Warum Ziviler Ungehorsam nicht radikal ist.
Aktualisierung aus Juni 2024
Am 29. Juni mobilisieren nun ein Großteil der Kräfte der politischen Linken nach Essen um den Bundesparteitag der AfD zu stören, sich diesem zu widersetzen. Dabei beruft sich die Kampange “widersetzen” auf das Konzept des “Zivilen Ungehorsams”. Wir als Revolutionäre freuen uns natürlich über jede:n die:der Widerstand leisten will gegen den immer weiter vorranschreitenden Rechtsruck, welcher sich nun in den Europawahlen nochmal deutlich abgezeichnet hat. Mit Zivilem Ungehorsam befinden sich jene Verbündete unseres Erachtens allerdings in einer Sackgasse, weshalb wir unter diesem ein wenig provokanten Titel unsere 2019 formulierte politische Kritik an diesem Konzept zusammen mit einem Vorschlag wie wir tatsächlich gewinnen können, teilen wollen.
Was ist Ziviler Ungehorsam und woher kommt er?
Ideengeschichtlich wird der Ursprung des Begriffs dem Liberalisten und Selbstverwirklicher Henry D. Thoreau zugeordnet, der im 19. Jahrhundert eine (!) Nacht im Gefängnis verbrachte, da er sich geweigert hatte Steuern zu bezahlen und daraufhin seinen Akt des „zivilen Ungehorsams“ zum politischen Prinzip erklärte. Da-zu schrieb er seinen berühmten Essay „Civil Disobedience“ (auf deutsch „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“). Später wurde das Konzept noch von anderen Theoretiker:innen wie Hannah Arendt und Jürgen Habermas aufgegriffen. In der Theorie handelt es sich bei Zivilen Ungehorsam um einen angekündigten Regelübertritt, mit dem man auf einen gesellschaftlichen Missstand aufmerksam machen will. Sobald diese Aufmerksamkeit erzeugt ist, kümmern sich die gesellschaftlichen Mechanismen dann darum, den Missstand zu beheben. Plakatives Beispiel: Eine Gruppe Menschen den Eingangsbereich eines Hotels in dem eine rechtspopulistische Partei eine Tagung hat. Die Menschen werden geräumt und verhaftet aber die Medien und „die Politik“ merken wie wichtig den Menschen der Kampf gegen die Rechten ist und kommen dabei auf den Gedanken, dass sie doch selber härtere Maßnahmen gegen Rechtspopulisten unternehmen sollten. Da es hauptsächlich um die erzeugte Aufmerksamkeit geht, ist es auch nicht notwendig Gewalt dabei einzusetzen, im Gegenteil erscheint es sogar oft als vorteilhaft sich mit „gewaltfrei“ zu labeln, um die Öffentlichkeit leichter auf der eigenen Seite zu halten. In jedem Fall aber ist es nicht vorgesehen, den Staat anzugreifen, da man ja nur durch diesen symbolischen Regelübertritt eine Öffentlichkeit schaffen will und die dafür vorgesehen Strafe sogar akzeptiert. „Im Gegensatz zum Revolutionär“, schreibt dazu der bürgerliche Theoretiker Carl Cohen, „akzeptiert der zivile Gehorsamsverweigerer den Rahmen der bestehenden Autorität und die generelle Rechtmäßigkeit der Rechtsordnung.“ Zu Grunde liegt der ganzen Theorie ein sehr idealistisches Verständnis vom bürgerlichen Staat. Demnach sei dieser eine Art Kompromiss der Interessen seiner „Bürger“, der jedoch nur dann zufriedenstellend gelinge, wenn jedes Individuum den Staat nach seinen eigenen moralischen Vorstellungen zu gestalten versuche. Der Zivile Ungehor-sam bezeichnet dabei den Ausgleich zwischen dem Individuum als Staatsbürger und als moralisches Subjekt: Der:die einzelne Bürger:In soll durch ggf. ungehorsam-es Verhalten den Staat im Sinne der eigenen moralischen Überzeugungen beeinflussen. Somit soll die Staatsgewalt zu einem wahrhaft ausgeglichenen System ergänzt werden.
Was ist daran problematisch?
Es ist wichtig zu verstehen, dass im Kapitalismus die Dinge nicht einfach passieren, weil sie „sinnvoll“ sind. Es wäre sinnvoll niemanden hungern zu lassen, statt 2/3 der Lebensmittel wegzuschmeißen. Es wäre sinnvoll niemanden im Mittelmeer ertrinken zu lassen oder in Lager zu sperren. Es wäre sinnvoll den Planeten nicht zu zerstören. Die Dinge passieren im Kapitalismus aus genau zwei Gründen: Entweder es bringt Profit oder wir haben es erkämpft. Entweder es liegt im Interesse der herrschenden Klasse oder die Unterdrückten haben es ihnen abgerungen. Warum reden wir jetzt schon wieder davon? Weil es nicht ausreicht, darauf aufmerksam zu machen, dass etwas nicht gut ist. Die AfD ist selber nur ein Symptom der kapitalistischen Krise, und der Rechtsruck für weite Teile der Bourgeoisie notwendig um eigene Stellung und Profite zu verteidigen. Es ist auch eine falsche Vorstellung, dass der Staat schon macht was er soll, wenn man es ihm nur sagt. Der Staat steht im Kapitalismus nämlich nicht über den Klasseninteressen, im Gegenteil ist genau er dafür verantwortlich, dass die Herrschaft des Kapitals mit Gewalt aufrecht erhalten und der Widerstand dagegen unterdrückt wird. Wenn wir Freiheit und Gerechtigkeit wollen, müssen wir diesen Staat also kaputt machen und dürfen uns nicht mit Bitten an ihn begnügen.
