Die Edelweißpiraten: proletarische Jugendkultur gegen den Hitler-Faschismus

Von Yorick F., Mai 2023

Heute ist der Tag der Befreiung, der 78. Jahrestag der Bedingungslosen Kapitulation des Faschistischen Deutschlands und damit des Endes des 2. Weltkriegs in Europa. Dieser Tag hat auch heute noch zurecht eine deutliche Symbolkraft, als Tag zur Erinnerung an die Befreiung Deutschlands vom Faschismus durch die Alliierten, allen voran der Roten Armee, zeigt er auf wie wichtig konsequenter Antifaschismus ist. Zumindest sollte man dies meinen, oder zumindest erwarten; die heutige vor allem Westlich geprägte Erinnerungskultur zeichnet jedoch ein anderes Bild. Denn um sich am 8. Mai glaubhaft Antifaschistisch zu präsentieren braucht es die Besinnung auf antifaschistischen Widerstand in Deutschland, nicht nur zeigten diese mutigen Widerstandskämpfer_Innen eine bedingungslose Entschlossenheit welche für uns heute noch beispielhaft sein sollte, sie zeigen auch auf welchen Charakter Antifaschismus haben muss.

Wer waren die Edelweißpiraten?

Die Edelweißpiraten, zu deren Umfeld die Gestapo um die 3000 Jugendliche zählte, setzten sich zunächst zusammen aus unangepassten Jugendlichen, welche aktiv nicht in die Hitlerjugend eintraten. Diese hatten erst einmal keine geeinten ideologischen Hintergründe, waren aber fast ausschließlich proletarische Jugendliche. Ihren Namen gaben sie sich nach einem Schmähbegriff der Gestapo für Unangepasste Jugendliche der 1936 verbotenen bündischen Jugend, welche u.a. Edelweißblüten als Erkennungssymbol trugen. Das Edelweiß symbolisierte zusätzlich die Naturverbundenheit vor allem in der Anfangszeit, als die Edelweißpiraten eine noch recht lose Gruppe waren die vor allem einen Ausweg und Freiräume im faschistischen Staat suchten und regelmäßig Ausflüge in die Umliegende Natur, in Wälder und an Seen unternahmen.

Als Gruppe aus proletarischen Jugendlichen abseits der Kontrolle durch HJ oder BDM wurden die Edelweißpiraten schnell von der Gestapo als Gefahr angesehen. Immer wieder gab es angriffe durch die HJ auf Fahrten der Gruppe. Die ständigen Angriffe der HJ sowie der Gestapo, die Hintergründe einiger Mitglieder welche im Rotfrontkämpferbund oder der SPD nahen Naturfreundejugend organisiert waren sowie der Kontakt zu Widerstandskämpfer_Innen und Sozialist_Innen im Exil in Paris, welcher durch Michael Jovi zustande kam welcher auch eine gemeinsame Fahrt nach Paris organisierte, gaben den Edelweißpiraten recht schnell eine klare politische Haltung: klar Antifaschistisch mit der HJ als expliziteres Feindbild und deutlich sozialistisch geprägt. Zunächst drückte sich dies vor allem durch auf den Ausflügen gesungene Lieder aus, welche häufig aus dem Repertoire der Bündischen Jugend stammten. Diese wurden umgedichtet und bekamen einen politischen Charakter, man traf sich zwar weiterhin in der Natur, jedoch zunehmend geheimer aus Angst vor noch stärkerer Verfolgung.

Widerstand gegen den Hitler-Faschismus

Recht schnell sahen einige Edelweißpaten die Notwendigkeit, aktiv Widerstand gegen den Faschismus zu leisten, auch wenn dies bedeutete sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Neben gezielten Überfällen auf HJ Streifendienste, stahlen die Edelweißpiraten, welche zu Großteilen durch die Repression des faschistischen Staates keinen gesicherten Zugang zu Lebensmitteln hatten, regelmäßig Große Mengen an Lebensmitteln, welche zu großen Teilen etwa über Zäune oder vergitterte Fenster zu vor allem Sowjetischen und Jüdischen gefangenen geschmuggelt wurden. Auch wurden geflohene Kriegsgefangene und Jüd_Innen in zumeist heimlich bewohnten Wohnungen versteckt und mitversorgt. Mehrere Gruppen der Edelweißpiraten, welche vor allem im Rheinland und im Ruhrgebiet aktiv waren, verteilten auch Flugblätter und schrieben antifaschistische Parolen an Gebäude und Güterzüge.

Eine der Bekanntesten Gruppen aus Edelweißpiraten war die sog. Ehrenfelder Gruppe in Köln. Diese traf sich in einem verlassenen Bunker, welcher schnell zur Anlaufstelle für im Untergrund Lebende Jüd_Innen, Kriegsgefangene und Antifaschist_Innen wurde. Sie lagerten auch Waffen und verübten einzelne Anschläge, etwa am 20.04.1944 an den Gleisen eines Güterzuges, welcher entgleiste und die wichtige Industriestrecke mehrere Tage lahmlegte. Sie lieferten sich zudem Regelmäßig Schießereien mit Nazis. Viele Edelweißpiraten wurden gefangengenommen. Auch viele Mitglieder der Ehrenfelder Gruppe, bei einem Überfall auf ein Munitionsdepot um einen geplanten Bombenanschlag auszuführen. Am prominentesten ist hier wohl das Schicksal des damals 16 Jährigen Bartholomäus Schink welcher mehrere Monate in Gefangenschaft gefoltert wurde und am 10.11.1944 gemeinsam mit einigen Mitstreitern ermordet wurde.

Obwohl die Edelweißpiraten ihre Leben riskierten und teilweise verloren, um sich gegen die Nazis aufzulehnen und zu versuchen den Faschismus zu stürzen und damit einen durchaus mehr als bewundernswerten und relevanten Beitrag leisteten, finden sie in der Deutschen Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur nur wenig Erwähnung. Wenn überhaupt werden sie neben Namen wie der Weißen Rose oder Claus Schenk Graf von Stauffenberg genannt und dann höchstens als alternative naturverbundene Jugendbewegung abseits der HJ dargestellt; ihr Antifaschismus und ihr Ziel nicht nur den Faschismus zu stürzen, sondern auf seinen Trümmern eine Räterepublik zu bauen, werden ausgelassen, oft ebenso, dass sie tatsächlich aktiv widerstand leisteten. Die Edelweißpiraten bilden hier jedoch keinen Einzelfall: Auch andere sich aus proletarischen Jugendlichen zusammensetzende antifaschistische und klar Sozialdemokratische bis Sozialistische Gruppen wie die Leipziger Meuten oder dezidiert Kommunistische Widerstandskämpfer wie Georg Elser werden wenig bis gar nicht erwähnt. Und das nicht ohne Grund: die Weiße Rose rund um Sophie und Hans Scholl mögen großen Mut an den Tag gelegt haben, kämpften aber im Endeffekt vor allem gegen den Kurs Hitlers und seinem Kabinett und für eine Art gemäßigten Bonapartismus. Noch skuriler: Stauffenberg kämpfte nicht einmal gegen den Faschismus, verstand sich im Gegenteil selbst als explizit Deutsch- Nationalistisch und erhoffte sich mit seinem Attentat auf Hitler einen Kurswechsel des Faschismus, nicht jedoch seine Beendigung. Diese beiden Beispiele erfahren vor allem deshalb eine Überbetonung, da sie, als mehr oder weniger Einzelpersonen ohne Kommunistische oder Proletarischen Hintergrund, in der Geschichte des Widerstands gegen das NS-Regime eine absolute Ausnahme darstellen, noch dazu eine recht bequeme. Sie stellen vor allem die dem Faschismus zugrundeliegende Klassenstruktur nicht in Frage. Die Würdigung von antifaschistischem Widerstand, wie dem der Edelweißpiraten, widerstrebt den Herrschenden sowie den bürgerlichen Geschichtsschreiber_Innen. Denn wenn sie das tun würden, müssten sie Personen ehren, welche explizit auch ihre Herrschaft in Frage stellten. Für uns ist klar, dass der Faschismus nur Endgültig mit der Überwindung des Kapitalismus geschlagen werden kann. Deshalb halten wir es für Notwendig antifaschistischen und kommunistisch geprägten Jugendorganisationen wie den Edelweißpiraten zu erinnern, ihre Taten zu würdigen und von ihnen und ihrer Entschlossenheit zu lernen. Denn sie zeigen diese Erkenntnis deutlich auf.

Kultur

Wir möchten hier noch ein paar kulturelle Empfehlungen geben, die sich mit den Edelweißpiraten beschäftigen: Zum einen das Lied „An Rhein und Ruhr marschieren wir“, in dem der Widerstand der Edelweißpiraten gezeichnet wird, und auch die Erkenntnis, dass der Faschismus nur endgültig mit dem Ende der Klassengesellschaft geschlagen werden kann. Zum anderen ein eher unbekanntes Lied, namens „Edelweißpiraten“, in dem nicht nur die teils tragische Geschichte, sondern auch ihre Heldentaten erzählt werden und auch die Kontinuität der Faschist_Innen in der deutschen Geschichte problematisiert wird.




Schüler_Innen und Lehrer_Innen zusammen: Gemeinsamer Streik für kleinere Klassen!

April 2023, REVOLUTION-Zeitung April/Mai 2023

Besser lernen in kleinen Klassen

Seit über einem Jahr kämpfen die Berliner Lehrer_Innen der Lehrer_Innengewerkschaft „Erziehung und Wissenschaft“ (kurz GEW) in bisher 11 Warnstreiktagen dafür, dass kleinere Klassen in einem Tarifvertrag festgeschrieben werden (Tarifvertrag Gesundheit: kurz TV-G). Noch immer gibt es nicht einmal ein Gesprächsangebot seitens des grünen Berliner Finanzsenators Daniel Wesener. Dabei heißt eine Verkleinerung der Klassengrößen für Lehrkräfte: weniger Stress und Arbeitsbelastung. Für uns heißt das: besser Lernen, mehr Zeit und weniger genervte Burn-Out-Mathelehrer. In kleineren Klassen erleben wir weniger Konkurrenzdruck und bekommen mehr Übungszeit, mehr Ruhe und mehr Aufmerksamkeit. Wer kennt nicht diese krasse Angst vor über 30 Leuten in der Klasse zu sprechen und kann sich vorstellen, wie viel entspannter es sein könnte, wenn da nur die Hälfte sitzt? Viele von uns erinnern sich noch daran, wie angenehm es während der Phase des Wechselunterrichts im Corona-Lockdown war, nur mit der halben Lerngruppe unterrichtet zu werden.

Zuletzt hat die GEW Berlin deshalb 4000 Lehrer_Innen 2 Tage lang auf die Straße gebracht, viele Schulen waren dicht. Schüler_Innen, die bei uns organisiert sind, haben diese Gelegenheit genutzt. Wir sind auf die Streikversammlungen gegangen und haben mit den streikenden Lehrer_Innen über die Perspektive ihres Tarifkampfes und wie wir gemeinsam kämpfen können, diskutiert. Wir haben dazu auch eine Rede auf der Streikdemonstration gehalten. Einige von uns haben auch ein kleines Solidaritätsflugblatt geschrieben und es den Lehrer_Innen ins Fach gelegt. An einer Schule haben wir auf einer Sitzung der Schüler_Innenvertretung eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, dass der Lehrer_Innenstreik von uns Schüler_Innen unterstützt wird. Es gibt also viele Wege, wie wir uns solidarisch zeigen können.

Es geht um mehr!

