Der Ukrainekrieg und seine Auswirkungen auf Frauen

von Jaqueline Katherina Singh, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Seit mehr als einem Jahr bestimmt der Ukrainekrieg die Schlagzeilen. Im Folgenden wollen wir eine kurze Skizze der aktuellen Situation anfertigen und uns damit auseinandersetzen, wie sich die aktuelle Situation auf Frauen auswirkt, um schließlich allgemein Kriegsfolgen für Frauen zu betrachten. Bevor wir dazu kommen, wollen wir kurz Stellung zum Konflikt beziehen.

Vom Angriffskrieg zum Stellungskampf

Klar ist, dass der Angriff seitens des russischen Imperialismus auf die Ukraine zu verurteilen und der Wille zur Selbstverteidigung seitens der ukrainischen Bevölkerung gerechtfertigt ist. Gleichzeitig muss das Geschehen auch im internationalen Kontext betrachtet werden. Es spielt sich nicht im luftleeren Raum ab, sondern vor dem Hintergrund einer krisenhaften Entwicklung des imperialistischen Weltsystems und eines Kampfs um die Neuaufteilung der Welt unter den Großmächten.

Somit ist es auch nicht irgendeine Auseinandersetzung, die zufällig mehr Aufmerksamkeit bekommt als der Bürger:innenkrieg im Jemen, weil der bewaffnete Konflikt im Westen stattfindet. Er ist auch Ausdruck einer zugespitzten globalen Weltlage und trägt in sich das Potenzial, mehr Kräfte in kriegerische Auseinandersetzungen zu ziehen. Darüber hinaus findet die Auseinandersetzung zwar augenscheinlich nur zwischen der Ukraine und Russland statt. Doch das fragile Gleichgewicht von prowestlichen und prorussischen wirtschaftlichen und politischen Eliten in der Ukraine und der Ausgleich zwischen ihren Nationalitäten wurde mit dem Maidan 2014 über den Haufen geworfen. Damals wurde der lavierende, Russland zuneigende Präsident Janukowytsch durch eine klar prowestliche Regierung abgelöst. Diese verwandte zwecks Machtsicherung viele der extrem rechten und nationalistischen Maidankräfte in ihrer Administration und ihren Sicherheitskräften und machte ihnen auch politisch Konzessionen. Damit war letztlich auch der bewaffnete Zusammenstoß mit den sich in ihren Minderheitenrechten bedroht fühlenden Bevölkerungsgruppen insbesondere in der Ostukraine vorprogrammiert und Russland nahm den inneren Bürger:innenkrieg zum Vorwand für die Inkorporation der Krim, wo jedoch schon länger eine prorussische Mehrheit lebte.

Weder Putin noch NATO!

Somit geriet das Gebiet der Ukraine zum Zankapfel zwischen russischem Imperialismus und der NATO. Wirkliche Verbesserung für alle Teile der Bevölkerung kann es nicht geben, wenn man sich einer dieser Kräfte politisch unterordnet. Dabei sind die von Putin angegebenen Gründe für seine „Militäroperation“ mehr als scheinheilig. Ihm geht es nicht um eine Denazifizierung, sondern darum, den seit 2014 stärker gewordenen Einfluss des westlichen Imperialismus zurückzudrängen. Dieses Interesse ist vor allem durch die Zunahme der internationalen Konkurrenz seit der Wirtschaftskrise um die Pandemie stärker geworden und auch durch die wirtschaftliche Schwäche Russlands bedingt.

Auf der anderen Seite muss gesagt werden, dass sowohl die massive finanzielle Unterstützung sowie die Waffenlieferungen seitens der NATO-Verbündeten nicht aus reiner Selbstlosigkeit erfolgen, weil man die ukrainische Bevölkerung nicht leiden sehen kann, sondern das Ziel anpeilen, die Ukraine als geostrategische Einflusssphäre zu festigen sowie den russischen Imperialismus zu schwächen und seine Fähigkeit, als Weltmacht zu agieren, massiv zu reduzieren, wenn nicht zu verunmöglichen. Natürlich agiert der Westen dabei nicht als geschlossener, einheitlicher Block. Vielmehr erweisen sich die USA als eindeutige Führungsmacht auch über ihre europäischen Verbündeten, für die jede stärkere ökonomische Durchdringung Russlands in weite Ferne gerückt ist.

Auswirkungen weltweit

Bevor wir zur Situationen in der Ukraine kommen, wollen wir uns den internationalen Folgen des Krieges widmen. Neben einer verstärkten Militarisierung haben der Krieg und vor allem die massiven Sanktionen nicht nur den Wirtschaftskonflikt mit Russland zugespitzt, sondern auch die Inflation befeuert und Energiepreise in die Höhe schnellen lassen. Die steigenden Kosten für Öl und Gas haben erhebliche Auswirkungen auf die Energiearmut von Frauen und Mädchen und den ohnehin schon ungleichen Zugang dazu. Dieser wurde vor allem durch die Pandemie drastisch verschlechtert, da so jene, die erst vor kurzem Zugang zu Energie erhalten hatten, diesen aufgrund von Zahlungsunfähigkeit verloren, darunter 15 Millionen Afrikaner:innen südlich der Sahara. Der Krieg verschärft dies nun, da der sprunghafte Anstieg der Energiepreise in den letzten zwei Jahren der stärkste ist seit der Ölkrise von 1973. Darüber hinaus verursacht der Krieg eine Lebensmittelkrise. Der Anstieg der Lebensmittelpreise war der höchste seit 2008, was daran liegt, dass sowohl Russland als auch die Ukraine zentrale Getreideproduzent:innen sind. So importieren Länder wie Armenien, Aserbaidschan, Eritrea oder Somalia über 90 % des Getreides aus diesen beiden Ländern. Darüber hinaus stellt die Ukraine eine wichtige Weizenlieferantin des Welternährungsprogramms (WFP) dar, das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern unterstützt.

Situation vor dem Krieg

Auch wenn es nicht möglich ist, hier ein komplettes Bild der Situation von Frauen zu zeichnen, wollen wir einen kurzen, allgemeinen Überblick geben. Vor dem Krieg machten Frauen 54 % der Gesamtbevölkerung aus und etwa 48 % aller Erwerbstätigen. Eine genaue Aufschlüsselung, wie hoch die Arbeitsbeteiligung von Frauen in unterschiedlichen Industrien ausfällt, ist nicht verfügbar. Jedoch lieferte die ILO 2008 einen groben Überblick, aus dem hervorgeht, dass Frauen vorwiegend im Caresektor sowie in der industriellen Produktion tätig waren (https://www.ituc-csi.org/IMG/pdf/Country_Report_No8-Ukraine_EN.pdf, S. 31).

Rechtliche Gleichstellung existierte zwar formal auch in Bezug auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Dennoch gab es ein recht hohes Gender Pay Gap von 27 – 33 % im Zeitraum 2003 – 2012. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Frauen oftmals in den schlechter bezahlten Berufen arbeiten. Doch auch innerhalb von Berufsgruppen gab es Unterschiede. So wurden die größten geschlechtsspezifischen bei den Gehältern im Finanzsektor festgestellt, während die geringsten in der Landwirtschaft bestehen, wo die Löhne jedoch im Allgemeinen viel niedriger ausfallen als in allen anderen Bereichen der ukrainischen Wirtschaft.

Flucht

Im Krieg sind Frauen besonders Gewalt ausgesetzt, neben Bomben, ausländischen Armeen direkt vor der Haustür, Angst und Engpässen bei der Strom- oder Nahrungsmittelversorgung. Kein Wunder also, dass mehrere Millionen Menschen, darunter vor allem Frauen und Kinder, seit Beginn des Krieges geflohen sind. Laut Angaben der UN sind davon 5,3 Millionen Binnenvertriebene, also innerhalb des Landes geflohen. Dies verschärft die Situation, da bereits seit 2014 aufgrund des Konflikts in der Ostukraine mehr als 1,5 Millionen Menschen gezwungen wurden umzusiedeln. Zwei Drittel von ihnen waren Frauen und Kinder, die seitdem unter dem erschwerten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Wohnraum sowie Beschäftigung leiden.

Darüber hinaus sind im Februar 2022 rund 8 Millionen Menschen über die ukrainischen Landesgrenzen geflohen. Davon sind über 80 % Frauen und Kinder, was unter anderem daran liegt, dass die Ausreise von Männern zwischen 18 und 60 Jahren seitens der ukrainischen Regierung verboten wurde. Frauen sind dabei auf der Flucht besonders sexueller Gewalt ausgesetzt. So stiegen die Suchanfragen nach Schlüsselwörtern wie „Escort“, „Porno“ oder „Vergewaltigung“ in Verbindung mit dem Wort „ukrainisch“ um 600 %, während sich „Ukraine refugee porn“ laut OSZE-Büro der Sonderbeauftragten und Koordinatorin für die Bekämpfung des Menschenhandels in Wien als Trendsuche herauskristallisierte. (https://www.euronews.com/2023/01/17/ukraine-refugee-porn-raises-risks-for-women-fleeing-the-war).

Zwar ist noch unklar, inwiefern ukrainische Frauen stärker von sexualisierter Gewalt betroffen sind als andere Gruppen weiblicher Geflüchteter. Klar ist jedoch, dass rassistische Stereotype, die innerhalb der EU existieren und osteuropäische Frauen sexualisieren, dies mitverursachen. Die Gefahr, sexuellen Missbrauch zu erleben oder Opfer von Menschenhandel zu werden, wird durch unsichere Fluchtrouten oder die Praxis z. B. in Großbritannien, wo 350 Pfund für die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten gezahlt werden, begünstigt.

Um die Situation für Geflüchtete zu verbessern, müssen wir für Folgendes eintreten:

  • Offene Grenzen, sichere Fluchtwege und Staatsbürger:innenrechte für alle!
  • Statt Behausung in Lagern: Dezentrale Unterbringung durch die Enteignung von leerstehendem Wohnraum, Hotels sowie Spekulationsobjekten!
  • Nein zur Spaltung: Anerkennung der Bildungsabschlüsse sowie das Recht, die Muttersprache bei Ämtern zu benutzen, für alle Geflüchteten!

Auch wenn die letzte Forderung für ukrainische Geflüchtete, die in Deutschland ankommen, größtenteils Realität ist, muss sie aufgestellt werden, um eine weitere Spaltung zwischen ukrainischen und anderen Geflüchteten zu verhindern. Dass die Ausstellung von Arbeitserlaubnissen etc. für Ukrainer:innen so rasch passierte, zeigt nur, was eigentlich möglich ist, wenn die eigene Regierung ein unmittelbares Interesse dabei verfolgt. Deswegen sollte dies genutzt werden, um die Rechte anderer Geflüchteter anzugleichen.

Situation der Daheimgebliebenen

Jedoch konnten nicht alle fliehen. Alter, persönliche Fitness, Kontakte in anliegenden oder anderen europäischen Ländern sind weitere Faktoren, die es realistischer erscheinen lassen, sich mittel- oder langfristig ein „neues Leben“ aufzubauen. Wer hingegen pflegebedürftig ist oder selber jemanden pflegt, gehört zu den Gruppen, die es besonders schwer haben, das Land zu verlassen. Zwar gibt es Erfolgsgeschichten von Gruppen wie bspw. von etwa 180 Gehörlosen, die es nach Berlin geschafft haben. Doch wer ans Bett gefesselt oder auf fremde Hilfe angewiesen ist, hat schlechte Chancen.

Hier tragen auch vor allem Frauen die Hauptlast. Bereits vor der Eskalation der Feindseligkeiten im Februar 2022 führte die unbezahlte Hausarbeit in der Ukraine zu einer massiven Mehrbelastung. Frauen brachten im Schnitt 24,6 Stunden pro Woche für reproduktive Tätigkeiten auf, während es bei Männern 14,5 waren. Laut UN-Bericht „Rapid Gender Analyses in Ukraine“ geben die Befragten durchweg an, dass seit dem Beginn des Krieges der Umfang der unbezahlten Arbeit sowohl für Männer als auch für Frauen zugenommen hat. Dies liegt vor allem daran, dass Sozialdienste, medizinische und Bildungseinrichtungen sowie Kinderbetreuung durch den Krieg eingestellt oder reduziert wurden.

Das Wegbrechen dieser Infrastrukturen führt dementsprechend auch zu Verschlechterungen in allen diesen Bereichen. So sind beispielsweise Schwangere durch den Wegfall medizinischer Versorgung einer Lage ausgesetzt, die auch den Kindstod begünstigt. Um die Situation vor Ort einigermaßen erträglich zu machen, treten wir ein für:

  • Kontrolle und Verteilung der gelieferten Hilfsgüter durch demokratisch gewählte Komitees der Bevölkerung! Die Vertreter:innen müssen rechenschaftspflichtig und jederzeit wähl- und abwählbar sein!

So kann flächendeckend verhindert werden, dass Lebensmittel unterschlagen werden, wie beispielsweise durch zwei führende Ministeriumsbeamte, die Ende Januar dafür entlassen wurden. Das ist keine Kleinigkeit, denn über ein 1/3 der ukrainischen Bevölkerung ist von starken Nahrungsmittelengpässen betroffen. Viele Teile der Bevölkerung sind bereits in Hilfsstrukturen integriert – und sie sollten diese auch selber kontrollieren.

Denn zum einen kann durch die Verteilungskomitees überprüft werden, in welchen Regionen nicht nur mehr Hilfsgüter benötigt werden, sondern auch, wo es noch anderer Strukturen wie beispielsweise Kantinen oder anderer Hilfe bedarf. Diese sollten zum anderen als Momente kollektiver Reproduktionsarbeit nach dem Krieg erhalten bleiben und flächendeckend ausgeweitet werden. Denn nur durch die Vergesellschaftung der Hausarbeit – also der Aufteilung der Sorge- und Carearbeit auf alle Hände – kann die Doppelbelastung von Frauen sowie die geschlechtliche Arbeitsteilung beendet werden. Es gilt, hier eine Grundlage zu legen, um künftigen Verschlechterungen entgegenzuwirken.

Arbeitsrechte

Diese Situation wird dadurch verstärkt, dass unter der Regierung von Selenskyj seit Beginn des Krieges massive Angriffe auf die Arbeitsrechte vorgenommen wurden. Am 24. März 2022 trat das Gesetz Nr.-2136-IX Über die Organisation der Arbeitsbeziehungen im Kriegsrecht in Kraft, was unter anderem die Arbeitszeit von 40 Stunden pro Woche auf 60 hochsetzt, Arbeit an Wochenenden, Feiertagen und arbeitsfreien Tagen nicht mehr verbietet und Betrieben ermöglicht, die Auszahlung des Gehalts zu verzögern, wenn nachgewiesen werden kann, dass Krieg oder „höhere Gewalt“ eine solche Verzögerung verursacht haben. Das Ganze wird begleitet vom Verbot von Oppositionsparteien, die Verbindungen nach Russland haben, sowie einer Degradierung von Gewerkschaften zu Organen der „Bürgerkontrolle“, die die Einhaltung des Gesetzes überwachen.