Was wäre eigentlich radikal?
Radikal heißt die Dinge an der Wurzel packen. Die Wurzel des Rechtsrucks liegt im Kapitalismus und in der kapitalistischen Produktionsweise die zwangsläfig zu Krisen führt. Zur Überwindung dessen, müssen wir die Lohnabhängigen dafür gewinnen, die Kapitalist:innen zu enteignen und die Produktion gemeinsam nach unseren Bedürfnissen und im Sinne des Planeten zu gestalten. Das würde mehr bedeuten als nur einen Missstand im System beheben, der Staat würde sich gegen uns stellen, wir müssten mit allen Mitteln für unsere Freiheit kämpfen. Statt nur Aufmerksamkeit zu erzeugen und uns darauf zu verlassen, dass die Herrschenden handeln werden, müssen wir unsere Ziele erzwingen, durch Streiks, Besetzungen, Enteignungen. Uns fehlen nicht Sitzblockaden vor jedem AfD Landesparteitag, uns fehlt eine Bewegung die in den Schulen und Betrieben in Opposition zu AfD und anderen Rechten geht und für echte Krisenlösungen kämpft. Uns fehlen nicht Sitzblockaden bei jeder rech-ten Demo, uns fehlen antifaschistische Selbstverteidigungsstrukturen die uns vor Gewalt durch Rechte schützen und Rechte Raumnahe aktiv unterbinden. Der Streik trifft dieses System in seinem Herzen, dem Profit. Wo gestreikt wird, kann kein Profit mehr fürs Kapital produziert werden, es wird gezwungen, den Streik zu zerschlagen oder auf unsere Forderungen einzugehen. Gleichzeitig werden wir in die Lage versetzt die Betriebe zu besetzen und auf eine wirklich nachhaltige Art und Weise für uns selbst zu produzieren.
Militant oder gewaltfrei? Kollektiv oder individuell?
So schön es andernfalls auch wäre: Dass der Staat bereit ist, sich regenden Widerstand mit aller Kraft zu zerbrechen, hat er uns oft genug bewiesen. Dabei ist es nicht ausschlaggebend wie der Protest selbst agiert, auch Sitzblockierer:innen werden mit Schmerzgriffen abtransportiert und im Sichtschutz von Bullenwagen zusammengeschlagen. Wir müssen uns also verteidigen, selbst wenn wir nur grundlegende Rechte wie unsere Versammlungsfreiheit wahrnehmen wollen. Wichtig dabei ist es kollektiv vorzugehen, denn durch Aktionen kollektiver Selbstermächtigung gelangen wir sogar in die Situation, dass große gesellschaftliche Veränderungen wie Enteignungen usw. auf einmal möglich werden. In dieser Hinsicht muss man auch zwischen verschiedenen Akteur:Innen Zivilen Ungehorsams unterscheiden, da Massenaktionen wie Ende Gelände viel mehr Potential haben als individuelle Steuerverwei-gerung.
Führungskrise der Arbeiter:Innenbewegung
Dass Ziviler Ungehorsam für viele so attraktiv ist, hat auch damit zu tun, dass die eigentliche Arbeiter:innenbewegung hier sehr schwach geworden ist und planlos umherirrt. Schlimmer noch, die Führung der Lohnabhängigen, also die Spitzenposten von SPD, Linkspartei und den Gewerkschaften, haben sich mit ihren Privilegien und hohen Gehältern ganz gut eingerichtet mit diesem Schweinesystem und verraten mit ihrer „Sozialpartnerschaft“ ihre Klasse. Das hat aber auch dazu geführt, dass Streiks und andere ursprünglich revolutionäre Kampfformen der Arbeiter:Innenklasse neuen Aktivist:Innen gar nicht mehr so radikal vorkommen und sie sich dem modern wirkenden Zivilen Ungehorsam anschließen. Unser Ziel muss es aber sein, diese Führungskrise mit einem revolutionären Programm aufzuheben, denn die Macht einer organisierten Arbeiter:innenklasse wäre heute größer als je zuvor.
Warum wir trotzdem alle nach Essen fahren müssen!
Große Mobilisierungen sind oft stärkende Momente der dahinterstehenden Bewegung. Die Entschlossenheit, mit der wir bei am letzten Juni Wochenende vorgehen, gibt uns auch die Erfahrung, dass wir Erfolge auch gegen den Staat prinzipiell erreichen können. In der gemeinsamen Tat können wir dabei über unsere verschiedenen Ansätze diskutieren und sie an der Praxis überprüfen. Fahrt also alle mit uns nach Essen am 29.06. nach Essen und lasst uns dieses Zeichen setzen, auch wenn wir nicht dabei stehen bleiben!