Bald stehen in Berlin die Abiturprüfungen an und diese drohen die Streikbewegung massiv zu schwächen, denn viele streikende Lehrer_Innen halten dem moralischen Druck nicht stand, „ihre Schülis im Stich zu lassen“. Umso wichtiger ist es, dass wir ihnen zeigen: Macht weiter! Die paar ausgefallenen Stunden sind Nichts im Vergleich zu dieser katastrophalen Situation, die von den Politiker_Innen „Unterricht“ genannt wird und Prüfungen lassen sich auch immer verschieben. Es geht hier um mehr als um einen Tarifvertrag. In ganz Deutschland herrscht ein riesengroßer Personalmangel an den Schulen. Bis 2030 sind über 100.000 Lehrer_Innenstellen unbesetzt. Nun stellt sich die Frage, wer diesen Mangel ausgleichen muss. Ist es der Staat, der endlich mal Geld für Bildung statt für Rüstung in die Hand nimmt und mehr Lehramtsstudiumsplätze schafft, den NC dafür abschafft und die Arbeitsbedingungen an den Schulen verbessert? Oder sind es wir und die Lehrer_Innen, die im Falle der Lehrer_Innen mehr belastet werden und in unserem Fall eine schlechtere (und ungerechtere) Bildung erhalten? Die KMK (die Konferenz der Bildungsminister_Innen aller 16 Bundesländer) fordert zur Bekämpfung des Lehrer_Innenmangels die Klassen zu vergrößern, das wöchentliche Stundendeputat der Lehrer_Innen zu erhöhen, pensionierte Lehrer_Innen aus dem Ruhestand zurückzuhalten und mehr Online-Unterricht einzuführen, damit eine Lehrkraft mehrere Klassen gleichzeitig unterrichten kann. In Sachsen-Anhalt wurden bereits Teile davon umgesetzt. Hier müssen die Lehrer_Innen 1 Unterrichtsstunde mehr unterrichten und der Freitag findet bereits online statt. Auch wird diskutiert, ein paar „unwichtige“ Fächer wie Kunst, Musik, Sport, Politik, Geschichte oder Ethik einfach wegzusparen.

Wie in jedem Tarifkampf geht es also darum, ob sich die Interessen des Kapitals oder der Beschäftigten durchsetzen. Der Widerspruch zwischen den Klasseninteressen wird dabei umso größer, je mehr sich die globale Krise verschärft. Angesichts des Krieges und der Wirtschaftskrise holt das Kapital also überall auf der Welt zum Angriff gegen uns Jugendliche und Lohnabhängige aus. Erst kamen die unzureichenden Einmalzahlungen statt Lohnerhöhungen in der Metall- und Elektroindustrie, dann Lauterbachs miese Krankenhausreform im Gesundheitssektor, dann wird über die Einschränkung des Streikrechts diskutiert und nun kommt die KMK und will, dass Lehrer_Innen und Schüler_Innen die jahrzehntelange Unterfinanzierung des Bildungssystems ausbaden. Es geht bei dem Kampf um den TV-G also zum einen darum, unsere Lernbedingungen ganz konkret zu verbessern, zum anderen aber auch darum, sich der schrittweisen Angriffswelle des Kapitals auf das Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen zu widersetzen.

Vom Warnstreik zum Erzwingungsstreik zur bundesweiten Streikwelle!

Bisher hat der Berliner Finanzsenator die Forderungen der GEW einfach ignoriert. Auch wenn die Gewerkschaft die Anzahl der Warnstreiktage nun auf 2 hintereinander folgende Tage erhöht hat, wird das noch nicht den nötigen Druck erzeugen, den es braucht, um einen Tarifvertrag zu erkämpfen. Es gibt nur einen Weg zum Erfolg und das ist ein unbefristeter Erzwingungsstreik, so wie es die junge GEW Berlin fordert. Das ist ein Streik, der nicht nur auf einen Tag angelegt ist, sondern so lange dauert, bis das Ziel erreicht ist. Diese Forderung muss in die Streikversammlungen hineingetragen werden, sodass die Gewerkschaftsführung gar nicht mehr anders kann, als eine Urabstimmung über den Erzwingungsstreik einzuleiten. Gleichzeitig muss die GEW, die nicht nur Lehrer_Innen, sondern auch Erzieher_Innen organisiert, auch die Kitabeschäftigten und Sozialarbeiter_Innen zum Streik aufrufen. In ihren Einrichtungen sieht der Betreuungsschlüssel oft noch katastrophaler als in den Schulen aus und sie bekommen sogar noch viel weniger Geld für ihre harte Arbeit. Gemeinsam wird der Druck auf den Berliner Senat unerträglich hoch werden, wenn nicht nur die Schulen, sondern auch Kitas und Jugendclubs dicht sind. Ebenso streikt gerade nicht nur die GEW, sondern es finden auch die Streiks im Öffentlichen Dienst (TV-ÖD) statt. Die Basis der Streikbewegungen muss für gemeinsame Streiktage eintreten.

Doch auch außerhalb Berlins sieht die Situation ähnlich oder sogar noch schlimmer aus. Der Kampf für kleinere Klassen muss deshalb über die Berliner Stadtgrenzen hinausgetragen werden. Außerdem kann der Arbeitgeber_Innenverband der Lehrer_Innen (die „Tarifgemeinschaft der Länder“) dann auch nicht mehr damit drohen, Berlin rauszuschmeißen, wenn auch in anderen Bundesländern gestreikt wird. In Hamburg und Baden-Württemberg haben wir bereits erste Initiativen für Tarifverträge für kleinere Klassen angestoßen. Wenn es im September zur Tarifrunde der Länder (TV-L) kommt, gilt es, die Forderungen nach kleinen Klassen und einem tarifvertraglich geregelten Betreuungs- und Pflegeschlüssel mit in den Tarifvertrag aufzunehmen. Fragt eure Lehrer_Innen, ob sie in der GEW sind, ob sie schon etwas von den 11 Streiks für kleinere Klassen in Berlin gehört haben und ob sie diese Idee nicht auch mal in ihren GEW-Kreis oder -bezirksverband tragen wollen. Diskutiert mit euren Mitschüler_Innen und tragt die Forderung nach kleineren Klassen in eure Schulen!




Frankreich: Generalstreik gegen die „Rentenreform“! Nieder mit Macron und der antidemokratischen Fünften Republik!

Von Marc Lasalle, ein französischer Genosse der Liga für die 5. Internationale.

Seit zwei Monaten wird Frankreich von Streiks und Protesten gegen den Versuch, das Rentenalter zu erhöhen, erschüttert. Doch nun ist die Krise in eine neue Phase eingetreten.

Nach monatelangen Verhandlungen, in denen versucht wurde, die Stimmen der Abgeordneten des rechten Flügels der Republikaner_Innen zu kaufen, konnte die Regierung immer noch keine Mehrheit erlangen – ein Zeichen für den Druck, den die Massen auf alle Abgeordneten ausübten.

Präsident Emmanuel Macron berief sich daraufhin auf Artikel 49.3 der Verfassung, der es ihm erlaubt, das Parlament zu übergehen und Gesetze zu verabschieden, ohne dass es eine Mehrheit unter den Abgeordneten gibt, geschweige denn ein Mandat des Volkes.

Unsere Antwort: Widerstand!

Dieser ungeheuerliche Eingriff in die Demokratie löste mehr als eine Woche lang eine neue Serie nächtlicher Proteste aus. In diesen Kämpfen mit den Sicherheitskräften stehen immer mehr junge Menschen an vorderster Front: Sie lassen sich nicht ihrer demokratischen Rechte berauben!

An den Arbeitsplätzen fällt das Tempo des Kampfes uneinheitlich aus. Einige Sektoren wie die Eisenbahnen, die Energiewirtschaft, die Docks und die Müllabfuhr werden seit Wochen bestreikt. Auf den Straßen von Paris türmen sich 10.000 Tonnen Müll. Die Häfen von Marseille und Rouen sind blockiert, ebenso wie mehrere Raffinerien. Die Benzinknappheit ist im Süden des Landes sehr groß und weitet sich unaufhaltsam auf das ganze Land aus.

Der gestrige Aktionstag am 23. März brachte 3,5 Millionen Arbeiter_Innen mit hunderten Demonstrationen auf die Straße. Die Erfahrung der letzten Wochen zeigt jedoch, dass selbst eine Mobilisierung dieses Ausmaßes nicht ausreicht, um die Regierung zum Rückzug zu zwingen, geschweige denn, um sie vollständig abzusetzen, was die notwendige Voraussetzung für die Aufhebung des Gesetzes und eine angemessene Bestrafung für ihre Missachtung der Demokratie wäre.

Alle Gewerkschaftsverbände erklärten, sie würden das Land im März zum Stillstand bringen. Die Realität sieht jedoch bislang anders aus. Einige gut organisierte Sektoren führen zwar beharrliche Streiks durch, die jeden Morgen in Betriebsversammlungen abgestimmt werden, aber es gibt keine generelle Arbeitsniederlegung. An den Aktionstagen (9 seit Januar) werden Millionen auf die Straße gebracht, aber die Zahl der Streikenden außerhalb dieser Tage ist eher gering.

Misere der Gewerkschaftsbürokratie

Was ist hier los? Die Gewerkschaftsführer_Innen haben ihre Glaubwürdigkeit in diesem Kampf aufs Spiel gesetzt – sie können heute nicht einfach nachgeben oder sich zurückziehen. Aber sie wollen auch nicht über die aktuelle Strategie hinausgehen. Da die Rentenreform nach allgemeiner und richtiger Auffassung den Lohnabhängigen zwei Jahre ihres Ruhestands vorenthält, würde eine Niederlage bedeuten, dass sie zugeben müssten, dass sie nicht in der Lage sind, die bestehenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter_Innen zu verteidigen, geschweige denn für Verbesserungen zu kämpfen.

Doch trotz des hohen Einsatzes weigern sich die Gewerkschaften, zu einem Generalstreik aufzurufen. Sie bestehen auf Blockaden, auf Verallgemeinerungen, aber sie haben nicht dazu aufgerufen, dass alle organisiert und gemeinsam das Land in einem unbefristeten politischen Streik lahmlegen. Der Grund dafür ist einfach: Die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten in Frankreich ist gering, weniger als 10 Prozent. Die Führungen ziehen es daher vor, gut kontrollierte Streiks in einigen strategischen Sektoren mit „Aktionstagen“ für alle anderen zu kombinieren. Sie ziehen diese konkreten Aktionen einem unbefristeten Generalstreik vor, der zwangsläufig die Organisation alternativer lokaler, regionaler und nationaler Führungen zur Koordinierung erfordern würde. Angesichts eines politischen Kampfes, der eine politische Aktion in gleichem Umfang erfordert, sind die Gewerkschaftsspitzen unschlüssig und verhalten sich zu dieser Aufgabe passiv. Doch dies ist eine Strategie der Niederlage.

Viele Arbeiter_Innen betrachten die Gewerkschaftsführer_Innen immer noch als die legitime Führung, auch weil die Gewerkschaftsfront (die Intersyndicale) bislang geschlossen bleibt und die Reden der Führer_Innen einen radikalen Ton anschlagen. Doch bevor Macron ein Misstrauensvotum knapp überstand, war die Zahl der Streikenden rückläufig. Das hat sich nach dem 16. März zwar wieder geändert. Aber ohne einen ernsthaften Tempo- und Richtungswechsel wird sich nach einiger Zeit wieder dasselbe Problem stellen.

Wie muss es jetzt weitergehen?