Diese Verschärfungen sind dabei nur eine zugespitzte Fortführung Selenskyjs neoliberaler Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse. Bereits 2020 gab es den Versuch eines reformierten Arbeitsgesetzes, welches eine massive Aufweichung der Arbeits- und Tarifrechte enthielt. Durch Proteste seitens der Gewerkschaften konnte damals verhindert werden, was nun Praxis ist.

Was das für praktische Auswirkungen hat, skizziert Bettina Musiolek (Clean Clothes Campaign; Kampagne für Saubere Kleidung) in einem Interview mit der GEW. Zwar ist der Anteil der Textilindustrie innerhalb der Ukraine am BIP gering. Laut Angaben von Ukraine Invest existieren jedoch rund 2.500 Textilbetriebe mit mehr als 200.000 Mitarbeiter:innen innerhalb des Landes, von denen zwischen 80 und 90 % der gesamten Erzeugnisse für den Export bestimmt sind. Die überwiegende Mehrheit ihrer Beschäftigten ist weiblich. Produziert wird unter anderem für Marken wie Adidas, Benetton, Boss, S.Oliver, Tommy Hilfiger, Zara oder Handelskonzerne wie Picard oder Aldi. Diese nutzen die Not brutal aus, wie Musiolek erklärt:

 „Die meisten Näherinnen werden das alles akzeptieren, weil sie den Job brauchen. Gegen das neue Gesetz zu demonstrieren oder zu streiken, ist für sie keine Option – ihnen droht unter dem Kriegsrecht, verhaftet zu werden. [ … ] Da werden im Schatten des Krieges rote Linien überschritten. Zwar soll die Arbeitsrechtsreform nur während des Kriegsrechts gelten. Aber unsere ukrainischen Gewerkschaftspartner bezweifeln, dass die Punkte nach dem Krieg wieder rückgängig gemacht würden.“ (https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/hungerloehne-unter-dem-deckmantel-des-kriegsrechts)

Das bedeutet praktisch, dass wir uns gegen diese Angriffe wehren müssen, was leichter geschrieben als getan ist. Es verdeutlicht, dass die herrschende Klasse der Ukraine nicht nur eine enge Verbündete der NATO ist, sondern – wie jede andere – auch im Krieg ihre Klasseninteressen vertritt.

Das Kriegsrecht richtet sich hier ganz konkret gegen die Lohnabhängigen und muss bekämpft werden. Die Aufgabe von Revolutionär:innen und fortschrittlichen Kräften muss darin bestehen aufzuzeigen, dass der Krieg alleine nicht den Klassencharakter aufhebt, nicht alle Ukrainer:innen vor ihm gleich werden und dieselben Interessen verfolgen dürfen. Deswegen muss gesagt werden:

  • Nein zu den Angriffen des Arbeitsrecht! Für die sofortige Rücknahme der Verschärfungen wie des einseitigen Kündigungsrechts oder der Ausweitung der Arbeitszeit!
  • Statt Arbeitslosigkeit und mehr Stunden braucht es Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich!
  • Für ein Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation!
  • Entschädigungslose Enteignung aller Kriegsgewinnler:innen, ukrainischer wie imperialistischer Unternehmen, die sich auf Kosten der Massen bereichern, unter Arbeiter:innenkontrolle!

Gewalt

Dass Gewalt gegen Frauen in Zeiten von Krisen zunimmt, ist spätestens seit der Coronapandemie kein Geheimnis mehr. Aktuelle offizielle Zahlen sind nicht verfügbar, jedoch gaben laut einer vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) im Jahr 2019 veröffentlichten Studie etwa 75 Prozent der ukrainischen Frauen an, seit ihrem 15. Lebensjahr irgendeine Form von Gewalt erlebt zu haben. Eine von drei Frauen berichtete, dass sie körperliche Formen von sexueller Gewalt erleiden musste.

Durch die verschlechterte ökonomische Situation kann sich dies verschlimmern, und da darüber hinaus in Konflikten sexuelle Gewalt und Vergewaltigung häufig als Kriegswaffe eingesetzt werden, um Macht über den Feind zu demonstrieren, sind die ukrainischen Frauen – inmitten der militärischen Invasion Russlands in ihrem Land – einem erhöhten Risiko sexueller und körperlicher Gewalt, Missbrauch, Vergewaltigung und Folter ausgesetzt. Um sich gegen die zunehmende Gewalt zu wehren, treten wir ein:

  • Für demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees der Bevölkerung, die auch Zugang zu Waffen haben!
  • Für Entschädigungszahlungen an Betroffene von Gewalt sowie kostenlosen Zugang zu therapeutischen Angeboten auch nach dem Krieg!

Militär

Doch es wäre falsch, die Rolle von ukrainischen Frauen derzeit auf Care- und Hilfsarbeit zu reduzieren. In der ukrainischen Armee dienen schätzungsweise zwischen 15 – 22 % Frauen. Manche kehren sogar aus den sicheren Ländern, in die sie geflohen waren, zurück, um an der Front zu kämpfen. Dies ist jedoch eine neuere Entwicklung. Seit 2014 sind Frauen Teil der ukrainischen Armee. Seit 2016 ist auch erlaubt, dass sie nicht nur klassische Hilfskraftjobs wie medizinische Versorgung oder Kochen ausüben. Dass sie nun auch an der Front kämpfen dürfen, heißt jedoch nicht, dass das Militär sich in einen Ort der Gleichberechtigung verwandelt. So hat die Zahl der Soldatinnen zwar zugenommen, aber ihre Mobilisierung erfolgte eher unregelmäßig. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass die klassische Arbeitsteilung in Armeen (Fokus der Frauen auf Hilfsjobs) trotz ihrer höheren Beteiligung erhalten bleibt, was begleitet wird durch Berichte über sexistische Kommentare oder die Tatsache, dass Frauen Uniformen wesentlich schlechter angepasst werden. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Männer mittels Kriegsrecht hat darüber hinaus verfestigt, dass es Frauen sind, die außerhalb der Armee die Last der Betreuung von Kindern und älteren Menschen tragen müssen. Um die tatsächliche Gleichstellung in der Armee zu gewährleisten, treten wir ein:

  • Für die Wähl- und Abwählbarkeit von Offizier:innen durch Soldat:innenräte sowie deren Kontrolle über Ausbildung und Waffen!
  • Für eine Kampagne innerhalb der Armee für Gleichstellung, aber auch gegen Nationalismus und Chauvinismus! Recht der Frauen auf gesonderte Treffen!

Zentral ist es darüber hinaus, dass Soldat:innen auch dafür argumentieren, den Krieg nur solange zu führen, wie er zur Selbstverteidigung dient, und beispielsweise gegen die Rückeroberung der Krim oder der Volksrepubliken auftreten. Vielmehr sollte die dort lebende Bevölkerung entscheiden, wo sie zukünftig leben und welchem Staat sie angehören möchte. Alles, was darüber hinausgeht, führt zu einer weiteren Verlängerung des Krieges, ohne seine tatsächliche Ursache zu bekämpfen.

Perspektiven

Die reaktionäre Invasion des russischen Imperialismus stellt bekanntlich nicht den einzigen Faktor im Krieg dar. Es wäre vielmehr verkürzt, den Charakter eines Kriegs unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen. Die Entwicklung, die zur Invasion führte, und vor allem jene seit dem reaktionären Überfall Russlands bestätigt in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht bloß um einen nationalen Verteidigungskrieg handelt, sondern die politische, wirtschaftliche und militärische Einflussnahme der NATO auf internationaler Ebene selbst einen entscheidenden Faktor darstellt.

Das bedeutet, dass die Arbeiter:innenklassen in Russland wie auch in den NATO-Staaten vor allem für den Kampf gegen die Kriegsziele ihrer eigenen Bourgeoisien gewonnen und mobilisiert werden müssen. Dort steht der Hauptfeind eindeutig im eigenen Land.

In der Ukraine ist die Lage differenzierter zu betrachten. Hier sind die Massen Opfer der russischen imperialistischen Invasion. Einerseits spielt der innerimperialistische Konflikt eine prägende Rolle, andererseits existiert auch ein wichtiges Element der realen nationalen Unterdrückung. Dies bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der Ukraine, sich gegen die russische Okkupation zur Wehr zu setzen, verteidigen müssen, jedoch ohne der Regierung Selenskyj irgendeine Form der Unterstützung angedeihen zu lassen.

In der Ukraine bildet daher das Recht auf Selbstverteidigung gegen die russische Invasion ein Element revolutionärer Politik, doch für den Fall des Rückzugs von russischen Truppen sollte klar sein, dass der Kampf danach weitergeht. Jedoch nicht mit dem Ziel, Vergeltung gegen Russland als Aggressor auszuüben, sondern in dem Wissen, dass NATO & Co. ihre Unterstützung nicht zugesagt haben, damit sie dann ebenfalls die Ukraine in Ruhe lassen, sondern sie als ausgebeutete Halbkolonie in ihren Machtbereich integrieren werden.

Neben stärkerer militärischer Präsenz ist es wahrscheinlich, dass westliche Firmen sich freuen, die ukrainische Infrastruktur wieder aufzubauen – auf dem Rücken der Bevölkerung vor Ort, die als billige Arbeitskräfte überausgebeutet werden kann. Die rechtlichen Grundlagen wurden ja bereits geschaffen. So ein Kampf kann nur erfolgreich sein, wenn bereits im Hier und Jetzt Strukturen aufgebaut werden, die sich der prowestlichen und neoliberalen Politik Selenkyjs nicht unterordnen wollen, aber auch kein Interesse hegen, sich an Putins Regime zu verkaufen. In Regionen wie der Krim, Donezk oder Luhansk sollten Referenden durch die Bevölkerung organisiert werden – nicht durch irgendeine Großmacht.

Im Westen, in der EU und den USA muss die Arbeiter:innenbewegung vor allem aber gegen die imperialistischen Ziele des „eigenen“ Imperialismus mobilmachen. Das bedeutet ein Nein zur jeder Aufrüstung, zu Waffenlieferungen und vor allem zu Sanktionen und Wirtschaftskrieg gegen Russland. Die US-amerikanische, deutsche und andere westliche Regierungen verfolgen damit keine demokratischen und humanitären Interessen. Das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine und erst recht deren Demokratie sind ihnen völlig egal, wie das jahrelange Paktieren mit Ultrarechten beweist. Für sie ist die Ukraine vor allem eine Frontlinie auf dem geostrategischen Schlachtfeld und außerdem ein Reservoir für billige Arbeitskräfte und Rohstoffe. Hier gilt es, Solidarität und Widerstand aufzubauen, die die objektiven Interessen der ukrainischen und russischen Arbeiter:innenklasse unterstützen, und nicht mit den Machtinteressen der jeweils eigenen Regierung zu paktieren.




Frauen und die Revolution im Iran

Martin Suchanek, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Der Mord an der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini war der Funke, der das Feuer einer neuen Massenbewegung im Iran entfachte. Seither versucht das diktatorische, islamistische Regime, die Proteste im Blut zu ertränken.

Über 500 Menschen wurden von den bewaffneten Kräften der Staatsmacht, von Polizei, Geheimdiensten oder den sog. Revolutionswächtern, ermordet. Tausende wurden verletzt, über 20.000 festgenommen. Seit Monaten werden Aktivist:innen der Bewegung und bekannte Oppositionelle nach Schauprozessen öffentlichkeitswirksam hingerichtet, um die Massen einzuschüchtern und die Anhänger:innen des Regimes zu stärken.

Nach Monaten des heroischen Kampfes droht die Bewegung, durch die Konterrevolution der Mullahs zerschlagen zu werden. Doch selbst wenn dies der Fall sein sollte, wird dieser „Sieg“ nicht von Dauer sein. Sie können zwar möglicherweise den Protest niederschlagen – die Ursachen für die revolutionäre Erhebung von Millionen können sie aber nicht aus der Welt schaffen. Denn es ist das reaktionäre, ausbeuterische, frauen- und menschenfeindliche Regime, die spezifische Mischung aus Kapitalismus, Nepotismus und islamistischer Diktatur, die immer wieder den Widerstand hervorbringen wird, den sie mit aller Gewalt – und letztlich nur noch mit Gewalt – blutig unterdrückt.

Eine Revolution der Frauen

In den letzten Jahrzehnten erschütterten immer wieder Massenproteste den Iran. 2009, bei der sog. grünen Revolution, bildeten vor allem die städtischen Mittelschichten – Intellektuelle, das Kleinbürger:innentum sowie reformorientierte Unternehmerschichten, die ihre Hoffnungen in den damaligen Präsidentschaftskandidaten Chātami setzten – die soziale Basis der Bewegung.

2017 und vor allem 2019 änderte sich die Lage. Die „Unterschichten“, d. h. vor allem die Arbeiter:innenklasse, schwangen sich zur sozialen Trägerin des Kampfes auf. Die Hoffnungen und Illusionen in den „reformorientierten“ Teil des Regimes waren bei den Massen verflogen. Umso drängender rückten die sozialen Fragen in den Vordergrund.

2022 standen von Beginn an Frauen, Studierende und die Jugend sowie die unterdrückten Nationalitäten im Zentrum.

Natürlich wurde dies auch durch den Mord an einer jungen Kurdin, Jina Mahsa Amini, durch die „Sittenpolizei“ befördert. Dass die Protestbewegung vor allem von jungen Frauen und Studentinnen getragen und vorangetrieben, sie mit gewissem Recht als feministische Revolution bezeichnet wurde, verweist auf tiefere gesellschaftliche Ursachen.

Frauen, Arbeit und Bildung

Die extreme Form der Entrechtung seit Beginn der Mullahherrschaft und Unterdrückung ging mit einer widersprüchlichen, teilweise geradezu paradoxen Entwicklung der Lage der Frauen im Bildungswesen, teilweise auch in der Arbeitswelt einher.

Heute gibt es im Iran rund 4,5 Millionen Studierende, also rund 50 % mehr als in Deutschland (3 Millionen), eine für ein halbkoloniales Land beachtliche Zahl und Quote. Fast jede/r zweite Studierende ist eine Frau. Dies spiegelt den Versuch des Mullahregimes wider, nach der Machtergreifung eine staatskapitalistische Industrialisierung voranzutreiben, was sich auch in der Erhöhung der Alphabetisierungsquote (80 % gegenüber 20 % unter dem „modernen“ Schahregime) wie auch im Zwang, vermehrt Frauen als Lohnarbeiterinnen zu beschäftigen oder professionell zu qualifizieren, ausdrückt.

