ihre Unterdrücker erheben und eine kommunistische Partei aufbauen müssen. Nur eine solche Organisation kann in der Lage sein die vereinzelnden Kämpfe zu einer mächtigen Massenbewegung gegen die Kapitalismus zusammenzuführen.




Der Kampf in Kurdistan: Entwicklungen und Perspektiven

Während in den letzten Wochen vor allem die Geschehnisse um Gaza und Israel in der medialen Landschaft im Vordergrund standen, richtet sich der Blick nun auf Kurdistan, wo sich die Massaker der islamisch-fundamentalistischen Gruppe „IS“ (Islamischer Staat, auch bekannt als ISIS) weiter verschärfen und die dort lebenden Menschen zunehmend bedrohen.

Besonders betroffen waren hierbei zuletzt vor allem die Orte Kobanê, wo der IS versucht die drei kurdischen Kantone der Rojava-Region zu spalten und die im Irak gelegene Stadt Shingal in der Nähe Mossuls, wo die IS die in ihren Augen „ungläubigen“ Yezid_innen massakrierte und vergewaltigte, ihre Heiligtümer und die der Alevit_innen zerstörte und folglich eine Massenflucht auslöste. Viele flüchteten in die Berge des Sindschar-Gebirges und verdursteten teilweise bei 40 Grad – umzingelt vom IS. Inzwischen konnten Truppen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG / YPJ) die Eingeschlossenen teilweise befreien, nachdem sich zuvor die Peschmerga – Truppen („die dem Tod ins Auge sehen“) der KDP / PUK – nahezu kampflos zurückgezogen hatten. 50.000 Yezid_innen sind vom religiösen Terror bedroht, werden vertrieben und ermordet, 1,5 Millionen Menschen sind in der gesamten Region auf der Flucht. Betrachten wir zunächst, wer überhaupt dieser IS ist, die überall, wo sie auftaucht, Gräuel hinterlässt.

Das erklärte Ziel des IS ist der gewalttätige Aufbau eines Kalifats im Nahen Osten – einem streng auf den Traditionen des Islam aufgebauten Staat. Er besaß damals je nach Schätzung lediglich 5.000 – 15.000 Kämpfer. Wie konnte es also dazu kommen, dass diese Gruppe inzwischen große Teile Syriens und des Iraks kontrolliert? Die Stärke des IS ist letztlich ein zurückkehrender Bumerang einer gescheiterten US-Politik im Irak. Nach dem Sturz Husseins 2003 installierte die USA eine Marionettenregierung, was ihr den Zugang zu den irakischen Ölfeldern sichern sollte. Diese neue, schiitische Regierung unterdrückte die sunnitische Bevölkerung in demselben Masse, wie sie zuvor umgekehrt vom Sunniten Saddam Hussein unterdrückt wurden.

Sunnit_innen und Schiit_innen sind Anhänger zweier verschiedenen Strömungen innerhalb des Islam, die vor ca. 1300 Jahren entstanden sind. Im heutigen Konflikt geht es aber vor allem um eines: Sicherung von Öl und damit Macht, wobei beide Seiten von ihren Eliten unter dem religiösen Mantel gegeneinander ausgespielt werden und der Hass dadurch ständig reproduziert wird. Im Irak sind dabei die Schiit_innen in der Mehrheit, obwohl weltweit ca. 90 % aller Muslime sunnitisch sind.

Die USA machten sich im Irak während ihrer Besetzungszeit bekanntlich keinen ruhmvollen Namen und trug zur Spaltung zwischen Sunnit_innen, Schiit_innen und Kurd_innen bei. Das führte im Irak bald zum Auftreten Al-Kaidas, die ganz neben bei gesagt in den 80ern durch die USA mit aufgebaut wurde, um die Sowjetunion aus Afghanistan zu vertreiben. 2013 stieg die bis dahin im Irak durch ihren Terror eher unpopulär gebliebene Al-Kaida in den syrischen Bürgerkrieg ein und terrorisierte die dortigen Bewegungen. Dort spaltete sich der IS von Al-Kaida ab, erfuhr aber ähnlich wie im Irak Widerstand aus der Bevölkerung, auch erste Kämpfe mit Kurd_innen fanden statt und Anfang 2014 war die IS vorerst zurückgeschlagen. Das sie im Juni dann derart schnell stärker als zuvor wurde, geht im Wesentlichen auf das Konto Nuri al-Malikis, dem inzwischen zurückgetretenen schiitischen Präsidenten des Irak und Ex-Marionette der USA.

Quelle: http://polpix.sueddeutsche.com/bild/1.2013448.1403542775/860x860/isis-irak-syrien.jpg

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Im Juni 2013 kam es in einigen Städten zu ersten sunnitischen Widerständen gegen das Maliki – Regime, welche bald von diesem bombardiert und belagert wurden. Der IS tat nichts anderes als die Gunst der Stunde zu nutzen und übernahm im Juni die Stadt Mossul, wobei sie in den Sunniten sogleich Unterstützer fanden und sunnitische Scheichs der Mörderbande ihre Städte überließen. Blitzartig zogen sich die irakischen Truppen ohne Ausrüstung zurück, den IS-Horden fielen riesige Mengen Hightech-Waffen aus westlicher Produktion in die Hände.

Vermutliche Unterstützung erfährt der IS auch von Saudi-Arabien, was sich von Destabilisierung der Region einen Machtausbau erhofft und auch von der Türkei, welche verwundete IS-Kämpfer in ihren Krankenhäusern behandelt und ihre Grenze zum Irak für IS-Mitglieder durchlässig hält. Die Türkei erhofft sich dadurch eine Schwächung der Bewegung in Kurdistan.

Das bringt uns zurück zu den Kurd_innen selbst. Die Gebiete der ca. 25 Millionen Kurd_innen erstrecken sich über die Länder Türkei, Iran, Irak und Syrien – Ergebnis der kolonialen Aufteilung der Region durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges, welche die ethnischen Grenzen in der Region völlig ignorierte und bis heute Grund für Konflikte ist.

Dabei kommt es vor allem in der Türkei zu immer wiederkehrenden, gravierenden Differenzen: Seit der kemalistischen Nationalismuspolitik in der Türkei, welche vorsah eine Türkei zu schaffen, in der alle Ethnien türkisch sind, unterdrückt der türkische Staat die Kurd_innen und spricht ihnen das 1920 kurzzeitig gegebene Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung ab. Es kam immer wieder zu Aufständen, welche aber allesamt von der türkischen Armee niedergeschlagen wurden.

1978 gründete sich die „Arbeiterpartei Kurdistans“ PKK, welche als zentrales Mittel ihrer Politik den militanten Kampf gegen die Unterdrückung führt, einige Anschläge verübte und heute von EU, USA und Türkei als Terrororganisation eingestuft, verboten und auch mit deutschen Waffenlieferungen an das türkische Regime bekämpft wird. Abgesehen von einigen linken Phrasen ist sie heute eher bürgerlich-nationalistisch ausgerichtet und fordert inzwischen konföderale Strukturen in der Türkei. Die kurdische Bewegung findet zunehmend Unterstützung in türkischen Gewerkschaften und Umweltverbänden.