Deshalb müssen wir den Schwung des aktuellen Kampfes nutzen. Dieser ist noch nicht vorbei, er ist vielmehr in eine entscheidende Phase getreten. Die nächsten Tage und Wochen werden von größter Bedeutung sein. Die Entschlossenheit der Streikenden, kombiniert mit der noch zu entfesselnden Kampfbereitschaft der Massen, ist unermesslich stärker als die Regierung und ihre Polizei. Die Jugend nimmt den Kampf auf: Universitäten in Paris und Toulouse sind besetzt. Überall versuchen Aktivist_Innen, die Betriebe zu vernetzen, Streikkomitees zu bilden und für einen Generalstreik zu werben.

Das jüngste Interview von Macron, das von einer ungezügelten Verachtung für die Lohnabhängigen geprägt war, hat die Situation noch zugespitzt. Die Gewalt der Polizei und die Forderungen der Minister_Innen nach einem harten Durchgreifen gegen die Demonstrant_Innen verstärken den Hass der Bevölkerung auf die Regierung nur noch. Millionen von Menschen fühlen, dass Demokratie und Gerechtigkeit auf ihrer Seite sind.

Der Generalstreik ist der einzig mögliche Schritt. In jedem Betrieb sollten die Aktivist_Innen die Führung übernehmen und ihre Kolleg_Innen davon überzeugen, die Streiks auszuweiten, die Profitmaschine zu stoppen und die öffentlichen Dienste zu schließen. Generalversammlungen und Streikkomitees in den Betrieben sollten die Führung übernehmen und Aktionsräte bilden, die regional und national vernetzt sind, um die Verallgemeinerung von Streiks zu organisieren.

Dieser Kampf geht über die Renten hinaus. Auf Macrons Umgehung des Parlaments kann es nur eine Antwort geben: einen Generalstreik, um die Rentenreform zu stoppen, um Macron zu stürzen und vor allem, um die 5. Republik und ihre bonapartistische Verfassung zu Fall zu bringen.

Macron wird nicht der erste Tyrann sein, der von den französischen Arbeiter_Innen auf der Straße besiegt wird. Aber er könnte der letzte sein, wenn die französische Arbeiter_Innenklasse sich auf eine Endabrechnung mit dem Kapitalismus vorbereitet.




Antiregierungsproteste in Israel: Gegenmacht oder Ohnmacht?

Von Jona Everdeen

Seit Wochen finden in Israel Massenproteste gegen die Politik der neuen rechten Regierung statt. Hunderttausende Menschen sind wöchentlich auf der Straße. Ihren Aufhänger fanden die Proteste in einer angestrebten Justizreform, die Befürchtungen hervorruft, sie könnte Israel in eine Diktatur verwandeln. Doch was beinhaltet die Justizreform und wer ist diese Regierung überhaupt, die allgemeinhin als rechteste in der Geschichte des Landes gilt? Welche reaktionäre Politik betreibt sie? Was sind die Folgen für die Menschen in Israel? Und wie wirkt sich die Regierungspolitik auf die eh schon massiv unterdrückten Palästinenser_Innen aus? Welchen Charakter haben die Proteste und was ist nötig, um Netanjahu, Ben-Gvir und Co. zu stürzen?

Rechtsradikale mit Ministerposten

Das Regierungsbündnis aus Netanjahus nationalreligiösem Likud, rechten Siedlerparteien und religiös-fundamentalistischen Kleinstparteien eröffnete einigen stramm rechten Hardliner_Innen den Weg zu wichtigen Regierungsposten. Viele von ihnen machten in der Vergangenheit mit extremem Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, religiösem Fundamentalismus und der Unterstützung zionistischer Terrorist_Innen von sich reden.

So zum Beispiel Itamar Ben-Gvir, der keinen Hehl aus seiner Verehrung für den Terroristen Baruch Goldstein macht, der bei einem Terroranschlag 29 Palästinenser_Innen ermordete. Außerdem wolle er „illoyale“ Palästinenser_Innen ausweisen und habe auch schon persönlich angesichts palästinensischer Proteste die Pistole gezückt. Er ist jetzt israelischer Polizeiminister.

Mit Bezalel Smotrich hat ein weiterer rechter Hardliner als Finanzminister einen zentralen Posten in der neuen Regierung. Das ideale Israel sieht er in Form einer fundamentalistischen Theokratie, in der das oberste Gesetz die Thora ist. Auch schockierte er erst kürzlich mit der Aussage, dass seiner Ansicht nach Jüdinnen und Araberinnen auf getrennten Geburtsstationen Kinder zur Welt bringen sollten. Ben-Gvir und Smotrich sind dabei nur die Spitze des Eisbergs einer Regierung voller extremer Rechter. Doch für den langjährigen rechtskonservativen Ministerpräsidenten Netanjahu schien das kein allzu großes Problem zu sein, immerhin brachten ihm diese Kräfte die nötige Mehrheit, um wieder an die Regierung zu gelangen.

Die Justizreform – Weg in die Diktatur?

Während die Übergabe wichtiger Ministerien an Rechtspopulist_Innen bereits teilweise für Unmut sorgte, brachte die von Netanjahu und seinen Verbündeten geplante Justizreform das Fass zum Überlaufen. Nachdem große Teile der israelischen Gesellschaft seit mehreren Jahren eine Anklage Netanjahus wegen eines Korruptionsskandals fordern, könnte der neue-alte Ministerpräsident durch seine Justizreform einer Anklage entgehen. Diese Dreistigkeit und Verhöhnung des bürgerlichen Rechtsstaates bildete die Grundlage für die folgenden Massenproteste.

Die geplante Reform sieht vor, dass Entscheidungen des obersten Gerichts in Zukunft mit einfacher Mehrheit des Parlaments revidiert werden können, ergo die Rechtsprechung quasi entmachtet wird. Zusätzlich dazu sieht die „Reform“ auch vor, dass die Regierung im Alleingang Richter_Innen ernennen kann, die dann (ähnlich wie die von Trump ernannten Richter_Innen des Supreme Courts) die reaktionäre Ideologie der aktuellen Regierung in ihre „Rechtsprechung“ fließen lassen. Die Justizreform ist also ein klarer Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz, die für eine bürgerliche Demokratie zentral ist.

Die besondere Stellung des Obersten Gerichtshof war schon häufiger Ziel von Angriffen rechter Regierungen. Er gilt unter linksliberalen und sozialdemokratischen Israelis als Hort der Menschenrechte und der Demokratie. Dementsprechend groß ist die Empörung über die geplante Reform nun in diesen Kreisen. Diese Empörung ist berechtigt und als Revolutionär_Innen verteidigen auch wir Angriffe gegen bürgerlich-demokratische Rechte, auch wenn sie Institutionen von kapitalistischen Nationalstaaten sind. Dennoch haben wir keine Illusionen in diesen Gerichtshof. Auch bevor die rechte Regierung ihre Reform angekündigt hat, hat der Gerichtshof die israelische Gesellschaft nicht davor bewahrt, den Charakter eines Besatzungsregimes und eines Apartheidstaates anzunehmen. Die aktuellen Angriffe verdeutlichen nur einmal mehr, wie schnell die Bourgeoisie bereit ist, ihre zuvor hoch gelobte Demokratie zu entmachten, sobald sie ihren Interessen im Wege steht. Ähnliche Beispiele haben wir zuletzt in Brasilien unter Bolsonaro, in Ungarn unter Orban, in Polen unter der PiS oder in den USA unter Trump gesehen.

Reaktionäre Innenpolitik

Während sich die religiösen Splitterparteien und die rechtsextremen Siedler_Innen vor allem an ihrem Rassismus gegenüber Palästinenser_Innen abarbeiten, vertritt der Likud zudem eine zutiefst neoliberale Wirtschaftspolitik. Der bis auf eine kleine Unterbrechung seit 14 Jahren regierende Netanjahu hat große Leistungen für das israelische Kapital vollbracht, indem er es schaffte, Arbeitsrechte und Sozialstaat und auf ein Minimum herunterzufahren. Ein Resultat dieser Politik ist, dass in vielen israelischen Städten die Immobilienpreise so hoch sind, dass dagegen München und Frankfurt am Main geradezu günstig wirken. Auch andere Lebenshaltungskosten stiegen im Laufe seiner Amtszeiten massiv an. Viele Israelis benötigen 2 bis 3 Jobs, um überhaupt über die Runden zu kommen. Öffentliche Schulen und Krankenhäuser sind in einem desaströsen Zustand, während es sich reiche Israelis leisten können, auf Privatschulen und private medizinische Einrichtungen auszuweichen. Jede_r Shekel, der in Checkpoints, Mauern, Drohnen und Panzer fließt, fehlt in den israelischen Schulen, Sozialkassen und Krankenhäusern. Ein Ende dieser Entwicklung ist sicher nicht in Sicht mit der neuen Koalition, eher ist davon auszugehen, dass auch weiterhin die Folgen der allgemeinen Krise, die auch Israel betrifft, auf dem Rücken der Arbeiter_Innen ausgetragen werden.

Noch dramatischer steht es um die Rechte von LGBTIQ-Personen und ethnischen oder religiösen Minderheiten. So ist die religiös-zionistische Partei offen queerfeindlich und macht daraus auch keinen Hehl. Ihr zufolge sollen medizinische Einrichtungen mit religiösem Träger sich weigern dürfen, queere Menschen zu behandeln.

Generell wird voraussichtlich der Rassismus gegen nicht-jüdische Israelis aber auch gegen nicht-weiße Juden:Jüdinnen, die zum Beispiel aus Äthiopien oder dem Jemen nach Israel geflohen und häufig massiven rassistischen Anfeindungen bis hin zu brutalen Angriffen ausgesetzt sind, noch weiter zunehmen.

Mit der sich verschärfenden Wirtschaftskrise geht auch eine verstärkte Verelendung der Arbeiter_Innenklasse in Israel und ihrer besonders marginalisierten, sexistisch oder rassistisch unterdrückten Teile einher. Die israelische Regierung versucht jetzt durch nationalistische Propaganda und der Erweiterung des israelischen Staatsgebiets dieser Krise durch kurzfristige Scheinlösungen zu begegnen und die israelische Arbeiter_Innenklasse mittels Nationalismus an die herrschende Klasse zu binden und damit ihre Schlagkraft zu verringern. Eine zentrale Rolle spielt dabei auch das Wiederaufkommen einer entschiedenen Kriegsrhetorik gegenüber dem Iran.

Was bedeutet das für Palästinenser_Innen?

Dementsprechend hat sich die Lage der Palästinenser_Innen massiv verschlechtert und zu einer neuen Welle von Gewalt und Gegengewalt geführt. Bei Operationen des israelischen Militärs in Städten wie Jenin oder Nablus sind seit Anfang des Jahres mehrere Dutzend Palästinenser_Innen ermordet worden, im Schnitt mehr als ein Mensch pro Tag!

Dazu kam es im palästinensischen Dorf Hawara zu einem Pogrom durch rechtsradikale Siedler_Innen, die mehrere Dutzend Häuser und Geschäfte anzündeten, mindestens einen Menschen töteten und zahlreiche weitere Verletzten. Die israelische Armee hat ihnen dabei zugesehen und Rückendeckung gegeben.

Polizeiminister Ben-Gvir sorgte mit einem Besuch auf dem Tempelberg – Standort der Al-Aqsa Moschee- ebenfalls für eine krasse Provokation. Als Ariel Sharon im Jahre 2000 den Tempelberg betrat, war das der Auslöser für die 2. Intifada. Ben-Gvir kündigte darüber hinaus noch an, dass er es Muslima_en nicht den gesamten Ramadan über erlauben wolle, in der Al-Aqsa Moschee zu beten.