Somit entstand im Iran einerseits eine sehr qualifizierte Schicht von Frauen, die zugleich weiter politisch und kulturell entrechtet blieb. Das Scheitern der Illusionen in den Reformflügel des Islamismus führte außerdem dazu, dass sich die Hoffnung auf eine allmähliche Öffnung und Liberalisierung des Regimes erschöpfte.

Heute stellen die Universitäten einen Fokus der Bewegung dar – und wir können angesichts der sozialen Lage der Studierenden und insbesondere Studentinnen erkennen, warum junge Frauen und Jugendliche eine so wichtige Rolle in der Mobilisierung einnehmen, an vorderster Front kämpfen. Über Jahre versprach das Regime den Frauen und der Jugend im Gegenzug für soziale Unterdrückung und kulturelle Tristesse Jobs, Einkommen und sogar einen gewissen Aufstieg. All das entpuppte sich nach anfänglichen ökonomischen Erfolgen in den 1990er Jahren mehr und mehr als Fiktion. Die neoliberalen Reformen und Privatisierungen des letzten Jahrzehnts, vor allem seit dem Einbruch 2012/13, verschlechterten die Lage weiter. Für die Frauen und die Jugend sieht die Zukunft düster aus.

Die Arbeiter:innen bilden mittlerweile die zahlreichste Klasse der iranischen Gesellschaft, zumal wenn wir die sub- und halbproletarischen Schichten und jene Teile der Intelligenz, die einem Proletarisierungsprozess unterzogen sind, einbeziehen.

Zugleich lebt ein großer Teil dieser Klasse heute in Armut. Nach unterschiedlichen Schätzungen leben 35 – 50 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend angesichts von massiver Inflation und ökonomischer Stagnation.

Für die Lohnabhängigen repräsentierte die Diktatur der Mullahs immer eine brutale Herrschaft der Ausbeuter:innen – zu offensichtlich und eng sind iranischer Kapitalismus und islamistisches Regime miteinander verbunden.

Proletarische, aber auch junge, akademisch gebildete Frauen trifft dies besonders. Die Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt sind beachtlich. So liegt der Anteil von Frauen an den Beschäftigten noch immer bei nur 17,26 % (er überstieg in der Islamischen Republik nie 20 %). Auch wenn dies den realen Anteil der Erwerbsarbeit von Frauen nicht reflektiert, weil ein großer Teil der in der Landwirtschaft Beschäftigten (Schätzungen gehen davon aus, dass rund 60 % der Arbeit auf dem Dorf von Frauen erledigt wird) wie auch nicht offiziell registrierte Beschäftigung rausfallen, werden Frauen auf dem Arbeitsmarkt schon nach amtlichen Zahlen massiv diskriminiert.

Das verdeutlicht auch die Arbeitslosenquote von Frauen (https://de.theglobaleconomy.com/Iran/) mit offiziell 18,96 % im Jahr 2021, die fast doppelt so hoch ist wie jene der Männer (9,89 %). Noch höher liegt sie bei Jugendlichen – und das heißt insbesondere auch bei jungen Frauen – mit 27,21 %. Mit fast 89 % extrem stark von Arbeitslosigkeit – und damit von Armut – betroffen ist die ohnedies stigmatisierte Gruppe von alleinerziehenden Frauen.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. Einerseits natürlich die ökonomische Stagnation selbst, die die gesamte Klasse der Lohnabhängigen betrifft. Zweitens ziehen viele, natürlich männliche Unternehmer vor, junge Männer statt Frauen zu beschäftigen, selbst wenn diese z. B. einen weit besseren Hochschulabschluss vorweisen.

Die Anzahl studierender Frauen ist seit Jahren vielen Mullahs an Dorn im Auge. Unter dem erzkonservativen Einpeitscher Ahmadineschād wurde nicht nur auf propagandistischer und ideologischer Ebene gegen diesen „Auswuchs“ angegangen, sondern wurden auch Männerquoten in verschiedenen, vor allem technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen eingeführt. Der „Erfolg“ war mäßig, da selbst regimetreue, sozial-konservative Väter (einschließlich hoher Kleriker) aller reaktionären Gesinnung zum Trotz ihre Töchter an die Unis schicken und gut ausgebildet haben wollten.

Die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen nimmt daher viel stärker die Form der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt an.

Für beschäftigte Arbeiterinnen kommt „natürlich“ auch noch Sexismus am Arbeitsplatz hinzu. Darüber hinaus nutzen Unternehmen bewusst die reaktionäre Gesetzgebung, um gewerkschaftlich aktive oder einfach Widerstand leistende Arbeiterinnen unter dem Vorwand „unislamischen“ Verhaltens oder „unsittlicher“ Bekleidung zu entlassen.

All dies verdeutlicht, wie eng der Kampf gegen Frauenunterdrückung mit dem gegen Ausbeutung verbunden ist, so dass dieser einen essentiellen Teil des Klassenkampfes bildet.

Von der halben Revolution zur ganzen Konterrevolution

Die Unterdrückung der Frauen gehörte von Beginn an zur politischen DNA des islamistischen Regimes. Anders als heute gern von den bürgerlichen Medien vereinfacht dargestellt wird, war die iranische Revolution zu Beginn am Ende der 1970er Jahre keineswegs eine „islamische“.

Im Kampf gegen das Schahregime stellten die Linken, die Arbeiter:innenklasse und auch eine starke Frauenbewegung eine zentrale Kraft dar. Politisch kann die iranische Revolution als Kampf dreier Kräfte betrachtet werden. Erstens das prowestliche despotische Schahregime, das sich auf den Imperialismus, den iranischen Staatsapparat und einen Teil der herrschenden Klasse stützte, zweitens die von liberalen, mehr und mehr aber auch von den lslamist:innen vertretene oppositionelle Bourgeoisie und Mittelklasse.

Schließlich die Arbeiter:innenschaft und bäuerliche Schichten. Sie bildeten nicht nur eine zentrale Kraft beim Sturz des Schah, sondern die Arbeiter:innenklasse errichtete auch Formen der Doppelmacht, vor allem in verstaatlichten Betrieben und auf den Ölfeldern (Schoras = Räte).

Aber die stalinistische Doktrin der iranischen Linken erwies sich selbst als Hindernis für die Revolution. Gemäß ihrer Vorstellung war das Land für eine sozialistische Umwälzung noch nicht reif, vielmehr stünde als nächste Etappe eine antiimperialistische, bürgerliche Revolution an, die die „nationale Bourgeoisie“ zuerst an die Macht bringen müsste. Vor diesem Hintergrund wurden Khomeini und seinen Anhänger:innen als Verkörperung der antimonarchischen, nationalen Revolution betrachtet.

Politisch bedeutete dies, die Interessen der Arbeiter:innenklasse wie aller Unterdrückten – und das hieß vor allem jene der Frauen – denen der „nationalen“ Bourgeoisie und damit den Islamist:innen unterzuordnen.

Dies und die eng mit ihnen verbundenen Sektoren der Kapitalist:innenklasse, insbesondere die in Teheran ansässigen Handelskapitale (Bazaris), hatten ihrerseits längst die Linke und die Arbeiter:innenklasse als unversöhnlichen Gegnerinnen ausgemacht. Das lag nicht zuletzt auch an deren Stärke. Die Eroberung des Flughafens Teheran durch bewaffnete Guerillaeinheiten, die die Armee vertrieben, und die Errichtung von Arbeiter:innenräten beunruhigten alle kapitalistischen und reaktionären Kräfte. Zu Recht fürchteten sie (wie auch die westlichen Regierungen), dass die Revolution auch die Eigentumsverhältnisse in Fragen stellen könnte.

Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass eine solche, ihrem Wesen nach sozialistische Revolution gesiegt hätte. Aber die Unterordnung der Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft unter die herrschende Klasse konnte ihrerseits nur zum Sieg der Konterrevolution führen. Khomeini und die islamistischen Kräfte vernichteten alle Kräfte der Arbeiter:innenbewegung und der demokratischen Opposition – einschließlich vieler, die ihn als „Antiimperialisten“ gepriesen hatten. Tausende und Abertausende wurden gefoltert, liquidiert oder „verschwanden“. Die Arbeiter:innenklasse erlitt eine historische Niederlage. Die halbe, im Kampf um die Demokratie stehengebliebene Revolution endete mit einer ganzen Konterrevolution.

Konterrevolution und Entrechtung

Deren Sieg bedeutete für alle Frauen im Iran eine Katastrophe. Die Elemente formaler Gleichheit, die unter dem Schah errungen und in den ersten Monaten der Revolution faktisch sogar ausgeweitet worden waren, wurden rigoros abgeschafft.

Natürlich hatten Khomeini und die Mullahs die Frauenunterdrückung und das Patriarchat nicht erfunden, sie institutionalisierten sie jedoch im extremen Ausmaß. Die Scharia, as islamische Gesetz, wurde zu deren rechtlich-ideologischer Grundlage. Hier einige zentrale Folgen für die Frauen:

– Frauen sind strengen Kleidervorschriften, die u. a. die Zwangsverschleierung umfassen, unterworfen.

– Frauen sind vor Gericht den Männern nicht gleichgestellt. Ihre Aussage zählt nur halb so viel wie die eines Mannes. In manchen Fällen sind sie erst gar nicht als Zeuginnen zugelassen.

– Frauen sind von bestimmten Berufen (Armee, Richterinnen) ausgeschlossen.

– Frauen benötigten für Arbeit, Reisen und Scheidung das Einverständnis ihrer Ehemänner, Väter oder Brüder.

– Sie haben faktisch keinen Anspruch auf Sorgerecht.

– Das Mindestalter für Ehen und die volle Strafmündigkeit wurde bei Mädchen auf neun Jahre heruntergesetzt, Abtreibungen wurden verboten.

– Männer haben das „Recht“, die sexuelle Verfügbarkeit der Ehefrau gewaltsam durchzusetzen. Vergewaltigung in der Ehe ist daher legal.

– Geschlechtertrennung wurde in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens eingeführt, zum Beispiel im Personennahverkehr, beim Sport, in Bildungsinstitutionen und bei der Gesundheitsversorgung.

Die meisten dieser Maßnahmen wurden im Zuge der „kulturellen Revolution“ der Mullahs in den Jahren 1980 – 1983 eingeführt, in einer Art konzertierter Aktion zur Auslöschung aller Errungenschaft der Frauen. Auch wenn einige wenige Gesetze seither etwas gelockert wurden, blieb das System der institutionellen Unterdrückung bis heute intakt und stellt einen Eckpfeiler der klerikalen Diktatur dar.

Diese Form begünstigt Sexismus und Gewalt bis hin zu Femi(ni)ziden in Familien, in der Öffentlichkeit und durch staatliche Repressionsorgane. So sind Folter, Missbrauch und Vergewaltigung von Frauen durch Pasdaran (Iranische Revolutionsgrade), Sittenpolizei und andere Reaktionswächter weit verbreitet. Im Extremfall wurden Vergewaltigungen vor Hinrichtungen sogar durch sog. „Zeitehen“ gegen den Willen der Frauen von Geistlichen legalisiert.

Welche Revolution?

Die Erfahrungen der iranischen Revolution (und eigentlich aller wichtigen Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen (sowie armen Bauern und Bäuerinnen sowie unterdrückten Nationalitäten) im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzutasten. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit der ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung eine demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des demokratischen Imperialismus und nichtmonarchistischer Kräfte). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der lohnabhängigen Frauen, der Student:innen und Arbeiter:innenklasse insgesamt zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen und Mittleren Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung gipfelt, entsteht nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden. Und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können.

In einer Situation, in der die Repression immer erdrückender gerät, ist es jedoch schwieriger denn je, eine offene Debatte über Strategien zu führen. Hierbei könnten wohl im Exil Lebende eine wichtige Rolle spielen, doch es bleibt zentral, dass die linken Organisationen vor Ort sich dieser Debatte nicht verschließen. Andernfalls verblasst das Potenzial erneut.

Denn klar ist: Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Von der Verteidigung der Bewegung zur Revolution

von Martin Suchanek, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Die Demonstrant:innen auf den Straßen, die Studierenden an den Unis, die Arbeiter:innen in vielen Betrieben verbinden seit Monaten Parolen wie „Jin, Jiyan, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) mit dem Ruf nach dem Sturz des Regimes. Ihnen ist längst bewusst, dass es einer Revolution, einer grundlegenden Umwälzung bedarf, um ihr Ziel, die Gleichberechtigung der Frauen, ein Leben frei von islamistischer und patriarchaler Gängelung durchzusetzen. Entweder siegt die Bewegung, die Revolution oder die blutige Konterrevolution des Regimes.

Trotz der Repression im Herbst 2022 verbreiteten sich die Proteste wochenlang. Die Aktionen waren auf lokaler, universitärer und betrieblicher Ebene durchaus koordiniert, werden von illegalen oder halblegalen Gruppierungen geführt oder von Gewerkschaften, die sich in den letzten Jahren im Untergrund gebildet hatten. Aber die Bewegung besaß kein landesweites, alternatives Macht- und Koordinationszentrum, das den Apparat des Regimes paralysieren oder es gar mit diesem aufnehmen könnte.

In den letzten Wochen zeigt sich dieses Problem immer deutlicher. Die Konterrevolution hat die Initiative ergriffen, droht, die Bewegung im Blut zu ersticken.

Um das zu verhindern, braucht sie Kampfformen, die sie vereinheitlichen kann und die das gesamte Land erschüttern können – und das kann nur ein politischer Generalstreik zur Verteidigung der Bewegung und zum Sturz des Regimes sein.

Dieser würde nicht nur die Produktion und Infrastruktur des Landes lahmlegen und ökonomischen Druck ausüben. Die Arbeiter:innen müssten auch entscheiden, welche Produktion sie für die Versorgung der Menschen aufrechterhalten. Vor allem aber müsste ein solcher Generalstreik auch Kampforgane, Aktionskomitees schaffen, die sich auf Massenversammlungen stützen, die an den Räten der iranischen Revolution, den Schoras, anknüpfen würden.

Solche Organe wären natürlich nicht nur betriebliche Strukturen. Sie könnten ebenso gut an Universitäten, in den Stadtteilen und auf dem Land durch Massenversammlungen gewählt werden. Alle Unterdrückten, die Frauen, die Jugend, die nationalen Minderheiten würden darin einen zentralen Platz einnehmen. Die Bewegung würde so auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene zusammengeführt werden, faktisch zu einem Zentralorgan der Bewegung geraten.

Der Generalstreik würde dabei zugleich als Schutzschild gegen das Regime fungieren, indem er Formen der revolutionären Legalität durchsetzt, also Doppelmachtorgane schafft, die eine Alternative zum Staatsapparat darstellen.

Dazu braucht es notwendigerweise die Bildung von Schutzeinheiten für den Generalstreik selbst, von Arbeiter:innen- und Volksmilizen. Diese Politik müsste durch Aufrufe an die Soldat:innen ergänzt werden, dem Regime die Gefolgschaft zu verweigern, Soldat:innenräte zu bilden, die Offizierskaste zu entmachten, reaktionäre Kräfte zu entwaffnen und Arsenale für die Arbeiter:innenmilizen zu öffnen.

Dazu müsste die Arbeiter:innenklasse selbst jedoch nicht nur als soziale aktive Kraft hervortreten. Sie müsste der Bewegung nicht nur die Kraft zum Sieg verleihen, sondern sie bräuchte auch ein eigenes Programm, wie die Revolution vorangetrieben werden kann und welche neue Ordnung im Iran durchgesetzt werden soll.

Übergangsprogramm

Es braucht ein Programm, das die demokratischen Aufgaben und die soziale Frage revolutionär angeht, miteinander verbindet mit dem Ziel der Schaffung einer Arbeiter:innen und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die die Revolution zu einer sozialistischen macht. Kernforderungen eines solchen Programms müssten sein:

  • Gleiche Rechte und volle Selbstbestimmung für alle Frauen! Abschaffung der reaktionären Kleidervorschriften und aller anderen diskriminierenden Gesetze!
  • Volle demokratische Rechte für die Jugend! Abschaffung aller reaktionären Vorschriften, die ihre geistige Betätigung, ihre Bewegungs- und Ausdrucksfreiheit beeinträchtigen!
  • Abschaffung der Zensur und aller Einschränkungen der Meinungs- und Publikationsfreiheit! Für die vollständige Trennung von Staat und Religion!
  • Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen und Nationalitäten wie Kurd:innen, Belutsch:innen! Gleiche Rechte für Geflüchtete wie z. B. die 3 Millionen Afghan:innen!
  • Für eine verfassunggebende Versammlung, einberufen unter Kontrolle der revolutionären Massen und ihrer Organe in den Betrieben und Stadtteilen!
  • Sofortprogramm zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut! Mindestlohn und Mindesteinkommen für Arbeitslose, Jugendliche und Rentner:innen, um davon in Würde leben zu können, festgelegt von Arbeiter:innenausschüssen, ständig angepasst an die Inflation!
  • Massive Besteuerung von Unternehmensgewinnen und privaten Vermögen! Streichung der Auslandsschulden! Beschlagnahme aller Vermögen und Unternehmen der Mullahs, diverser regimetreuer halbstaatlicher Organisationen und Wiederverstaatlichung der an Günstlinge des Regimes privatisierten Unternehmen!
  • Arbeiter:innenkontrolle über die verstaatlichte Industrie und alle anderen Unternehmen!Entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer:innen, des Großhandels und der großen Industrie und Banken sowie der ausländischer Konzerne unter Arbeiter:innenkontrolle! Für ein Notprogramm zur Versorgung der Massen, zur Erneuerung der Infrastruktur und der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, der Frauen und der Jugend und ökologischer Nachhaltigkeit!
  • Schluss mit der Unterstützung des russischen und chinesischen Imperialismus und reaktionärer Despotien wie des Assadregimes! Keine Unterstützung der USA und anderer imperialistischer Staaten in der Region! Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf! Bündnis mit der Arbeiter:innenklasse, demokratischen und antiimperialistischen Kräften gegen ihre reaktionären Regierungen und imperialistische Intervention!
  • Zerschlagung des islamistischen Regimes und des reaktionären Staatsapparates! Für eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte und Milizen stützt, die herrschende Klasse enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt!
  • Für die Ausweitung der Revolution! Für eine Föderation Sozialistischer Staaten im Nahen und Mittleren Osten!



Geschlechterrollen, Familienideal & Kommodifizierung: Sind Liebe und Sexualität im Kapitalismus unterdrückerisch?

Von Leonie Schmidt, Februar 2023

Heute, am 14. Februar, wird vielerorts der Valentinstag gefeiert, an dem sich Pärchen gegenseitig beschenken oder einander auf viel zu teure Dates in noble Restaurants einladen. Manche beschließen von vorneherein, da nicht mitzumachen, weil sie schon ein Bauchgefühl haben, dass die Kommerzialisierung von zwischenmenschlichen Beziehungen befremdlich ist. Manche Feminist_Innen kritisieren, dass cis Männer lieber Blumen verschenken, anstatt den Gender Orgasm Gap zu schließen, welcher sich auf die Tatsache bezieht, dass Frauen in heterosexuellen Beziehungen um einiges seltener zum Orgasmus kommen als ihre Partner. Häufig wird suggeriert, die 68er Bewegung hätte die Sexualität befreit und jede_r dürfte sowieso jede_n lieben.  Doch nicht nur am Valentinstag sind Liebe und Sexualität eng mit dem Kapitalismus verwoben. Sie sind nicht frei von unserer Gesellschaftsordnung, und erfüllen im Kapitalismus bestimmte Funktionen, Das wollen wir uns in diesem Artikel näher anschauen.

Liebe und Sexualität sind nicht frei

Beginnen wir mit der Grundlage: Während unserem Sozialisierungsprozess wird uns beigebracht, das höchste aller Ziele wäre eine monogame, heterosexuelle Paarbeziehung, aus welcher bestenfalls eine Familie mit Kindern wird. Diese Idee manifestiert sich in den Medien, im Freund_Innenkreis, und wenn die Großeltern nachbohren, ob man denn endlich in einer Beziehung sei. Auch, wenn wir anfangen, einen Menschen interessant zu finden, kommt von allen Seiten die Erwartung auf, dass diese Gefühle in etwas ‚Handfestem‘ resultieren müssen. Dieses Ideal ist ausschließend für alle, die es nicht erfüllen können oder wollen, zum Beispiel LGBTIA+ Personen, insbesondere Personen auf dem asexuellen und aromantischen Spektrum. Aber auch polyamoröse Personen und alle, die noch nicht die ‚richtige‘ Person gefunden haben, werden unter Druck gesetzt.

Zu diesem Ausschluss kommen noch Erwartungen an alle Personen in Form von Geschlechterrollen. Diese sind gesamtgesellschaftlich vertreten, aber besonders im Bereich der Romantik und Sexualität anzutreffen. Dazu gehören zum Beispiel die Annahme, Frauen müssten beim Sex immer frisch rasiert sein, oder das Narrativ, Männer wären genervt, wenn Frauen sie zu sehr kritisieren. Besonders perfide sehen wir Rollenerwartungen bei Schönheitsidealen, durch die gerade Frauen extrem viel Geld ausgeben müssen, um an ein unerreichbares Ideal heranzukommen. Außerdem herrscht maßgeblich unter Frauen ein starker misogyner Konkurrenzkampf, der einige dazu bringt, sich mithilfe von Abwertung und Selbstvermarktung über vermeintliche Gegenspielerinnen zu erheben.

Bürgerliche Sexualmoral

Auch die bürgerliche Sexualmoral sorgt dafür, dass Liebe und Sexualität im Kapitalismus nicht frei sind, sondern prüde und moralisierend. Über Sexualität darf zwischen Sexualpartner_Innen kaum offen gesprochen werden. Die meisten Äußerungen müssen aus ironischer Distanz heraus erfolgen, da ehrliche Bekenntnisse zu Slutshaming führen können. Im schulischen Aufklärungsunterricht geht der Inhalt über einfache, teils falsche Beschreibungen der Vorgänge und knappe Erklärungen klassischer Verhütungsmethoden nicht hinaus. Außerdem geht die bürgerliche Sexualmoral davon aus, dass es eine normale, brave, heterosexuelle und monogame Sexualität gäbe, welche sich von einer anormalen und perversen Sexualität grundlegend unterscheiden würde. Diesen Gegensatz sieht man zum Beispiel im Madonna-Hure-Komplex. In der psychoanalytischen Literatur wird mit diesem Begriff beschrieben, dass cis Männer gewisse sexuelle Praktiken nicht mit ihrer Ehefrau oder Freundin ausführen können, oder sie gar nicht erst begehren können. Hingegen können sie sie mit einer Frau umsetzen, mit der sie nicht in einer romantischen Beziehung stehen, und die sie erniedrigen dürfen, oftmals eine Prostituierte. Das geht damit einher, dass die eigene Frau als unschuldige Heilige vergöttert wird. Diese Teilung der Frauen nach ihrer Funktion existierte bereits im antiken Griechenland, wo eine Dreiteilung vorherrschte: Es gab die Ehefrau, zuständig für Haushalt und Familie, die Frau für die romantische Liebe und die Frau für die sexuelle Befriedigung. Wie Engels schon beschrieben hat, sind das Ideal der bürgerlichen Familie mitsamt braver Sexualität und die Nachfrage von Prostitution unmittelbar miteinander verknüpft.

Das Ideal der bürgerlichen Familie

Was ist überhaupt das Ideal der bürgerlichen Familie? Dieses hat sich über die Geschichte der Menschheit hin entwickelt. Früher, in der sogenannten Urgesellschaft, gab es keine monogam lebende Familie, bestehend aus Mutter, Vater und Kindern. Stattdessen gab es einen Stamm ohne monogame Einschränkung und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Sowohl Männer als auch Frauen waren an der Jagd beteiligt, während Alte, Kranke und Schwangere sich um das Aufziehen der Kinder und um den ‚Haushalt‘ kümmerten. Erst mit der Entstehung des Privateigentums aufgrund von gestiegener Produktionskraft differenzierte sich die monogame Ordnung heraus. Es entstand ein Überschuss, mit dem gehandelt werden konnte, und irgendwie musste die Frage des Erben geklärt werden.

Heutzutage ist das Ideal der bürgerlichen Familie dafür da, die Reproduktion der Ware Arbeitskraft ins Private zu drängen. Die Reproduktionsarbeit bezieht sich sowohl auf die Produktion neuer Arbeiter_Innen durch die Kindererziehung, als auch auf die Regeneration der bereits vorhandenen Arbeiter_Innen durch Care-Arbeit, bestehend zum Beispiel aus Nahrungsaufnahme. Frauen werden in diese unbezahlte Arbeit hineingedrängt, was die Basis der Frauenunterdrückung im Kapitalismus darstellt. Frauen der Arbeiter_Innenklasse werden doppelt ausgebeutet, einerseits durch die Lohnarbeit, andererseits durch die Reproduktionsarbeit. Auch wenn cis Männer sich gern öffentlich damit brüsten, wie toll sie ihren Frauen unter die Arme greifen würden, verbringen Frauen zusätzlich zur eigenen Care-Arbeit im Durchschnitt mehrere Stunden pro Woche damit, die unzureichend erledigten Aufgaben ihres Partners nachzubessern, oder ihn an anstehende Aufgaben zu erinnern. Nur die Frauen des Bürger_Innentums können sich durch Hauspersonal von ihren Pflichten freikaufen.

Das Ideal der bürgerlichen Familie wird durch die bereits erwähnten Geschlechterrollen aufrecht erhalten. Der Mythos, dass Frauen natürliche Mutterinstinkte hätten, traumatisiert viele Frauen nachhaltig, wenn sie aufgrund von fehlender Erfahrung als „schlechte Mutter“ abgestempelt werden oder dafür beschämt werden, auch auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten. Außerdem wird die ökonomische Abhängigkeit durch den Gender Pay Gap aufrecht erhalten. Besonders in Zeiten von kapitalistischen Krisen, wenn Männer es nicht mehr schaffen, als Beschützer und Ernährer der Familie zu fungieren, wird das Fundament der bürgerlichen Familie angegriffen. Das führt zu vermehrter Gewalt gegen Frauen und LGBTIA+-Personen, um diese Form der Unterdrückung aufrecht zu erhalten.

Kommodifizierung von Liebe und Sexualität

Kommodifizierung bedeutet, dass etwas zur Ware oder zur Dienstleistung gemacht wird. Sexualität zum Beispiel kann ein Mittel zur Erzeugung von Mehrwert sein, wie wir es bei erotischen Werbungen in der Parfümbranche sehen können. In Bezug auf Sexualität existiert das Attribut der Attraktivität, welches zur Ware im Konkurrenzkampf werden kann. Außerdem können Produkte gekauft werden, welche versprechen, die eigene Attraktivität zu erhöhen. Die Selbstaufwertung durch eine besonders erfolgreiche oder schöne Beziehungsperson kann ebenfalls als Warenwerdung von Attraktivität charakterisiert werden. Auch Erfahrungen in Sachen Sexualität können bei Männern positiv bewertet werden und zum Teil der Selbstvermarktung werden.

Auch Liebe kann zur Ware werden, wie uns der Valentinstag vor Augen führt. Geschenke, besondere Dates, Blumen, Schmuck, etc.: Wir vermitteln unsere Gefühle gern über Waren. Die Soziologin Eva Illouz betrachtet in ihren Werken den Konsum der Romantik. Damit ist gemeint, dass im letzten Jahrhundert die Praktik entwickelt wurde, Romantik mit dem Konsum von Waren zu verbinden, was die Waren zugleich ‚romantischer‘ erscheinen lässt. Ein prägnantes Beispiel: Ein Sektfrühstück gilt als romantischer, als eine Currywurst zu essen, zumindest nach dem gesamtgesellschaftlichen Standard.

Auch bei Dating-Apps können wir erkennen, wie Liebe zur Ware wird: Für bestimmte Interaktionen, die mehr Erfolg versprechen, werden wir zur Kasse gebeten. Natürlich müssen hier besonders diejenigen tief in die Tasche greifen, die sonst keine Erfolge verbuchen, etwa weil sie nicht als normschön gelten. Algorithmen messen auch eine Attraktivitätsskala aus und es werden einander nur Menschen angezeigt, die als gleich attraktiv bewertet wurden.

Sexualität kann durch Prostitution und Pornographie zur Ware werden. Zur genauen Einordnung davon, warum wir der Meinung sind, dass Prostitution eine Dienstleistung sein kann, solange es sich nicht um Zwangsprostitution handelt, möchten wir auf einen anderen, ausführlicheren Artikel zum Thema verweisen.

Die bürgerliche Ehe bleibt ebenfalls nicht von der Kommodifizierung verschont. Hier tauscht der Mann die ökonomische Sicherheit der Frau gegen den unbegrenzten Zugriff auf sexuelle Gefälligkeiten ein.

Perspektive

Das alles klingt ziemlich scheiße. Aber wie können wie als Kommunist_Innen dafür sorgen, dass Sexualität und Liebe uns nicht mehr zwanghaft aufgestülpt und dem bürgerlichen Bewusstsein unterworfen werden? Wir sind der Ansicht, dass wir dafür den Kapitalismus und die Klassengesellschaft überwinden müssen. Solange die Existenz von unbezahlter Reproduktionsarbeit dem Kapital nützt, wird auch das Ideal der bürgerlichen Familie aufrecht erhalten werden.

Deshalb schlagen wir vor, die Reproduktionsarbeit im Sozialismus kollektiv zu organisieren. In jedem Viertel soll es eine Mensa geben, sowie Waschküchen und gemeinsame Kindererziehung, wo jede_r einmal an der Reihe ist. Dadurch wird es möglich, dass sich die Wohnsituationen ändern. Die sowjetischen Kommunistin Alexandra Kollontari schlug eine Art WG vor, in der jedes Mitglied einen eigenen Rückzugsort hat. Diese Wohnverhältnisse würden, mitsamt der vergesellschafteten Reproduktionsarbeit, die Familie als Wohn- und Gesellschaftsort obsolet machen. Die Abkehr vom Ideal der bürgerlichen Familie könnte auch ein Ende von Monogamie und Paarbeziehung bedeuten, wie wir sie kennen. Zwischenmenschliche Beziehungen müssten nicht mehr derart gelabelt werden, Freund_Innenschaften müssten nicht mehr als zweitklassig neben der romantischen Paarbeziehung gelten. Des Weiteren würde das Ende dieses Ideals ein Ende von Geschlechterrollen und dem damit einhergehenden Optimierungszwang bedeuten.  Die bürgerliche Sexualmoral würde an Relevanz verlieren und absterben.

An dieser Stelle finden wir es wichtig, ordentlichen Aufklärungsunterricht zu fordern, der die zwischenmenschlichen Aspekte der Intimität in den Vordergrund rückt und das aktive Konsensprinzip vermittelt. Der Unterricht sollte vielfältige Beziehungskonstellationen vorstellen und nach den Bedürfnissen der Lernenden in Zusammenarbeit mit den Lehrenden organisiert werden.




Q&A: Täterschutz in der radikalen Linken – Was tun, um das zu verhindern?

Von Leonie Schmidt

Ob in Berlin, Leipzig oder Karlsruhe, ob in der kommunistischen Parteijugend, der lokalen roten K-Gruppe oder im Anarcho Freundeskreis, ja selbst in der Linkspartei: Innerhalb der (radikalen) Linken kommt es immer wieder zu patriarchaler Gewalt (psychisch, physisch und sexualisierter Gewalt, zumeist ausgeübt durch cis Männer). Dabei flammen dann auch die Diskussionen über den Umgang damit auf und so wurden wir nun im Q&A gefragt, wie man mit solchen Taten umgehen sollte. Das soll dieser Text etwas konkreter beantworten, auch um einen Debattenbeitrag zu liefern. Denn in den meisten Fällen zeigt sich, dass linksradikale Strukturen keine allgemein festgelegte Vorgehensweise haben, um diese Fälle aufzuarbeiten, nicht transparent mit den eigenen Genoss_Innen darüber kommunizieren, oder die Anschuldigungen gar nicht erst ernst nehmen. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass der stabile Genosse wirklich zum Täter werden kann, vor allem wenn es (vermeintlich) keine Anzeichen dafür gab. Und so bleibt den Betroffenen (meist nach einem gescheiterten Aufarbeitungsversuch) nichts anderes übrig, als die Strukturen zu verlassen und Demos sowie Hotspots der Linken Szene zu meiden, während die Täter unbekümmert weiter Politik machen dürfen und bestenfalls sogar noch auf feministische Demos, wie z.B. den Tag gegen patriarchale Gewalt 2022 in Leipzig, geschleppt werden. Das darf aber nicht so sein, vor allem wenn wir uns als Kommunist_Innen sonst auf die Fahne schreiben, gegen Sexismus in all seinen Ausführungen zu sein. Wir als REVOLUTION haben daher eine Strategie ausgearbeitet, wie wir intern mit Tätervorwürfen umgehen. Diese wollen wir im Folgenden darstellen.

Disclaimer: Unsere jetzige Position haben wir über die letzten Jahre kontinuierlich erarbeitet. Sie ist das Ergebnis von Debatten über Definitionsmacht, sowie praktischen Erfahrungen im Umgang mit sexuellen Grenzüberschreitungen in unserer eigenen Organisation, bei denen sich auch betroffene Genossinnen mit Kritik beteiligt haben. Dabei wollen wir ehrlich sein: Wir haben bei diesen Prozessen auch Fehler gemacht und wir glauben nicht, dass unser Umgang perfekt ist. Unser Ziel ist es gewesen, einen demokratischen Umgang zu finden. Das bedeutet auch, dass wir nicht allen Bedürfnissen aller Betroffenen nachkommen können.

Warum gibt es überhaupt patriarchale Gewalt in linken Strukturen?

Wir sind alle ein Produkt unserer Umwelt. Somit hat das allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein, was patriarchal geprägt ist, Auswirkungen auf uns und unser Verhalten, auch wenn wir uns entscheiden, uns politisch zu organisieren. Die gesamtgesellschaftliche Frauenunterdrückung, basierend auf dem Idealbild der bürgerlichen Familie, unbezahlter Reproduktionsarbeit und sexistischer Stereotypen, sorgt dafür, dass Frauen als weniger Wert angesehen werden, während Männer die Starken sein sollen, die sich einfach nehmen, was sie wollen. Sprüche wie „Wenn Frauen nein sagen, meinen sie eigentlich ja“ verstärken das Bild der Frau, die alles über sich ergehen lässt, während der Mann für Grenzüberschreitung sogar noch gesellschaftlich belohnt wird. Dies wird in Filmen und Märchen ständig vermittelt, dass „richtige Männer“ immer ganz genau wissen, was sie wollen und was auch das Gegenüber vermeintlich will. Eine fehlende Auseinandersetzung mit Konsens-Konzepten in Erziehung oder während des Sexualkundeunterrichts tut ihr übriges, denn wenn man nicht lernt, über Konsens zu kommunizieren, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Übergriffigkeiten kommt, ziemlich hoch. Kurzum: Die bürgerliche Gesellschaft sozialisiert uns mit unterdrückerischem Verhalten und deswegen ist auch Niemand von uns „frei“ davon.

Prävention ist das A und O

Das führt uns dazu, dass es nicht reicht, erst zu handeln, wenn etwas passiert ist. Daher haben wir als Organisation verschiedenen Ansätze zur Prävention. Diese können zwar Übergriffigkeiten nicht komplett verhindern, aber zumindest dafür sorgen, dass wir uns kollektiv mit unseren Machtpositionen und Verhaltensweisen auseinandersetzen. Die SDAJ hat kürzlich in ihrem „Statement zum Vorwurf des Täterschutzes“ geschrieben, dass jede Person sich mit der eigenen geschlechtlichen Rolle auseinandersetzen muss. Das mag letzten Endes richtig sein, aber es scheint, als wäre es allen selber überlassen, als gäbe es keine Kontrolle oder gemeinsame Diskussion darüber. Wir haben den Ansatz, dass wir mehrmals jährlich für cis Männer verpflichtende Reflexionstreffen anbieten. Natürlich hat dieses Konzept auch seine Grenzen. Reflexion alleine kann keine lebenslang gelernten Verhaltensmuster beenden. Gleichzeitig ist es aber ein Mittel, sich die eigene Sozialisierung und die Auswirkungen dessen ins Bewusstsein zu rufen und mit Anderen in den offenen Austausch zu treten, sowie zu lernen, beispielsweise über das eigene Redeverhalten oder die eigene Sexualität zu reden. Außerdem ist es möglich, dass Frauen, LGBTIA-Personen und anderen gesellschaftlich unterdrückten Gruppen einen Caucus einberufen können, in welchem über Unterdrückungsmechanismen und Vorfälle innerhalb der Organisation diskutiert werden kann. Diese  Caucuse sind nur Personen der jeweiligen sozialen Unterdrückung betretbar. Wir wollen damit unterdrückten Gruppen einen Raum geben, um unter sich zu diskutieren und Missstände zu besprechen. Sie können sowohl organisatorische, politische als auch analytische Vorschläge an die Leitung machen und ihre Anliegen als Kollektiv in die Organisation tragen, während wir alle gemeinsam organisiert sind. Außerdem muss jede Person, die bei uns Mitglied werden möchte, ein Konsensgespräch führen, bei welchem wir unser Konsensprinzip „Nur ja heißt Ja!“ vorstellen und es auch eine Möglichkeit zur Reflexion gibt.

Wir wollen an dieser Stelle nicht so idealistisch sein und annehmen, dass es deswegen nie wieder Vorfälle geben wird oder wir als Organisation unterdrückungsfreie Räume schaffen können. Denn wie bereits erwähnt leben wir in einer Gesellschaft, die stetig unterdrückerisches Verhalten reproduziert. Deswegen ist es jedoch die Aufgabe einer jeden Organisation einen Umgang damit zu finden, Vorfälle aufzuarbeiten und wenn es geht, Personen gar nicht erst zu Tätern werden zu lassen. Das machen wir, während uns gleichzeitig bewusst ist, dass um sexistische und übergriffige Verhaltensweisen hinter uns zu lassen, es nicht nur reicht, an uns selbst zu arbeiten. Wir müssen das Problem bei der Wurzel packen, das gesamte Patriachat mitsamt der Klassengesellschaft zerschlagen.

Konkreter Vorwurf und jetzt?

Zuerst einmal müssen wir jeden Vorwurf und jedes Anzeichen ernst nehmen. Sollte also ein Vorwurf aufkommen, muss sofort gehandelt werden. Es wird eine Kommission gegründet, bestehend aus mehrheitlich gesellschaftlich Unterdrückten. Die Kommission hat dabei das Ziel, den Fall im Interesse der Organisation zu untersuchen und ist ihren Strukturen rechenschaftspflichtig, sowie wähl- und abwählbar. Ihre Aufgabe ist, den Fall zu untersuchen und eine Empfehlung bzgl. des Täters an die demokratisch legitimierte Leitung auszusprechen, welche dann darüber entscheidet. Im Gegensatz zu einer Einzelperson hat das Kollektiv die Möglichkeit, darüber zu diskutieren, wie zu verfahren ist und das Problem wird nicht bei einer Einzelperson abgelegt, wie es in Teilen der radikalen Linken üblich ist. Die Kommission untersucht nicht aufgrund von Misstrauen gegenüber der betroffenen Person den Fall, da wir ihre Aussage auch als Indiz werten. Da es aber manchmal widersprüchliche Aussagen gibt oder auch das Ziel ist, herauszufinden, ob von der beschuldigten Person weiter Gefahr ausgeht, braucht es eine überprüfende Instanz. Dabei hat die betroffene Person viele Rechte. Beispielsweise hat sie die Möglichkeit, eine Sprecherperson für sich zu wählen, damit sie nicht zwangsläufig mit fremden Genoss_Innen darüber sprechen muss oder kann auch wesentlich später eine Aussage machen, falls es ihr nicht gut geht. Ebenso kann sie auch Einspruch einlegen, wenn sie mit dem Ergebnis der Kommission nicht einverstanden ist.

Die beschuldigte Person auf der anderen Seite wird ihrer demokratischen Rechte enthoben, während gleichzeitig ihre Pflichten gegenüber der Organisation bestehen bleiben. Dies ist nicht mit der Schuldsprechung gleichzusetzen, sondern gilt zum Schutz der Organisation. Dieser Zeitraum kann auch unterschiedliche Auflagen mit sich bringen, beispielsweise Kontakteinschränkungen um Gossip und Falschdarstellungen durch den Täter zu unterbinden. Hier ist aber die Mitarbeit am Kommissionsprozess verpflichtend. Der Name von betroffenen Personen wird aus Schutzgründen nicht genannt, während der Täter aus Sicherheitsgründen intern genannt werden muss, um Transparenz vor der Mitgliedschaft zu gewährleisten. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal betonen, dass es wichtig ist, diese Prozesse nicht vor der Mitgliedschaft zu verheimlichen! Natürlich dürfen keine Details veröffentlicht werden, von denen Schlüsse gezogen werden können, wer die betroffene Person ist, oder unnötig intime Details der Tat, die niemanden was anzugehen haben. Aber nur die (interne) Transparenz kann helfen, Täterschutz zu unterbinden. Zeigt der Täter keine Einsicht, hält sich mehrmals nicht an die Auflagen oder ist nicht reflexionswillig, so wird er aus der Organisation ausgeschlossen. Hier behalten wir uns vor, die Person an andere linke Strukturen zu outen. Dabei ist es für uns zentral, dass wir klare Aufforderungen machen, wie die Tat aufgearbeitet werden soll, da es uns darum geht, Druck aufzubauen, um die Aufarbeitung in Gang zu setzen, aber auch einen Weg aufzeigen, über den ein Täter wieder zurück in die Organisation finden kann. 

Der Kommissionsprozess dient zur Klärung des Falles, bringt der Betroffenen an sich jedoch wenig, zumal so ein Prozess meist emotional belastend ist. Der Fokus sollte natürlich sein, die Betroffene zu unterstützen und ihr zu helfen, wieder ein selbstbestimmter Teil der Organisation zu sein und an politischen Treffen und Aktionen teilnehmen zu können. Als politische Organisation haben wir nur begrenzt Ressourcen und als in diesem Bereich unausgebildete Jugendliche können wir keine psychologische Aufarbeitung gewährleisten. Daher unterstützen wir Betroffene auch bei der Suche nach Hilfsangeboten. Auf eine andere Art und Weise verfahren wir mit dem Täter, sobald er die Tat glaubhaft eingestanden hat. Hier stellen wir keine Ressourcen für die Aufarbeitung bereit, sondern geben Auflagen vor und überprüfen dessen Stand. Eine Aufarbeitung passiert nicht in ein paar Wochen oder Monaten, je nach Intensität der Tat kann eine (aus unserer Sicht verpflichtende) Therapie nötig sein. Meist fordern wir auch eine politische Auseinandersetzung mit der Tat oder das Vorbereiten von Inputs oder Artikeln zum Thema. So kann die Auseinandersetzung mit der übergriffigen Verhaltensweise überprüft werden und ob dabei wirklich Fortschritte gemacht werden. Wir halten hier den Ansatz des Konzepts der transformative Justice für interessant. Der Täter muss neben dem glaubhaften Eingeständnis auch Anerkennen, welchen Schaden er durch sein bewusstes Handeln angerichtet hat. Er muss die Gründe für sein Handeln nachvollziehen und herausfinden, ob zusätzliche Abhängigkeitsstrukturen durch ihn geschafft wurden. Zentral ist es, Strategien aufzuzeigen, wie er diese Verhaltensweisen zukünftig verhindern sollte. Dahinter steht ein fortschrittliches Menschenbild: Wir glauben daran, dass Menschen sich ändern können! Ansonsten könnte man es mit dem Kommunismus auch insgesamt vergessen.

Reicht das?

Aber ein sehr wichtiger Aspekt dieses Ansatzes ist auch, dass die Community, Szene oder Gruppe in dessen Kontext die Tat geschehen ist, ebenso angesehen wird. Wurden Anzeichen übersehen? Gibt es konkrete Ansätze der Gruppe, die so etwas verstärken können wie zum Beispiel, dass individuelle Gewalt und besonders männlich-dominantes Auftreten als legitime politische Mittel angesehen werden, psychische Gewalt als nicht so schlimm abgetan wird oder es kein genügendes Verständnis davon gibt, was eigentlich schon alles patriarchale Gewalt ist? Gibt es überhaupt Mechanismen, wo man sich präventiv z.B. mit Konsens auseinandersetzen kann? Gibt es Möglichkeiten zur kollektiven Reflexion? Und noch einen sehr anderen wichtigen Punkt vor allem bzgl. Täterschutz, der von vielen vergessen wird: Gibt es sowohl für die Mitgliedschaft als auch für Außenstehende eine nachvollziehbare Ansprechperson, im besten Fall ein Teil der Leitung, um solche Fälle zu melden? Um Täterschutz zu vermeiden und einen Umgang mit Gewalt zu finden, sollten sich Organisationen diese Fragen stellen!

Insgesamt muss uns jedoch bewusst sein: Als politische Organisation haben wir begrenzte Ressourcen für Prävention, zur Unterstützung von Betroffenen oder zur Aufarbeitung mit Tätern. Das ist in jedem Fall – insbesondere für die Betroffenen- ein Problem. Verursacht wird das jedoch nicht durch falsche Schwerpunktsetzung einzelner Organisationen, sondern ist Ergebnis des gesellschaftlichen Missstandes im Umgang mit sexualisierter Gewalt. Das heißt: Der obig beschriebene Umgang mit sexueller Gewalt ist nicht genug. Deswegen muss es die Aufgabe von Kommunist_Innen sein, für gesamtgesellschaftliche Veränderungen einzustehen, auch wenn man den Umgang in der eigenen Organisation oder der Linken insgesamt ändern will. Konkret heißt das: Wir können das Elend der Gesellschaft nicht auffangen, deswegen müssen wir zeitgleich dafür kämpfen, dass eine Bewegung entsteht, die das Problem – den Kapitalismus an der Wurzel packt, während man auch für konkrete Verbesserungen im hier und jetzt kämpft:

  • Nein heißt Nein reicht nicht aus! Für die Pflicht aktiv sexuellen Konsens zu suchen! Verbot einer Befragung, bei der die Betroffene nach Kleidung gefragt wird oder ihr in irgendeiner anderen Weise die Schuld zu gesprochen wird.
  • Anzeigen dürfen keine Hürden sein! Flächendeckende Anlaufstellen zur Meldung von sexueller Gewalt! Sofortige, kostenlose psychologische Betreuung, wenn gewünscht; sowie der Ausbau von Frauen_FLINTA-Häusern! Statt Polizei Untersuchungskommissionen bestehend aus Gewerkschaften & Betroffenenvertretungen, die vollen Zugang zu den Mitteln der Polizei haben!
  • Kostenlose Rechtsberatung und Übernahme der Prozesskosten, sowie längerfristige Hilfeangebote für Betroffene von sexueller Gewalt, finanziert durch den Staat! Für das Recht auf mehr bezahlte Urlaubstage, sowie eine Mindestsicherung angepasst an die Inflation!
  • Weg mit den Berufsrichter_Innen, für rechenschaftspflichtige, demokratisch wähl- und abwählbare Tribunale, die sich aus der Arbeiter_Innenklasse und Menschen mit verschiedenen Unterdrückungserfahrungen zusammensetzen!
  • Für demokratisch gewählte und organisierte Selbstverteidigungskomitees von Frauen und LGBTIA+ in Zusammenschluss mit der Arbeiter_Innenklasse!
  • Für die Einrichtung und Ausbau von Rehabilitationsprogrammen für sexuelle Gewalttäter.

Hier noch 2 weiterführende Texte von uns:

Wohin mit all den Täter?

Kampf gegen sexuelle Gewalt an Frauen: abseits des Staats, gegen ihn oder mit ihm?




Außerehelicher Sex und kommunistische Ideen verboten: Wider den reaktionären Gesetzen in Indonesien!

Von Jona Everdeen

Eine Meldung sorgte in den letzten Monaten im Westen für Erstaunen und Schrecken: „Indonesien verbietet außerehelichen Sex“. Doch die Tatsache, dass man in Zukunft in Indonesien bis zu einem Jahr ins Gefängnis kommen kann, einfach nur weil man konsensualen Sex mit einer Person hat, mit der man nicht verheiratet ist, ist nur die Spitze des Eisbergs des neuen indonesischen Strafgesetzes.

Und während sich die bürgerlichen Medien des Westens vor allem über die Konsequenzen für Tourist_Innen sorgen, werfen wir einen Blick auf die reaktionäre Entwicklung im viertbevölkerungsreichste Land der Welt und die Konsequenzen, die diese für seine ungefähr 250 Millionen Einwohner:Innen haben wird.

Was steht im neuen Gesetz?

Das neue Strafgesetzbuch, das Präsident Joko Widodo und seine Regierung nun final verabschiedet haben, soll in erster Linie das alte aus der Kolonialzeit ersetzen.

Was grundsätzlich nach einem progressiven Schritt klingt, schließlich wirft das Land somit Reste seiner vergangenen kolonialen Unterdrückung endgültig ab, wird leider von dem gegenteiligen Inhalt überschattet.

Nachdem das neue Gesetz bereits 2019 vorgelegt wurde und damals auf massiven Protest stieß, wurde es noch einmal, hinter verschlossener Tür und somit ohne Mitspracherecht der Öffentlichkeit, überarbeitet und jetzt in „abgeschwächter Form“ beschlossen und soll ab 2025 in Kraft treten. Wirklich fundamental hat sich jedoch nichts geändert. Das Verbot von außerehelichem Sex und weitgehende Einschränkungen der Meinungsfreiheit bleiben bestehen. So dürfen Präsident, Vize-Präsident und andere Staatsorgane nicht beleidigt werden, wobei unklar ist, was als Beleidigung gilt und auch „Blasphemie“ ist weiterhin strafbar.

Das Verbot von Sex, nicht mehr wie zuvor nur neben der Ehe sondern auch vor der Ehe, also das Verbot jeglichem außerehelichen Geschlechtsverkehrs, das auch mit einem Verbot des Zusammenlebens nicht verheirateter Paare einhergeht (darauf stehen bis zu 6 Monate Haftstrafe) trägt bereits extrem rückschrittliche Züge, bei näherer Betrachtung wird aber noch deutlicher was die Hauptintention ist: Unterdrückung von Frauen und LGBTQ-Menschen.

Vor allem für letztere ist das neue Gesetz katastrophal, da Homosexuelle nicht heiraten dürfen, ist Geschlechtsverkehrs zwischen Menschen desselben Geschlechts jetzt grundsätzlich verboten.

Doch auch die Frauenrechte verschlechtern sich massiv. Angezeigt werden kann außerehelicher Sex nur vom Ehepartner oder einem engen Familienmitglied, was eine sehr deutliche Implikation offenbart: Bestraft werden sollen in erster Linie Frauen, die sich nicht dem patriarchalen Familienbild unterordnen und stattdessen ihr (Liebes-)Leben selbst gestalten wollen.

Bei heterosexuellen Männern hingegen wird das neue Gesetz voraussichtlich „Verfehlungen“ sehr nachsichtig behandeln, wobei auch junge Männer natürlich in ihrer Selbstentfaltung massiv eingeschränkt werden und dazu gedrängt werden, die ihnen zugeschriebene Rolle einzunehmen, auch Jugendunterdrückung spielt hier eine starke Rolle.

Den sexistischen Charakter des neuen Gesetzes zeigen ebenfalls neue Einschränkungen für Abtreibung und Verhütung, was die Familienplanung massiv erschweren wird. So darf nur noch abgetrieben werden, wenn ein Arzt offiziell eine „medizinische Notwendigkeit“ sieht (wozu auch eine Vergewaltigung zählen kann, aber nicht muss). Illegalisierter Schwangerschaftsabbruch hingegen wird hart bestraft, sowohl für die Frau als auch für Helfer_Innen.

Zusätzlich zu den patriarchalen und queerfeindlichen Artikeln schränkt das neue Gesetzbuch auch die politische Freiheit massiv ein, neben dem bereits erwähnten Verbot von Beleidigung gegen den Präsidenten und andere Institutionen, kann es unter Umständen auch strafbar sein, eine von der nationalistischen Staatsideologie abweichende Gesinnung zu haben bzw. zu vertreten.

Gegen welche Gesinnung das vor allem gerichtet ist, zeigt sich bereits in den Gesetzen selber, denn das Verbreiten „marxistisch-leninistischer Ideologie“ wird mit bis zu 4 Jahren Haft und die Mitgliedschaft in einer „marxistisch-leninistischen“ Organisation sogar mit bis zu 10 Jahren Haft bestraft. „Marxismus-Leninismus“ wird dabei wohl als Synonym für sämtliche kommunistischen Strömungen genutzt.

Diese massive Verschärfung antikommunistischer Verfolgung steht in Indonesien in einer extrem blutigen Tradition. So wurden 1965-66 unter der Führung des Militärdiktators Suharto insgesamt ungefähr 1 Millionen (mutmaßliche) Kommunist_Innen und angehörige der chinesischen Minderheit, die man pauschal unter Generalverdacht stellte, ermordet. Außerdem wurde die damals drittgrößte kommunistische Partei der Welt durch die unmittelbare Verfolgung und das strikte Verbot jeglicher kommunistischer Organisierung vernichtet. Der Putsch Suhartos und auch das Massaker wurden damals aktiv unterstützt von USA und BRD, unter anderem mit Geld und Waffen, aber auch ideologisch. Der damalige BRD-Botschafter lobte in Jakarta einen der führenden Treiber des Massakers als „einen der fähigsten und energischsten Antikommunisten“, während das US-Außenministerium das Massaker als neben dem Vietnamkrieg wichtigste Maßnahme zur Einschränkung des Kommunismus in Asien positiv erwähnte.

Nachdem es gelang, die Diktatur 1998 zu stürzen, legalisierte der liberal-muslimische  Reformpräsident Abdurrahman Wahid wieder die kommunistische Organisierung und bat die Opfer und Überlebenden des Massakers um Vergebung. Doch mit der neuen Gesetzesänderung setzt sich die Verfolgung wieder fort und Kommunist_Innen müssen fürchten, harten Repressionen in dem Land ausgesetzt zu werden, wo ihre Genoss_Innen 60 Jahre zuvor in Massen ermordet wurden.

Der Rechtsruck bleibt global

Das reaktionäre neue Gesetz kommt sicherlich nicht aus dem Nichts. Es reiht sich ein in eine Politik, die von kritischer Aufarbeitung der Diktatur und ihrer Verbrechen spätestens seit der Entmachtung von Wahid nichts wissen will und in der signifikante Teile der Bürgertums immer noch Suharto als Nationalhelden ehren.

Das Militär, das damals Stütze der brutalen Diktatur war, hat nach wie vor starke Macht auch über die verschiedenen Regierungen hinweg. Es begeht immer noch regelmäßig Kriegsverbrechen im von Indonesien besetzten West-Papua, welche von der Regierung zwar nicht legitimiert aber geduldet werden.

Auch Polizeigewalt ist in Indonesien massiv verbreitet: Erst kürzlich starben über hundert Menschen, nachdem die Polizei nach einem Platzsturm bei einem Fußballspiel massive Mengen an Tränengas eingesetzt hatte, was dazu führte, dass die Opfer in den Innenräumen des Stadions erstickten. Die Polizei gab daraufhin die Schuld den „randalierenden“ Fans.

Doch ein weiterer Faktor ist vermutlich noch wichtiger als die autokratische Geschichte und ihre Kontinuitäten: Die aktuelle neoliberale Politik Präsident Widodos und der Widerstand gegen diese.

Er führte 2020 ein Gesetz zur Aufhebung von Arbeitsrechten ein und Student_Innen sowie mehrheitlich junge Arbeiter_Innen antworteten mit massiven Protesten, die damals ebenfalls mit massiver Polizeigewalt niedergeschlagen wurden.

Die reaktionären Gesetzesverschärfungen können also auch als Antwort gesehen werden auf den Widerstand der Arbeiter_Innen gegen neoliberale Politik zugunsten der inländischen wie imperialistischen Bourgeoisie. 

Zu befürchten steht, dass das Inkrafttreten des Gesetzes im Jahre 2025, ein Jahr nach offiziellem Ende des zweiten Amtszeits Widodos, den Grundstein für eine neuerliche bonapartistische Diktatur legen könnte. Der Westen würde diese sicherlich abermals unterstützen, da er Indonesien als (auch militärisches) Bollwerk gegen seinen imperialistischen Rivalen China sichern will.

Doch die gute Nachricht ist: Bis 2025 ist noch Zeit. Um ein solches Szenario noch zu verhindern, müssen sich Proletariat und Jugend organisieren und gemeinsam mittels eines Generalstreiks das Inkraftreten des Gesetzes verhindern und Widodos neoliberale rechte Regierung zu Fall bringen. Dazu könnte es auch nötig, sein Arbeiter_Innen-Milizen zu gründen um sich gegen einen in so einer Situation vermutlich versuchten Militärputsch wehren zu können

  • Wir sind solidarisch mit dem indonesischen Proletariat, der queeren Community und der Jugend, und fordern in diesem Sinne von der deutschen Regierung, jedwede erneute Unterstützung eines rechten Regimes in Indonesien, sei diese in Form von Waffenlieferungen oder Tolerierung von Menschenrechtsverbrechen, zu unterlassen!
  • Auch fordern wir einen Schuldenschnitt für Indonesien wie für alle Länder des globalen Südens, damit diese in der Lage sind, sich von imperialistischen Kräften unabhängig zu entwickeln!
  • Gegen reaktionäre Tendenzen wie sie im Zuge des Rechtsrucks überall auf der Welt auftreten, gilt unser entschiedener Kampf, ganz gleich ob in Indonesien, den USA oder Deutschland!



Alle Jahre wieder… – Frauen-, Queer- und Jugendunterdrückung in der Familie

Von Lia Malinovski

Weihnachten ist eine besinnliche Zeit, in der wir mit unseren Familien zusammenkommen, in uns kehren und an unsere Mitmenschen denken. So zumindest ist das Bild, das überall verbreitet wird und den meisten von uns bei dem Wort in den Kopf kommt. Der Geruch von Kerzen, Tannen, eventuell Keksen – Naja und Streit, nervige Fragen und vor allem eines: Allerhand Unterdrückung und Diskriminierung gebündelt über mehrere Tage. Denn in der bürgerlichen Familie gibt es auch ansonsten Probleme, aber da diese Zeit mit so vielen Traditionen, Erwartungen und damit Zwängen gefüllt ist, häufen sie sich und werden besonders klar. Wir treffen in dieser Zeit sicherlich alle auf Familienmitglieder, mit denen wir normalerweise niemals was zu tun hätten, gleichzeitig verwehrt uns der Zwang zum Heile-Welt-Gehabe, dass wir damit ehrlich umgehen. Wozu das so führt?

Unter dem Puderzucker

Die meisten weiblichen Personen kennen vermutlich Fragen wie „Na, hast du jetzt endlich mal nen Freund?“, „Wann heiratet ihr endlich mal?“ oder Kommentare über das Aussehen. Für LGBTIA+ ist es nicht gerade besser, wenn mal wieder eine völlig cis- und heteronormative Welt vorausgesetzt, indem man nach heterosexuellen Beziehungen gefragt wird, ohne überhaupt in Erwägung zu ziehen, ob es nicht eventuell auch andere Formen gibt. Für trans* Personen bedeutet Weihnachten misgendern (falsche Pronomen benutzen oder mit dem falschen Geschlecht angesprochen werden), gedeadnamed werden (den falschen, „alten“ Namen benutzen) oder sich zu verstecken und als das biologische Geschlecht zu verkleiden, um Stress oder Kommentare zu vermeiden.

Auch gibt eine Art Hierarchie in den Beziehungsarten: Es ist „normal“, oder gehört sogar zum „guten Ton“, wenn man seine romantische Beziehungsperson mitbringt, würde das aber bei Freund_Innen passieren, wären alle schockiert oder zumindest verwirrt. Romantische Beziehungen werden fast in allen Bereichen über andere Beziehungen gestellt, aber an Weihnachten ist es nochmal ein anderes Level. Vielleicht wollen wir aber auch mal mit unseren Leuten chillen in der Zeit? Das kann für uns Jugendliche die einzige Entlastung von den gesellschaftlichen Zwängen sein. Insgesamt sind wir gezwungen, bei allem mitzumachen, was von der Familie verlangt wird, überallhin mitzugehen, und so weiter. Man will nun mal keinen Stress anfangen und wegen finanzieller Abhängigkeit und dem gesellschaftlichen Bild der Familie ist eine Distanzierung von der Familie oft auch nicht möglich.

All das, was uns im Alltag oft genug begegnet, kommt von allen Seiten an Weihnachten besonders klar und dicht zum Vorschein. Normalerweise hat man aber zumindest den Vorteil, sich innerlich und äußerlich dagegen wehren zu dürfen. Sich dagegen an Weihnachten offen zu wehren, hieße, das „schöne“ Bild des Festes einzureißen und die angebliche Heile Welt zu zerstören. Wenn man es doch mal wagt, etwas gegen die Unterdrückung zu sagen und sich zu wehren, wird einem vorgeworfen, alles zu stören. Hätte man doch bloß nichts gesagt, hätte man einfach nur mitgemacht, dann wäre jetzt wenigstens noch ein heiles Bild geblieben.

Aber auch wenn wir uns innerlich dagegen wehren, passt es nicht zum Ideal. Irgendwie fühlt es sich an wie entkoppelt von der „Besinnlichkeit“ des Festes und am Ende sitzt man teilnahmslos dabei.

Und jetzt?

In diesem ganzen Ausmaß wird es sicherlich nicht auf alle zutreffen, aber in irgendeiner Form werden sich die allermeisten jedes Jahr in solche Situationen begeben müssen. Mit etwas Glück hat man vielleicht eine entspannte Schwester, den witzigen Cousin oder die aufmerksame Tante, mit denen die Zeit nur noch halb so schlimm ist und die einen bisschen verstehen. Und sind es nicht gerade die eigenen Eltern, auf die man gar keinen Bock hat, könnte mit ihnen ein direktes Gespräch schon dabei helfen, dass die einen auch verstehen, warum man nicht zum Weihnachtsessen mitkommt, wo der AfD-Onkel die eigene Identität in Frage stellt.

Doch letzten Endes soll es ja dennoch nicht so sein. Leider ist es schwer, eine Perspektive aus dieser Spirale der Unterdrückung und des Stresses zu bieten, sind es doch zu viele Baustellen, verknüpft mit viel kollektiver Verdrängung. Vor allem sind wir ja dann doch wieder sehr vereinzelt in der Familie, sodass ein gesellschaftlicher Kampf schwer ist. Wir wollen trotzdem versuchen, eine Perspektive der Veränderung aufzumachen, denn es hängt eigentlich sehr mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zusammen!

Wir fordern:

  • Es muss die Hegemonie der Bürgerlichen Kleinfamilie angegriffen werden – Schluss mit der sexistischen Einteilung in Mann, Frau und 2-3 Kinder! Freiheit der Entfaltung der Geschlechtsidentität, der Sexualität und der Lebensentwürfe!
  • Es braucht finanzielle Unabhängigkeit von der Familie! Für ein staatliches Taschengeld in ausreichender Höhe, entsprechend der Inflation und den Bedürfnissen der Jugend, unter der Kontrolle der Jugendlichen und der Arbeiter_Innenbewegung!
  • Gegen den Zwang, bei religiösen Veranstaltungen mitzumachen! Für die Freiheit, Religion auszuüben, aber nicht zu müssen!



Influencer_Innen und ihre Rolle im Kapitalismus

von Leonie Schmidt

Auch wenn sie zum täglichen Scrollen auf Social Media-Plattformen wie Instagram und TikTok dazu gehören, sind sie doch noch ein verhältnismäßig neues Phänomen in der Werbebranche. Ende der 2010er Jahre eroberten die ersten Youtuber_Innen mit ihren Tutorials und Favoriten, insbesondere im Beauty-Bereich, das Internet im Sturm. Schauen wir uns dieses Phänomen doch einmal aus einer antikapitalistischen Sichtweise an.

Die besondere Rolle in der Werbebranche

Influencer_Innen unterscheiden sich deutlich von anderen Werbeformen, denn ihre Werbung ist eingebettet in alltägliche Geschichten und ästhetische Fotos mit perfekten, aufgeräumten Apartments. Der Content selbst ist etwas, worin sich die Konsument_Innen wiedererkennen können, er dreht sich um Probleme oder Produkte, die legitim erscheinen. Der_die Influencer_In wird zu einer Person, zu welcher man das Gefühl hat, eine Beziehung aufbauen zu können, wie bspw. einer besten Freundin. Natürlich ist dieses Gefühl einseitig und beabsichtigt, dadurch, dass eine Art Mitentscheidung bzgl. des Lebens der Influencer_Innen suggeriert wird: Abstimmung darüber, was gekauft oder gemacht werden soll, Fragen nach Empfehlungen usw. Denn natürlich nimmt man lieber Empfehlungen von Personen an, die man sympathisch findet und denen man vertraut. Besonders hoch im Kurs sind Influencer_Innen, die seriös bzgl. ihres Contents erscheinen, die nicht jeden Werbepartner annehmen, sondern nur welche, von denen sie selber behaupten, denen könne man vertrauen.

Die ideologische Rolle

Aber das Ankurbeln von Verkäufen und der damit einhergehende höhere Profit, sind nicht die einzigen Aufgaben von Influencer_Innen im Kapitalismus. Denn sie reproduzieren am laufenden Band die gängigen Schönheits- und Rollenbilder. Blond, schlank, weiß, am liebsten in der Mutterrolle kommen viele der weiblichen Influencerinnen daher. Ihr Content dreht sich um Beauty, Haushalt, Kinder – was eine Frau eben zu interessieren hat. Gender Reveal Parties und Hochzeiten werden groß gefeiert und für den Feed inszeniert. Männer hingegen punkten als Influencer fast ausschließlich im Fitness-Bereich oder als Flirt-Coaches, wo sie ihre Hyper-Maskulinität unter Beweis stellen können. Warum aber werden hier solche scheinbar altmodischen Rollenbilder wiederholt? Die knappe Antwort: Weil es funktioniert. Wenn Werbung funktionieren soll, kann sie nicht wirklich mit dem absolut Unbekannten spielen, sondern muss sich dem Rahmen, den der Kapitalismus aufstellt, anpassen. Hier wird die klassische bürgerliche Familie, welche relevant für die (Re)Produktion von Arbeiter_Innen bzw. der Ware Arbeitskraft ist, ganz klar reproduziert. Influencerinnen spielen mit bekannten Rollen, die in Kunst und Kultur, und somit auch der Klassengesellschaft, schon lange genutzt werden. So zeigen sie auf, welchen gutbürgerlichen Weg man gehen sollte und dass man selbst als toughe Karrierefrau früher oder später an Kinder und Familie denken müsste. Und gerade für jüngere Zuschauer_Innen ist das Content, der ihre Sicht auf die Zukunft und das Idealleben extrem prägt.

Ebenso prägend sind Körperbilder. Die meisten Influencerinnen sind schlank, aber oftmals helfen sie auch noch zusätzlich nach, insbesondere durch Bildbearbeitung oder Filter. Fitness und Abnehmen werden regelmäßig zum Thema gemacht: durch Kooperationen mit Firmen für Nahrungsergänzungsmittel zum Abnehmen, für Sportklamotten oder Fitness-Studio-Mitgliedschaften. So appellieren sie an den Drang zur Selbstverbesserung, welcher sowieso ständig im neoliberalen Kapitalismus mitschwingt. Und wenn es doch einmal um Selbstliebe oder Akzeptanz gehen soll, dann ist es meistens trotzdem im Content mit einkalkuliert. So bspw. der neuste Trend von Rasierfirmen, damit zu spielen, dass es für Frauen ja eine eigene Entscheidung sei, ob sie sich rasieren wollen oder nicht, nur um letztendliches doch ihre Rasierer an genau jene zu verkaufen.

Die Rolle in der Klassengesellschaft

Ein letzter, interessanter Punkt ist die Frage danach, welche Klassenzugehörigkeit Influencer_Innen überhaupt im Kapitalismus haben. Mehrheitlich repräsentieren sie das Kleinbürger_Innentum: Sie sind selbständig und besitzen ihre Produktionsmittel selbst. Sie verkaufen nicht die Ware Arbeitskraft, sondern das Produkt (ihren Content) direkt selber. Ihr Einkommen (und somit ihre Stellung) ist nicht permanent gesichert (Probleme können hier sein: fehlende Werbepartner, Probleme mit den Plattformen und dem Algorithmus, gecancelt werden, gesundheitliche Probleme etc.), es sei denn, sie weiten ihre Tätigkeit auf eine eigene erfolgreiche große Firma mit Angestellten aus. Nur die wenigsten allerdings sind Multimillionäre, auch wenn es oft so dargestellt wird. Aus der Stellung im Kleinbürger_Innentum folgt aber letztendlich, dass sie aus Angst vorm Fall ins Proletariat, lieber noch weiter nach Oben streben möchten und somit mit allen Mitteln versuchen werden, die herrschende Ordnung aufrecht zu halten und in dieser aufzusteigen. Influencer_Innen haben somit keine emanzipatorische Kraft, denn ihre Rolle steht und fällt mit ihrer Übereinstimmung mit der kapitalistischen Ideologie. Stattdessen sollten die sozialen Medien unter der demokratischen Kontrolle ihrer Nutzer_Innen stehen und durch diese verwaltet werden!

  • Gegen unterdrückerische Schönheitsideale in Werbung und Medien! Enteignet die großen Medienhäuser und die „kulturschaffende“ Industrie (Gameentwickler, Filmproduktionen,..) genauso wie Google, Instagram und Co.!
  • Für organisierte Medienarbeit durch Räte aus Zuschauer_Innen, Arbeiter_Innen und Kreative ohne die Reproduktion von Unterdrückung!
  • Für eine internationale, proletarische antisexistische Bewegung!



„Wer in Deutschland gegen trans Menschen hetzt“

– Kommentar zum Video von Jan Böhmermann (ZDF Magazin Royale)

von Lia Malinovski

Am 3. Dezember 2022, hat das ZDF Magazin Royale einen Beitrag hochgeladen, der besonders auf Twitter und Facebook sehr kontrovers diskutiert wurde. Wie der Titel verrät, geht es um die steigende Transfeindlichkeit in Deutschland. Doch was daran ist kontrovers und wie stehen Marxist_Innen dazu?

Worum geht‘s in dem Video?

Der Satiriker Jan Böhmermann greift in seinem Beitrag verschiedene aktuelle Entwicklungen rund um das Thema Transfeindlichkeit auf. Er kritisiert berechtigterweise das sogenannte Transsexuellengesetz (kurz TSG) und geht darauf ein, dass es einerseits schon sehr alt ist und andererseits vom Bundesverfassungsgericht viele der Artikel im TSG als verfassungswidrig erklärt wurden. Beispielsweise wurden trans* Personen danach bis 2011 gezwungen, sich zwangssterilisieren zu lassen.Die Ampelkoalition hat in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dieses Gesetz abzuschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen. Es stellt sich jedoch die Frage, wo dieses Gesetz bleibt? Es sollte 2022 kommen, dennoch ist es nicht da.

Es folgt eine Einblendung verschiedener transfeindlicher Aussagen, beispielsweise von Alice Schwarzer, mit der Aussage, trans* sei eine Modeerscheinung, ein Trend – eine Aussage die aus dem radikalfeministischen Lager immer wieder kommt. Böhmermann geht darauf ein, dass Personen wie Schwarzer Transfeindlichkeit unter dem Deckmantel des Feminismus legitimieren und zeigt auf, wie deren Positionen mittlerweile sogar von der AfD übernommen werden.

Gegen Ende vertritt er die These, „Nicht trans* ist Mode, sondern Transfeindlichkeit“ und blendet Artikelüberschriften von transfeindlicher Gewalt aus den letzten 2 Jahren ein, mit dem Kommentar, die steigende transfeindliche Gewalt käme von transfeindlichen Artikeln und Aussagen, ebenfalls eine halbwegs richtige Analyse.

Böhmermanns grundsätzliche Aussage des Videos könnte „diese Transfeinde sind dumm“ lauten – eine gefährliche und verkürzte Aussage, die nichts mit einem materialistischen Verständnis der Welt zu tun hat. Das Video kommt eben doch von einem Linksliberalen.

Was ist daran jetzt kontrovers?

Eine häufige Kritik an dem Video ist, dass es nur sogenannte „Transaktivist_Innen“ zu Wort kommen lasse, anders als nahezu alle anderen Beiträge zu trans* und dem Selbstbestimmungsgesetz. Damit ist Böhmermann jedoch fortschrittlicher, als die meisten anderen Dokus, da er Transfeindlichkeit nicht als legitime Meinung darstellt und zudem mit scheinbar wissenschaftlichen Argumenten füttert.

Auch beliebt ist die bioessentialistische Argumentation, es gäbe nur zwei Geschlechter. Dazu haben wir im Artikel „Was ist eigentlich Radikalfeminismus?“ mehr geschrieben. Grundsätzlich zeugt diese Aussage jedoch von einem falschen Verständnis des Materialismus und ignoriert die wissenschaftliche Erkenntnis, dass es eben mehr als nur zwei Geschlechter gibt – denn offensichtlich gibt es mit *Inter und Nicht-Binär mehr als nur zwei.

Idealbild der bürgerlichen Kleinfamilie

Letzten Endes lässt sich Transfeindlichkeit zu großen Teilen auf das Idealbild der bürgerlichen Kleinfamilie, bestehend aus Mann, Frau und Kindern, zurückführen. Ebenso wie Homosexualität widerspricht Transidentität diesem Bild alleine durch ihre Existenz. In Zeiten der Krise erleben wir massive Angriffe auf fortschrittliche Reformen, wie zum Beispiel Angriffe aus das Abtreibungsgesetz in den USA und Polen. Davon sind auch Rechte von trans* Personen betroffen. Das erklärt auch, warum das Selbstbestimmungsgesetz in Deutschland immer noch nicht existiert: Die bürgerliche Kleinfamilie regelt die geschlechtliche Arbeitsteilung in Lohnarbeit und unbezahlte Reproduktionsarbeit und legitimiert damit Frauenunterdrückung- etwas, das notwendig für das kapitalistische System ist, um die maximale Ausbeutung erreichen zu können, die in Krisenzeiten dringender benötigt ist, als in Phasen des Wachstums.

Die steigende Transfeindlichkeit in der Gesellschaft ist also Ausdruck eines weltweiten Rechtsrucks und einer sich zuspitzenden Krise des Kapitalismus.

Böhmermann verkennt dies in seinem Video und schiebt es auf „Dummheit“ oder „Hass“. Als Marxist_Innen versuchen wir jedoch, die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse hinter Phänomenen zu analysieren, um deren Auswirkungen effektiver an der Wurzel zu erkämpfen. Böhmermann hat keine Perspektive auf eine Welt ohne Diskriminierung, keinen Weg, wie Transfeindlichkeit bekämpft werden kann. Dabei sollte das der Fokus sein.

Daher stellen wir diese Forderungen auf: Sie sollen einen Weg weisen in eine Gesellschaft ohne Diskriminierung, Unterdrückung und Ausbeutung.

  • Für rechtliche und sonstige Gleichstellung, sowie Freiheit der Ausübung aller Formen der Sexualität. Verbot der Diskriminierung aufgrund von Geschlecht oder sexueller Orientierung!
  • Für das Recht auf medizinische und rechtliche Geschlechtsangleichung an die soziale Geschlechtsidentität – kostenfrei und ohne unnötigen bürokratischen Akt!
  • Intergeschlechtlichkeit ist eine Identität! Medizinische oder kosmetische Eingriffe, z.B. zur Geschlechtsangleichung nur mit Zustimmung der betroffenen Person.
  • Gegen eine erzwungene Einteilung in Mann und Frau. Es gibt Menschen, die können oder wollen sich nicht klar einem der beiden Geschlechter zuordnen.
  • Gegen die Pflicht, das eigene Geschlecht in offiziellen Dokumenten anzugeben! Für den Ausbau von Unisex-Orten im öffentlichen Raum, wie Toiletten oder Umkleiden!
  • Zurückdrängung aller Formen der Rollenklischees, Diskriminierung und Ausgrenzung der Jugend und Arbeiter_Innenklasse!
  • Für organisierte Selbstverteidigung gegen Faschist_Innen, Rassist_Innen, Sexist_Innen, Transfeinde und den reaktionären bürgerlichen Staat! Niemand darf der Gefahr von sexuellen Übergriffen und (staatlichem oder ärztlichem) Missbrauch ausgeliefert werden!



Kapitalismus macht krank! 5 Fragen und 5 Antworten zum Zusammenhang von psychischen Erkrankungen und Kapitalismus

von Leila Cheng

Was sind psychische Erkrankungen?

Es gibt viele verschiedene psychische Erkrankungen. Diese sind immer noch stigmatisiert und es wird öffentlich kaum darüber gesprochen, obwohl jeder zweite Mensch einmal im Leben an ihnen erkrankt. Psychische Erkrankungen sind ebenso vielfältig wie die Krankheiten des Körpers. Sie beinträchtigen Stimmungen und Gefühle, verursachen Ängste und Zwangshandlungen, verzerren die Wahrnehmung oder stören Denkvermögen und Gedächtnis.

Macht uns der Kapitalismus krank?

Wenn man nicht so funktioniert, wie es die Gesellschaft von einem erwartet, ist man halt selbst schuld und sollte das eigenverantwortlich wieder in den Griff kriegen. So ist das allgemeine Bild, das im Kapitalismus von psychischen Erkrankungen vermittelt wird. Die strukturellen Probleme des Kapitalismus selbst, die es eigentlich sind, die uns krank machen, werden dabei verschleiert. Denn unser Sein bestimmt unser Bewusstsein: Was wir täglich erleben, wie wir aufwachsen, was unser Umfeld und die Gesellschaft tun, in welcher sozialen Lage wir uns befinden, all dies prägt unser Bewusstsein, unseren Charakter, unsere Psyche.

Im Kapitalismus befinden wir uns in einem System, was auf ständiger Konkurrenz aufbaut. So bekommt nur eine_r von vielen einen Arbeitsplatz, nur die mit dem besten Notendurchschnitt können studieren. Ständig geht es darum der oder die Beste, Schnellste, Größte, Tollste zu sein. Denn in der kapitalistischen Ideologie sind nur die etwas wert, die auch etwas leisten. Das sorgt für enormen Stress, Streit, Zwietracht, Selbstzweifel, Versagensängste und Mobbing. Viele Menschen arbeiten sich durch diesen Druck ins Burnout oder bekommen vom Stress Panikattacken oder Depressionen. Wer sich nach oben strecken muss, tritt häufig nach unten. So werden laut gewerkschaftlichen Studien ca. 3 bis 5 Prozent aller Beschäftigten am Arbeitsplatz gemobbt. In Schulen ist die Zahl weitaus höher. Diskriminierungsstrukturen verstärken dies noch: Rassismus, Sexismus, Ableismus, LGBTIA-Feindlichkeit, Antisemitismus und vieles mehr sorgen für schlimme Traumata, Mobbing und daraus folgende Angststörungen. Als hätten es sexistisch unterdrückte oder migrantisierte Menschen nicht schon schwer genug. So sind gerade sie es, die oft noch unter Traumata durch sexuelle Gewalt, Krieg und Flucht leiden.

Auch Armut und Geldsorgen verursachen permanenten Stress, Angst und Leid. Auch sie sind ein Auslöser für viele psychische Erkrankungen. Gerade arme Menschen sind überdurchschnittlich oft betroffen. Gleichzeitig werden gerade Jugendliche, die sich nicht anpassen wollen, nicht brav genug sind, sich nicht den autoritären Regeln beugen, häufig mit Diagnosen von Persönlichkeitsstörungen, Entwicklungsstörungen und psychischen Erkrankungen gebrandmarkt und aussortiert.

Warum sind Jugendliche besonders von psychischen Erkrankungen betroffen?

Nach Angaben der World Health Organization sind weltweit etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychisch erkrankt. Der WHO-Chef dazu: „Eine der wichtigsten Ursachen für Depressionen sind Missbrauch, Mobbing oder Schikane im Kindesalter.“ Tatsächlich entstehen die meisten psychischen Erkrankungen bereits in der Kindheit und Jugendzeit, bzw. haben da ihre Ursache.

Das liegt zum einen an unserem Bildungssystem. Um uns auf die Anforderungen der kapitalistischen Verwertungslogik vorzubereiten und vorzusortieren, wer später welche Drecksarbeit macht, baut auch die Schule auf Konkurrenz, Disziplinierung und Leistungsdruck auf. Wir spüren dies durch das Notensystem, Tadel, Versetzungsentscheidungen, unendliche Berge an Schulstoff, Strafarbeiten und viele Prüfungsängste. Dieser große Druck führt teilweise zu erhöhten Selbstmordraten unter Jugendlichen und dazu, dass sich dieser Druck in Mobbing zwischen den Schüler_Innen entlädt. Neben dem Schulstress wirkt auch der gesellschaftlich gemachte Optimierungswahn großen Druck auf uns aus. Einem unerreichbaren Schönheitsideal hinterherrennend, spritzen sich Jugendliche Steroide oder hungern sich magersüchtig. Viele verfallen in Depressionen oder werden zu Mobbingopfern, weil sie den Bildern von angeblich perfekten Körpern nicht entsprechen. Hinzu kommen kapitalistische Statussymbole wie Markenklamotten, iPhones, Sneaker usw. Wer das nicht hat, wird oft zum Außenseiter gemacht.

Doch der Druck kommt nicht nur von Mitschüler_Innen und der Schule, sondern auch aus der Familie, die angeblich ein save space sein soll. Dabei bedeutet Familie im Kapitalismus vor allem die Herrschaft des Mannes über Frau und Kinder. Immer noch kommt es oft zu Gewalt an Kindern oder sexuellem, psychischem und körperlichem Missbrauch. Der Leistungsdruck kommt oft schon vor dem Schulbesuch aus den Elternhäusern und hört nie auf. Da wir von unseren Eltern finanziell abhängig sind, werden wir von ihnen entmündigt. Wir erfahren die ersten Jahrzehnte unseres Lebens, dass wir machtlos sind, unsere Meinung nicht zählt und wir uns unterzuordnen haben. Dabei sorgt die starke Belastung, die der Kapitalismus auf Arbeiter_Innenfamilien durch Reproduktionsarbeit, Zukunftsängste, Kündigungen, Teilzeitverträge, Überstunden, Jobcenter-Sanktionen, Kreditrückzahlungen usw. ausübt, dafür, dass die glückliche Mutter-Vater-Kind-Familie aus dem Kinderbuch in der Realität kaum existiert. Stattdessen existieren Trennungsstreits, Gewalt und Vernachlässigung und all das kann psychische Erkrankungen im frühen Kindesalter auslösen.

Warum können psychische Erkrankungen im Kapitalismus nicht effektiv geheilt werden?

Das liegt zum einen daran, dass der kapitalistische Staat, um wettbewerbsfähig zu bleiben, kontinuierlich im Gesundheitssektor Geld einspart. Zum anderen liegt es daran, dass die angebotenen Therapieformen fast nur Symptome bekämpfen und nicht die dahinterliegenden Ursachen. Denn das Ziel einer Therapie im Kapitalismus ist leider oft nicht die Gesundung, sondern die schnellstmögliche Wiedereingliederung in das System, also das Arbeiten gehen, Hausarbeit machen und Leistungen bringen. Außerdem hält sich der Irrglaube, dass psychische Erkrankungen keine „richtigen“ Erkrankungen seien. Deswegen lässt sich auch nur ein Drittel der Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland behandeln. Ein weiterer Grund dafür ist die schnelle Kategorisierung von Menschen in Krankheitsbilder, die ihnen oft auch aufgepresst werden (zum Beispiel ohne Gespräche über schriftliche Fragebögen). In unserem kaputtgesparten Gesundheitssystem wird zudem häufig zur günstigeren Medikamentenvergabe gegriffen und das Pflegepersonal hat kaum genügend Zeit, um sich angemessen um die Patient_Innen zu kümmern.

Aber das größere Problem ist nicht, dass Leute sich nicht behandeln lassen, sondern, dass es nicht genügend Angebote gibt. Es kommt nämlich zur künstlichen Verknappung von Therapieplätzen durch Krankenkassen, um Geld zu sparen. So kommt es teilweise zu Wartezeiten von 6 Monaten bis 1 Jahr auf einen ambulanten Therapieplatz, noch länger auf Klinikplätze. Wer reich ist, kann sich meist bessere und einfacher zugängliche Privattherapien leisten, während wir lange auf einen staatlich finanzierten Therapieplatz warten müssen. Außerdem kommen jede Menge versteckte Kosten einer Therapie dazu, z.B. therapiebedingter Arbeitsausfall, Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Erkrankung, Krankenhausgeld und Medikamentenzuzahlungen. Für Lohnabhängige ist das alles schwer finanzierbar.

Für Jugendliche unter 18 kommt noch die völlige Abhängigkeit von ihren Eltern als ein weiteres Problem hinzu. Sie können z.B. nicht allein mit dem_der Therapeut_In über die Medikamenteneinnahme oder den Beginn einer Therapie entscheiden. Bei unter 16-Jährigen dürfen die Eltern sogar bei der Therapie dabei sein, obwohl sie oft Teil des Problems sind.

Was können wir tun, um unsere Situation zu verbessern?

Wer einen Therapieplatz ergattert hat, kann sich glücklich schätzen. Es ist gut und wichtig, dass wir uns Hilfe holen, wenn wir selbst nicht mehr weiterwissen. Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass unsere Probleme nicht aus unserem individuellen Versagen herrühren, sondern gesellschaftliche Ursachen haben. Und um diese Ursachen langfristig zu bekämpfen, hilft nur revolutionäre Organisierung, um dieses Scheißsystem endlich in eine gerechtere und menschenwürdigere Gesellschaft zu verwandeln. Trotzdem müssen wir im Hier und Jetzt für Verbesserungen eintreten und diesen Kampf zu einem Kampf gegen den Kapitalismus ausweiten. Wir fordern:

  1. Für eine flächendeckende Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich! Weg mit Hartz IV und ein Mindesteinkommen von 1.600 Euro/Monat für Jugendliche, Arbeitslose und Rentner_Innen!
  2. Für den Ausbau von Schutzeinrichtungen für Gewaltopfer jeder Art, Herkunft und Geschlecht! Kollektive Selbstverteidigungsstrukturen für alle unterdrückten Gruppen!
  3. Für mehr Schulpsycholog_Innen und Sozialarbeiter_Innen! Aufklärung über die menschliche Psyche und eine Entstigmatisierung ihrer Erkrankungen gehört in den Schulunterricht!
  4. Keine Profite auf Kosten unserer Gesundheit! Entprivatisierung des Gesundheitssystems und Enteignung der pharmazeutischen Industrien unter Kontrolle von Patient_Innen, Jugendlichen und Arbeiter_Innen!
  5. Für die Abschaffung der privaten Krankenkassen und die Auflösung der bürokratischen Hürden bei der Therapieplatzvergabe! Kostenlose Therapieplätze und freie Wahlmöglichkeiten der Therapieform und der Therapeut_Innen!