In der größten Demokratie der Welt hat gerade die Mehrheit der gebärfähigen Menschen das Recht auf Abtreibung verloren. Warum? Weil die Urteile Roe v. Wade und Planned Parenthood v. Casey vom Obersten Gerichtshof gekippt wurden – Grundsatzentscheidungen, die Frauen das Recht, über Abbruch oder Fortführung einer Schwangerschaft zu entscheiden, einräumten. So erlaubte Roe v. Wade eine Abtreibung bis zur angenommenen Lebensfähigkeit des ungeborenen Kindes außerhalb des Mutterleibes. Diese Entscheidung des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 1973 schränkte so die amerikanischen Bundesstaaten in ihrer eigenen Gesetzgebung ein, welche ab diesem Zeitpunkt strengen richterlichen Kontrollen unterlag. Bundesstaaten mussten Frauen das grundsätzliche Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch zugestehen.
Am 24. Juni wurde nun ein nach Roe v. Wade eigentlich verfassungswidriges Gesetz für verfassungskonform erklärt, was Roe v. Wade formell außer Kraft setzt. Es überrascht nicht, dass Ex-Präsident Trump maßgeblich für diesen Anschlag auf die Rechte der Frau verantwortlich ist: Er setzte gleich drei neue, konservative Richter im Obersten Gerichtshof ein, was dessen Machtbalance empfindlich in Richtung der reaktionären, republikanisch geprägten Rechtsprechung verschob. Nun hat also eine Institution, die nicht einmal demokratisch legitimiert ist, eine Entscheidung getroffen, die nicht repräsentativ ist für die Haltung der Bevölkerung zum Thema Abtreibung: Laut Umfragen befürworten um die 70 % der US-Amerikaner_Innen Roe vs. Wade.
Natürlich gab es jedoch auch vor diesem historischen Urteil Abtreibungen – nur waren diese eben deutlich weniger sicher. Diesen Zustand haben reaktionäre Kräfte nun für die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung wieder hergestellt, indem sie dieses Bundesgesetz gekippt haben. Besonders betroffen sind hiervon Menschen, denen die nötigen Ressourcen zum Reisen in einen anderen Bundesstaat fehlen, überproportional Mitglieder der Arbeiter_Innenklasse und vor allem ihre nicht-weißen, migrantisierten Anteile.
Die reaktionären Kräfte, die maßgeblich für diese Entwicklung verantwortlich sind, sind zahlenmäßig stark, gut organisiert und politisch bestens vernetzt. Zur jährlichen Demonstration gegen Abtreibungsrechte mobilisierten sie 2013 circa 600.000 Teilnehmer_Innen nach Washington D.C. Bereits vor dem erfolgreichen Angriff auf Roe v. Wade konnten diese Kräfte so bereits Teilerfolge verzeichnen: Vor allem in den republikanischen Südstaaten und dem Mittleren Westen, wo bereits vor dem jüngsten Urteil die Gesetzgebung so angepasst wurde, dass sie Roe v. Wade bewusst übergeht und Abtreibung in die Illegalität drängen konnte – so etwa in Texas. Dort trat schon 2021 ein Gesetz in Kraft, das Schwangerschaftsabbrüche ab der 6. Woche selbst bei Vergewaltigung oder Inzest kriminalisiert – ganz egal, dass eine Schwangerschaft zu diesem Zeitpunkt oft noch nicht mal spürbar ist. Noch dramatischer war hieran, dass dieses Gesetz durch die Erweiterung privater Klagen die Möglichkeit einer staatlich entlohnten Hetzjagd auf Abtreibungseinrichtungen und diejenigen, die sie in Anspruch nehmen, geschaffen hat. Der bereits damals konservativ besetzte Oberste Gerichtshof lehnte eine Aufhebung dieses Gesetzes ab. In Mississippi wiederum waren Abtreibungen bereits ab der 16. Woche für illegal erklärt worden, dies auch im offensichtlichen Verstoß gegen Roe v. Wade.