Zu allem Übel will die neue Regierung auch noch die Todesstrafe wiedereinführen. Diese soll gegen Palästinenser_Innen, die Israelis ermordet haben, angewendet werden können, nicht aber gegen Israelis, die Palästinenser_Innen ermordet haben. Zwar müssen Palästinenser_Innen ohnehin damit rechnen, vom israelischen Militär getötet zu werden, wenn sie sich der Besatzungspolitik widersetzen. Allerdings unterstreicht die Wiedereinführung der Todesstrafe – allein für Palästinenser_Innen – noch einmal bildlich die Geringschätzung palästinensischen Lebens.

Weniger offensichtlich aber doch extrem relevant ist auch die Übertragung der Kontrolle über die Westbank von einer militärischen zu einer zivilen Behörde. Während die Militäradministration den jahrzehntelangen Besatzungsstatus des Gebietes aufrecht erhielt, ist dies nun als endgültiges Zeichen zu verstehen, dass für die aktuelle israelische Regierung ein Verlassen dieser, und somit eine zwei Staaten Lösung, keine Option mehr ist und sie die gesamte Westbank als Teil israelischen Staatsgebiets betrachtet.

Welche Perspektive hat der Protest?

Der Protest, der sich in erstes Linie als Widerstand gegen die Justizreform aufstellt und an dem bis zu 250.000 Menschen im ganzen Land teilnahmen, wird getragen von einer sehr breiten israelischen „Zivilgesellschaft“ und ist geprägt von liberal-zionistischen Kräften. Am Meer aus israelischen Flaggen, das auf den Großdemonstrationen in Tel Aviv/Jaffa zu sehen war, wird deutlich, wie nationalistisch dieser eigentlich ist. Dennoch scheint die neue Regierung vor den Protesten zu zittern, wenn sie mit allen Mitteln versucht, die eigentlich sehr zahmen Proteste als „Gesetzesbrecher“ zu verunglimpfen und ihnen vorwerfen, sie würden „Anarchie“ verbreiten.

Der von der neuen Rechtsregierung abgelöste ehemalige Ministerpräsident Lapid versucht, sich dabei als liberaler Gegenspieler von Netanjahu und Hüter der israelischen Demokratie zu inszenieren. Dabei war er es, der zuvor auch keinerlei Probleme damit hatte, mit Naftali Bennets kaum weniger rechtsextremen Siedlerpartei gemeinsam zu regieren. Die Massenproteste werden weiterhin ohnmächtig gegenüber den rechten Angriffen auf demokratische Rechte sein, solange sie sich von liberal-zionistischen Kräften anführen lassen. Ihre Alternative gegenüber Netanjahu sieht vielleicht so aus, dass der Oberste Gerichtshof unangetastet bleibt und die Siedlungen weniger stark ausgebaut werden. An der Realität des Besatzungsregimes, des Abbaus des israelischen Sozialstaates, der massiven Inflation, der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und der Krise des Wohnungs-, Bildungs- und Gesundheitssektors werden sie nichts verändern.

Dennoch können die Massenproteste einen Ausgangspunkt für den Aufbau von Gegenmacht bieten. Zentral dabei ist es, ob fortschrittliche Organisationen es verstehen, in diese Proteste eine unabhängige Position der israelischen und der palästinischen Arbeiter_Innenklasse zu tragen und die Führung zu übernehmen. Es muss dabei darum gehen, die soziale Frage mit der Beendigung der Besatzung zu verknüpfen. Sozialdemokratisch-stalinistische Gruppen wie „Hadash“ und autonome Antifa-Gruppen haben auf den Großdemonstrationen mit ihrem „radical bloc“ ein starkes Zeichen gesetzt. Darin fanden sich viele palästinensische Fahnen, „Palestinen Lives Matter“-Schilder als auch Banner mit der Aufschrift „There’s no democracy with apartheid,” oder “A nation that occupies another nation will never be free“. Dabei ist das Zeigen der palästinensischen Flagge seit Neustem eine durchaus heikle Angelegenheit. So hatte Ben-Gvir zuvor das Zeigen von Palästina-Flaggen auf öffentlichen Plätzen verboten, weil diese angeblich für „Terrorismus“ stünden.

Dieser Block wurde damals von anderen Demonstrant_Innen aktiv angegangen und versucht von der Demo zu drängen, jedoch konnte sich der pro-palästinensiche Block mit der Zeit etablieren und deutlich anwachsen.

Die Proteste setzen Netanjahus Regierung real unter Druck, gerade deshalb weil die Protestierenden sich überdurchschnittlich stark aus Beschäftigten zentraler Bereiche, zum Beispiel IT-Spezialist_Innen, zusammensetzen. Auch zahlreiche Kulturschaffende sowie Klein- und Mittelunternehmer_Innen unterstützen die Proteste und lehnen die Justizreform ab. Auch der israelische Gewerkschaftsbund Histadrut, der aufgrund seiner historisch stark ausgeprägten Staatstreue bisher nicht zu den Demonstrationen aufrief, droht nun damit, sich anzuschließen und seine 800.000 Mitglieder zum Protest, und eventuell zum Streik, aufzufordern.

Was braucht es um Netanjahu, Ben-Gvir und Co. Zu schlagen?

Für uns als Sozialist_Innen ist klar, dass eine Demokratie unter den Bedingungen kapitalistischer Profitmaximierung sowie ethnischer Segregation und rassistischer Ungleichbehandlung nur Heuchelei ist. Israel kann nur dann wirklich demokratisch sein, wenn es auch Palästinenser_Innen dieselben Rechte zugesteht wie jüdischen Israelis und die Produktionsmittel gemeinsam demokratisch kontrolliert werden.

Revolutionär_Innen müssen sich den Massenprotesten gegen Netanjahu anschließen und gemeinsam mit den antizionistischen Kräften vor Ort für eine unabhängige Position der Arbeiter_Innenklasse kämpfen. Ein zentraler Punkt dabei ist die Anerkennung des Rechts der Palästinenser_Innen auf nationale Unabhängigkeit. Ebenso steht ihnen auch das Recht zu, sich gegen Angriffe zu verteidigen und gegen die fortwährende Besatzung zu wehren. Wir verteidigen dieses Recht, auch wenn wir Angriffe auf Zivilpersonen, insbesondere den brutalen Anschlag auf die betenden Menschen in der Synagoge in Ost-Jerusalem, entschieden ablehnen. Die sinnlosen Angriffe von Palästinenser_Innen auf Zivilpersonen sind ein Ausdruck der Führungskrise im palästinensischen Widerstand, der den verschärften Angriffen kaum eine glaubhafte Perspektive entgegenzusetzen hat. Dies liegt an der Schwäche der palästinensischen Linken und dem historischen Verrat der Stalinist_Innen in ihren Reihen, aber auch an der verräterischen Politik der palästinensischen Autonomiebehörde, der Abwesenheit von legalen Protestmöglichkeiten und dem Siegeszug des politischen Islams in der gesamten Region. So konnten sich Hamas und Islamischer Jihad als die „entschlossenere Alternative“ präsentieren, obwohl sie beide reaktionäre Organisationen sind, die nicht im Interesse der palästinensischen Arbeiter_Innenklasse handeln.

Netanjahu, Ben-Gvir und ihre reaktionäre Bande können nur geschlagen werden, wenn sich die israelischen Arbeiter_Innen, Jugendlichen und Unterdrückten mit den palästinensischen Massen zusammenschließen. Wenn sie gemeinsam kämpfen gegen Justizreform, Besatzung und Neoliberalismus aber auch gegen die reaktionäre Politik palästinensischer Kräfte wie Hamas und Fatah. Dies würde bedeuten anzuerkennen, dass israelische und palästinensische Arbeiter_innen objektiv dieselben Interessen und Ziele haben und dass sie nur die subjektiven Ketten des Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus davon trennen. Die Geschichte hat schon oft gezeigt, dass nationale Gegensätze im gemeinsamen Kampf für gleiche Ziele verschwinden können. Unsere Perspektive ist die eines säkularen multi-ethnischen Arbeiter_Innenstaates zu kämpfen, in dem jeder Mensch unabhängig von seiner Religion und Hautfarbe in Frieden leben kann.




Streiks im ÖPNV: Für eine sozialistische Verkehrswende!

Von Yorick F., aus der REVOLUTION-Zeitung April/Mai 2023

FFF und ver.di gemeinsam im Streik

Am 3. März fand der Tag des Globalen Klimastreiks von Fridays For Future statt, der in diesem Jahr aktiv mit den Arbeitskämpfen im öffentlichen Personennahverkehr verbunden wurde.

Am selben Tag hatte die Gewerkschaft ver.di bundesweit in mehr als 250 Orten zum Streik aufgerufen. Nicht nur stand der Verkehr an diesem Tag größtenteils still, auch die Beschäftigten solidarisierten sich durch eine Teilnahme an den Demonstrationen mit den Klimaaktivist_Innen, welche im Gegenzug Streikposten besuchten. Gemeinsam unterstützten sie mit ihnen ihre Forderungen nach einem Festgeld von 500€ und einer Lohnerhöhung von 10,5% als Ausgleich für die weiterhin wütende Inflation, sowie einen massiven Ausbau des ÖPNVs. Auch mit Beschäftigten aus der Automobilindustrie wurde gestreikt, so in Zwickau wo gemeinsam mit den Beschäftigten des Automobilzulieferers GKN für ihre Tarifforderungen gestritten wurde. Das Echo auf diesen erneut aufkommenden Schulterschluss zwischen Klimabewegung und Gewerkschaften blieb nicht aus: So bezeichnete der Vorsitzende der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) Steffen Kampeter diesen als „gefährliche Grenzüberschreitung“. Wir sagen: Wenn sich prominente Vertreter_Innen des Kapitals besorgt zeigen, ist das ein gutes Zeichen! Auch dass sich Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) am Tag des Klimastreiks für einen weiteren Ausbau der Autobahn ausgesprochen hat, zeigt, dass diese Entwicklungen mehr als notwendig sind. Die Klimabewegung muss jetzt weiterhin in der notwendigen Frage der Verkehrswende zeigen, dass die ökonomische Not der Beschäftigten ihr nicht egal ist und dass die Interessen der Arbeiter_Innen auch ihre sind.

Die Rolle des Verkehrs für den Klimaschutz

Die Frage der Mobilität ist für den Kampf gegen die Zerstörung unseres Planeten eine sehr zentrale. So hat allein der individuelle Personenverkehr im Jahr 2019 fast 18% der durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe entstandener Treibhausgase verursacht. Die Frage ist zusätzlich brisant, da die Autoindustrie weltweit einer der größten Wirtschaftssektoren, in Deutschland, gemessen am Umsatz, sogar der bedeutendste ist. So gilt das Auto spätestens seit dem sog. „Wirtschaftswunder“ unter Ludwig Erhard als Symbol der deutschen Industrie und des gesellschaftlichen Fortschritt. Dass dies mit Nichten der Fall ist beweisen nicht nur die CO2-Bilanzen, sondern vor allem auch die enorme Ineffizienz des Autos. Private PKWs stehen die meiste Zeit nur herum und haben pro Insass_In einen desaströsen Kraftstoffverbrauch (etwa in Vergleich zu einem Zug/Bus etc.). Dennoch sind viele, besonders in ländlichen Regionen, unmittelbar auf das Auto angewiesen, wenn in entlegenen Regionen der Bus nur alle 2 Stunden kommt und man dann fast 5 Euro für eine Fahrt zahlt. Da ist es kein Wunder, dass in Deutschland über 48 Millionen private PKWs fahren (stand Januar 2022).

Die Verkehrswende muss antikapitalistisch sein!