Auch in den anderen drei Ländern Irak, Iran und Syrien waren die Kurd_innen als Minderheit jahrelanger Repression ausgesetzt, Widerstand wurde aufgebaut. Im Nordirak wurde in 1992 bereits eine ansatzweise Selbstständigkeit erkämpft, bis die dortigen Kurd_innen 2005 im Zuge der US-Besatzung von der schiitischen Regierung eine weitgehende Autonomieregion (KRG) mit kurdischer Amtssprache, eigenem Staatsapparat und Armee (Peschmerga) anerkannt bekamen – allerdings auch weil die dortige kurdische Führung den US-Imperialismus stütze. Inzwischen hat sich dort fast schon ein Staat im Staate gebildet, welcher infrastrukturell wesentlich weiter entwickelt ist als der restliche Irak – auch weil die dortige Autonomieregierung der Demokratischen Partei Kurdistan (KDP) des korrupten Barzani-Clans das Geld nicht ähnlich massiv in Waffen umsetzte, wie dies Bagdad tat.

Dann, 2011, kam der arabische Frühling. Syrisch-kurdische Städte demonstrierten mit als erstes. Als die Revolution dann in einen Bürgerkrieg überging und klar war, dass die syrische Opposition die kurdischen Forderungen ebenfalls nicht anerkennt, konzentrierten sich die Kurd_innen auf die Verteidigung ihrer Gebiete im Norden (Rojava), wo im Januar die Autonomie ausgerufen wurde und Rätestrukturen im Aufbau sind und zunehmend die Kontrolle übernehmen – wobei diese klar von proletarischen Räten abzugrenzen sind, vielmehr sind es Volksfronträte. Inzwischen sind über eine Millionen Menschen aus Syrien in die Rojava geflüchtet, die Solidarität füreinander ist angesichts der aktuellen Bedrohung groß: Es ist den enormen Hilfsleistungen und Lieferungen der türkischen Kurd_innen zu verdanken, dass es unter dem Feuer syrischer Gruppen und islamistischer Terroristen eine kurdische Rojava noch gibt.

2011 wurde dort von der PKK-nahen Partei der demokratischen Union (PYD) ihr militärischer Arm gegründet, welcher zurzeit trotz schlechter Bewaffnung am erfolgreichsten gegen den IS kämpft. Dabei verteidigt der Arm nicht nur Rojava, sondern geht auch darüber hinaus gegen die Terrorbande vor. Diese Miliz setzt sich gleichermaßen aus Frauen (YPJ) und Männern (YPG) zusammen – ein wesentlicher Grund für die bisherigen Erfolge.

Sowieso ist die kurdische Organisierung in diesem Aspekt sehr progressiv ausgerichtet: 30-prozentige Frauenquote in der Autonomieregierung im irakischen Teil, geschlechterquotierte Doppelspitzen auf allen Ebenen in Rojava und dem türkischen Teil sowie 40-prozentige Frauenquote.

Weibliche Kämpferinnen stellen einen großen Teil der Selbstverteidigungstruppen der Kurd*innen Quelle: https://33.media.tumblr.com/07f571bb1c9f231eb3a10722855f0f8b/tumblr_napm92N41J1tb16pso1_500.jpg

Weibliche Kämpferinnen stellen einen großen Teil der Selbstverteidigungstruppen der Kurd*innen
Quelle: https://33.media.tumblr.com/07f571bb1c9f231eb3a10722855f0f8b/tumblr_napm92N41J1tb16pso1_500.jpg

Der IS stellt eine große Bedrohung für den kurdischen Kampf dar, aber angesichts des drohenden Zerfalls des Iraks und Syriens eröffnet
sich gleichzeitig eine große Chance in Richtung kurdischer Selbstbestimmung.

Die Mächte der NATO – allen voran die USA – stehen vor den Trümmern ihres imperialistischen Komplexes, mit dem sie versucht haben sich in der Region festzusetzen und sie zu kontrollieren – gesprengt durch die eigene Politik, durch die eigenen Waffen. Die Ratlosigkeit des Westens wird deutlich wenn man betrachtet, dass dieser im Kampf gegen IS sogar eine Allianz mit dem Iran diskutiert, wovon ihre Verbündeten und gleichzeitig Verfeindeten des Iran, z.B. Israel und Saudi-Arabien, alles andere als begeistert sind.

Kurdistan könnte sich nun zunehmend als Stabilitätsfaktor und kurzzeitiger, attraktiver Partner zur Schadensbegrenzung herausstellen, welchen der Westen nun für sich zu gewinnen versucht – was durch die jüngsten „Unterstützungsbombardements“ und „Hilfstruppen“ durch die USA bereits bewiesen ist, letztlich aber nur noch mehr Sunniten in die Arme der IS treiben wird. Hier geht es natürlich auch nicht vorrangig um Unterstützung des kurdischen Befreiungskampf, sondern mal wieder um Rettung gefährdeter Interessen: Kirkuk, eine Stadt, die ein riesiges Ölfeld kontrolliert, fiel wenige Tage nach der IS-Offensive Anfang Juni in die Hände der Kurd_innen. Der Befreiungskampf wird also nur in sofern unterstützt, als er den imperialen Interessen dienlich ist – was nicht heißt, das der imperialistische Westen einen eigenen kurdischen Staat unterstützen wird, ein Erhalt des Irak ist ihm der eigenen Interessen halber lieber.

Kurdistan wurde außerdem zu einem Zufluchtspunkt für Flüchtlinge aus der gesamten Region, was nicht zuletzt daran liegt, dass hier kein religiöser Fundamentalismus vorherrschend ist und weniger nach ethnischer Homogenität gestrebt wird – was allerdings nicht unbedingt für die kurdischen Führer gilt.

Auf dem Weg zum befreiten Kurdistan liegen aber auch innerhalb der Region noch große Probleme vor: So ist die Korruption weit verbreitet – vor allem im schon oben erwähnten Clan der Barzanis und in der PUK, einer nationalistischen Partei. Außerdem ist Barzani die Führung der Rojava ein Dorn im Auge – schließlich sieht er durch sie in Verbindung mit der PKK seine Vormachtstellung gefährdet. Um seine Macht zu sichern arbeitete der Clan bisweilen auch mit Erdogan zusammen.

Auf der anderen Seite ist in der Rojava auch nicht alles Gold, was glänzt: die PKK-nahe PYD hat dort andere Parteien illegalisiert und eine autoritäre Einparteienherrschaft errichtet. Die aus dieser Volksfrontpolitik resultierende Repression schwächt auch den Befreiungskampf und richtet sich oft auch gegen Linke.

Ein anderes, großes Problem ist die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Türkei – nur über sie gelangt kurdisches Öl auf den Markt und aus ihr kommen etwa 80 % aller Lebensmittel. Auch die Unterdrückung der Frau und der LGTB ist trotz Rojava noch immer stark verfestigt.

Unterstützt würde ein eigenständiger kurdischer Staat im Irak aktuell von Israel, wegen des Öles wohl auch von der Türkei toleriert, abgelehnt hingegen vom Iran, in den anderen Teilen Kurdistans gibt es dafür von anderen Staaten hingegen weniger Unterstützung.

Auf dem Weg zur Unabhängigkeit gilt es für die Kurd_innen jetzt aber zunächst alle Kräfte gegen IS zu mobilisieren, ihn an der Ausweitung seines reaktionären, menschenverachtenden Feldzuges zu hindern und ihn letztlich ein für alle mal zurückzuschlagen. Ferner ist es unabdingbar, jede Einflussnahme des Imperialismus entschieden abzuwehren, da er Kurdistan nur zu einer neuen Halbkolonie machen und alles Progressive zerstören würde.