Auch bereits 1992 erreichten reaktionäre Kräfte mit dem Urteil Planned Parenthood v. Casey einen Teilerfolg ihrer misogynen Kampagne. Damals wurde den Bundesstaaten erlaubt, auch vor dem dritten Trimester Vorschriften zum Schutz des ungeborenen Kindes zu erlassen und der Zeitpunkt in der Schwangerschaft, ab dem eine Abtreibung verboten werden kann, um 4 Wochen vorgezogen.
Wieso es immer wieder zu Angriffen auf das Selbstbestimmungsrecht von gebärfähigen Personen kommt, lässt sich nur durch einen Blick in die Geschichte und die jeweilige Situation der Frau erklären: Bereits vor der Verfestigung der Klassengesellschaft wurde in ursprünglichen Gesellschaften die soziale Ungleichheit zwischen Mann und Frau institutionalisiert. Dies geschah nicht zufällig oder auf „natürliche“ Weise, sondern verfolgte den Zweck, die Frau als eigentliche Quelle des Stammesreichtums, durch ihre Rolle beim Ackerbau und als Gebärerin, zu dominieren. So wurden Frauen zum Objekt ökonomischer Begehrlichkeit, was damit einherging, dass Heiratsvorschriften und Regelungen zur Kindererziehung radikal verändert werden mussten, um das Patriarchat zu sichern.
Mit steigendem Reichtum innerhalb von Gesellschaften und damit einhergehend auch einer Entwicklung des Privateigentums etablierte sich eine Weitergabe dieses Privateigentums auf Basis von Familienstrukturen. Diese Vererbungsstrukturen bedurften monogamer Beziehungen, um die Nachkommen unzweifelhaft identifizieren zu können. Der Vater eines Kindes ist beispielsweise ohne Vaterschaftstest nicht so einfach identifizierbar wie dessen Mutter. Monogame Beziehungen zu etablieren, stellte hierfür eine geeignete Methode dar, da bei nur einem Sexualpartner der Frau der Vater eines Kindes relativ eindeutig bestimmbar ist. Mit der Entstehung der Klassengesellschaft verfestigten sich diese Strukturen, beispielsweise die Idee einer monogamen Ehe.
Doch wie äußerte und äußert sich die Unterdrückung später, auch während und nach der Industrialisierung? Im Zuge der Industrialisierung nahm die Bedeutung des Haushaltes als grundlegende Produktionseinheit ab, denn nun wurde in Fabriken und Produktionsstätten produziert. Während vor allem Männer an diesen Orten ihre Arbeitskraft verkaufen mussten, waren Frauen nicht nur in verschiedenen Bereichen der Heimarbeit tätig, sondern auch für die unbezahlte Reproduktionsarbeit. Reproduktionsarbeit beschreibt die Arbeit, die nötig ist, um Arbeitskraft wieder herzustellen. Beispielsweise ist das Zubereiten von Nahrung nötig, um das Bedürfnis nach Hunger zu stillen. Ohne diese Arbeit ist es auf Dauer nicht möglich, regelmäßig die eigene Arbeitskraft verkaufen zu können. Aber auch die Bereitstellung neuer Arbeitskräfte durch die Geburt von Kindern, deren Versorgung, Fürsorge und Erziehung im privaten Haushalt zählt zur reproduktiven Arbeit. Dass Frauen diese auch weiter möglichst günstig verrichten, ist also im Interesse der Kapitalist_Innen. Durch weiter rationalisierte Produktionsprozesse wurden Frauen immer mehr auch in die Lohnarbeit integriert, um durch eine größere Anzahl an Arbeiter_Innen größere Profite zu erwirtschaften und gleichzeitig die Löhne möglichst niedrig zu halten. Eine gerechte Verteilung der Reproduktionsarbeit wurde allerdings nicht geschaffen, weshalb für Frauen oft eine doppelte Belastung besteht, da sie nicht nur ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, sondern auch heute noch oft ganz allein für die Reproduktionsarbeit verantwortlich sind, für welche sie keinen Lohn erhalten.