Dass dieser Zustand ein Problem ist, zeigt sich auch daran, dass selbst Parteien, die mit Klimaschutz nicht einmal offiziell etwas am Hut haben, wie die CDU, das Thema Verkehrswende floskelhaft ansprechen. Dabei muss uns als RevolutionärInnen klar sein, dass diese und auch die Versprechen der Grünen nichts weiter als leere Worte sind. Spätestens seit Lützerath ist klar, dass die Interessen großer Konzerne von ihnen über den Erhalt unserer Lebensgrundlage gestellt werden. Die Verkehrswende ist für uns vor allem eine gesellschaftliche Frage: Die aktuelle Ordnung des Verkehrs ist Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse, welchen er zu dienen hat. Zwar erkennen die Herrschenden zumindest floskelhaft die Notwendigkeit einer Transformierung des Verkehrs an, werden aber nie in der Lage zu sein, diese ausreichend umzusetzen, da sich ihre Vorstellung von Umweltschutz und Nachhaltigkeit immer unter die eigenen wirtschaftlichen Interessen unterordnen muss. Deshalb muss die Mobilitätsfrage ein integraler Bestandteil unseres antikapitalistischen Kampfes sein. Die Verbindung der Klimabewegung und der Gewerkschaften ist dafür ein unbedingt notwendiger Schritt, der u.a. gemeinsam mit den Beschäftigten der Automobilindustrie, wie des ÖPNVs gegangen werden muss.

Durch die Streikbereitschaft im Öffentlichen Dienst können auch andere Beschäftigte besonders in Industrien mit traditionell recht hohen Organisierungsraten, wie etwa der Automobilindustrie, weiter für den Kampf um die Verkehrswende und damit für den Sozialismus und gegen den Klimawandel gewonnen werden. Hierfür müssen wir als RevolutionärInnen in der Klimabewegung Kämpfe weiter zusammenführen und für fortschrittliche sozialistische Positionen innerhalb der Gewerkschaften sowie der Klimabewegung einstehen, denn ihre Führung ist nicht willens, diesen Weg in seinem vollen notwendigen Ausmaß mit zu gehen. Dies müssen wir mit dem Ziel tun, gemeinsam mit Aktivist_Innen der Klimabewegung und den Beschäftigten in den Gewerkschaften des Verkehrs, sowie der Automobilindustrie, ein revolutionäres Programm aufzustellen, um gemeinsam für dieses zu kämpfen.

  • Enteignung der Verkehrsbetriebe und nachhaltige Umstrukturierung unter Kontrolle der Beschäftigten! Kostenlose Umschulungsmaßnahmen in klimaschädlichen Wirtschaftszeigen durch Organe der Arbeiter_Innenbewegung!
  • Kostenloser ÖPNV für alle!
  • Umsetzung aller Forderungen der Streikenden! Für einen massiven Ausbau des ÖPNVs, höhere Löhne und mehr Personal!



Widerstand: Aber wie?

Leonie Schmidt / Katharina Wagner, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

In den letzten Jahren haben die weltweiten Krisen immer mehr zugenommen. Seien es zum einen die Auswirkungen der Coronapandemie, Umweltzerstörung und zunehmender Klimawandel oder zum anderen der derzeit stattfindende Ukrainekrieg mit einhergehender Inflation und Energiekrise. Ursache von alle dem: der Kapitalismus. Die Kosten und Konsequenzen werden natürlich auf dem Rücken der Arbeiter:innenklasse ausgetragen. Zusätzlich kommen rechtskonservative Kräfte  in vielen Ländern an die Regierung oder rechte Bewegungen erlangen mehr Relevanz. Oftmals wollen diese Kräfte traditionelle, reaktionäre Rollenbilder vertreten und das Kapital stärken.

Die Wirtschaftskrise 2007/08 hatte bereits für einen starken Rollback gegen Frauen gesorgt und die Coronapandemie diesen zusätzlich verstärkt: erstens aufgrund einer neuen Wirtschaftskrise, welche durch die zugespitzte Lage katalysiert wurde; zweitens durch die Lockdowns, welche häusliche Gewalt verstärkten, sowie die Überlastung der Pflege, in welcher ebenfalls mehrheitlich Frauen beschäftigt sind. Hinzu kommen nun noch der seit Februar 2022 geführte Ukrainekrieg und die damit einhergehende Energiekrise, was zusammen genommen zu weltweiter Inflation und enormen Preissteigerungen geführt hat.

Auch diesmal leisten Frauen weltweit massiven Widerstand dagegen. So zum Beispiel im Iran, wo sie seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa (kurdischer Name Jina) Amini nach ihrer Verhaftung durch die „Sittenpolizei“ im September 2022 weiterhin ihren Protest unter dem Motto „Jin, Jiyan, Azadi“ (kurdisch für „Frauen, Leben, Freiheit“) gegen das religiöse, unterdrückerische Regime und die herrschende Diktatur auf die Straße tragen. Und das trotz enormer Repression, zahlreicher Verhaftungen, Folter und bereits vollstreckter Todesurteile. Mittlerweile konnten sie eine breite gesellschaftliche Unterstützung quer durch alle Altersgruppen und Geschlechter für ihren Kampf erreichen und damit enormen Druck auf das Regime ausüben.

Anlässlich des internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen am 25. November gingen ebenfalls weltweit Frauen auf die Straße, um gegen ihre Unterdrückung zu kämpfen. Eine weiterer großer Aktionstag unter dem Slogan „One Billion Rising“ fand am Valentinstag statt, an dem sich weltweit rund 1 Milliarde Frauen an dem Flashmob beteiligten, um gegen Gewalt an Frauen und für Gleichberechtigung einzutreten.

Darüber hinaus gab es in den letzten Jahren immer wieder große Proteste: Ob nun im Rahmen der letzten Sommer stattfindenden Verschärfungen des Abtreibungsrechts in den USA oder anlässlich des Austritts der Türkei aus der Istanbuler Konvention zum Schutz von Frauen im Juli 2021  – überall auf der Welt demonstrierten Millionen Frauen für ihre Rechte.

Des Weiteren spielen Frauen auch im Kampf gegen den derzeitigen Ukrainekrieg eine zentrale Rolle. So organisieren sie in Russland beispielsweise innerhalb der Bewegung „feministischer Widerstand gegen den Krieg“ (Feminist Anti-War Resistance; FAR) vielfältige Proteste gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine.

Was all diese feministischen Proteste eint, ist, dass sie meist (spontan) um aktuelle  Vorfälle entstehen und spezifische Forderungen aufstellen. Sie werden allerdings meist nicht mit anderen bestehenden Bewegungen wie z. B. der Klimabewegung oder Kämpfen gegen Preissteigerungen und Inflation koordiniert. Daher bleiben sie häufig national isoliert und stark hinter ihren Mobilisierungsmöglichkeiten zurück.

Was brauchen wir?

Für eine internationale, erfolgreiche Frauenbewegung müssen wir anerkennen, dass der Kampf um Frauenbefreiung (und die Befreiung anderer geschlechtlich Unterdrückter) eng mit dem gegen den Kapitalismus verknüpft sein muss, denn die Frauenunterdrückung wurzelt in der Klassengesellschaft und ihre materiellen Ursachen müssen abgeschafft werden, um diese selber vollständig verschwinden zu lassen.

Einen Fokus stellt dabei die Reproduktionsarbeit in der Arbeiter:innenfamilie dar, in welcher die Ware Arbeitskraft (re)produziert wird, also durch Hausarbeit, Erziehung, Carearbeit etc. Diese ist  wichtig für den Fortbestand des Kapitalismus und wird vornehmlich von Frauen ausgeführt. Es ist dabei wesentlich, deren Vergesellschaftung und gleiche Verteilung auf alle selbst als Teil des Klassenkampfes zu begreifen, als Kampf der gesamten Arbeiter:innenklasse.

Entgegen den bürgerlichen Vorstellungen einer alle Klassen umfassenden Frauenbewegung muss berücksichtigt werden, dass es auch unter Frauen gegensätzliche Klasseninteressen gibt und diese in einer solchen Bewegung nicht einfach „ausgeglichen“ werden können. So verfolgen Frauen des (höheren) Kleinbürgertums und der Bourgeoisie andere Interessen, wie bspw. Frauenquoten und Plätze in der Chefetage, während das für proletarische Frauen nicht relevant ist. Während letztere um existenzsichernde und gleiche Löhne kämpfen müssen, wollen bürgerliche „Schwestern“ und jene aus den gehobenen Mittelklassen diese möglichst gering halten, um die Profite und Einkommen ihrer eigenen Klasse zu sichern.

Ähnlich wie kleinbürgerliche Ideologien erkennen sie den engen Zusammenhang von Kapitalismus und Privateigentum mit der Frauenunterdrückung nicht, von der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ganz zu schweigen. Sie erblicken vielmehr in deren ideologischen Ausdrucksformen (Stereotypen, Geschlechterrollen, sexuellen Vorurteilen, Heterosexismus … ) die Ursache der Unterdrückung. Ihre Strategie erschöpft sich in verschiedenen Formen des liberalen, radikalen oder reformistischen Feminismus, was ihre relativ privilegierte Stellung als Kleineigentümer:innen oder Akademiker:innen (Bildungsbürger:innen) gegenüber der Masse der werktätigen Frauen widerspiegelt. Dementsprechend ist eine klare antikapitalistische Ausrichtung relevant sowie die Verknüpfung von Kämpfen der Frauenbewegung und der Arbeiter:innenklasse.

Angesichts des globalen Rechtsrucks ist es dabei unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbeziehung in den Produktionsprozess!

Auch wenn gefeiert worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter:innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär:innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zu dem des Mannes.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner:innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär:innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und der politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist diese Forderung für Marxist:innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine essentielle Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype – beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Dies kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung!

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da das Patriarchat und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße Cisfrau“ geht. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrückten in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden. So bspw. mit der Organisierung von Streiks im öffentlichen Dienst, der Umweltbewegung oder der Bewegung gegen Rassismus. Beispielsweise könnte auch der gemeinsame Kampf gegen Inflation und Preissteigerungen oder den Ukrainekrieg relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung ist es revolutionären Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist:innen oder kleinbürgerlichen Feminist:innen führen.

Entscheidend ist jedoch, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär:innen um politische Hegemonie und Führung kämpfen.

Eng damit verbunden damit ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Eine Bewegung braucht nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in aktuellen feministischen Bewegungen und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen.  Wir müssen uns auch in aktuelle Tarifauseinandersetzungen beispielsweise im öffentlichen Dienst einschalten. Auch die Unterstützung von Klimaaktivist:innen oder Aktionen zum Kampf gegen Inflation und Preissteigerungen sind eine wichtige Aufgabe von Revolutionärinnen. Zudem müssen wir unter jenen Kräften, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen ansprechen, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter:inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




Tag X im Heibo wurde ausgerufen, Solidarität mit der Waldbesetzung!

von Jona Everdeen, Februar 2023

Nachdem bereits kurz nach Lützerath mit dem Fechenheimer Wald die nächste Besetzung geräumt wurde, begann nun nach wochenlanger Unsicherheit auch im Heibo die Räumung, Hundertschaften stürmten in den Morgenstunden den Wald und umstellten die Baumhäuser. Einige Menschen wurden schon Bi- und Tripods geräumt und die Polizei ist dabei gewohnt brutal vorgegangen! Für heute scheint die Räumung aber erstmal vorbei und es ist noch nicht zu spät, dorthin zu fahren!

Heibo, was ist das überhaupt und wo liegt das?

Als Heibo (Heidebogen) wird ein besetztes Waldstück bezeichnet, das Teil des erweiterten Einzugsgebiets von Dresden ist. Dort sollen zunächst 5 Hektar eines ökologisch wertvollen Wald- und Moorgebiets zerstört werden, um den Kiessandtagebau Laußnitz I zu erweitern. Der hier abgebaute Kies soll dann vor allem für die Herstellung von CO2-intensivem Zement genutzt werden, welcher als Baustoff genutzt wird zum Beispiel auch für Autobahnen, für die der Danni und der Fecher in Hessen zerstört wurden.

Wozu braucht es Zement?

Die Herstellung von Zement ist eine der häufig neben Kohlestrom, Kerosin und Erdgas vergessenen Klimakiller, ist jedoch für ungefähr 10% der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Der Bauboom der letzten Jahre sorgte noch einmal dafür, dass sich die Nachfrage nach Zement enorm verstärkte, wobei die in Folge der Inflationskrise stark gestiegenen Baupreise und die nun zu erwartende Rezession diesen Trend eventuell absenken oder gar umkehren könnten. Zur Wahrheit gehört dabei sicherlich auch, dass eine gewisse Menge an Zement notwendig ist um für die Gesellschaft relevante Bauten, zum Beispiel von mehr Wohnungen, vorzunehmen. Allerdings ist Zement bei weitem nicht so unersetzlich wie es die Kies- und Zementindustrie, ein ebenfalls häufig vergessenen, aber ziemlich relevanter Zweig der deutschen industriellen Großkapitals, gerne darstellt.

Was sind Alternativen und wie können sie angewandt werden?

Zunächst erstmal durch Einsparen: Neubau von Straßen ist in Deutschland vermeidbar und für Schienen braucht man kaum Zement. Außerdem durch Renovierung statt Abriss bei vorhandenen Gebäuden kann den Bedarf senken. Für den benötigten Neubau ist es jedoch möglich, alternative Baustoffe zu verwenden, die durchaus schon erforscht und erprobt sind, jedoch bisher einfach nicht profitabel oder zumindest deutlich weniger profitabel als der übliche Beton sind. Und da haben wir auch schon das Problem: Den Kapitalismus. In diesem geht es nämlich nicht darum, welche Bauweisen am nachhaltigsten sind, am wenigsten Ressourcen verbrauchen und CO2 ausstoßen, es geht nicht darum welche Form des Personenverkehrs die sinnvollste ist und wie man Gebäude am effizientesten und nachhaltigsten nutzen kann, sondern wie Großkonzerne am schnellsten möglichst viel Profit erwirtschaften und wie das nationale Kapital am schnellsten seinen Wachstum voran treiben kann.

Doch der Kapitalismus ist, anders als die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen, kein Naturgesetz. Es ist möglich Bau, Verkehr, Energiegewinnung und Co. auf eine andere Art und Weise zu gestalten, mittels einer Planwirtschaft, die von den Arbeiter_Innen der Betriebe in Räten kontrolliert wird und deren Ziel nicht Profit ist, sondern die möglichst effiziente und somit auch ressourcenschonende Erfüllung der Bedürfnisse der Menschen, die sich in den Räten äußern. In dieser neuen Form der Gesellschaft würde dann kein ökologisch wichtiges Waldmoorgebiet für die Zementherstellung gerodet werden, es würden nicht immer mehr Autobahnen als Schneisen der Zerstörung durch die Landschaft gezogen werden sondern stattdessen das Schienennetz massiv ausgebaut werden um effizient massenhaft Menschen zu befördern statt nur einzelne in übergroßen mobilisierten Blechkisten. Es würden erneuerbare Energien in einem Maße ausgebaut, und Energie so weit wie möglich eingespart werden, dass es weder Kohle, Öl und Gas noch Atomenergie braucht um die Versorgung alles Menschen zu sichern.

Die Taktik der Waldbesetzung

Wir sind solidarisch mit den Aktivist_Innen, die im Heibo und in anderen Waldbesetzungen ausharren, um für Klimagerechtigkeit zu kämpfen und bewundern ihren Mut und ihre Entschlossenheit dem fossilen Kapitalismus zu trotzen. Das schafft Aufmerksamkeit und Beziehung und kann der Keim für eine größere Bewegung sein! Wir denken jedoch auch, dass Besetzungen alleine nicht ausreichen werden. Denn Besetzungen, auch die mutigsten, stärksten und entschlossensten, werden immer geräumt werden, wenn nicht der Druck von außen hoch genug ist. Was es dafür braucht, ist eine kämpferische Massenbewegung, die sich aus der Basis heraus organisiert, aus den Schulen, Unis und Betrieben, und die den Streik als ihr zentrales Kampfmittel nutzt: Wenn die Arbeiter_Innen im Kiestagebau und der Zementproduktion streiken, die Bauarbeiter_Innen, die die Autobahnen bauen sollen und so weiter, wie soll dann noch die Rodung von Wäldern und die Zerstörung von Häusern durchgesetzt werden? Wenn wir als Schüler_Innen und Studierende unbefristet mitstreiken und protestieren, kann das den Druck massiv erhöhen!

Rechte Angriffe auf die Waldbesetzung

In und um den Heibo kommt es immer wieder zu Angriffen von Rechten auf die Aktivist_Innen! Volle Solidarität an euch und vor allem an die unmittelbar Betroffenen der Gewalt! Erst auf der Demo für den Erhalt des Heibo letzte Woche Samstag kam es parallel zu einer Gegendemonstration von 15-20 Jungfaschos, vermutlich angeführt durch den Ex-Dortmunder Michael Brück. Zuvor war er bereits immer wieder zu Angriffen und Bedrohungen im Wald, sowie zur gezielten Zerstörung der Infrastruktur am Boden gekommen. Wie bereits im Moni in Sachsen-Anhalt zeigen die braunen Banden, die am Stammtisch gerne von „Heimatschutz“ und dem „guten deutschen Wald“ schwadronieren, dass sie nichts anderes sind als eine erzreaktionäre Schlägertruppe, die die Interessen des Großkapitals mit Gewalt durchzusetzen gesucht und das mit menschenfeindlicher Ideologie schönredet.

Wir fordern:

  • Einen sofortigen Räumungsstopp im Heibo!
  • Den Stopp sämtlicher Autobahnprojekte in ganz Deutschland, dafür massive Investitionen in das Schienennetz, bessere Bezahlung und Einstellung von neuem Personal im Öffentlichen Verkehr inklusive kostenlose Nutzung!
  • Die Ersetzung von Zement durch weniger CO2-intensive Baustoffe wo immer möglich und die Forschung an diesen auf Basis des gesellschaftlichen Nutzens statt der Profiterwartung!
  • Die Enteignung sämtlicher Bergbau-, Bau- und Energieunternehmen unter Kontrolle der dort beschäftigten Arbeiter_Innen!
  • Den Erhalt sämtlicher wertvoller Naturräume sofern irgendwie möglich, sowie, sollte doch vereinzelt gerodet werden müssen, die Schaffung von ökologisch gleichwertigen Ersatzflächen!
  • Eine klassenkämpferische Klimabewegung die aus ihren Erfolgen aber auch Fehlern der Vergangenheit lernt und ihren Fokus auf die Organisation der Basis in Schulen, Unis und Betrieben setzt und dessen zentrales Kampfmittel der (auch militant geführte) Streik ist!
  • Selbstorganisierte Antifaschistische Widerstandskomitees zur Verteidigung gegen rechte Angriffe!



Frankreich: 2 Millionen auf den Straßen – was ist der nächste Schritt?

Von Marc Lassalle, einem französischen Genossen der LFI. Der Text ist zuerst in der Neuen Internationalen der Gruppe Arbeiter:innenmacht erschienen und ist noch auf dem Stand vor dem letzten Aktionstag am Dienstag, an dem wieder Millionen auf der Straße waren. Aber die Perspektive ist noch aktuell.

Die Zahlen sprechen für sich. Mehr als zwei Millionen Arbeiter:innen demonstrierten am 19. Januar gegen den jüngsten Versuch von Präsident Emmanuel Macron, das Rentensystem zu reformieren. Ein Zeichen für den weit verbreiteten Widerstand unter den Lohnabhängigen war eine seltene Einheitsfront, bei der alle großen Gewerkschaftsverbände streikten und so den Verkehr, die Energieversorgung und die Schulen zum Stillstand brachten.

Heftiger Angriff

Die Reform ist ein schwerer Angriff auf die Arbeiter:innenklasse. Die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre wird sich unverhältnismäßig stark auf Industriearbeiter:innen und weniger qualifizierte Arbeitskräfte auswirken, die bereits eine kürzere Lebenserwartung und weniger Rentenjahre haben.

Nachdem er einen früheren Versuch im Jahr 2019 wegen der Covid-Pandemie aufgegeben hatte, hat Macron beim aktuellen Projekt nicht um den heißen Brei herumgeredet: Die Beschäftigten müssen mehr arbeiten, um die verschiedenen Maßnahmen der Regierung zur Stützung der Wirtschaft zu bezahlen, sowohl während der Pandemie als auch in letzter Zeit wegen der steigenden Energiekosten.

Die Regierung argumentiert, dass die Reform notwendig ist, um ein prognostiziertes Defizit von 14 Milliarden Euro bis zum Ende des Jahrzehnts zu schließen. Aber während der Pandemie hat der „Präsident der Reichen“ nicht zehn, sondern hunderte von Milliarden Euro in die Stützung der kapitalistischen Wirtschaft gesteckt, und niemand hat das vergessen.

Während Macron mit einer Schwächung der Kampfbereitschaft der Arbeiter:innenklasse rechnete, hat der Aktionstag vom 19. Januar ihn und seine bürgerlichen Expert:innen eines Besseren belehrt. Selbst die gemäßigte Gewerkschaft CFDT, die die Reformen der ersten Regierung Macron zum Arbeitsschutz (Code du Travail) unterstützt hatte, verurteilte sie als „eine der brutalsten Rentenreformen seit 30 Jahren“. Philippe Martinez, Vorsitzender der linkeren Gewerkschaft CGT, sagte, der Plan bündele „die Unzufriedenheit aller“ mit der Regierung. Umfragen zufolge sind etwa 9 von 10 Arbeiter:innen gegen die Vorschläge.

Macron begründete seine beiden Präsidentschaftswahlen mit dem Versprechen, das zu tun, was früheren Regierungen in den letzten 30 Jahren nicht gelungen ist: den Widerstand der Gewerkschaften gegen die Rentenreform zu brechen. Der Präsident, dessen Partei der bürgerlichen Mitte La République en Marche (Die Republik im Vorwärtsgang) bei den letztjährigen Parlamentswahlen ihre Mehrheit im französischen Parlament verloren hat, ist auf die Stimmen der rechten Republikanischen Partei  angewiesen. Die Überreste des Gaullismus werden sich jedoch nicht so leicht dazu überreden lassen, die politischen Kosten für Macrons Reformvorhaben zu übernehmen.

Gelingt es ihm nicht, eine parlamentarische Mehrheit zusammenzuschustern, könnte der Präsident auf Notstandsgesetze zurückgreifen, die es ihm erlauben, das Parlament zu überstimmen, auch auf die Gefahr hin, Neuwahlen zu erzwingen. Macron hat die Zukunft seiner Regierung von der Verabschiedung dieser Reform abhängig gemacht. Der letzte Versuch im Jahr 2019 löste die längste Streikperiode seit dem Generalstreik von 1968 aus. Alle Seiten spielen um die höchsten Einsätze.

Entscheidender Kampf

Millionen von Arbeiter:innen bereiten sich jetzt auf einen entscheidenden Kampf mit der Regierung vor. Trotz des großen Erfolgs des ersten Tages muss die Arbeiter:innenklasse ernsthafte Schwächen in ihrem eigenen Lager überwinden. Während die Parole eines Generalstreiks auf den Demonstrationen weithin aufgegriffen wurde, steht sie nicht auf der Tagesordnung der Gewerkschaftsführungen – im Gegenteil. Sie drohen lediglich mit einer langen Kampagne und haben für den 31. Januar einen weiteren Aktionstag mit Streiks und Demonstrationen angekündigt.

Die Gewerkschaftsspitzen verfolgen ihre übliche, gefährliche und in der Regel tödliche Taktik gelegentlicher „Aktionstage“ mit Pausen dazwischen, die der Regierung nur zum Vorteil gereichen, die sie nutzen wird, um einen Deal mit der CFDT zu schließen, das Bündnis der Gewerkschaftsverbände zu schwächen und schließlich zu brechen.

Die beiden großen linken Parteien sind gegen die Reform, aber für die Arbeiter:innenschaft unzuverlässige Verbündete. Die Überbleibsel der Sozialistischen Partei haben die letzte Rentenreform 2014 eingeführt. Jean-Luc Mélenchon, Parteivorsitzender von France Insoumise (Unbeugsames Frankreich), fordert eine Senkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre, ist aber mehr auf die parlamentarische Bühne konzentrierte, als einen ernsthaften sozialen Widerstand in den Betrieben und auf den Straßen aufzubauen. Die Schwäche der „Revolutionär:innen“ lässt sich an der prekären Lage der NPA (Neue Antikapitalistische Partei) ablesen. Nach einer Spaltung im vergangenen Dezember gibt es derzeit zwei NPAs mit demselben Namen, wenn auch sehr unterschiedlichen politischen Einschätzungen und Ausrichtungen. Keine von ihnen ruft zu einem Generalstreik auf.

Welche Strategie, welche Kampfmethoden?

Die Frage, die sich allen Lohnabhängigen und Jugendlichen stellt, ist, welche Organisation und Strategie erforderlich ist, um diesen Angriff abzuwehren. Diese Aufgaben müssen in den betrieblichen Vollversammlungen und in Arbeiter:innenausschüssen behandelt werden. Macrons Regierung steht und fällt mit der Frage, ob er diese Reform verabschiedet – aber unsere Bewegung muss die Lohnabhängigen für eine umfassende Antwort auf die Krise mobilisieren: nicht nur die Abschaffung der Rentenreform, sondern den Kampf für Lohn- und Rentenerhöhungen, einen massiven Plan für Investitionen in den öffentlichen Sektor, insbesondere in Schulen und Krankenhäuser, mehr hochwertigen bezahlbaren Wohnraum, einen speziellen Plan für junge Menschen und die Aufhebung der rassistischen Anti-Migrationsgesetze.

Die Beschäftigten der Ölraffinerien planen bereits, ihre Streiks Ende des Monats auszuweiten. Diesem Beispiel sollten wir folgen, aber angesichts der Tatsache, dass sich die Gewerkschaftsführer:innen der Verantwortung entziehen, indem sie die Entscheidung den verschiedenen Sektoren überlassen, müssen wir eine alternative Strategie und Führung im Hier und Jetzt vorbereiten.

Der 31. Januar muss zum Ausgangspunkt für eine Reihe eskalierender Streiks werden für die Bildung von Aktionsräten der Arbeiter:innenklasse zur Koordinierung und Kontrolle der sozialen Bewegung, die in einem Generalstreik gipfeln, um Macron und den Arbeit„geber“:innen eine umfassende Niederlage zuzufügen und den Weg für eine Arbeiter:innenregierung zu ebnen, die mit dem kapitalistischen System in seiner Gesamtheit abrechnen kann.

Eine schwere Niederlage Macrons würde den Weg weisen, den viele andere europäische Länder einschlagen sollten.




FASCHIST_INNEN BLOCKIEREN: Gemeinsam gegen die Naziaufmärsche in Dresden!

Aus: Widerworte #2, Januar 2023 – Bild von Twitter @tmoeritz

Dieses Jahr finden am 10./11./12./13.2. wieder die alljährlichen rechtsextremen Proteste in Dresden statt, die das Thema der Bombardierung Dresdens im 2. Weltkrieg für sich instrumentalisieren. Hierbei betreiben die Nazis offenen Geschichtsrevisionismus und nennen die Bombardierung Dresdens „Den Bombenholocaust“, der 250.000 Opfer gefordert haben soll, so zumindest laut dem Fronttransparent vom letzten Jahr. Dabei ist die Bombardierung Dresdens ein Ereignis, das tatsächlich stattgefunden hat: Im Jahre 1945, am Ende des 2. Weltkrieges bombardierten britische Flugzeuge in der Nacht zum 13. Februar Dresden. Über Jahre hinweg gab es verschiedenste Schätzungen zu Opferzahlen mit den unterschiedlichsten Ergebnissen, doch laut Ermittlungen starben bei der Bombardierung etwa 22.700 – 25.000 Menschen.

Diese Fakten interessieren die Nazis aber nicht, sie haben in der Bombardierung Dresdens ein Ereignis gefunden, das man mit verdrehten Fakten für sich instrumentalisieren & emotionalisieren kann. Denn das, was sie machen, das Sprechen von einem angeblichen „Bombenholocaust“, relativiert schlicht und ergreifend den Holocaust, indem es einen übertriebenen Opfermythos erzeugt, der die Bombardierung Dresdens mit dem Holocaust gleichsetzt.

Doch mit diesem Thema haben es die Nazis in den letzten Jahrzehnten geschafft, rund um den 13.2. viele Rechte auf ihre Demo zu mobilisieren. Begonnen hat diese Tradition 2000 mit einem durch eine rechtsextreme Organisation initiierten „Trauermarsch“. Lagen die Teilnehmer_Innenzahlen 2000 noch bei knapp 500 stiegen sie bis zu ihrem Höhepunkt im Jahre 2005 auf 6500 Teilnehmer_Innen an und stellten den zur damaligen Zeit größten Neonazi-Aufmarsch in Europa dar. In den darauffolgenden Jahren verkleinerte sich die Zahl der rechten Demonstranten, auch aufgrund des Gegenprotestes, der immer präsenter wurde. Vor allem während der Pandemie sanken die Teilnehmer_Innenzahlen immer mehr, sodass auf rechter Seite im letzten Jahr lediglich 400-750 Menschen mobilisiert werden konnten.

Warum betrifft uns der Rechtsruck als Jugendliche und Schüler_Innen?

Dass es seit den späten 00ern in ganz Europa einen starken Rechtsruck gibt und dass dieser in den letzten Jahren noch mal einen gewaltigen Aufschwung erlebt hat, ist kein Zufall. Das lag an der Finanzkrise 2008, die nie wirklich aufgelöst wurde und dem erneuten Zusammenbrechen der Wirtschaft im Zuge der Corona Pandemie. In Zeiten wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Unsicherheit wie Kriegen oder Krisen des Kapitalismus beginnen mehr und mehr Menschen am „Weiter wie bisher!“, am kapitalistischen Status Quo zu zweifeln.

Leider führen diese Zweifel nicht bei allen dazu, das gesamte System zu hinterfragen und sich für eine komplett neue gerechtere Gesellschaftsordnung einzusetzen. Bei vielen anderen ist der Glaube an den Kapitalismus als Naturgesetz so tief verankert, dass sie nach anderen Erklärungen suchen. Für sie leben wir in einem fundamental gerechten System. Wenn es ihnen und ihrem Umfeld beginnt, schlechter zu gehen, dann liegt das nicht am System selbst, sondern daran, dass es missbraucht wird. An einzelnen korrupten Politiker_Innen, einer großen Verschwörung, ‚Eliten‘, Schattenregierungen und „Globalisten“ (womit übrigens fast immer Jüdinnen und Juden gemeint sind). Für sie müssen einfach die richtigen starken Männer an die Macht, die all die Verschwörer_Innen verjagen und wieder Frieden und Wohlstand ins Reich einkehren lassen.

Und die, die gerne solche starken Männer wären, wissen, wie sie die Zeiten der Unsicherheit nutzen können. Indem sie weiter Angst und Hass schüren, um Menschen zu sich zu treiben.

Und sollten sie das tatsächlich schaffen, sieht es für uns Jugendliche finster aus. Was noch mehr und offener Rassismus für nichtweiße Jugendliche bedeutet, muss man gar nicht erst ausführen, aber auch darüber hinaus ist mit Einigem zu rechnen. So greifen Rechte auch massiv in jedes einzelne Leben ein. Sie propagieren die bürgerliche Kleinfamilie mit der fürsorglichen und aufopfernden Mutter, dem strengen, gerechten Vater, der als allmächtiger Patriarch über die Familie verfügt und ihren braven weißen Kindern. Platz für abweichende Geschlechtsidentitäten, Sexualitäten oder schlicht und einfach Jugendliche mit einem eigenen Willen ist hier nicht.

Die finanzielle und rechtliche Abhängigkeit Jugendlicher von den Eltern und von Frauen gegenüber ihren Ehemännern ist für sie begrüßenswert und alles was sie schmälern könnte, lehnen sie ab. Sie versuchen uns Rollenbilder aufzuzwingen und all die bereits erkämpften Fortschritte wieder einzustampfen.

Auch die Krise selbst, für die die Rechten keine Lösung haben, trifft uns als Jugendliche besonders hart. Bildung ist das Erste, an dem gespart wird und auch die Jugendarbeitslosigkeit liegt meist noch deutlich über dem Durchschnitt. Azubis und studentische Hilfskräfte sind die ersten, die gefeuert werden und dadurch auch oft gezwungen, zu ihren Eltern zurückzuziehen oder gar nicht erst auszuziehen. So können sie sich nicht frei entfalten und ins selbständige Leben übergehen. All das sind Konsequenzen von Krise, Kapitalismus und Rechtsruck und sie treffen uns alle. Deswegen müssen wir uns auch alle kollektiv dagegen wehren!

Geht auf die Gegenkundgebungen und beteiligt euch an Aktionen rund um den 13.2., um den Nazis zu zeigen, dass wir ihnen ihren Opfermythos nicht abnehmen. Zur Vorbereitung darauf findet morgen (4.2.) um 16 Uhr ein Demotraining in Dresden (Zentralwerk, Riesaer Str. 32) von uns statt!

Aber lasst es nicht dabei! Wir müssen auch selbst Perspektiven aufzeigen und eine internationale Bewegung als Antwort auf die Krise aufbauen. Wir müssen uns organisieren, an Schulen, Unis und Betrieben. Antirassistische Komitees gründen, uns kollektiv selbst schützen und Nazis keinen Raum mehr lassen, auf der Straße oder anderswo. Wir müssen ankämpfen gegen Sparmaßnahmen in der Bildung und im Sozialen. Nicht wir sollten die Krise zahlen, sondern die, die an ihr noch reicher geworden sind! Gegen sexuelle Unterdrückung und für die körperliche Selbstbestimmung aller! Gegen aufgezwungene Rollenbilder, unausweichliche Ausbeutung und unfreiwillige Abhängigkeit von einer Familie, die man sich nicht selbst ausgesucht hat!




Erneute Eskalation im Nahost-Konflikt? 6 Fragen – 6 Antworten!

Von Lia Malinovski, Februar 2023

Warum ist dieses Framing problematisch?

In den letzten Tagen hat sich die Gewaltspirale zwischen der israelischen Regierung und palästinensischen Gruppen wieder erneut heftig in Gang gesetzt. In den bürgerlichen Medien ist dabei von einer „Eskalation im Nahost-Konflikt“ die Rede. Dabei wird einerseits in guter alter kolonial-eurozentristischer Manier vom „Nahen Osten“ gesprochen (, denn ob das Ganze nah ist und im Osten liegt, hängt natürlich vom Standpunkt der Betrachterin ab). Auch die Rede von einer Eskalation trifft den Punkt nicht ganz, denn die jahrzehntelange Besatzung, Entrechtung und Unterdrückung der Palästinenser_innen stellen für sich genommen schon ein ziemlich eskalatives Level in einem Konflikt zwischen Bevölkerungsgruppen dar. Erst dann von Eskalation zu sprechen, wenn es zu Gewaltausbrüchen kommt, suggeriert als wäre vorher eigentlich alles tutti bzw. nicht ganz so schlimm gewesen. Doch die Palästinenser_innen spüren die Gewalt des Besatzungsregimes Tag für Tag.

Was genau ist in den letzten Tagen passiert?

Ausgangspunkt der Gewaltspirale war ein Angriff des israelischen Militärs auf ein palästinensisches Geflüchtetencamp in Jenin (Westbank). Die Soldat_innen richteten dabei ein Blutbad an, bei dem 9 Menschen getötet wurden. Weitere 20 Palästinenser_innen wurden bereits in diesem noch sehr jungen Jahr durch das israelische Militär getötet. Die im Gazastreifen regierende Hamas beantwortete das Massaker mit Raketenangriffen auf den Süden Israels, die jedoch keinen nennenswerten Schaden anrichteten. Das israelische Militär flog daraufhin Luftangriffe auf Stellungen der Hamas. Im Zuge dessen kam es auch zu Angriffen auf zivile Opfer in israelischen Siedlungen im palästinensischen Teil Jerusalems. Dabei wurden bei einem Anschlag auf eine Synagoge 7 Israelis brutal ermordet.

Was ist der Grund für die Angriffe?

Der Grund für das verschärfte Vorgehen des israelischen Militärs ist wohl die neue extrem-rechte Koalitionsregierung, die die rechteste ist, die es jemals in Israel gab. An ihrer Spitze steht der altbekannte Benjamin Netanjahu. Minister für Nationale „Sicherheit“ ist der rechtsradikale Siedler Itamar Ben-Gvir. Dieser sticht unter den vielen rassistischen Äußerungen von Mitgliedern der neuen Regierung zusätzlich dadurch negativ hervor, dass er die Massaker israelischer Siedlerterroristen wie Baruch Goldstein legitimiert, „illoyale“ Palästinenser_innen ausweisen will und auch schon persönlich angesichts palästinensischer Proteste die Pistole gezückt hat. Mit Blick auf das relativ knappe Wahlergebnis versucht sich die neue rechtsextreme Regierung nun durch ein besonders hartes Vorgehen und weitere Einschnitte in die Rechte der Palästinenser_innen zu profilieren. Dabei steht sie stark unter Druck. Mit der sich verschärfenden Wirtschaftskrise geht auch eine verstärkte Verelendung der Arbeiter_Innenklasse in Israel einher, die sich besonders in Reallohnverlusten, massiver Inflation, Entlassungen und schlechteren Arbeitsbedingungen äußert. Die israelische Regierung versucht jetzt durch nationalistische Propaganda und der Erweiterung des israelischen Staatsgebiets dieser Krise durch kurzfristige Scheinlösungen zu begegnen und die israelische Arbeiter_Innenklasse mittels Nationalismus an die herrschende Klasse zu binden und damit ihre Schlagkraft zu verringern.

Gibt es auch auf israelischer Seite Widerstand dagegen?

Dass die Palästinenser_innen das brutale Vorgehen der neuen Regierung nicht widerstandslos über sich ergehen lassen, ist nur allzu verständlich. Doch auch in Israel gibt es viele kritische Stimmen. So haben wir zahlreiche Massendemonstrationen in Israel gesehen, die gegen die neue Regierung auf die Straße gegangen sind. Zwar bieten diese Demonstrationen insgesamt keine sozialistische Perspektive und formulieren in ihrer Gesamtheit keine grundsätzliche Kritik am israelischen Staat oder dem Zionismus, sind jedoch Ausdruck der Unzufriedenheit mit dieser extrem rechten Regierung. Sie können einen Ausgangspunkt für Widerstand in der israelischen Bevölkerung bieten, wenn fortschrittliche Organisationen es verstehen, in diese Proteste die Position der israelischen und der palästinischen Arbeiter_innenklasse zu tragen und die Führung zu übernehmen. Es muss dabei darum gehen, die soziale Frage mit der Beendigung der Besatzung zu verknüpfen. Kommunistische Gruppen wie „Hadash“ und Antifa-Gruppen haben auf der über 100 000 Teilnehmende zählenden Großdemonstration in Tel Aviv in der vergangenen Woche mit ihrem „radical bloc“ ein starkes Zeichen gesetzt. Darin fanden sich viele palästinensische Fahnen, „Palestinen Lives Matter“-Schilder als auch Banner mit der Aufschrift „There’s no democracy with apartheid,” oder “A nation that occupies another nation will never be free“.

Wie ist die Reaktion der Palästinenser_innen zu bewerten?

Den Palästinenser_innen steht das Recht auf nationale Selbstbestimmung zu und auch, sich gegen Angriffe zu verteidigen und gegen die fortwährende Besatzung zu wehren. Wir verteidigen dieses Recht, auch wenn wir Angriffe auf Zivilpersonen, insbesondere den brutalen Anschlag auf die betenden Menschen in der Synagoge in Ost-Jerusalem, entschieden ablehnen. Dass es angesichts der israelischen Besatzungspolitik zu solchen Anschlägen kommt und eine auf die Arbeiter_innenklasse gestützte Taktik im palästinensischen Widerstand fehlt, ist auf die Schwäche der palästinensischen Linken, den Verrat der Stalinist_innen in ihren Reihen, die verräterische Politik der palästinensischen Autonomiebehörde, die Abwesenheit von legalen Protestmöglichkeiten und den Siegeszug des politischen Islams in der gesamten Region zurückzuführen. So konnten sich Hamas und Islamischer Jihad als die „entschlossenere Alternative“ präsentieren. Dabei sind beide reaktionäre Organisationen, die nicht im Interesse der palästinensischen Arbeiter_Innenklasse handeln. Sie sind reaktionär, da sie in ihren Taktiken gezielt Jüd_innen angreifen, anstatt die israelische Staatsmaschinerie zum Ziel zu erklären und für Verbesserungen zu kämpfen. In ihrer Ideologie stellen sie sich gegen Jüd_innen, aber auch gegen andere Ethnien (auch innerhalb der palästinensischen Bevölkerung) und vor allem gegen queere Menschen und Frauen, deren Unterdrückung sie aktiv befürworten. Ihre Taktik dient dazu, sich als Führungskraft des Befreiungskampfes zu inszenieren, indem sie hin und wieder mal Raketen nach Israel schicken. Sie tun dies, da sie davon profitieren, wenn sie sich als Führung ausgeben können, wenn sie Israel symbolisch angreifen und die Reaktion propagandistisch ausschlachten können. Damit machen sie es der israelischen Führung auch leicht, die Palästinenser_innen zum kollektiven Feind zu erklären. Mit ihren Aktionen verfolgen Hamas und Islamischer Jihad keine Strategie zur Befreiung Palästinas, sondern eine Strategie zur Erhaltung ihrer Macht, hinter der eine Klasse aus Klerikalen und Bürokraten steht.

Die palästinensische Bourgeoisie wird dagegen vor allem von der konservativen Fatah vertreten, welche die Regierungsgeschäfte der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in der Westbank lenkt. Diese ist eine Institution, die aufgrund der sehr schwachen palästinensischen Wirtschaft nur durch ausländische Entwicklungshilfe aus der EU und den USA am Leben erhalten werden kann. Da das Hauptinteresse der EU und der USA die Sicherheit ihres Verbündeten Israel ist, binden sie ihre Zahlungen daran, dass die PA für „Ruhe und Ordnung“ in den palästinensischen Gebieten sorgt. Ein großer Teil der Zahlungen fließt deshalb ausschließlich in den palästinensischen Militär- und Polizeiapparat. Die PA unter Führung der konservativen Partei Fatah wird also dafür bezahlt, die palästinensische Bevölkerung ruhig zu halten und Aufstände gewaltsam zu unterdrücken. Diese Funktion führt sie im Rahmen einer „Sicherheitskooperation“ mit dem israelischen Militär aus. Die PA übernimmt somit die Rolle einer Verwalterin der Besatzung und entwickelte sich in der Vergangenheit zu einem autoritären Polizeistaat, der die Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit unterdrückt und die israelische Besatzung zementiert. Diese „Sicherheitskooperation“ wurde nun als Reaktion auf das Blutbad in Jenin einseitig durch die PA aufgekündigt. Dies ist jedoch nicht als eine Linksentwicklung der Fatah zu verstehen, sondern vielmehr als den verzweifelten Versuch, noch irgendeine Form von Ansehen und Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung zu behalten.

Was setzen wir dem entgegen?

Was es braucht, ist eine unabhängige Position der palästinensischen Arbeiter_innenklasse, die keine Illusionen in die bürgerlichen Kräfte Hamas, Islamischen Jihad oder die Fatah hat. Diese würde bedeuten zu erkennen, dass israelische und palästinensische Arbeiter_innen dieselben Interessen und Ziele haben und dass sie nur die Ketten des Kapitalismus und Nationalismus davon trennen. Die Geschichte hat schon oft gezeigt, dass nationale Gegensätze im gemeinsamen Kampf für gleiche Ziele verschwinden können. Unsere Perspektive ist die eines säkularen multi-ethnischen Arbeiter_innenstaates zu kämpfen, in dem jeder Mensch unabhängig von seiner Religion und Hautfarbe in Frieden leben kann. Um jedoch die Palästinenser_innen für diese Position zu gewinnen, dürfen wir nicht als kommunistische Besserwisser_innen am Rande des Kampfes stehen und zuschauen. Wir müssen uns als Teil ihres Kampfes für nationale Selbstbestimmung verstehen, auch wenn uns die Führung dieses Kampfes aus reaktionären Kräften nicht passt, sein Ziel ist trotzdem legitim. Nur indem wir das legitime Recht dieses Befreiungskampfes bedingungslos verteidigen und die israelische antizionistische Opposition unterstützen, werden die Massen offen für unsere Positionen sein und den Kampf um die nationale Selbstbestimmung mit der Klassenfrage zu verbinden. Hier vor Ort muss das bedeuten, aktiv gegen Waffenlieferungen und militärische Unterstützung für Israel durch die BRD zu sein. Sich gegen Betätigungs- und Demonstrationsverbote für palästinensische Organisationen auszusprechen und den palästinensischen Befreiungskampf gegen verleumderische Antisemitismusvorwürfe zu verteidigen.

Als REVOLUTION bieten wir dem Kampf deshalb die folgende Perspektive:

  • Verbindung der Kämpfe der israelischen Arbeiter_Innenklasse mit dem Kampf um nationale Selbstbestimmung in Palästina! Für Massenstreiks und gemeinsame Aktionens von Palästinenser_innen und der israelischen Arbeiter_innenklasse gegen Inflation, Reallohnverluste, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und für die Kontrolle der Klasse über die Schlüsselindustrien!
  • Es gibt kein Existenzrecht für kapitalistische Nationalstaaten! Für den Aufbau eines freien, rätedemokratischen, sozialistischen Palästinas, das den bürgerlichen Staat Israel durch demokratische Strukturen und friedliches Zusammenleben im Rahmen einer Föderation sozialistischer Staaten ersetzt!
  • Für volle Staatsbürger_innenrechte für alle, da wo sie gerade Wohnen, unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion!
  • Für volle Religionsfreiheit und gegen religiöse Staaten! Jede_r muss das Recht haben, die eigene Religion auszuüben, solange die Unversehrtheit anderer gewährleistet ist!
  • Für demokratische Milizen zur Verteidigung vor rassistischen, antisemitischen oder sonstigen reaktionären Angriffen, gewählt durch die Arbeiter_innenklasse Palästinas und Israels!