Hier wird gestritten, ob Linke Waffenlieferungen an die kämpfenden Kurden unterstützen sollen. Was wir hier haben, ist ein kurzzeitiges Zusammenfallen der Interessen von imperialistischen Staaten und Konzernen sowie der Interessen von für Unabhängigkeit kämpfenden Unterdrückten, welche sich zudem gegen faschistische Fundamentalisten verteidigen müssen, was in Kurdistan für YPJ/YPG, als auch für die Peschmerga gilt. Der IS ist im Besitz von hochtechnologischen Waffen aus US-Produktion, die Verteidiger_innen der kurdischen Gebiete sind hingegen mit eher primitiver Bewaffnung ausgerüstet. Aus dieser Lage muss die Forderung entstehen, die gegen IS auftretenden Kräfte auch mit Bewaffnung zu unterstützen, wenn sie dies einfordern. Gleichzeitig lehnen wir eine Waffenkontrolle durch Barzani ab – die Kontrolle gehört in die Hände der Milizen und der Ausgebeuteten. Auf der anderen Seite fordern wir die sofortige Einstellung von Waffenlieferungen an die IS-Unterstützerstaaten. Uns ist bei diesen Forderungen bewusst, dass die Imperialisten des Westens die PKK und ihre Milizen nicht beliefern werden – fordern muss man es dennoch!

Für die Zukunft wird es von entscheidender Bedeutung sein, den aktuellen Kampf fortzuführen, wobei aber nur eine sozialistische, revolutionäre Strategie die Befreiung aller in den kurdischen Gebieten lebenden Menschen bedeutet – unabhängig von Ethnie, Kultur, Geschlecht und nicht zuletzt vom äußeren Imperialismus. Diese Perspektive muss sich nun entwickeln und beweisen, dass sie die einzige ist, die sich im Kampf gegen die faschistischen Milizen zugunsten der ärmlicheren Arbeiter_innen und Bauern_Bäuerinnen entwickeln kann.

Ein sozialistisches Kurdistan kann dann aber nur überleben, wenn der gesamte Nahe Osten dem Beispiel folgt und sich durch eine soziale Revolution der Ausgebeuteten und Abhängigen von Imperialismus, Terror, Krieg, Korruption und Unterdrückung befreit – was eine riesige Bereicherung für alle im Nahen Osten lebenden Menschen wäre und letztlich dauerhaften Frieden gewähren kann.
In der aktuellen Situation stellen wir folgende Forderungen auf:

  • Stoppt das Massaker der IS – Stopp jeglicher Unterstützung der IS!
  • Massive humanitäre, strukturelle Hilfe für die Kurd_innen!
  • Aufbau von proletarischen Rätestrukturen – Zerschlagung der korrupten Clanstrukuren und Einparteienherrschaften!
  • Die Kontrolle über die kurdischen Gebiete und die dortigen Unternehmen in die Hände der Ausgebeuteten!
  • Eine taktische – nicht politische – Einheitsfront aller kurdischen, syrischen & irakischen Milizen, die sich IS entschlossen entgegenstellen!
  • Stopp jeglicher Waffenlieferungen an imperialistische Vertreter und reaktionäre Banden!
  • Aufhebung des PKK-Verbotes, Streichung von der Terrorliste und Freilassung aller Gefangenen!
  • Bekämpfung jeglichen Imperialismus – er wird die Situation dort nur verschlimmern, wie er es bereits tat!

Frieden und Freiheit für Kurdistan! Quelle: http://www.antifaschistische-linke.de/Bilder/2010-11-20-heilbronn-demo.jpg

Frieden und Freiheit für Kurdistan!
Quelle: http://www.antifaschistische-linke.de/Bilder/2010-11-20-heilbronn-demo.jpg

  • Keine weiteren Luftschläge – Waffenlieferungen ohne imperialistische Bedingungen an die gegen IS kämpfenden Milizen, wenn sie diese einfordern !
  • Aufbau von Solidaritätsbündnissen zur internationalen Unterstützung der Kurd_innen!
  • Grenzen auf für Flüchtlinge! – Grenzen dicht für IS!
  • Schluss mit der Unterdrückung der Kurd_innen durch Irak, Iran, Türkei und Syrien!

Für ein freies, einiges, selbstbestimmtes, säkulares und sozialistisches Kurdistan!

Für die vereinigten, sozialistischen Staaten des Nahen Osten!

Ein Artikel von Lars Filder, REVOLUTION Fulda




Interview mit Syrer – "Warum ich mich dem Aufstand anschloss."

Wir veröffentlichen hier ein Interview mit „Muhamed“, Mitglied der Freien Syrischen Armee, das am 11. September an der türkisch-syrischen Grenze von unserem Genossen Reimund Fleck (Gruppe Arbeitermacht, deutsche Sektion der LFI und REVOLUTION – internationale kommunistische Jugendorganisation) geführt wurde.

Reimund Fleck: Wie kam es, dass Du dich dem Aufstand gegen das Regime von Baschar al-Assad angeschlossen hast?

Patient stirbt nachdem die syrische Armee ein Krankenhaus blockiert.

Muhamed: Ich war als Militärarzt der Assad-Armee in einem Lazarett in Homs stationiert. Was ich dort gesehen habe, hat mich dazu gebracht, zu desertieren und mich der FSA anzuschließen. Ich habe viele tote Zivilisten gesehen, und sogar die Leichen wurden unwürdig behandelt. Ich habe gesehen, wie ungefähr 100 Leichen zu einem Haufen aufgetürmt wurden. Diese Armee behandelt unsere Leute wie Tiere – ich konnte nicht mehr daran glauben, dass es eine gute Armee ist. In meinem Krankenhaus waren Gefangene, die gegen die Regierung demonstriert hatten – sie wurden an ihre Betten gefesselt, die Krankenschwestern traten sie mit Stiefeln und folterten sie, anstatt sie zu versorgen. Sie durften nicht einmal zur Toilette gehen. In meiner Stadt habe ich viele friedliche Demonstrationen gesehen.

Sie riefen: „Wir wollen Assad nicht, wir wollen Freiheit“. Dafür wurde auf die Demonstranten geschossen. Auch einer meiner Freunde wurde erschossen, nur weil er auf die Straße gegangen war und „Weg mit Assad“ forderte. Ich wollte nicht mehr an der Seite derer stehen, die meine Leute ermorden, mein Gewissen konnte das nicht mehr ertragen. So habe ich beschlossen, zu desertieren.

Reimund Fleck: Warum setzt man das eigene Leben aufs Spiel, um einen Aufstand zu unterstützen, dessen Sieg nicht sicher ist?

Muhamed: Bei der Armee war ich ja auch in Gefahr. Bei einem Angriff der FSA hätte ich auch ums Leben kommen können. Ich hätte nicht das Feuer erwidert, denn ich wusste, dass sie meine Leute sind. Dann wäre ich aber von meinem Kommandeur erschossen worden. Das Risiko ist also auf beiden Seiten dasselbe – es macht keinen Unterschied. Aber ich denke, es ist besser zu desertieren. Ich habe jetzt ein gutes Gefühl, das ist wichtig, auch wenn ich in Gefahr bin. Es ist egal, wenn ich sterbe. Jetzt unterstütze ich die Freie Syrische Armee mit dem, was ich kann. Ich bin im Sanitätsdienst und kümmere mich um die Verwundeten und um die Flüchtlinge.

Reimund Fleck: Was sind die wichtigsten Ziele der Revolution?

Muhamed: Ich denke, Demokratie ist die wichtigste Forderung in unserem Kampf. Ich möchte meine Meinung sagen können, ohne mich in Gefahr zu begeben, zum Beispiel ob ich für den Präsidenten bin oder nicht. Seit 50 Jahren haben wir keine freien Wahlen mehr gehabt. Wenn Du gegen Assad stimmst, bist Du in Gefahr, glaub mir. Wir wollen selbst unseren Präsidenten bestimmen können und keine Sklaven für den Präsidenten sein. Es ist also eine Art „französische“ Revolution.

Reimund Fleck: Erschöpft sich die Revolution im Kampf für demokratische Freiheit? Was ist mit der sozialen Situation?

 

Die beste Hilfe für die syrische Revolution ist die Unterstützung durch die Gewerkschaften, die sozialen Bewegungen und Arbeiterorganisationen mit Nahrungsmitteln, Medizin und Waffen – unabhängig von den Imperialisten!

Muhamed: In Syrien leben 80 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Es ist sehr schwer, genügend, Nahrung zu bekommen. Die Leute schuften den ganzen Tag, um ihren Familien etwas zu Essen mitbringen zu können. Der Grund ist, dass Baschar die Erlöse aus Öl und Landwirtschaft einsteckt und nichts für die Bevölkerung übrig lässt. Es ist also auch eine wirtschaftliche Frage. Wir brauchen eine starke Wirtschaft, um die Bedürfnisse der Bevölkerung erfüllen zu können.

Reimund Fleck:  Es gibt Stimmen, die militärische Hilfe vom Westen oder Lieferung von Ausrüstung befürworten, andere befürchten, diese Länder würden dann über die Zukunft Syriens entscheiden. Was denkst Du?

Muhamed: Bei manchen Gütern brauchen wir unbedingt Unterstützung von außen. Im Moment gibt es aber keinerlei derartige Unterstützung. Die Medien sagen, der Westen schicke uns Waffen, aber das ist falsch. Die Freie Syrische Armee erbeutet ihre Waffen bei Angriffen auf Assads Armee. In den Flüchtlingslagern haben wir nicht genügend Nahrungsmittel. 7.000 Flüchtlinge warten an der Grenze zur Türkei, sie werden nicht hereingelassen. Wo bleiben die angeblichen Hilfslieferungen? Waffenlieferungen brauchen wir nicht. Wir brauchen Nahrung und Medikamente, und bis jetzt kommt nichts an. Hilfslieferungen gibt es nur in den Medien.

Reimund Fleck:  In Europa gibt es viele, die in der Revolution keinen legitimen Volksaufstand sehen. Sie behaupten, es sei in Wirklichkeit eine Verschwörung westlicher Länder, die den Nahen Osten ins Chaos stürzen wollen. Was würdest Du antworten?

„Nieder mit dem Regime“ – steht auf den Händen eines jungen Mädchens, das gegen Assads Diktatur demonstriert.

Muhamed: Verzeih mir diese Antwort – es ist einfach dumm, zu bestreiten, dass diese Revolution von der syrischen Bevölkerung ausgeht. Was würdest Du tun, wenn deine Eltern getötet werden? Du würdest Dich der Revolution anschließen, weil Du den Terror beenden und Freiheit haben möchtest. Lass mich den Anfang der Revolution erzählen. Die Revolution hat ihren Anfang in Daraa genommen. Neun Kinder waren festgenommen worden, sie wurden gefoltert. Hamza Ali Al-Khabeer wurde getötet. Als die Leute daraufhin zur Polizeistation gingen, wurden auch sie verprügelt. Die Polizei sagte zu ihnen: „Haut ab, sonst holen wir auch noch eure Frauen.“ Das war der Auslöser dieser Revolution. Seit 50 Jahren leben wir in Angst und Unterdrückung. Man musste nur den Deckel anheben, um eine Explosion auszulösen. Genau das ist die Revolution. Es stecken nicht die Geheimdienste dahinter.

Reimund Fleck:  Manche Leute meinen, es handle sich um einen „Religionskrieg“.

Muhamed: Selbst wenn das der Fall wäre, so würde einzig und allein Baschar Al-Assad die Schuld dafür tragen. Die Alawiten waren 30 Jahre lang unsere Brüder und Schwestern. Aber seit Beginn des Aufstandes gibt Baschar ihnen Geld, damit sie uns töten – und sie tun es. Sie bekommen auch Häuser dafür, und die Einrichtungen, die er von uns geraubt hat. Dafür töten sie uns. Aber wenn die Revolution gesiegt hat, würde ich sie verschonen, denn unser ursprüngliches Verhältnis war von Toleranz geprägt – wir leben im selben Land. Ich hoffe nur, dass sie aufhören, uns zu massakrieren. In Wirklichkeit ist Baschar Al-Assad nicht nur unser Feind, er ist ebenso ihr Feind – denn eines Tages wird Assad sich in ein Flugzeug nach Russland setzen und sie unter uns zurücklassen.

Reimund Fleck:  Was wird deiner Einschätzung nach auf Assads Sturz folgen?

Muhamed: Meine große Angst ist, dass es einen Bürgerkrieg geben könnte. Aber man sieht, dass in dieser Revolution die Menschen auch zusammenrücken. Das ist der Fall in Aleppo und auch in Damaskus. Ich glaube nicht, dass es einen solchen Bürgerkrieg geben wird. Ich denke wir sollten eine demokratische Regierung haben, vielleicht eine islamische wie in Ägypten. Aber hierzu muss ich sagen: wirkliche Muslime töten sich nicht gegenseitig, wie es Al-Quaida tut. Das Bild über den Islam ist völlig entstellt. Glaub mir, wir sind nicht so, wie die Medien uns darstellen. Wirkliche Muslime sind sehr gastfreundlich. Wenn Du nach Syrien gehst, sind die Menschen dort bereit, ihr eigenes Leben zu riskieren, um Deines zu schützen – ob Du Christ bist oder was auch immer. Die Menschen aller Religionen sind unsere Brüder und Schwestern. Auch Baschar ist Muslim – aber nur in Worten, in Wahrheit tötet er uns. Das eigentliche Problem ist also nicht die Religion, sondern was man daraus macht.

Reimund Fleck:  Was sollten UnterstützerInnen in anderen Ländern tun, um euch zu helfen?

Muhamed: Ihr müsst es einfach selbst anpacken, wir haben hier nicht einmal die Zeit, darüber nachzudenken. Wer wirklich helfen möchte, wird einen Weg finden. Ihr solltet
große Massenproteste organisieren und internationale Unterstützung für die Revolution. Die Revolution ist dem Sieg nun ziemlich nah. Baschar Al-Assad wird sich bald aus dem Staub machen. Was die FSA jetzt braucht, sind Luftabwehrraketen, das ist alles. Wir haben den Boden unter Kontrolle, aber Assad kontrolliert den Luftraum. Wenn wir die Flugzeuge vom Himmel holen, haben wir den Sieg.

Reimund Fleck:  Bekommt ihr Unterstützung aus Libyen oder Ägypten?

Muhamed: Ein paar Kämpfer sind aus diesen Ländern zu uns gekommen, aber sehr wenige, vielleicht 200. Aus Saudi-Arabien und Katar bekommen wir finanzielle Unterstützung, das ist sehr gut. Wir sind ihnen dafür dankbar.

Reimund Fleck:  Wie ist jetzt im Moment die Lage in Syrien?

Muhamed: Wir brauchen dringend Hilfe, und zwar jetzt! Die ganze Welt ist gegen uns – Russland, China und Iran, ebenso Libanon. Sie sind alle gegen uns. Dann gibt es die USA und Europa – sie sehen zu und tun überhaupt nichts. Für mich ist auch das ein Verbrechen. Sie könnten unserem Leiden ein Ende setzen, aber sie tun es nicht. Die Türkei hat ihre Grenzen dichtgemacht und will uns alle rauswerfen. Unsere Situation ist also wirklich miserabel.