Diese kurze Analyse der Unterdrückung der Frau soll verdeutlichen, wie sehr die Kontrolle von weiblicher Fortpflanzung mit der Entstehung von Privateigentum verbunden ist und wie sehr die Besitzenden von der Rolle der Frau als Mutter und Fürsorgerin profitieren. Gerade in Anbetracht der hohen Sterberate unter Arbeiter_Innen, die während der Corona-Pandemie keinen oder nur unzureichenden Zugang zur Gesundheitsversorgung hatten, ist es also kein Wunder, dass vor allem Kapitalist_Innen jetzt ein Interesse an hohen Geburtenraten haben. In der Vergangenheit bereits erkämpfte Rechte wie beispielsweise das Recht auf eine sichere, (teilweise) legale Abtreibung stehen auch im Zuge eines gesellschaftlichen Rechtsrucks in den imperialistischen Teilen der Welt wieder zur Debatte. Das Recht auf Abtreibung ist nur ein Teil einer Entwicklung, die sich als ein Rollback in Bezug auf die Rechte unterdrückter Gruppen beschreiben lässt.
Die Aufhebung von Roe v. Wade und die vorangegangene Aufweichung der Errungenschaften von 1973 bereits in 1992 und 2021 zeigen, dass der Fortschritt im bürgerlich-kapitalistischen Staat jederzeit wieder zurückgerollt werden kann. Auch in Europa als weiterem Teil der vermeintlich so freien wie fortschrittlichen „westlichen Welt“ sind Abtreibungsrechte Angriffen ausgesetzt. In Polen sind seit Herbst 2020 Abtreibungen nahezu gänzlich verboten. Das hat krasse Folgen für die Schwangeren, denn ein Abtreibungsverbot führt nicht gleich zu weniger Abtreibungen. Es führt vielmehr dazu, dass die Abtreibungen illegal mit einem größeren gesundheitlichen Risiko für die Schwangeren durchgeführt werden. So gab es in Polen seit der Verschärfung nur weniger als 2000 legale Abtreibungen, aber ca. 200.000 illegale Abtreibungen bzw. Abtreibungen im Ausland. Nach dem Tod einer schwangeren Frau als Opfer der Verschärfung gingen Zehntausende auf die Straßen.
Doch auch in Deutschland ist die Situation nach wie vor problematisch. Zwar wurde vor kurzem der Paragraf 219a (Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche) gestrichen, allerdings sind durch den Paragraf 218 Schwangerschaftsabbrüche im Strafgesetzbuch nach wie vor formal kriminalisiert und könnten laut diesem mit bis zu dreijährigen Freiheitsstrafen vergolten werden. In anderen Ländern Europas ist die Situation für Schwangere, die abtreiben wollen, nicht weniger schwierig. Neben Polen und Deutschland zum Beispiel auch in Ungarn oder Italien. In Letzterem übt die Kirche massiven Einfluss aus, sodass sich viele Ärzt_Innen aus Furcht vor Repression weigern, Abbrüche überhaupt durchzuführen.
Das Recht der Frau auf körperliche Unversehrtheit ist durch eine derartige Rechtsprechung nicht gegeben. In den USA kam es nach der Urteilsverkündung zu vielen Protesten. Allein in New York versammelten sich mehrere tausend Menschen und es kam zu Straßenblockaden. Der Kampf um das Selbstbestimmungsrecht über unsere Körper und reproduktiven Rechte kann nicht länger warten, er muss jetzt konsequent geführt werden.