Reimund Fleck: Vielen Dank für das Interview. Ihr habt unsere volle Unterstützung und wir wünschen euch einen vollständigen Sieg über Baschar Al-Assad.

Ausführliche Darstellung der Positionen von REVOLUTION zum Bürgerkrieg in Syrien unter anderem in den Artikeln Nieder mit Assad – Sieg der Free Syrian Army, Aufstand in Syrien: Nieder mit dem Assad Clan! Solidarität mit der Revolution, Für „Freiheit und Demokratie“ in Syrien – und weiter?




Interview mit Syrer – "Warum ich mich dem Aufstand anschloss."

Wir veröffentlichen hier ein Interview mit „Muhamed“, Mitglied der Freien Syrischen Armee, das am 11. September an der türkisch-syrischen Grenze von unserem Genossen Reimund Fleck (Gruppe Arbeitermacht, deutsche Sektion der LFI und REVOLUTION – internationale kommunistische Jugendorganisation) geführt wurde.

Reimund Fleck: Wie kam es, dass Du dich dem Aufstand gegen das Regime von Baschar al-Assad angeschlossen hast?

Patient stirbt nachdem die syrische Armee ein Krankenhaus blockiert.

Muhamed: Ich war als Militärarzt der Assad-Armee in einem Lazarett in Homs stationiert. Was ich dort gesehen habe, hat mich dazu gebracht, zu desertieren und mich der FSA anzuschließen. Ich habe viele tote Zivilisten gesehen, und sogar die Leichen wurden unwürdig behandelt. Ich habe gesehen, wie ungefähr 100 Leichen zu einem Haufen aufgetürmt wurden. Diese Armee behandelt unsere Leute wie Tiere – ich konnte nicht mehr daran glauben, dass es eine gute Armee ist. In meinem Krankenhaus waren Gefangene, die gegen die Regierung demonstriert hatten – sie wurden an ihre Betten gefesselt, die Krankenschwestern traten sie mit Stiefeln und folterten sie, anstatt sie zu versorgen. Sie durften nicht einmal zur Toilette gehen. In meiner Stadt habe ich viele friedliche Demonstrationen gesehen.

Sie riefen: „Wir wollen Assad nicht, wir wollen Freiheit“. Dafür wurde auf die Demonstranten geschossen. Auch einer meiner Freunde wurde erschossen, nur weil er auf die Straße gegangen war und „Weg mit Assad“ forderte. Ich wollte nicht mehr an der Seite derer stehen, die meine Leute ermorden, mein Gewissen konnte das nicht mehr ertragen. So habe ich beschlossen, zu desertieren.

Reimund Fleck: Warum setzt man das eigene Leben aufs Spiel, um einen Aufstand zu unterstützen, dessen Sieg nicht sicher ist?

Muhamed: Bei der Armee war ich ja auch in Gefahr. Bei einem Angriff der FSA hätte ich auch ums Leben kommen können. Ich hätte nicht das Feuer erwidert, denn ich wusste, dass sie meine Leute sind. Dann wäre ich aber von meinem Kommandeur erschossen worden. Das Risiko ist also auf beiden Seiten dasselbe – es macht keinen Unterschied. Aber ich denke, es ist besser zu desertieren. Ich habe jetzt ein gutes Gefühl, das ist wichtig, auch wenn ich in Gefahr bin. Es ist egal, wenn ich sterbe. Jetzt unterstütze ich die Freie Syrische Armee mit dem, was ich kann. Ich bin im Sanitätsdienst und kümmere mich um die Verwundeten und um die Flüchtlinge.

Reimund Fleck: Was sind die wichtigsten Ziele der Revolution?

Muhamed: Ich denke, Demokratie ist die wichtigste Forderung in unserem Kampf. Ich möchte meine Meinung sagen können, ohne mich in Gefahr zu begeben, zum Beispiel ob ich für den Präsidenten bin oder nicht. Seit 50 Jahren haben wir keine freien Wahlen mehr gehabt. Wenn Du gegen Assad stimmst, bist Du in Gefahr, glaub mir. Wir wollen selbst unseren Präsidenten bestimmen können und keine Sklaven für den Präsidenten sein. Es ist also eine Art „französische“ Revolution.

Reimund Fleck: Erschöpft sich die Revolution im Kampf für demokratische Freiheit? Was ist mit der sozialen Situation?

 

Die beste Hilfe für die syrische Revolution ist die Unterstützung durch die Gewerkschaften, die sozialen Bewegungen und Arbeiterorganisationen mit Nahrungsmitteln, Medizin und Waffen – unabhängig von den Imperialisten!

Muhamed: In Syrien leben 80 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Es ist sehr schwer, genügend, Nahrung zu bekommen. Die Leute schuften den ganzen Tag, um ihren Familien etwas zu Essen mitbringen zu können. Der Grund ist, dass Baschar die Erlöse aus Öl und Landwirtschaft einsteckt und nichts für die Bevölkerung übrig lässt. Es ist also auch eine wirtschaftliche Frage. Wir brauchen eine starke Wirtschaft, um die Bedürfnisse der Bevölkerung erfüllen zu können.

Reimund Fleck:  Es gibt Stimmen, die militärische Hilfe vom Westen oder Lieferung von Ausrüstung befürworten, andere befürchten, diese Länder würden dann über die Zukunft Syriens entscheiden. Was denkst Du?

Muhamed: Bei manchen Gütern brauchen wir unbedingt Unterstützung von außen. Im Moment gibt es aber keinerlei derartige Unterstützung. Die Medien sagen, der Westen schicke uns Waffen, aber das ist falsch. Die Freie Syrische Armee erbeutet ihre Waffen bei Angriffen auf Assads Armee. In den Flüchtlingslagern haben wir nicht genügend Nahrungsmittel. 7.000 Flüchtlinge warten an der Grenze zur Türkei, sie werden nicht hereingelassen. Wo bleiben die angeblichen Hilfslieferungen? Waffenlieferungen brauchen wir nicht. Wir brauchen Nahrung und Medikamente, und bis jetzt kommt nichts an. Hilfslieferungen gibt es nur in den Medien.

Reimund Fleck:  In Europa gibt es viele, die in der Revolution keinen legitimen Volksaufstand sehen. Sie behaupten, es sei in Wirklichkeit eine Verschwörung westlicher Länder, die den Nahen Osten ins Chaos stürzen wollen. Was würdest Du antworten?

„Nieder mit dem Regime“ – steht auf den Händen eines jungen Mädchens, das gegen Assads Diktatur demonstriert.

Muhamed: Verzeih mir diese Antwort – es ist einfach dumm, zu bestreiten, dass diese Revolution von der syrischen Bevölkerung ausgeht. Was würdest Du tun, wenn deine Eltern getötet werden? Du würdest Dich der Revolution anschließen, weil Du den Terror beenden und Freiheit haben möchtest. Lass mich den Anfang der Revolution erzählen. Die Revolution hat ihren Anfang in Daraa genommen. Neun Kinder waren festgenommen worden, sie wurden gefoltert. Hamza Ali Al-Khabeer wurde getötet. Als die Leute daraufhin zur Polizeistation gingen, wurden auch sie verprügelt. Die Polizei sagte zu ihnen: „Haut ab, sonst holen wir auch noch eure Frauen.“ Das war der Auslöser dieser Revolution. Seit 50 Jahren leben wir in Angst und Unterdrückung. Man musste nur den Deckel anheben, um eine Explosion auszulösen. Genau das ist die Revolution. Es stecken nicht die Geheimdienste dahinter.

Reimund Fleck:  Manche Leute meinen, es handle sich um einen „Religionskrieg“.

Muhamed: Selbst wenn das der Fall wäre, so würde einzig und allein Baschar Al-Assad die Schuld dafür tragen. Die Alawiten waren 30 Jahre lang unsere Brüder und Schwestern. Aber seit Beginn des Aufstandes gibt Baschar ihnen Geld, damit sie uns töten – und sie tun es. Sie bekommen auch Häuser dafür, und die Einrichtungen, die er von uns geraubt hat. Dafür töten sie uns. Aber wenn die Revolution gesiegt hat, würde ich sie verschonen, denn unser ursprüngliches Verhältnis war von Toleranz geprägt – wir leben im selben Land. Ich hoffe nur, dass sie aufhören, uns zu massakrieren. In Wirklichkeit ist Baschar Al-Assad nicht nur unser Feind, er ist ebenso ihr Feind – denn eines Tages wird Assad sich in ein Flugzeug nach Russland setzen und sie unter uns zurücklassen.

Reimund Fleck:  Was wird deiner Einschätzung nach auf Assads Sturz folgen?

Muhamed: Meine große Angst ist, dass es einen Bürgerkrieg geben könnte. Aber man sieht, dass in dieser Revolution die Menschen auch zusammenrücken. Das ist der Fall in Aleppo und auch in Damaskus. Ich glaube nicht, dass es einen solchen Bürgerkrieg geben wird. Ich denke wir sollten eine demokratische Regierung haben, vielleicht eine islamische wie in Ägypten. Aber hierzu muss ich sagen: wirkliche Muslime töten sich nicht gegenseitig, wie es Al-Quaida tut. Das Bild über den Islam ist völlig entstellt. Glaub mir, wir sind nicht so, wie die Medien uns darstellen. Wirkliche Muslime sind sehr gastfreundlich. Wenn Du nach Syrien gehst, sind die Menschen dort bereit, ihr eigenes Leben zu riskieren, um Deines zu schützen – ob Du Christ bist oder was auch immer. Die Menschen aller Religionen sind unsere Brüder und Schwestern. Auch Baschar ist Muslim – aber nur in Worten, in Wahrheit tötet er uns. Das eigentliche Problem ist also nicht die Religion, sondern was man daraus macht.

Reimund Fleck:  Was sollten UnterstützerInnen in anderen Ländern tun, um euch zu helfen?

Muhamed: Ihr müsst es einfach selbst anpacken, wir haben hier nicht einmal die Zeit, darüber nachzudenken. Wer wirklich helfen möchte, wird einen Weg finden. Ihr solltet große Massenproteste organisieren und internationale Unterstützung für die Revolution. Die Revolution ist dem Sieg nun ziemlich nah. Baschar Al-Assad wird sich bald aus dem Staub machen. Was die FSA jetzt braucht, sind Luftabwehrraketen, das ist alles. Wir haben den Boden unter Kontrolle, aber Assad kontrolliert den Luftraum. Wenn wir die Flugzeuge vom Himmel holen, haben wir den Sieg.

Reimund Fleck:  Bekommt ihr Unterstützung aus Libyen oder Ägypten?

Muhamed: Ein paar Kämpfer sind aus diesen Ländern zu uns gekommen, aber sehr wenige, vielleicht 200. Aus Saudi-Arabien und Katar bekommen wir finanzielle Unterstützung, das ist sehr gut. Wir sind ihnen dafür dankbar.

Reimund Fleck:  Wie ist jetzt im Moment die Lage in Syrien?

Muhamed: Wir brauchen dringend Hilfe, und zwar jetzt! Die ganze Welt ist gegen uns – Russland, China und Iran, ebenso Libanon. Sie sind alle gegen uns. Dann gibt es die USA und Europa – sie sehen zu und tun überhaupt nichts. Für mich ist auch das ein Verbrechen. Sie könnten unserem Leiden ein Ende setzen, aber sie tun es nicht. Die Türkei hat ihre Grenzen dichtgemacht und will uns alle rauswerfen. Unsere Situation ist also wirklich miserabel.

Reimund Fleck: Vielen Dank für das Interview. Ihr habt unsere volle Unterstützung und wir wünschen euch einen vollständigen Sieg über Baschar Al-Assad.

Ausführliche Darstellung der Positionen von REVOLUTION zum Bürgerkrieg in Syrien unter anderem in den Artikeln Nieder mit Assad – Sieg der Free Syrian Army, Aufstand in Syrien: Nieder mit dem Assad Clan! Solidarität mit der Revolution, Für „Freiheit und Demokratie“ in Syrien – und weiter?




Nieder mit Assad – Sieg der Free Syrian Army!

Für den Sieg der „Free Syrien Army“ und den Aufbau einer unabhängigen revolutionären Arbeiterpartei!

In diesen Tagen und Wochen wird in Damaskus, Aleppo, Idlib und anderen Städten Syriens über die Zukunft des Landes entschieden. Ohne zunächst einzugehen auf die politischen Pokerzüge verschiedener regionaler oder imperialistischer Mächte und deren Ringen, sich im Syrien nach Assad schon mal einzukaufen und beliebt zu machen, muss eines betont werden: Der Ausgang der Kämpfe in Aleppo und Damaskus wird darüber entscheiden, ob die unterdrückte Bevölkerung Syriens voranschreiten und gegen Diktatur, Unterdrückung und Imperialismus siegen kann – oder ob sie für weitere Jahrzehnte unter der Gewaltherrschaft von al-Assad schmoren, hungern und leiden wird.

Die Freie Syrische Armee (FSA) muss in ihrem gerechten Kampf gegen die Regierung siegen – anderenfalls würden in Syrien bald keine Revolutionäre mehr am Leben sein, das Schlachten der al-Assad-Regierung an der syrischen Bevölkerung würde erst beginnen. Wir stehen daher in diesem Bürgerkrieg ohne wenn und aber auf der Seite der Unterdrückten und der FSA, die für ihre Rechte kämpft – und wollen alle Internationalist_innen auffordern, sich mit unseren Schwestern und Brüdern in Syrien zu solidarisieren. Sie haben jedes Recht, diese Regierung zu stürzen, und wir dürfen in dieser Frage nicht neutral sein.

Wir wollen uns noch mit den Argumenten der al-Assad-Freunde auseinandersetzen, und wir wollen keine undifferenzierte politische Unterstützung für bürgerliche und reaktionäre politische Strömungen üben – doch wir unterstützen jeden Kampf, jede Aktion, wenn sie die verbrecherische Syrische Armee schwächt und den Sturz der Regierung al-Assad näherbringt. Dies ist nicht nur im Interesse der syrischen Jugend, der Arbeiter_innen und der Armen. Es ist auch Vorraussetzung für die Befreiung der 500.000 Palästinenser_innen in Syrien. Entgegen den Behauptungen der Regierung muss der Großteil von ihnen staatsbürgerliche Rechte entbehren und seit 60 Jahren als „Flüchtlinge“ in Lagern vegetieren.

Panzerkollone des Regimes – Syrien unterhält eine der größten Armeen der Region.

Seit Beginn des Ramadan am 20. Juli haben beide Seiten – die FSA ebenso wie die Regierungsarmee – ihren Einsatz und ihre Anstrengungen nochmals erhöht. Sie kämpfen mit höchst ungleichen Mitteln: in Stärke und Ausrüstung ist die Regierung der FSA weit überlegen. Letztere verfügt kaum über schwere Waffen, ihre Strukturen sind weit weniger gefestigt und die Versorgung mit Munition und lebensnotwendigen Gütern ist nicht gewährleistet. Die Behandlung von Verwundeten – Kämpfern wie Bewohner_innen – muss in notdürftig eingerichteten Feldlazaretten stattfinden, da die Krankenhäuser regelmäßig von Assad-Milizen „gesäubert“ werden.

Umso bewundernswerter ist ihre Ausdauer und ihre Opferbereitschaft, mit der die FSA Viertel und Städte unter andauerndem Artilleriebeschuss wochen- und monatelang gegen die Armee verteidigt. Vorraussetzung dafür ist zum einen die Selbstlosigkeit und der Todesmut ihrer Kämpfer, zum anderen die Unterstützung durch die städtische und ländliche Bevölkerung. Sie kämpft seit einem Jahr mit gewaltigen Opfern, aber dennoch ungebrochen gegen einen vielfach größeren, stärkeren und professionelleren Feind. Diese Opfer, bislang beinahe 25.000 tote Kämpfer und Bewohner_innen, sind jedoch nicht umsonst: immer mehr Soldaten der Syrischen Armee wechseln die Seite, viele tausend Jugendliche schließen sich spontan der Freien Armee an.

Selbst die Assad-Führungsclique begann in den letzten Wochen zu bröckeln. Im Angesicht der drohenden Niederlage verlassen die Ratten das sinkende Schiff. Zwar hat die FSA auch empfindliche Niederlagen hinnehmen müssen – doch es ist zu beachten, dass in einem Guerilla-Kampf andere Regeln gelten als in herkömmlichen Kriegen. Ein taktischer Rückzug, wie zuletzt aus dem Viertel Al-Saladin in Aleppo, ist nicht gleichbedeutend mit einer Niederlage – Guerilla-Kämpfer sind in der Lage, unterzutauchen und an anderer Stelle oder zu anderer Zeit den Kampf fortzusetzen. Die FSA kann daher nicht besiegt werden, solange sie die Unterstützung der Bevölkerung genießt.

Aufnahme eines Massengrabes nach einem Massaker des Assad Regimes an Zivilisten.

Das ist auch der Grund für die unglaubliche Brutalität der Syrischen Armee gegen „Zivilisten“. Stets folgt auf den taktischen Rückzug der FSA ein wahlloses Massaker an Bewohner_innen. Wohnviertel in Aleppo, Homs, Idlib und vielen anderen Städten werden täglich schwer bombardiert. Bereits dies sollte allen ernsthaften Linken klarmachen, wer hier für wen kämpft. Doch was ist mit den Argumenten der Unterstützer Assads? Teile der Linken, auch in Deutschland, stellen sich auf die Seite Assads oder leugnen zumindest die Legitimität des Aufstandes. Sie behaupten, die FSA sei in Wirklichkeit ein imperialistischer Agent, wohingegen die Assad-Regierung die Interessen der syrischen Bevölkerung gegen den Imperialismus verteidige.

Selbstverständlich werden ernsthafte Revolutionäre nicht in Abrede stellen, dass die USA, die BRD und andere ihre Agenten in Syrien haben – alles andere wäre nur verwunderlich. Deren Ziel ist allerdings nicht, den Aufstand zum Sieg zu führen – vielmehr wollen sie schonmal klarmachen, wer nach Assad in Syrien mitreden darf. Sie wollen – und hier trennt sie nicht viel von den Stalinist_innen wie der DKP – einen „geordneten Übergang“ anstatt der revolutionären Machtergreifung. Sie wollen, mit einem Wort, eine bürokratische Neuordnung Syriens zu ihrem Vorteil, statt dem Sieg der Revolution im Interesse der Unterdrückten.

Dass nun Imperialisten wie die USA taktische Unterstützung für die FSA üben, delegitimiert jedoch selbstverständlich nicht die Revolution als solche. Wer so denkt, muss jede Revolution verdammen, denn nie werden Imperialisten und Reaktionäre tatenlos zusehen, wo eine Revolution sich erhebt. Mögen die Imperialisten die FSA mit Geld oder Waffen unterstützen – diese Unterstützung anzunehmen ist nicht falsch, sondern obligatorisch, solange keine Bedingungen daran geknüpft sind. Die Stalinist_innen schließen jedoch von einer Übereinstimmung in taktischen Zielen auf eine politische Übereinstimmung oder Abhängigkeit – tatsächlich tragen sie selbst die Verantwortung, sollte die Revolution von den Imperialisten okkupiert werden und in die imperialistische Konterrevolution übergehen.

Zwar stellen sich Kommunisten gegen jede Intervention der UNO/NATO. Aus dem Veto Russlands und Chinas allerdings zu schließen diese seien „Antiimperialisten“ ist nicht nur unsachlich, sondern reaktionär.

Dies kann nur verhindert werden durch volle brüderliche Unterstützung der Revolution, Kampf gegen imperialistische Einmischung, Kampf gegen Illusionen in die UNO und andere imperialistische Organe! Offensichtlich absurd wird die Politik der Stalinist_innen dann, wenn sie eine „anti-imperialistische“ Schutzallianz Russland-China behaupten – diese sind selbst imperialistische Mächte, gehören also zu den Herrschern der Welt und verteidigen nichts als ihre eigenen imperialistischen Ziele, die sie durch die Revolution gefährdet sehen.

Sich in diesem Krieg „neutral“ zu verhalten, ist nicht nur ein unverzeihlicher Verrat an der syrischen Bevölkerung, die derzeit in jeder Minute gefoltert und geschlachtet wird – es bedeutet auch, Syrien nach Assad den „Reformern“, den Islamisten und den Imperialisten zu überlassen, anstatt die Revolution voranzutreiben zur Machtergreifung der Arbeiter_innen und Unterdrückten. Dies zeigt die Entwicklung in Tunesien, Libyen und Ägypten, wo die Revolution zum Stillstand gekommen ist, nachdem Tausende ihr Blut vergossen haben für den Sturz der Diktatur.

Illusionen in die UNO, in imperialistische „Unterstützer“ oder in einen „friedlichen Übergang“ müssen bekämpft werden, indem ihnen die tatsächlichen Möglichkeiten der syrischen Jugend und Arbeiter_innen gegenübergestellt werden:

  • Demokratische Gegenmacht der Unterdrückten statt Gemauschel zwischen „Exil-Syrern“ und Imperialisten!
  • Räte in Stadtteilen, in der Freien Armee, in den Fabriken müssen gebildet werden, um die Übernahme der Macht vorzubereiten!
  • Unterstützung durch die Kämpfer der Tunesischen,
    Ägyptischen und Tunesischen Revolution!
  • In der Freien Armee selbst muss für proletarische Ziele gekämpft werden und für die demokratische Wahl der Komandeure!
  • Die Revolution beschränkt sich nicht auf demokratische Ziele – Selbstbestimmung kann nur erreicht werden, wenn Industrie, Außenhandel und Grundbesitz unter Kontrolle der Unterdrückten gestellt wird!
  • Kein Vertrauen in bürgerliche Führer_innen oder Islamist_innen! Nicht der „Syrische Nationalrat“, nicht die UNO und nicht die Regierung der Türkei dürfen über Syrien entscheiden – dies steht nur der unterdrückten syrischen Bevölkerung selbst zu und den Kämpfern, die derzeit ihr Blut vergießen für die Zukunft Syriens!
  • Für den Aufbau einer revolutionäre Arbeiterpartei, die für die permanente Revolution kämpft!

Ein Artikel von Bruno Lahrius, REVOLUTION Stuttgart




Aufstand in Syrien: Nieder mit dem Assad-Clan! Solidarität mit der Revolution!

Am 18. Juli hat die Freie Syrische Armee (FSA) mit einem gezielten Schlag gegen die Armee- und Regierungsspitze eine Offensive gegen die syrische Armee begonnen. In allen Städten des Landes kämpft sie nun für die Übernahme der Macht und den Sturz der Assad-Regierung. In Damaskus drang sie zeitweise bis dicht vor den Regierungssitz vor. Alleine in den letzten Tagen sollen viele Tausend Soldaten der Assad-Armee desertiert sein, auch hohe Befehlshaber haben sich dem Aufstand angeschlossen oder in Nachbarländer abgesetzt, um sich vor der drohenden Niederlage zu retten.

Damit ist der Sturz der Assad-Diktatur so nahe wie nie. Als internationale kommunistische Jugendorganisation stehen wir voll an der Seite der Kämpferinnen und Kämpfer, die in dieser Lage unvorstellbaren Mut und gewaltige Opfer aufbringen, um für eine bessere Zukunft der Syrer_innen zu kämpfen. Die syrische Opposition zählte bislang annähernd 20.000 getötete Kämpfer_innen und Bewohner_innen. Die Inkaufnahme solch massenhafter Opfer beweist zum einen die Ausweglosigkeit, in der sich die mörderische Assad-Regierung befindet – zum anderen die unfassbare Überzeugung der Aktivist_innen und der sie unterstützenden Bevölkerung.

Die Getöteten sind Märtyrer_innen nicht nur für die unterdrückte syrische Bevölkerung, sondern für die Unterdrückten des gesamten Nahen Ostens, die ausnahmslos unter der Gewaltherrschaft von Polizei- und Folterstaaten leben – nicht zu sprechen von der israelischen Apartheid in Palästina.

Der Sturz der Assad-Regierung wäre ein Sieg für all diese Unterdrückten. Syrien nach Assad – demokratisch geführt von den Kämpfer_innen der FSA, den Aktivist_innen in den Städten und den Arbeiter_innen – könnte zur Spitze der revolutionären Bewegung im Nahen Osten werden und beispielsweise die Palästinenser_innen in ihrem Kampf um Selbstbestimmung konkret unterstützen. Es könnte auch die Stagnation der Revolution in Ägypten durchbrechen, wo derzeit immernoch Mubaraks Militärrat regiert.

Und ein Sieg der syrischen Revolution wäre auch eine Niederlage für die Imperialisten in Deutschland oder den USA. Die Stalinist_innen und andere nationalbornierte „Revolutionäre“ mögen dies bestreiten – doch wenn die Imperialisten Assad zum Rücktritt oder zumindest zu „Reformen“ zu bewegen versuchen, sollten wir hierrauf keinesfalls mit der Verteidigung Assads reagieren. Auch die Tatsache, dass möglicherweise die Imperialisten selbst, Islamisten oder Agenten anderer Mächte (Saudi-Arabien, Iran oder andere) geheime Operationen in Syrien durchführen, ist kein Grund, der Revolution ihre Legitimität abzusprechen – dies wäre eine Verhöhnung des Massenaufstands, der sich zuallererst auf die berechtigte Empörung der Massen über ihre Verarmung durch eine selbstherrliche und korrupte Gewaltregierung stützt. Wie sollte die syrische Bevölkerung überhaupt einen Aufstand gegen die Regierung führen, ohne sich dem Versuch der Vereinnahmung durch Imperialisten oder andere Feinde auszusetzen?

Die Antwort, die Revolutionäre auf diese Einmischung geben sollten, ist vielmehr das Eintreten für völlige nationale Unabhängigkeit Syriens und der Kampf gegen alle Kräfte, die in diesem Volksaufstand für ein Bündnis mit den Imperialisten (durch UN-Resolutionen oder Kriegsbeteiligung) eintreten. Solange jedoch keine reaktionären Zugeständnisse an die Imperialisten gemacht werden, müssen wir alle nur möglichen Hebel in Bewegung setzen, den Aufstand zu unterstützen und zum Sieg zu führen. Imperialistische Spione oder Agenten müssen, sollten sie enttarnt werden, ebenso wie Assad-Treue als Kriegsverbrecher bestraft werden.

Die „Unterstützung“ durch Imperialisten ist das letzte, was die syrische Revolution braucht – sehr wohl benötigt sie jedoch die uneingeschränkte Unterstützung durch die Arbeiter_innen und Jugendlichen aller Länder. Denn ein befreites Syrien nach Assad wäre den Angriffen Israels, Irans, imperialistischer Armeen ebenso wie der Korruption und dem Ausverkauf durch „westlich-orientierte“ Führer_innen schutzlos ausgeliefert. Es könnte nur bestehen, wenn die Arbeiter_innenklasse Syriens mit der vollen Solidarität der Weltarbeiterklasse sich an die Spitze der Revolution setzt mit dem Ziel, diese auf die gesamte Region auszuweiten – und zugleich unterstützt wird von Ländern wie Ägypten oder Libyen, wo sowohl erfahrene Kämpfer_innen als auch eine weitentwickelte Industrie und Rohstoffe vorhanden sind.

Die Frage des Sieges oder der Niederlage der syrischen Revolution entscheidet sich in diesen Stunden und Tagen. Die Offensive der Aufständischen könnte Assad rasch vertreiben und durch eine demokratisch-revolutionäre Übergangsregierung ersetzen, welche die dringendsten Probleme der syrischen Bevölkerung löst: die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Behandlung der Verwundeten, Herstellung von demokratischen Rechten und die Freilassung aller vom Regime gefangenen Aktivist_innen. Es würde sich jedoch rasch die Frage stellen, welche Kraft in der Lage ist, auf Dauer der Einflussnahme und den Angriffen von Imperialisten zu widerstehen – dies kann nur die Arbeiterklasse sein. Daher zählt auch der Aufbau von unabhängigen Arbeiter_innenorganisationen, Gewerkschaften, Fabrikkomitees usw. zu den wichtigsten Aufgaben für Revolutionäre. Die Linke muss Antworten auf die Herausforderungen der Revolution finden und bspw. die verheerende Politik der „Kommunistischen Partei Syriens“, die fest in Assads Machtapparat eingebunden ist, aufs Schärfste bekämpfen. All jene „Linken“, die – beispielsweise in Deutschland – den berechtigten Aufstand gegen Assad denunzieren und damit der Konterrevolution (durch Assad, Islamisten oder den Imperialismus) das Wort reden, begehen einen unvergleichlichen Verrat an der syrischen Bevölkerung. Sie tragen täglich Verantwortung für das Morden an den syrischen Revolutionären.

  • Sieg der Syrischen Revolution – Solidarität und Unterstützung für die Freie Syrische Armee und ihre mutigen Kämpfer_innen!
  • Die Syrer brauchen keine imperialistische Hilfe – Kein NATO-Einsatz, kein Einsatz einer „Allianz der Willigen“! Stattdessen für organisierte Arbeitersolidarität – Gewerkschaften und Arbeiterparteien sollten Nahrungsmittel-, Geld- und sonstige Spenden für die Unterstützung der Rebellen sammeln!
  • Nieder mit Assad – für die permanente Revolution! Keine „Übergangsregierung“ mit Beteiligung von Assad-Nahen, so wie es manche proimerpialistische Führer der Rebellen anbieten!