Da wir uns nicht nur für fortschrittlichere Gesetzgebungen einsetzen, sondern die bisherigen Errungenschaften vehement verteidigen müssen, braucht es endlich eine massenhafte Bewegung der Arbeiter_Innen. Denn es sind nicht nur diejenigen Gebärfähigen, die am meisten unter restriktiven Abtreibungsgesetzen leiden, Teil der Arbeiter_Innenklasse. Auch nicht gebärfähige Arbeiter_Innen und weitere unterdrückte Gruppen werden durch eine derartige Zurücknahme fundamentaler Rechte in Gefahr gebracht. Urteile wie die jüngste Aufhebung von Roe v. Wade zeigen, dass selbst hart erkämpfte Erfolge, die von der Bevölkerungsmehrheit unterstützt werden, im politischen Alleingang reaktionärer, mit Wirtschaft und Politik vernetzter Gruppen wieder rückgängig gemacht werden können.
Aus diesem Grund sollte der Kampf gegen eine derart reaktionäre Gesetzgebung wie die Aufhebung von Roe v. Wade die Unterstützung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten finden. Als Kommunist_Innen ist es unsere Aufgabe, für eine organisierte internationale Bewegung zu kämpfen, die die Rechte der Frau vor reaktionären Angriffen schützt – in den USA und auf der ganzen Welt.
Auf internationaler Ebene müssen die Frauen- und Arbeiter_Innenbewegung und alle fortschrittlichen Kräfte zur Unterstützung der Betroffenen in den USA mobilisieren. Die jüngsten Bewegungen in Spanien, Polen, Irland und Argentinien zeigen, was getan werden kann. Überall auf der Welt gibt es die gleichen reaktionären Mächte, die durch die Siege ihrer Gesinnungsfreund_Innen in den USA ermutigt werden.
Doch inwieweit können wir im Kampf für die Rechte der Frau auf die bürgerlichen Parteien vertrauen? Die Botschaft von Vizepräsidentin Kamala Harris bringt die Antwort der Demokratischen Partei auf den Punkt: „Es ist noch nicht vorbei; die Wähler_Innen werden das letzte Wort haben“. Mit Blick auf die Zwischenwahlen, die voraussichtlich die Kontrolle der Republikanischen Partei über den Senat stärken und ihr sogar das Übergewicht im Repräsentantenhaus verleihen werden, lautete ihre Botschaft: „Sie haben die Macht, Führer_Innen zu wählen, die Ihre Rechte verteidigen und schützen werden.“
Wir wissen jedoch: eine organisierte proletarische Frauenbewegung hat eine viel größere Macht als bloß die Abgabe eines Stimmzettels! In den USA wie an anderen Orten kann eine Massenbewegung der Arbeiter_Innen viel machtvoller und effektiver gegen derartige Entwicklungen vorgehen. Erzreaktionäre Urteile wie die Aufhebung von Roe v. Wade lassen sich kippen und Rechte können verteidigt und wiederhergestellt werden, indem Kliniken und ihre Patient_Innen, Pflegepersonal und Ärzt_Innen durch direkte Massenaktionen verteidigt werden und massenhafte Streiks die Regierungen unter Druck setzen. Als Vorbild einer möglichen Aktionsform sind zum Beispiel die Schweizer Frauenstreiks interessant, bei denen in den Jahren 1918, 1991 und 2019 bereits jeweils Hunderttausende, vor allem Arbeiterinnen, für Zugang zu Arbeit und bessere Arbeitsbedingungen kämpften.
Eine derartige Bewegung muss gleichzeitig bürgerliche Staaten wie die USA oder Deutschland als das entlarven, was sie eigentlich sind: Durchsetzungsinstrumente kapitalistischer Interessen, die sich der Verteidigung von Menschenrechten nur annehmen, wenn dies politisch vorteilhaft erscheint. Sie muss darüber hinaus revolutionäre Forderungen aufwerfen, die alle reaktionären Organe und Gesetze hinwegfegen, die diesen Zustand aufrechterhalten. Es sind die nationalen Arbeiter_Innenklassen, die diesen Kampf anführen müssen, indem sie Massendemonstrationen mit Massenstreiks unterstützen.
Deshalb fordern wird national und international: