Ampelkoalition und Abtreibung: Grünes Licht für die Selbstbestimmung?

Emilia Sommer (REVOLUTION, Deutschland)

Im Koalitionsvertrag der Ampel (SPD, FDP und Grüne) werden allerhand Verbesserungen zu Schwangerschaftsabbrüchen versprochen, die auf den ersten Blick gar nicht mal so schlecht klingen. So wirbt sie mit der Streichung des Paragrafen 219a StGB, welcher das öffentliche Bereitstellen von Infos zu diesen durch Ärzt_Innen bisher kriminalisiert hatte (Werbeverbot) , einem Ausbau der Beratungsstellen sowie der Integration von Schwangerschaftsabbrüchen in die medizinische Aus- und Weiterbildung. Was davon in der Realität umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Feststeht jedoch, dass all dies noch lange nicht ausreichend ist.

Aktuell ist die Lage für Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen möchten, im als Paradebeispiel für legale Abtreibungen geltenden Deutschland prekär. Durch den Paragrafen 218 ist ein Abbruch illegal und bleibt nur dann straffrei, wenn 1.) die Schwangere den Abort verlangt und dem/r Arzt/Ärztin durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen, 2). der Schwangerschaftsabbruch von einem/r MedizinerIn vorgenommen wird (der/die nicht die Beratung durchführt) und 3.) seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind. Beratungsstellen bilden hierbei eine große Hürde: In vielen Fällen sind sie nicht flächendeckend ausgebaut und bieten vor allem keine objektive Aufklärung. Zudem sind kirchliche Träger nicht dazu verpflichtet, einen Beratungsschein auch tatsächlich auszuhändigen. Erschwerend kommt der aktuell noch geltende Paragraf 219a hinzu, welcher das „Werben“ für Schwangerschaftsabbrüche untersagt und es Betroffenen somit extrem schwer macht, Kliniken für Abbrüche zu finden.

Doch woher kommen diese Paragrafen eigentlich und wie kann es sein, dass erst die aktuelle Koalition diese, wenn auch nur in Teilen, reformiert?

Paragraf 218 wurde im Jahre 1871 in das Strafgesetzbuch aufgenommen und war Ergebnis von bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts geführten Diskussionen. Neben der Frage nach Rechten des (ungeborenen) Kindes bzw. der Frau spielten immer auch bevölkerungspolitische Interessen eine entscheidende Rolle. Das ungeborene Kind wurde als Vorstufe eines Menschen gewertet und dem Staat eine Berechtigung zu dessen Schutz erteilt. Paragraf 219a wurde im März 1933 aufgrund des Ermächtigungsgesetzes ohne parlamentarische Beratung eingeführt als Resultat einer langen rechtspolitischen Debatte seit dem deutschen Kaiserreich. Er sollte angeblich Frauen vor einer Kommerzialisierung ihrer Notlage schützen und dem Entstehen eines Marktes für Schwangerschaftsabbrüche entgegentreten. Tatsächlich haben aber beide Paragrafen zum Ziel, das Selbstbestimmungsrecht von weiblichen Körpern stark einzuschränken. Dies nutzt in erster Linie der herrschenden und besitzenden Klasse, denn die bürgerliche Familie, also Mutter-Vater-Kind mit Fokus auf Monogamie und geschlechtlicher Arbeitsteilung, dient der sicheren Vererbung von Eigentum. Aber auch auf die Arbeiter_Innenklasse wirkt sich dies aus. Zwar hat das Proletariat in der Regel nicht sonderlich viel zu vererben, dennoch haben Kapitalist_Innen ein großes Interesse daran, dass es weiterhin Arbeitskräfte gibt, die sie ausbeuten können.

Aber wir können nicht davon sprechen, dass die bürgerlichen Staaten eine demographische Strategie der Bevölkerungszunahme um jeden Preis verfolgen. So hat z. B. die UNO im Interesse der imperialistischen Staaten eine Geburtenkontrollkampagne in Ländern der sog. 3. Welt verfolgt (Sterilisation von Frauen), also ganz das Gegenteil. Die Bevölkerungszunahme in Europa zur Zeit des frühen Industriekapitalismus ist mehr auf die Aufhebung der Bindung der Eheschließung an eine eigene Wirtschaft in Dorf und Stadt zurückzuführen als auf ein geltendes Abtreibungsverbot. Sie schuf erst das Eherecht auch für Besitzlose, v. a. Proletarier_Innen. Außerdem sorgt die Kapitalakkumulation durch Ersatz von Arbeitskräften durch Maschinen für eine Reservearmee von Arbeitslosen und ruiniert den Kleinbesitz. Auch damit schafft sie ein zusätzliches Lohnangebot. Die Arbeitsmigration ist eine Folge davon. Schließlich geht es dem Kapital auch um die Mobilisierung zusätzlicher Lohnarbeit durch weibliche Arbeitskräfte, insbes. hoch qualifizierter. Das steht im Widerspruch zur Rolle der proletarischen Frau „nur“ als Hausfrau mit zahlreicher Nachkommenschaft am Rockzipfel. Das Koalitionspapier bewegt sich mit seinen Reförmchen innerhalb dieses Widerspruchs. Zu guter Letzt führte die von der Arbeiter_Innenbewegung erkämpfte gesetzliche Rentenversicherung dazu, dass auch innerhalb der proletarischen Familie das Interesse an vielen Nachkommen zwecks Altersversorgung der „Nachproduktiven“ nebensächlich geworden ist.

Also bestehen Verbote wie das der Abtreibung vor allem deshalb, um die auf geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung basierende Unterdrückung der Frau in der Familie durch eine repressive Sexualmoral, Geschlechternormen, Einschränkungen der Kontrolle über den eigenen Körper, Fixierung der weiblichen Sexualität auf das Gebären von Kindern usw. aufrechtzuerhalten. Reproduktionsarbeit ist fürs Kapital v. a. Privatsache und soll es auch bleiben. Kurz gesagt, um die repressive, frauenfeindliche Struktur auch in der Arbeiter_Innenklasse zu reproduzieren. Die vorurteilsbehaftete Unterteilung der Klasse in Geschlecht, Nationalität, Religion etc. hilft hierbei, sie zu spalten und die verschiedenen Kämpfe damit zu schwächen.

Es gibt einen weiteren Klassenunterschied in der Abtreibungsfrage: Während es sich Frauen der herrschenden Klasse leisten können, den Eingriff auch in anderen Ländern durchführen zu lassen, beispielsweise nach Überschreitung der 12-Wochen-Frist, müssen die Arbeiter_Innen diesen in der Illegalität über sich ergehen lassen. Auch legal erfolgende Abbrüche erfordern aufgrund des Mangels an Kliniken und Praxen oft einen weiten Anreiseweg, welcher sowohl logistischen Aufwand bedeutet als auch eine finanzielle Belastung darstellt. Daher galt der Paragraf 218 schon kurze Zeit nach seiner Einführung als „Klassenparagraf“, da vor allem Proletarierinnen vom Verbot der Abtreibung betroffen waren. Besonders hart trifft die repressive Abtreibungsgesetzgebung auch Jugendliche, da diese nicht nur ökonomisch und sozial abhängig, sondern auch noch rechtlich benachteiligt sind.

Warum diese Problematik erst mit der neuen Ampelkoalition angegangen wird, lässt sich am ehesten mit der WählerInnenschaft der beiden Parteien FDP und Grüne beantworten. Beide haben einen starken Zuspruch im akademischen Milieu. Diese Frauen gilt es, weiterhin stärker in den Produktionsprozess einzubinden und ein Rollback zurück in die 1950er Jahre zu verhindern. Dies könnte schließlich wichtige WählerInnenstimmen kosten.

Und wie wirkt sich die aktuelle Situation für Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland aus?

Im Jahre 2020 fanden in Deutschland 99. 948 statt, 96,2 % davon mit der Beratungsregelung, d. h. nicht durch medizinische (gefährdete Gesundheit der austragenden Person) oder kriminologische Indikation (Schwangerschaft beruht medizinisch feststellbar auf einem Sexualdelikt). Es ist nicht klar herauszufinden, wie viele Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen es aktuell in Deutschland gibt, allerdings ist von ca. 1.600 auszugehen. Dabei beschäftigen sich diese nicht ausschließlich mit der Konfliktberatung. Sie bildet nur einen Teilbereich von Verbänden wie Pro Familia. Ebenso ist ein beachtlicher Anteil konfessionsgebunden. Ähnlich verhält es sich mit Kliniken und Ärzt_Innen, welche Abtreibungen durchführen. In der offiziellen Liste der Bundesärztekammer sind aktuell 360 Praxen und Kliniken zu finden. Die Aufnahme in diese Liste ist freiwillig und man kann davon ausgehen, dass viele dies bewusst nicht tun, da noch immer eine ernstzunehmende Gefahr von Abtreibungsgegner_Innen ausgeht. Im Medizinstudium wird das Verfahren eines Schwangerschaftsabbruchs kaum bis gar nicht behandelt. Studierende müssen sich nötiges Wissen durch zusätzliche Seminare und Workshops selbst erarbeiten.

Schauen wir uns die Zahlen nun an, so fällt sehr schnell ein massiver Notstand auf. Zu wenige Beratungsstellen und Abbruchsmöglichkeiten sowie mangelnde Informationen erschweren Betroffenen die ohnehin nervenzerrende Prozedur noch weiter. Hinzu kommt, dass bislang die Kosten von selbstbestimmten Abbrüchen nur in selten Fällen teils oder ganz übernommen werden.

Zwar verspricht die Ampel wichtige Verbesserungen wie zum Beispiel einen flächendeckenden Ausbau von Beratungsstellen und Kliniken, dass Abbrüche Teil von ärztlicher Fort- und Weiterbildung werden sollen und diese kostenfrei möglich sein müssen, sie verrät jedoch nicht, wann und in welcher Form das passiert. Dies soll sich wohl in einer „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ entscheiden, welche bislang allerdings keine konkreteren Formalien hat. Der Paragraf 219 a soll zwar abgeschafft werden, von Paragraf 218 jedoch, welcher Abtreibungen eigentlich kriminalisiert, ist keine Rede.

Der Kampf für das Selbstbestimmungsrecht und gegen das Abtreibungsverbot ist also noch lange nicht gewonnen. Gerade jetzt ist es umso wichtiger, dass wir als Arbeiter_Innen und Schüler_Innen selbst Strukturen schaffen, die über die Zusammenhänge zwischen Abtreibungsverboten und dem kapitalistischen System aufklären und dafür kämpfen, dass auch für Arbeiter_Innen und ärmere Menschen Verhütung und Schwangerschaftsabbruch auf Verlangen kostenlos und ohne Zwangsberatung zugänglich sind. Dafür ist es wichtig, durch den Aufbau von basisoppositionellen Strukturen innerhalb der Gewerkschaften Druck auf die Gewerkschaftsbürokratie aufzubauen. Wir müssen uns auch innerhalb der Schule oder Uni organisieren und gemeinsam auf die Straße gehen, um gegen den Kapitalismus und die darauf fußenden Unterdrückungsmechanismen zu protestieren.

Daher fordern wir:

  • Hände weg von unseren Körpern! Raus mit der Kirche und anderen Religionen aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Für Abschaffung aller Abtreibungsparagrafen sowie der Beratungspflicht ohne Altersbegrenzung!
  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Vollständige Übernahme der Kosten für eine Abtreibung, egal in welchem Monat, und aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat!
  • Für die Abschaffung von Fristen, bis zu denen abgetrieben werden darf! Für die ärztliche Entscheidungsfreiheit, lebensfähige Kinder zu entbinden!



Situation von trans Personen an Schulen

Die Schule ist ein Ort, an dem wir uns alle täglich aufhalten müssen. Für manche trans Personen ist das jedoch Tag für Tag eine Qual. Stell dir vor, du stehst vor den beiden Schultoiletten und blickst von der einen zur anderen! Auf welche sollst du gehen? Was, wenn irgendwer kommt und Fragen stellt, warum du jetzt genau diese Toilette benutzt? Ist es nicht einfacher zu warten, bis du zu Hause bist? Tausende Gedanken, dabei geht’s nur darum, wo mensch auf Toilette geht. Doch das ist nicht alles: Sportunterricht, Klassenfahrten, der Biounterricht, selbst in Musik – überall kommt die starre Einteilung in Mädchen und Jungen vor. Überall wirst du daran erinnert, dass du anders bist als die anderen. Hinzu kommen veraltetes Lehrmaterial und eben Mitschüler_Innen und Lehrpersonal. Klar gibt es viele, die einen unterstützen, sobald man sich geoutet hat. Es gibt Lehrer_Innen, die die Namen nicht verwechseln und Mitschüler_Innen, die das tun. Aber es gibt eben auch die anderen, die Witze über einen machen, mobben und einem/r nicht glauben wollen.

Ein paar Zahlen

Generell sind trans Personen häufiger von Arbeitslosigkeit, Armut, Gewalt und Ausgrenzung betroffen. Im Alter sind z. B. bi- und homosexuelle Menschen häufiger von Armut bedroht als Heterosexuelle. So liegt bei Männern im Alter von 60 bis 90 Jahren die Armutsquote bei Bi -und Homosexuellen um sechs Prozentpunkte höher als bei heterosexuellen Männern (12 Prozent zu 6 Prozent). Als „Armutsgrenze“ gilt dabei 60 Prozent des Nettoeinkommens. Bei Frauen in dieser Altersgruppe ist ebenfalls ein Gefälle zu verzeichnen. Frauen, die sich als homo- oder bisexuell identifizieren, haben mit rund 1750 Euro durchschnittlich 10 Prozent weniger Einkommen zur Verfügung als Frauen mit heterosexueller Orientierung (rund 1950 Euro).

Die Zahlen stammen aus dem Deutschen Alterssurvey und sind nun in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen zur sozialen Lage von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans und intergeschlechtlichen Menschen in Deutschland veröffentlicht worden. (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/gruene-kritisieren-tatenlosigkeit-des-bundes-altersarmut-unter-queeren-menschen-deutlich-groesser/27089984.html)

Und in der Schule? Positiv ist es, dass für die Änderung des Namens im Klassenbuch oder in Schulausweisen keine rechtlich verbindliche Vornamensänderung erforderlich ist. Die Berliner Senatsverwaltung empfiehlt sogar, dass man trans Personen mit dem selbstgewählten Namen ansprechen sowie die gewünschten Personalpronomen verwenden sollte. Und sonst? 2014 beteiligten sich über 5.000 Jugendliche an einer Umfrage des Deutschen Jugendinstitutes, die sich an LGBTIA+-Jugendliche zwischen 14 und 27 Jahren richtete. Knapp die Hälfte der befragten jungen Trans gab an, an Bildungs- und Arbeitsorten beschimpft, beleidigt oder lächerlich gemacht worden zu sein. Etwa 10 % wurden körperlich angegriffen oder verprügelt. Die Befragten gaben ferner an, dass nur etwa die Hälfte der Lehrer_Innen offen gezeigt habe, dass Schimpfwörter nicht geduldet werden. Die Befragten erzählten weiter, dass etwa die Hälfte der Lehrkräfte gelacht hat, als Witze über LGBTIA+ gemacht wurden, oder sich direkt über Jugendliche, die sich nicht „typisch weiblich/männlich“ verhielten, lustig machte. (https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2015/DJI_Broschuere_ComingOut.pdf)

Was dagegen tun?

Uns aufs Leben vorzubereiten – im Kapitalismus. Deswegen werden in der Schulstruktur und im Schulalltag auch Rassismus und Sexismus mehr oder weniger bewusst reproduziert. Das macht den Kampf gegen Transphobie an der Schule nicht leicht, aber auch nicht unmöglich. Konfrontiert man Lehrer_Innen oder Mitschüler_Innen mit ihren Äußerungen, wird man selten ernst genommen. Außerdem ist es mehr als anstrengend, jeden Tag mit Menschen zu verbringen, die die eigene Identität in Frage stellen. Je mehr Ablehnung man erlebt, umso mehr stellt man auch sich selbst in Frage. Deswegen ist’s leichter, sich der Diskriminierung zu stellen, wenn man nicht alleine ist. Eine gute Möglichkeit dazu bietet die Gründung eines Schulkomitees. Im Gegensatz zur institutionellen Schüler_Innenvertretung können dort alle mitmachen, die möchten. Zudem sind wir in diesem Rahmen nicht vom autoritären Schulgesetz abhängig und können uns deswegen politisch positionieren. Im Rahmen eines solchen Komitees ist es dann auch leichter, Aktionen zu starten: zum Beispiel Plakataktionen, wo Kommentare, die man in der Schule abbekommen hat, nochmal aufgeschrieben oder Informationen über trans Identitäten sowie Unterdrückung aufgezeigt werden. Auch ist es sinnvoll, Veranstaltungen zu organisieren, bei denen man gemeinsam mit Mitschüler_Innen über aktuelle Themen diskutieren kann. Beispielsweise über die Wurzeln des Christopher Street Day oder LGBTIA+-Diskriminierung in anderen Ländern, da diese im Unterricht oftmals zu kurz kommen oder erst gar nicht thematisiert werden. Ebenso kann man in so einem Rahmen auch für konkrete Verbesserungen wie geschlechtsneutrale Toiletten und Umkleiden, eine Antidiskriminierungsmeldestelle oder die Mitbestimmung über die Rahmenlehrpläne eintreten. Gibt’s Stress oder geht es darum, sich gegen diskriminierende Lehrer_Innen oder Schulstrukturen zu wehren, ist es auch besser, gemeinsam aktiv zu sein: Ob offene Briefe an Schüler_Innenvertretung oder Öffentlichkeit, gemeinsame Protestkundgebungen oder gar Vollversammlungen zu dem Thema – zusammen organisiert’s sich leichter.

Das Problem an der Wurzel packen

rotzdem muss uns klar sein, dass Transphobie keine Frage der Bildung ist. Man kann sie nicht wegerziehen. Es gibt nämlich auch Teile der Gesellschaft, die aktiv von dieser Spaltung profitieren. Um Transphobie also in die Geschichtsbücher zu verbannen, müssen wir sie an der Wurzel packen: dem Kapitalismus. Der Ursprung der Diskriminierung von LGBTIA+ liegt nämlich in der geschlechtlichen Arbeitsteilung der bürgerlichen Familie. Diese Familienkonstellation besteht aus einem Mann, der arbeiten geht und die Familie ernährt, und eben aus einer Frau, die den Haushalt schmeißt und die Kinder erzieht. Bestenfalls kann diese dann Teilzeit arbeiten und etwas dazu verdienen. Klar, das erscheint jetzt erstmal nur als Klischee, es wird jedoch durch konservative Politiker_Innen, religiöse Institutionen, Medien oder Werbung tagtäglich reproduziert.

Dies geschieht nicht rein zufällig, sondern ist einfach eine Ideologie und Praxis, die für den Kapitalismus besonders profitabel ist. So werden durch das Idealbild der Familie die Erbschaftsverhältnisse der Herrschenden geregelt, während die überwältigende Reproduktionsarbeit der Arbeiter_Innenklasse unentgeltlich im Privaten stattfindet. Menschen, die nun nicht in dieses cis- und heteronormative Gesellschaftsbild hineinpassen, sind der bürgerlichen Gesellschaft natürlich ein Dorn im Auge, denn mit ihrer bloßen Existenz stellen sie eine Gesellschaftsordnung in Frage, in der es „natürlich“ scheint, dass Männer In Fabrik oder Büro arbeiten und Frauen die Hausarbeit verrichten.

Also warten wir auf das Ende der Diskriminierung?

Natürlich nicht. Wir müssen im Hier und Jetzt für konkrete Verbesserungen kämpfen und diese mit dem Kampf gegen das ausbeuterische System verbinden. In den letzten Jahren konnten schon einige Errungenschaften erkämpft werden, auch ist die gesellschaftliche Akzeptanz von trans und inter Personen in den letzten Jahren leicht gestiegen. Allerdings ist diese Entwicklung mit Vorsicht zu genießen. Zum einen sind noch längst nicht alle Rechte erstritten worden, zum anderen ist auch ein Rollback in Bezug auf Geschlechterrollen zu beobachten. Der politische Rechtsruck, der international verbreitet ist und in Deutschland seinen Ausdruck im Erstarken der AfD findet, stellt eine große Gefahr für die Errungenschaften der LGBTIA+-Bewegung dar. Wir wollen gemeinsam für eine Gesellschaft eintreten, in der alle Menschen ungeachtet ihres biologischen oder gesellschaftlichen Geschlechts gleichberechtigt und gefahrenfrei leben können.

Daher fordern wir:

  • Kampf der Diskriminierung an Schule, Uni und im Betrieb! Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze gegen trans Personen und LGBTIA+: Für breite Aufklärungskampagnen und Selbstverteidigungskomitees der Unterdrückten in Verbindung mit der Arbeiter_Innenbewegung!
  • Für das Recht auf gesonderte Treffen in den Organisationen der Arbeiter_Innenbewegung, um den Kampf für Gleichberechtigung voranzutreiben und gegen diskriminierendes und chauvinistisches Verhalten vorzugehen!
  • Das Recht auf Selbstidentifizierung der Geschlechtsidentität, soweit es den Staat betrifft (auf Rechtsdokumenten, bei Zugang zu Gesundheitsversorgung und Versicherungsleistungen usw.)!
  • Recht auf Nutzung der sanitären Einrichtungen, die dem angegebenen Geschlecht der Trans Persone entsprechen, sowie der Einrichtung von geschlechtsneutralen sanitären Einrichtungen und Umkleiden!
  • Kostenlose gesundheitliche Beratung und operative, geschlechtsangleichende Behandlung, wenn dies von der betroffenen Person gewünscht wird, auch für Jugendliche! Für das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper!

Quellen:
https://www.lgbtmap.org/file/Advancing%20Acceptance%20Infographic%20FINAL.pdf




„Neue starke Männer“ zum Kampf für Chinas Vormachtstellung in der Welt?

Resa Ludivien (Sympathisantin von REVOLUTION, Deutschland)

Schaut man chinesische Serien, so finden sich immer mehr starke Frauenfiguren auf dem Bildschirm. Noch verwunderlicher ist es, dass, im Vergleich zum westlichen Pendant ganz normale Dinge einen Platz in 45 Minuten bekommen. Wann hatte in einer deutschen Serie das letzte Mal eine Frau ihre Tage, was nicht nur erwähnt wurde, um ihre schlechte Stimmung zu erklären?

Fernab von Fiktion ist die Entwicklung in Festland-China allerdings seit Jahren eine andere und sie spitzt sich zu. Militarisierung, Stärkung tradierter Männlichkeitsideale und ein neuer Rechtfertigungszwang für diversere Frauenbilder bestimmen den Alltag. Im folgenden Artikel soll diese Entwicklung beschrieben und analysiert sowie ein Überblick des Frauenbildes in China geliefert werden.

Geschlechterverhältnisse in China: Long Story Short

Im konfuzianischen Weltbild gibt es nur eine Beziehung, die als gleich dargestellt wird: nämlich zwischen Freund_Innen, wobei hier in erster Linie Männer gemeint sind. Der Ideologie zufolge sind alle dem Staat untergeordnet, Kinder den Eltern und Frauen den Männern. Dieses Weltbild war jahrhundertelang prägend. Doch es hatte eine materielle Grundlage. Die ökonomischen Verhältnisse in China unterschieden sich von der vorkapitalistischen Wirtschaft in Europa. Marx fasste diese unter asiatische Produktionsweise (auch wenn sie auch in anderen Teilen der Welt vorkam) zusammen.

In dieser erfüllte der Staat wesentliche, stark zentralisierte Funktionen zur Sicherung der Gesamtreproduktion der Gesellschaft (Bewässerung, Handel, Austausch zwischen den Agrargemeinden, Militär). Auf dieser Grundlage konnten nicht nur große Agrarterritorien regiert werden, wo die Dorfgemeinde (später tw. auch individuelle Bauern) noch Eigentümer von Grund und Boden war/en, an den Staat ein Mehrprodukt in Form von Tribut ablieferten.

Obwohl es immer wieder zu Aufständen kam, die sogar zu Herrschaftswechseln und Einsetzung einer neuen Herrschaftselite führten, blieben die eigentlichen Produktionsverhältnisse am Land davon weitgehend unberührt.

Eine starke Rolle in diesem Staat der herrschenden Klasse bildeten Beamte (nur Männer). Diese besaßen nicht nur das Macht-, sondern auch das Wissensmonopol. Die Rolle der Frau war demnach, bis auf den kaiserlichen Hof, eher eine arbeitende.

Beschäftigt man sich mit den Geschlechter- und Schönheitsidealen des vormodernen China, so ist davon auszugehen, dass vor allem die Verhältnisse der herrschenden Klasse bis heute überliefert sind. Über die normale Bevölkerung wissen wir hingegen wenig, da sie in Abbildungen und Texten weniger vorkommt und diese nicht selber hervorgebracht habt. Sie war zu sehr mit Produzieren beschäftigt. Allerdings waren Schönheitsideale bereits vor 1.000 Jahren nicht nur auf Frauen konzentriert. Immer wieder gab es Zeiten, in denen Männer, die sich schminkten, ganz normal waren. Außerdem darf man nicht vergessen, dass in den vormodernen Gesellschaftsstrukturen Chinas die Geschlechterverhältnisse keineswegs deckungsgleich mit europäischen waren.

Durch das Vordringen des Weltmarktes und damit verbundene Umwälzung der Klassenbeziehungen, soziale Bewegungen und nicht zuletzt die maoistische Führung wurde dieses Weltbild v. a. im 20. Jahrhundert stark aufgebrochen. So hinkte die Technik unter Mao Wirtschaftsplänen hinterher und Frauen wurden als Arbeiter_Innen gebraucht. Dies spiegelte sich auch in der Propaganda wider. Gleichzeitig kann man nicht von einer gänzlichen Gleichberechtigung von Frauen sprechen. Denn dazu zählt nicht nur die Gleichstellung auf rechtlicher und ökonomischer Ebene, sondern auch gesellschaftlich und somit auch die Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Die Ein-Kind-Politik und auch die starke Bevorzugung von männlichen Babys stehen im krassen Widerspruch zur Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Jedoch gab es nach Maos Tod eine Zeit der Entspannung in China. Doch diese war nicht nachhaltig. In der KP von heute stehen vor allem Männer in den ersten Reihen. Und spätestens mit der Übernahme durch Xi Jinping wurden die chinesische Politik und Gesellschaft neustrukturiert. Dazu gehört auch die bewusste Förderung tradierter konfuzianischer Vorstellungen von Ordnung und Unterordnung sowie reaktionären Geschlechterrollen.

Xi Jinping zieht die Zügel an

Im ostasiatischen Raum ist Südkorea in der Popkultur seit mehreren Jahren der Maßstab. Von K-Pop, bis Serien begegnen einem dort auch Männerbilder, die fernab westlicher Vorstellungen sind. Werden hierzulande schon Menschen wegen etwas Nagellack schief angesehen, ist es dort kein Problem, als Nicht-XX-Chromosomensatz geschminkt aufzutreten und großen Wert auf die äußere Erscheinung zu legen. Auch chinesische Schauspieler nähern sich diesem Ideal oft an. Doch sind „verweichlichte“ Männer, womit Schminke von reaktionären Kräften auch assoziiert wird, der Parteiführung mittlerweile ein Dorn im Auge. Die nationale und somit KP-gesteuerte Filmindustrie soll sich diesem Trend entgegenstellen. Zum Teil bedeutet das sogar die Zensur solcher Filme und Serien. Doch warum werden Männer mit Schminke als so große Gefahr angesehen?

Bedenkt man, dass Menschen, die nicht in das binäre und heteronormative System passen, vor allem LGBTIQA, in China stark bekämpft werden, ist das nicht sehr verwunderlich. Sie werden als krasses Gegenstück für die herrschenden Geschlechterverhältnisse und als Angriff auf die soziale Ordnung gesehen. Des Weiteren gibt es auch einen politischen Hintergrund für das Verstärken eines vermeintlich traditionellen Männerbildes.

Im Rahmen zunehmender globaler Konkurrenz und eines Blockbildungsprozesses auf Militarisierung und „traditionelle“ Männlichkeit zu setzen, ist nichts Neues. Auch Putin greift zu diesem Narrativ „des Hüters der Männlichkeit“. Dieses betrifft nicht nur die offizielle politische Ebene, sondern auch die scheinbar private. Schönheitsideale werden politisch. Schminke gilt als Verweichlichung der starken Männer. Dieses Weltbild betrifft nicht nur Männer, die sich dem nicht unterwerfen, sondern auch vor allem Frauen und nonbinäre oder trans Personen. Denn das Pendant ist nicht die kämpferische Frau, sondern das krasse Gegenteil: Die „gute“ Frau sorgt sich um den Herd und trägt einen Rock, ähnlich dem westlichen Familienbild der 1950er Jahre.

Dieser reaktionäre Wandel des Frauenbildes wird vor dem Hintergrund der veränderten Rolle Chinas als aufstrebende imperialistische Macht verständlich. Mittlerweile stellt es den Hauptrivalen der niedergehenden Hegemonialmacht USA dar. Schaut man sich die Versuche an, Halbkolonien in die eigene Einflusssphäre einzubinden, ist sein Weg zur Weltmacht z. B. bei der „Neuen Seidenstraße“ deutlich erkennbar. Doch auch im Inland gibt es Auswirkungen des Blockbildungsprozesses.

Das Militär ist in China mittlerweile omnipräsent: seien es stetig wiederkehrende Militärreklame, die an Werbespots erinnert, Truppen bei Zugreisen oder in Bahnhöfen, wie man sie in wahrscheinlich keinem europäischen Land in diesem Umfang zu sehen bekommt. Die letzten Jahre und Monate hat China nicht nur auf ökonomischer und diplomatischer Ebene, vor allem in halbkolonialen Ländern in Afrika, Asien oder Südosteuropa, seinen Einfluss verstärkt. Auch im Inland bzw. dem Gebiet, welches die chinesische Regierung als solches betrachtet, wurden Militäraktionen immer präsenter und aus Sicht der Regierung notwendiger. In Taiwan läuten unaufhörlich die Alarmglocken, da das chinesische Militär immer stärker in dessen Luftraum eindringt. Des Weiteren kam es auch bei den Protesten in Hongkong zum Einsatz. Wie es in Xinjiang oder Tibet aussieht, lässt sich aufgrund der immer schlechter werdenden Informationslage nur vermuten. Sucht man nach „Zhongguojunren“ (chinesische Soldat_Innen), erscheinen in erster Linie Bilder von Männern in Uniform. Frauen und Militär sind an sich eigentlich kein Widerspruch und Frauen und Kämpfer_Innen schon gar nicht. Allerdings scheint der neue Kurs vor allem auf Männer ausgerichtet zu sein. Diese Entwicklung symbolisiert auch das staatlich verordnete Männlichkeitsbild.

Frauen als Systemstörung!?

Die Frauen werden in den Hintergrund gedrängt, zurück an den Herd, während die Männer kampfbereit gemacht werden sollen. Neben der strategischen Militarisierung Chinas spielt noch ein weiteres Element hinein. Auch der chinesischen Wirtschaft hat die Corona-Pandemie, vor allem zu Beginn, geschadet. Zusätzlich muss eine innerchinesische Schuldenkrise abgewendet werden (siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/10/19/china-was-heisst-lehman-auf-chinesisch/).

Zwei Krisen auf einmal also, die den Aufstieg gefährden könnten! Der eingeschlagene Kurs auf Stärkung reaktionärer Geschlechterrollen und das Zurückdrängen der Frauen stellt dabei auch ein Mittel zur Spaltung der Ausgebeuteten und zur Schwächung und Isolierung von Widerstand und Protest dar. Dabei manifestierten sich in den letzten fünf Jahren durchaus Proteste unter der Beteiligung von Frauen und gesellschaftlich unterdrückten Gruppen, die der Linie der KP-Führung im Weg stehen. Dazu zählen Proteste der LGBTIAQ-Bewegung ebenso wie Streiks im Care-Sektor oder „#MeToo“-Ableger in chinesischen „sozialen Medien“ oder der Versuch, in China als Single-Frauen anerkannt und in Ruhe gelassen zu werden. (Siehe Frauenzeitung 2020: „Frauen in China: die Verliererinnen des Aufschwungs?“)

Diese Bewegungen haben auch gezeigt: Frauen stellen eine „Gefahr“ dar. Gleichzeitig sind sie unabdinglich für Reproduktion und Reproduktionsarbeit, zuhause und gesellschaftlich, sowie als Reserve im Kriegsfall. Daher muss ein Weg gefunden werden, um sie in Schach zu halten. Sie aus dem ökonomischen Kreislauf heraus- und zurück nachhause zu drängen, ist ein Mittel, um ihre Unabhängigkeit und Mitbestimmung zu beschneiden. Um die längerfristige Machterhaltung der KP zu ermöglichen und gleichzeitig den Einfluss in der Welt zu stärken, ist die stärkere Unterordnung der Gesellschaft und vor allem der Frauen unabdingbar.

Die Rhetorik Xi Jinpings greift zur Formierung einer kampfbereiten Gesellschaft auf altbewährte Phrasen zurück. Das alte philosophische Konstrukt des „Tianxia“, was so viel wie alle unter einem Himmel bedeutet, ist sein Credo. In diesem Fall ist es nicht nur ein philosophisches Modell, sondern ein Kampfbegriff, unter dem sich imperialistische Politik betreiben lässt und der sich geradezu anbietet. Alte Größe wiederherstellen, indem man auf lange tradierte, funktionierende und stark verankerte Konstrukte zurückgreift, funktioniert. Erstens, weil die Ideen stark in der chinesischen Kultur verankert und daher in der Bevölkerung anschlussfähig sind. Zweitens, weil gerade der Konfuzianismus stark hierarchisch geprägt ist. Die Unterordnung unter den Staat steht an erster Stelle, die Durchsetzung des patriarchalen Systems folgt darauf und stützt wiederum den Staat. Schließlich basieren Kapitalakkumulation und Herausbildung einer Kapitalist_Innenklasse im chinesischen Imperialismus darauf, dass die Staatsbürokratie eine aktive, vorantreibende Rolle spielt.

Gemeinsamer Kampf!

Daran zeigt sich, dass die Forcierung reaktionärer Geschlechterrollen eng mit der Entwicklung des Kapitalismus und Militarismus verknüpft ist. Der Kampf gegen die neuen Formen der Unterdrückung und die Stärkung patriarchaler Strukturen und Ideologien braucht einerseits ökonomische Organisierung, aber auch gemeinsamen Widerstand gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt im öffentlichen und privaten Raum.

Ein Kampf gegen die Verhältnisse ist jedoch keiner von Frauen allein. Auch eine Organisierung von LGBTIAQ-Menschen liegt in unserem Interesse, u. a. weil es hier bereits Strukturen gibt und auch Erfahrungen mit der Arbeit im Untergrund. Doch eine sozialistische Antwort ist nicht nur auf ein Geschlecht fokussiert.

Das Vorgehen der chinesischen Regierung richtet sich nicht nur gegen die Stellung von Frauen in der Gesellschaft, sondern birgt auch für Männer eine Gefahr, weil es ein Teil der Formierung des chinesischen Kapitalismus darstellt und eng mit dem Kampf um die Weltmachtrolle Chinas verknüpft ist.

Der Kampf muss dabei unter Bedingungen der Illegalität geführt werden müssen, was auch einschließt, Dynamiken für offene Auseinandersetzungen z. B. in Betrieben zu nutzen, wo sie entstehen. Vor allem aber geht es darum, eine politische Organisation, eine revolutionäre Partei aufzubauen, die den Kampf gegen die Unterdrückung der Frauen und den Sexismus auf allen Ebenen mit dem gegen Kapitalismus und Imperialismus verbindet. Auch in China steht der Hauptfeind der Arbeiter_Innenklase und der ländlichen Armut im eigenen Land.




Kampf gegen sexuelle Gewalt an Frauen: abseits des Staats, gegen ihn oder mit ihm?

Lars Keller/Jaqueline Katharina Singh (REVOLUTION/Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland)

Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig, aber nicht unbedingt sichtbar. Auch wenn sich der Mythos, dass diese draußen auf dunklen Straßen stattfindet, hartnäckig hält, sieht die Realität anders aus. Denn meistens findet sie hinter der harmonisch-schönen Fassade von Arbeit, Familie und Freundeskreisen statt. So wird in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt. Etwa jede vierte wird mindestens Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner. Die letzten zwei Jahre haben zudem eine dramatische Verschärfung bedeutet. Eingesperrt im Lockdown oder Homeoffice waren Frauen wie Kinder männlich-väterlichen Gewalttätigkeiten – physischer und psychischer Art – noch mehr als sonst ausgeliefert.

Das führt uns zu der Frage: Was tun gegen sexuelle Gewalt?

Die Justiz als Freundin und Helferin?

Der bürgerliche Staat ist dabei überwiegend Teil des Problems. Aus Angst vor öffentlicher Stigmatisierung und Angriffen (victim blaming), Retraumatisierungen sowie zusätzlichen Gewalterfahrungen werden die wenigsten Täter vor Gericht gebracht – und dort häufig auch noch freigesprochen, da Beweise fehlen, der Staat Gewalt ganz anders definiert, als Betroffene sie erlebten, oder einfach, weil der Richterstuhl mit einem überzeugten weißen, männlichen Hintern besetzt ist. In Deutschland stellen laut Kriminologe Christian Pfeiffer rund 85 % der Frauen keine Anzeige „und von den 15 Prozent die übrig bleiben, werden letztendlich nur 7,5 Prozent der Täter verurteilt. Das ist indiskutabel.“ (https://www.tagesschau.de/investigativ/report-muenchen/verurteilungen-vergewaltigung-101.html)

Lösungsansätze?

Einen Lösungsansatz liefert die Idee, dass Bildung und Erziehung eine maßgebliche Rolle dabei spielen, sexuelle Gewalt zu verhindern, wie der recht bekannte Spruch „Warnt nicht eure Töchter, erzieht eure Söhne!“ aufzeigt. Obwohl dieser Slogan zwar richtigerweise den Blick auf die männlichen Täter richtet, so reduziert er das Problem auf eine Erziehungsfrage in einer ansonsten aufgeklärten Gesellschaft. Aber mit der „richtigen“ Erziehung ist es leider nicht getan. Diese Annahme ignoriert ebenso wie die strukturalistische Auffassung, dass Männer gemäß ihrer genetischen Veranlagung aggressiver und gewalttätiger und Frauen biologisch eher zurückhaltend und friedliebend seien, die entscheidende Rolle, die gesellschaftliche Verhältnisse bei der Entstehung und auch Veränderung von Geschlechterrollen spielen.

Deshalb kann auch eine gewaltfreiere Erziehung von Jungen das Problem nicht lösen. In einer Gesellschaft, die selbst auf Konkurrenz, Klassenherrschaft und damit verbundener Unterdrückung beruht, kann schließlich der Zweck von Erziehung nur darin bestehen, die Menschen dahingehend auszurichten. Für den Kapitalismus ist darüber hinaus die Trennung von bezahlter Lohnarbeit von der als wertlos betrachteten privaten Reproduktionsarbeit in der „Freizeit“ prägend. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bildet die Frauenunterdrückung und damit Abhängigkeit von Männern heraus, die wiederum auf dem Arbeitsmarkt selbst reproduziert und gefestigt wird. Auf dieser materiellen Basis der sexistischen Unterdrückung fußen reaktionäre Bewusstseinsformen, die uns im Alltag häufig als stereotype Geschlechterrollen begegnen.

So wichtig es ist, diese zu kritisieren und zu bekämpfen, so können sie letztlich nur zurückgedrängt und beseitigt werden durch den gemeinsamen Kampf gegen die materiellen Verhältnisse, die diesen Ideologien zugrunde liegen.

Einen weiteren, ähnlichen Lösungsansatz stellte die #MeToo-Bewegung, die 2017 für viel Aufsehen sorgte, dar. So griff die US-amerikanische Schauspielerin Alyssa Milano die bereits vorher existierende Kampagne der Aktivistin Tarana Burke mit folgendem Satz über Twitter auf: „Wenn alle Frauen, die sexuell belästigt oder angegriffen wurden, ‚Ich auch‘ als Status schrieben, könnten wir den Menschen ein Gefühl für das Ausmaß des Problems geben.“

Es folgten über 12 Millionen Beiträge in zahlreichen „sozialen“ Netzwerken, in denen sexuelle Gewalt gegen Frauen, oft mit sehr privaten Erlebnissen verbunden, thematisiert wurde. Dieses Beispiel zeigt klar, dass die Benennung von sexueller Gewalt wichtig ist, und brachte zumindest in Hollywood kurzfristige Konsequenzen mit sich. Doch was bleibt heute davon? Leider nicht viel. Denn die Lösung, dass die betroffenen Personen individuell aufstehen und ihre Erlebnisse äußern, mag zwar für diese empowernd sein. Das grundlegende Problem der sexuellen Gewalt sowie den rückschrittlichen Umgang mit dieser innerhalb des Staates hat dieser Ansatz nicht geändert. Dass dies alleine nicht reicht, zeigt das Beispiel von Nika Irani. Das Model veröffentlichte 2020 auf Instagram ihr Vergewaltigungsouting gegen den Rapper Samra und löste damit in der deutschen Hip-Hop-Szene eine längst überfällige Debatte über sexualisierte Gewalt aus. Der Rapper erwirkte eine einstweilige Verfügung gegen sie, die es ihr untersagt, über die Vorwürfe weiterhin öffentlich zu sprechen, da sie nicht die notwendigen Beweise erbringen konnte. Mehr muss also möglich sein. Aber wie?

Der bürgerliche Staat als Schutz?

Für uns als Marxist:innen ist klar, dass der bürgerliche Staat der der herrschenden Klasse ist und daher deren Interessen verteidigt. Er wurzelt also in der Gesellschaft selbst, stellt sich aber als über ihr und den verschiedenen Klassen stehende Macht dar. Er ist Ausdruck der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und daher umgekehrt ein Beweis, dass der Kapitalismus selber nicht fähig ist, die Klassengegensätze zu überwinden. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass seine Gewaltorgane wie die Polizei vorherrschende Diskriminierung weiter reproduzieren. Doch was heißt das im Umkehrschluss für den Kampf gegen sexuelle Gewalt?

Viele Linke lehnen es ab, Forderungen an den bürgerlichen Staat zu stellen. Stattdessen bedient man sich individueller Outings, Gewalt gegenüber den gewaltausübenden Personen oder der Definitionsmacht-Ansätze. Diese erscheinen sehr radikal, weil sie außerhalb der bestehenden Ordnung „Gerechtigkeit“ schaffen wollen. Doch wenn man sie auf die gesamte Gesellschaft anwendet, sind es entweder Nischenlösungen für eine kleine Minderheit oder sie fallen sogar hinter das aktuelle bürgerliche Recht zurück.

So stellen die Unschuldsvermutung und das Recht auf Verteidigung vor Gericht fortschrittliche Elemente der bürgerlichen Justiz dar, die in Kämpfen gegen den Feudalismus und reaktionäre Kräfte errungen wurden.

Die Unschuldsvermutung erfordert, dass der/die einer Straftat Verdächtigte oder Beschuldigte nicht seine/ihre Unschuld beweisen muss, sondern die Strafverfolgungsbehörde seine/ihre Schuld. Dies liegt daran, dass es aufgrund dieses Prinzip nicht so einfach möglich ist, ohne einen Prozess Menschen für Verbrechen abzuurteilen. Ebenso ermöglicht es den Beschuldigten, sich zu verteidigen. Dies macht grundsätzlich Sinn, denn ohne dieses Prinzip wäre es möglich, Menschen ohne Beweise für Verbrechen haftbar zu machen, ohne dass diese sich rechtfertigen könnten. Es würde staatlicher Willkür Tür und Tor öffnen und die Klassenherrschaft der Bourgeoisie stärken, ob das nun gewollt ist oder nicht.

Aber diese Überlegungen zum Staat bedeuten keinesfalls, dass Revolutionär:innen gesetzlichen Reformen neutral gegenüberstehen. So treten wir beispielsweise für staatlich garantierten Arbeitsschutz oder Mindestlöhne und viele andere Reformen im Interesse der Ausgebeuteten und Unterdrückten ein, ohne uns deshalb der Illusion hinzugeben, dass dies am grundlegenden Charakter des Staates etwas ändern würde. Im Gegenteil, wir begreifen dies als Teil des Klassenkampfes gegen die Bourgeoisie.

Das trifft auch auf Reformen im Bereich der Gerichte und Rechtsprechung zu. Als Revolutionär:innen müssen wir uns Gedanken machen, um die Lage von Frauen im Hier und Jetzt zu verbessern, und dies als Schritt zu grundlegend anderen Verhältnissen begreifen. Das heißt, unser Ziel ist es, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive zu entwickeln.

Um den Unterschied zu Formen der Selbstjustiz zu illustrieren, stellen wir uns vor, dass linke Kleinstgruppen oder generell irgendwer auf beispielsweise Outings reagieren, indem sie Gewalt anwenden, um die Gefahr seitens des Täters abzuwenden. Damit werden folgende Fragen aufgeworfen: Wenn wir uns das Recht herausnehmen zu richten, warum sollten es dann nicht andere Gruppen auch tun? Warum nur die radikale Linke? Und wer legt die Grundlage fest, auf der solche Entscheidungen gefällt werden?

Solange es keine Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse gibt, sondern nur Kleingruppen, führen solche Entscheidungen nur zu Willkür untereinander. Gerechtigkeit ist also nicht nur eine moralische Frage, sondern auch eine der gesellschaftlichen Verhältnisse.

In der aktuellen bürgerlichen Rechtsprechung profitieren bei sexueller Gewalt gegenüber Frauen von diesen Errungenschaften oft auch Täter. Doch das heißt nicht, dass die Prinzipien an sich falsch sind, sondern es stellt sich vielmehr die Frage, wie diese umgesetzt und kontrolliert werden.

Wie kann eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aussehen?

Die erste Hürde für viele Betroffene ist die Anzeige an sich. Wie oben bereits erwähnt, sind die Prozesse hierzulande oftmals retraumatisierend und viele Betroffene trauen sich erst gar nicht, die erfahrene Gewalt zu thematisieren. Deswegen ist es notwendig, unmittelbar für flächendeckende Anlaufstellen zur Meldung von sexueller Gewalt einzustehen, die ebenso, wenn gewünscht, kostenlose psychologische Beratung anbieten. Dies muss damit verbunden werden, dass es breite Aufklärungskampagnen bezüglich Gewalt an Frauen an Schulen, Universitäten und in Betrieben gibt – schlicht an den Orten, an denen sich die meisten von uns tagtäglich aufhalten müssen. In diesem Rahmen wäre es möglich, auf der einen Seite die oben erwähnte Bildung für männliche Personen einfließen zu lassen. Auf der anderen Seite kann man diese für Empowermenttraining nutzen sowie besagte Beratungsstellen bekanntmachen und klar kommunizieren, dass die Erfahrungen der Betroffenen ernst genommen werden.

Im Falle eines konkreten gerichtlichen Prozesses braucht es ebenso eine besondere Unterstützung für die mutmaßlichen Opfer. Dabei reden wir nicht nur von psychologischer, sondern von kostenloser Rechtsberatung und Übernahme der Prozesskosten, unabhängig von dessen Ausgang. Darüber hinaus bedarf es längerfristige Hilfeangebote für Betroffene von sexueller Gewalt, finanziert durch den Staat. Solche Verfahren sind keine Kleinigkeit. Deswegen bedarf es des Rechts auf mehr bezahlte Freistellung, zusätzliche Urlaubstage sowie eine Mindestsicherung, angepasst an die Inflation! Dies ist notwendig, um die ökonomische Grundsicherung für Betroffene zu gewährleisten, ihnen überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich so einem aufreibenden Prozess zu stellen.

Das sind Punkte, die im Hier und Jetzt – wenn gewollt – umgesetzt werden könnten. Die Frage, wer die Umsetzung der Gesetzgebung kontrolliert, ist damit jedoch noch nicht geklärt. Da wir die Polizei als verlängerten Arm des bürgerlichen Staates verstehen, der kein materielles Interesse verfolgt, sich gegen die existierenden Unterdrückungen wie Rassismus oder Sexismus zu stellen, haben wir oben die Meldestellen für sexuelle Gewalt erwähnt. Diese sollten im Idealfall zusammengesetzt werden aus sozial Unterdrückten – gewählt von Vertreter:innen der Arbeiter:innenklasse.

Diese sollten auch die Möglichkeit bekommen, Untersuchungskommissionen zu gründen, bestehend aus Gewerkschaften und Betroffenenvertretungen, die vollen Zugang zu den Akten der Polizei und Rechtsmedizin erhalten, um die Fälle zu klären. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass die Aussage über sexuelle Gewalt bereits als Indiz dieser gewertet werden sollte. Ebenso sollte es nicht nur Aufgabe der Betroffenen sein, die Schuld des Beschuldigten zu beweisen – auch der Beschuldigte sollte an der Stelle dazu verpflichtet werden, aktiv an der Aufklärung teilzunehmen.

Darüber hinaus bedarf es auch Veränderungen auf der gerichtlichen Ebene. Statt Berufsrichter:innen, von denen die Mehrheit aus alten, weißen Männern besteht, die es sich leisten konnten zu studieren, bedarf es rechenschaftspflichtiger, demokratisch wähl- und abwählbarer Tribunale, die sich aus der Arbeiter:innenklasse und Menschen mit verschiedenen Unterdrückungserfahrungen zusammensetzen. Diese sollten für den Umgang mit Betroffenen von Gewalt sensibilisiert und geschult worden sein. So kann man gewährleisten, dass Entscheidungen hinterfragt werden und nicht abhängig von der männlichen Sozialisierung der Richtenden sind. Des Weiteren macht es ebenfalls Sinn, dass die Gesetzgebung von einem solchen Gremium zusammen mit Betroffenenvertretungen überarbeitet wird. So stellt die Reform des Sexualstrafrechtes 2016 zwar eine beschränkte Verbesserung dar, die jedoch vor dem Hintergrund frauenfeindlicher Gesetze, Untersuchungsbehörden und Gerichte nur sehr wenig Wirkung zeigen kann. Weiter liegt die Beweispflicht immer noch nur bei der Betroffenen und geht ebenso von einem falschen Bild aus. Denn oftmals ist es auch nicht möglich „Nein“ zu sagen. Stattdessen wäre es sinnvoll, das Konsensprinzip „Nur Ja heißt Ja“ anzuwenden. Das verstärkt gleichzeitig den Druck auf den Beschuldigten, denn dieser muss dann auch versuchen, glaubhaft zu machen, dass die Betroffene einverstanden gewesen ist.

Und darüber hinaus?

Neben diesen Forderungen müssen wir für den flächendeckenden Ausbau von psychologischer Beratung sowie Frauenhäusern kämpfen, damit Betroffene sich unmittelbar vor weiterer Gewalteinwirkung schützen können. Es braucht jedoch auch eine Debatte über den Umgang mit Gewalt ausübenden Personen. Das Gerechtigkeitsverständnis des bürgerlichen Staates beruht vor allem auf dem Konzept von „Wiedergutmachung durch Strafe“. Doch durch Isolation im Knast wird wohl keine tiefgreifende Besserung im Bewusstsein des Täters einsetzen.

Immerhin hat der Staat noch einen kleinen Anspruch von Resozialisierung der Täter, seine Methoden dazu erweisen sich aber erstens als unwirksam und zweitens sollen die Täter ja überhaupt nur wieder zurück in dieselben Verhältnisse resozialisiert werden, in denen sie erst dazu geworden sind. Alternativen dazu wären Einrichtung und Ausbau von Rehabilitationsprogrammen für sexuelle Gewalttäter wie auch eine gesicherte Integration ins Arbeitsleben.

Zudem braucht es eine klare Präventionsstrategie: Einen kleinen Teil davon sollte die Integration von Konsens-Workshops im Sexualkundeunterricht ausmachen, denn sexuelle Aufklärung hört nicht bei Verhütungsmethoden auf! Des Weiteren braucht es die stetige Thematisierung sexueller und sexualisierter Gewalt an Schulen, in Erziehungswesen und Betrieben, um diese zurückzudrängen.

Wie kann das möglich werden?

Kritiker:innen werden nun einwenden, dass das zwar viele schöne Ideen sind, diese aber nicht umsetzbar wären. Diesen wollen wir an dieser Stelle antworten, dass es zum einen Forderungen gibt, die unmittelbar umsetzbar wären – wenn man genügend Druck auf die Straße bringt, damit diese finanziert werden. Ebenso sind auch tiefgehendere Veränderungen möglich. Schließlich müssen wir diesen Kampf um Verbesserungen und Kontrolle selbst im Rahmen einer Übergangslogik verstehen. In der Tat verändern selbst die besten Reformen die Grundstrukturen der Gesellschaft nicht. Daher begreifen wir diese Kämpfe um Verbesserungen auch als Teil einer umfassenderen Mobilisierung für eine andere Gesellschaft.

Nur weil das aktuelle gesellschaftliche Bewusstsein nicht „reif“ genug für diese Forderungen erscheint, heißt das nicht, dass diese nicht umsetzbar sind. Damit dies gelingt bedarf es einer breiten Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse. Aufgabe von Revolutionär:innen kann es an der Stelle nicht sein, rückschrittliche, scheinradikale Lösungen zu unterstützen. Vielmehr muss geschaut werden, wo Ansatzpunkte für diese Forderungen zu finden sind.

An dieser Stelle wollen wir die Kampagne „#NotYourPorn – Missbrauch auf Pornoplattformen muss verfolgt werden“ erwähnen. Sie spricht ein Thema an, das kaum bis gar nicht vom Staat verfolgt wird, nämlich die Verbreitung von Bildern und Videos von Frauen auf Plattformen wie xHamster ohne deren Zustimmung. Teilweise sind diese von Facebook kopiert, teilweise sogar heimlich aufgenommen worden. Auch das fällt unter sexuelle, weil psychische Gewalt. Einige Betroffene haben sich selbst zusammengetan und eine Petition gestartet, die das Strafrecht und den Umgang mit Plattformen wie xHamster verbessern soll.

So eine Vernetzung, wie es im Rahmen dieser Kampagne oder auch der von #DeutschrapMeToo gegeben hat, sind unterstützenswerte Initiativen und erste Ansatzpunkte. Sexuelle Gewalt wird in der Gesellschaft oftmals als „Einzelfall“ und individuelles Problem dargestellt, obwohl es ein gesamtgesellschaftliches ist. Statt also diese Individualisierung sexueller Gewalt auch auf deren Bekämpfung anzuwenden – die Geschehnisse als Einzelfälle zu betrachten – braucht es besagten kollektiven Lösungsweg. So wäre es beispielsweise möglich, mit vernetzten Betroffenen Forderungen aufzustellen und Organisationen der Arbeiter:innenbewegung zur Unterstützung dieser aufzufordern wie beispielsweise DIE LINKE oder Gewerkschaften. Als ersten Schritt könnte man sich auch hier an Frauen- und Queerstrukturen wenden.

Wenn Betroffene bereit sind, Prozesse im aktuellen bürgerlichen Staat zu führen, sollten diese mit einer Kampagne begleitet werden. Dabei ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass das Problem vor allem im Rahmen des Prozesses liegt, der dazu führt, dass sexuelle Gewalt oftmals nicht verurteilt wird. Dies kann Mobilisierungen beinhalten, die an Schulen, Unis und in Betrieben beworben werden können. So existiert die Chance, hier Aktionskomitees zu gründen, die vor Ort mobilisieren – und Debatten führen, welche Probleme es mit sexueller Gewalt dort gibt. Gleichzeitig würden diese Strukturen dann auch den Kern stellen, wenn es darum geht, Forderungen mit Streiks durchzusetzen.

Wir vertrauen also nicht auf den bürgerlichen Staat. Im Gegenteil. Wenn wir Forderungen an ihn stellen, uns für die demokratische Reform von Justiz, Strafrecht, finanzielle und materielle Unterstützung von Opfern einsetzen, dann nicht, weil wir den Rechtsstaat als letztes Wort der Geschichte betrachten. Es geht darum, ihn als Kampffeld für eine zukünftige, andere Gesellschaft zu nutzen, die ihn und den Kapitalismus als Grundlagen, auf denen sich sexuelle Gewalt und Sexismus reproduzieren, überwunden hat und klassenlos ist. Dies muss aber damit verbunden werden, im Hier und Jetzt für konkrete Verbesserungen für Betroffene von sexueller Gewalt gemeinsam zu einzutreten und diese Aufgabe nicht auf „nach der Revolution“ zu verschieben!




Vergesellschaftung von Erziehung

Lina Lorenz (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland)

Mama steht am Herd, putzt, macht die Wäsche und versorgt die Kinder. Sie backt den Geburtstagskuchen und tröstet die Kinder, wenn sie traurig sind. Papa geht zur Arbeit und wird als „der Beschützer“ der Familie angesehen. In der Schule werden hauptsächlich literarische Werke gelesen, in denen männlichen Protagonisten den Helden spielen und es fallen Sätze wie „Mädchen können kein Mathe, und quatschen zu viel.“ All das sind Beispiele, die sicherlich viele von uns aus ihrer Erziehung kennen. Schon von klein auf werden uns im Rahmen der Erziehung patriarchale Rollenbilder und bürgerliche Normen eingetrichtert – durch die Familie, in Kita und Schule. Doch was ist Erziehung eigentlich? Welchen Zweck erfüllt sie? Und kann es eine „neutrale“ geben?

Erziehung im Kapitalismus

Erziehung erfüllt in allen Gesellschaftsformationen die Funktion, das Individuum im Sinne der gesellschaftlichen Anforderungen zu formen. Natürlich möchte sich jedes System selbst erhalten und seinen Nachwuchs bestmöglich auf seine Zukunft in ihr vorbereiten, weshalb Erziehung immer im gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden muss. Da dieser von Klassengegensätzen durchzogen ist, kann sie nie unabhängig von den bestehenden Klassenverhältnissen stattfinden. Sie weist immer einen der jeweiligen Gesellschaft entsprechenden Klassencharakter auf. In Abgrenzung zur Erziehung umfasst Bildung einen weniger fremdbestimmten Prozess des Lernens, bei dem es um eine selbstständigere Entwicklung des Individuums geht. Aber auch Bildung kann niemals unabhängig von der gesellschaftlichen Struktur betrachtet werden. Die Gesellschaft beeinflusst, welche Ziele wir mit Bildung verfolgen und welche Mittel uns dafür zur Verfügung stehen.

Im Kapitalismus ist die Bourgeoisie die herrschende Klasse. Sie besitzt die Produktionsmittel und nutzt die Erziehung für ihre Interessen. Oberstes Ziel dabei ist, die Klassenstruktur und damit die Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten. Die Produktionsverhältnisse sollen bestehen bleiben und die Klassen immer wieder reproduziert werden. Es braucht also immer neue Kapitalist:innen, die wissen, wie man Arbeitskräfte effizient ausbeutet, um im Konkurrenzkampf bestehen zu können. Andererseits braucht es immer neue Arbeiter:innen, die spezifische Fachkenntnisse besitzen, um den Produktionsprozess am Laufen zu halten.

Eine Aufgabe der Erziehung ist also, die Arbeiter:innenklasse zu bilden. Gleichzeitig soll sie aber auch paralysiert werden. Denn was wäre, wenn sie zur Erkenntnis gelangen würde, dass sie sich nicht weiter ausbeuten lassen muss? Die Produktion und Verbreitung der bürgerlichen Ideologie stellt einen wichtigen Grundpfeiler dar, der verhindern soll, dass sie sich organisiert und für ihre eigenen Interessen eintritt. Nur so kann gewährleistet werden, dass sie sich freiwillig den Produktionsverhältnissen fügt. Erzählungen wie die „vom Tellerwäscher zum Millionär“ suggerieren, dass dem sozialen Aufstieg mit genug Fleiß und Durchhaltevermögen nichts im Wege steht. Sie verschleiern die Klassenstruktur und lassen glauben, dass wir im besten aller möglichen Systeme leben. Daneben werden wir schon als Kinder und Jugendliche zu Unterordnung und Gehorsam erzogen, damit wir uns später als Lohnarbeiter:innen brav den Interessen der Kapitalist:innen fügen. Wir sind es gewohnt, uns den Forderungen der

Eltern, von denen wir finanziell abhängig sind, oder der autoritären Lehrer:innen, deren Notengebung über unsere beruflichen Chancen entscheiden, zu beugen. Ein weiteres Mittel zur Disziplinierung stellen Zuwendung und Anerkennung dar, womit wir vor allem dann belohnt werden, wenn wir die an uns gestellten Anforderungen erfüllen.

Wie schafft es die herrschende Klasse, die Erziehung auf diese Weise zu kontrollieren? Hier kommt der Staat ins Spiel. Denn einzelne kapitalistische Unternehmen haben kein Interesse daran, selbst für Erziehung aufzukommen. Diese erscheinen ihnen als unnütze Kosten. Sie erfordern Ressourcen, schaffen aber keinen Mehrwert – also auch keine Profite für das Unternehmen. Daher übernimmt der Staat – dessen Funktion es ist, das bestehende Gesellschaftssystem aufrechtzuerhalten – als ideeller Gesamtkapitalist diese Aufgabe. Er vertritt die Interessen des gesamten Kapitals, indem er Wissen und bürgerliche Ideologie vermittelt. Er führt beispielsweise eine allgemeine Schulpflicht ein und legt Lehrpläne fest. Er bildet pädagogisches Personal aus und betreibt Bildungs- und Erziehungseinrichtungen.

Überwindung des Klassencharakters von Erziehung

Viele Menschen sehen zwar einen Veränderungsbedarf des Erziehungs- und Bildungssystems, hegen allerdings die Illusion, dass hierfür bürgerliche Reformen das Mittel der Wahl darstellen. Reformen können sicherlich ein Werkzeug sein, kleine Veränderungen innerhalb des Gesellschaftssystems zu erreichen. Sie können aber niemals den Klassencharakter – der diesen Problemen zu Grunde liegt – verändern. Denn sie stützen sich auf den bürgerlichen Staat, der kein Interesse daran hat, die Klassenstruktur zu verändern. Reformpädagogische Ansätze beispielsweise zeigen den begrenzten Spielraum von solchen Mitteln auf. Sie ermöglichen ein Lernen ohne autoritäre Erziehung, Konkurrenz und Leistungsorientierung. Allerdings können sie nur pädagogische Inseln schaffen, zu welchen allein eine privilegierte Minderheit Zugang hat. Sie ignorieren die Einbindung der Erziehung in die Klassengesellschaft und stellen sich dieser nicht entgegen, wodurch sie letztendlich den Status quo unterstützen. Systeme wie Montessori oder Waldorfschulen sind dafür ein gutes Beispiel. Zwar schaffen sie die Illusion von einer Pädagogik, die tatsächlich für die Kinder gemacht wird und mit alten, autoritären Lehrmethoden bricht, aber sie individualisieren und isolieren die gesellschaftlichen Probleme der Bildung und Erziehung weiterhin. Es ist also auch kein Wunder, dass mit Rudolf Steiner (dem Begründer der Waldorfschulen) eine starke Abgleitfläche hin zu Esoterik bis zum Faschismus besteht. Ein unwissenschaftlicher Zugang, der es nicht schafft, die Ideologische Ausrichtung der momentanen Erziehung zu durchbrechen, wird immer zu einer Verstetigung des Systems führen und an den eigenen Widersprüchen zerbrechen.

Um die Probleme des Erziehungs- und Bildungssystems an ihrer Wurzel zu packen, darf die pädagogische Sphäre nicht losgelöst vom Rest der Gesellschaft betrachtet werden. Genauso müssen Erziehung und Bildung auch als Einheit verstanden werden, nicht nur als „private“ gegenüber der „gesellschaftlichen“ Aufgabe. Der Kampf um eine sinnvollere Erziehung muss immer mit dem gesamtgesellschaftlichen Kampf gegen die Klassenstruktur verbunden werden. Nur wenn das Klassensystem als Ganzes aufgehoben wird, kann auch der Klassencharakter der Erziehung überwunden werden. Ziel ist daher nicht die Herausbildung des besseren Individuums innerhalb des kapitalistischen Systems durch reformorientierte Erziehungsansätze, sondern die Überwindung dessen durch kollektive revolutionäre Organisierung. Kinder, Jugendliche und lohnabhängige Lehrende dürfen nicht mehr nur als Personen begriffen werden, die besser pädagogisch versorgt werden müssen oder andere besser pädagogisch versorgen sollen. Stattdessen müssen sie als revolutionäre Subjekte verstanden werden, die Akteur:innen im Klassenkampf sind und für ihre Interessen und Forderungen einstehen. Zentral dabei ist, dass sie neben Fragen nach inhaltlicher auch solche nach struktureller Veränderung der Erziehung stellen. Wer bestimmt Inhalt und Rahmen der Erziehung? Wer hat die Kontrolle über relevante Institutionen? Wer trifft Entscheidungen? Wer kontrolliert deren Umsetzung?

Vergesellschaftung von Erziehung auf dem Weg in die klassenlose Gesellschaft

Auch wenn es im Kapitalismus bereits gewisse Tendenzen zur Vergesellschaftung der Erziehung gibt – beispielsweise durch die Errichtung von Kitas, Schulen oder Internaten – werden wesentliche Teile ins Private zurückgedrängt, wo sie nicht entlohnt werden müssen. Erziehung wird immer noch hauptsächlich als private Angelegenheit betrachtet, die im Rahmen der bürgerlichen Familie geleistet werden soll, wo sie in die geschlechtliche Arbeitsteilung eingebettet ist. Erziehung ist wie andere Reproduktionsarbeiten (z. B. Nahrungsversorgung, Pflege etc.) eine der unsichtbaren und unbezahlten Tätigkeiten, die mehrheitlich von Frauen verrichtet wird. Männer dagegen haben einen größeren Anteil an der gesamtgesellschaftlich geleisteten Lohnarbeit.

Um die Struktur dieser Arbeitsteilung aufzubrechen, muss die Forderung nach Vergesellschaftung von Erziehung mit anderen Kämpfen verbunden werden. Nur wenn allen Menschen das Recht auf Arbeit garantiert wird und gleichzeitig jegliche Reproduktionsarbeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen wird, ist eine Neuaufteilung von Arbeit möglich. Erst dann können sich toxische Strukturen innerhalb von Familien abbauen, deren Grundlage die finanzielle Abhängigkeit von Frauen und Kindern legt.

Erst nach einem revolutionären Bruch und dem beginnenden Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft wird Erziehung durch zunehmende Vergesellschaftung immer weniger den Interessen der wenigen Kapitalist:innen, sondern zunehmend denen der gesamten Gesellschaft folgen. Doch wie kann ermittelt werden, was gesellschaftlich relevant ist? Jugendliche, Pädagog:innen und Gewerkschaften müssen sich in Räten organisieren, um einerseits gesellschaftlich relevante Bildungsinhalte zu ermitteln und andererseits die Umsetzung dieser zu kontrollieren. Generell ist eine stärkere Verknüpfung von Erziehung, Ausbildung und Arbeit wichtig. Die sogenannte „polytechnische Bildung“ in der frühen Sowjetunion umfasste beispielsweise ein Bildungskonzept, indem die Erziehung mit der materiellen Produktion verbunden wurde. Auch die Möglichkeit zu lebenslangem Lernen und der Zugang zu außerschulischen Bildungseinrichtungen fördert Theorie und Praxis als gemeinsamen und wechselseitigen Prozess. So kann gewährleistet werden, dass nicht an den gesellschaftlichen Bedürfnissen vorbei gelernt wird.

Durch die Integration von Lernen und Arbeiten wird das Erziehungs- und Schulsystem, wie wir es kennen, grundlegend in Frage gestellt. Aber erst mit dem gänzlichen Verschwinden der gesellschaftlichen Klassenstruktur kann sich der Charakter der Erziehung vollends ändern. Die gesamte gesellschaftlich relevante Arbeit, einschließlich der Reproduktion, kann auf alle Hände aufgeteilt werden. Die bürgerliche Familie wird überflüssig werden, denn sie wird nicht mehr für die Reproduktion der Arbeitskraft benötigt. Auch die Rolle der Eltern wird sich wandeln, da diese nicht mehr die Hauptverantwortung für die Erziehung tragen müssen. Das bedeutet nicht, dass Eltern nicht auch weiterhin eine Rolle im Leben ihrer Kinder spielen können und sollten. Es steht in dieser anderen Form der Gesellschaft aber erstmal das Kindeswohl an oberster Stelle und es wird nicht mehr nur durch Zufall entschieden, wie die häusliche Erziehung passiert. Grundlegende pädagogische Fähigkeiten werden an alle weitergegeben, die sich um Kinder kümmern und werden gemeinsam gesellschaftlich festgelegt und verändert. Erst mit dem Umbruch in eine klassenlose Gesellschaft kann Erziehung also zu dem werden, was sie sein sollte: eine Aufgabe von allen für alle.




Care-Sektor: Warum die, die uns am Leben erhalten trotzdem so schlecht bezahlt werden

Sani Meier (REVOLUTION, Deutschland)

Spätestens seit Beginn der Corona-Krise wurde uns allen noch einmal mehr verdeutlicht, wie sehr wir auf die Arbeiter_Innen im Gesundheitssektor angewiesen sind und wie schlimm es eigentlich um diesen ganzen Bereich steht: Überstunden, viel zu niedrige Löhne, privatisierte Kliniken und mangelndes Personal sind hier nur ein paar der unzähligen Baustellen. Doch warum werden gerade die Menschen, die uns buchstäblich am Leben erhalten so schlecht bezahlt?

Was ist Care-Arbeit eigentlich?

Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns zunächst einmal anschauen, was genau Care-, oder Sorgearbeit, eigentlich ist, denn hierzu zählt noch viel mehr als die Arbeit in Krankenhäusern. Generell fällt hierunter alles, was dem Erhalt menschlichen Lebens dient. Das ist also auch die Versorgung und Erziehung von Kindern, alten Menschen sowie Pflege- und Haushaltstätigkeiten wie u. a. Kochen, Putzen, Waschen und emotionale Fürsorge. Hier findet zudem eine Unterscheidung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit statt. In Kliniken, Schulen, Kindergärten, Altersheimen oder ambulanten Pflegediensten wird gegen Lohn gearbeitet, während der größte Anteil unbezahlt und mehrheitlich von Frauen im Haushalt geleistet wird. Weltweit werden ungefähr 2/3 dieser unbezahlten Sorgearbeit von Frauen getragen, durchschnittlich verbringen Frauen 3,2-mal mehr Zeit damit. Care-Arbeit im privaten Haushalt wird also nicht mal wirklich als Arbeit angesehen, während in öffentlichen oder privaten Einrichtungen die Ausbeutung der Arbeiter_Innen kontinuierlich wächst. Somit stellt die Tatsache, dass man überhaupt für bestimmte Care-Tätigkeiten entlohnt wird, oft nur eine minimale Verbesserung für die Beschäftigten dar.

Der Charakter von Care-Arbeit im Kapitalismus

Die Entscheidung über Löhne und Arbeitsbedingungen ist dabei aber keine moralische, sondern basiert auf den Funktionsweisen des Kapitalismus. Alle Menschen, die selbst nicht das Kapital besitzen, um Produktionsmittel wie Fabriken, Maschinen etc. zu kaufen (Arbeiter_Innen), müssen ihre Arbeitskraft gegen Lohn an diejenigen verkaufen, die über dieses verfügen (Kapitalist_Innen). Letztere kaufen Arbeitskraft für einen gewissen Zeitraum mit der Absicht, das Produkt bzw. die Dienstleistung zu einem höheren Preis zu verkaufen als deren Kosten einschließlich der zur Reproduktion der benötigten Arbeitskraft. Diese Differenz nennen wir Mehrwert (Profit( für die Kapitalist_Innen. Dieser entsteht dadurch, dass Arbeiter_Innen nicht dann Feierabend machen können, wenn sie den Gegenwert ihres Lohnes erzeugt haben, sondern darüber hinaus weiterarbeiten müssen. Ab diesem Zeitpunkt wird unbezahlte Mehrarbeit geleistet, deren Wert sich die Kapitalist_Innen aneignen. Um diesen Profit möglichst effektiv zu maximieren, versuchen sie natürlich, die Lohnkosten so gering wie möglich zu halten. Da die Löhne aber dennoch hoch genug sein müssen, um die Arbeiter_Innen am Leben zu halten und den weiteren Verkauf ihrer Arbeitskraft zu sichern, wird ein Großteil der dafür benötigten Tätigkeiten (Reproduktionsarbeit) in die private und unbezahlte Sphäre in der „Freizeit“ der Beschäftigten ausgelagert. Warum manche reproduktive Arbeiten in öffentliche und private Hand gegeben werden, hat unterschiedliche Gründe. Auf der einen Seite profitieren Kapitalist_Innen auch davon, weibliche Arbeitskraft ausbeuten zu können, und Dinge wie eine einheitliche (Aus-)Bildung sind auch für manche Wirtschaftsbereiche notwendig. Das ist nicht immer besonders profitabel. Deshalb schreitet der Staat ein, um für das Kapital bestimmte Dinge umzusetzen, wo sich Unternehmen keinen (großen) Profit erhoffen können. Aber auch in Kriegssituationen kommt es oft zu einer Verstaatlichung der meisten reproduktiven Aufgaben, da die Arbeitskräfte fehlen und entlastet werden müssen. Andererseits wurden auch viele Fortschritte in Klassenkämpfen errungen. Im Care-Sektor (also Kinderbetreuung, Krankenhäuser u. ä.) haben von Beginn an hauptsächlich Frauen gearbeitet und da man erwartet hatte, dass ihre Beschäftigung mit Beginn der Ehe enden oder lediglich Nebeneinkommen zu dem des Mannes erwirtschaften würde, wurden Frauen von Anfang an schlechter bezahlt und ein Aufstieg in besser bezahlte Positionen (z. B. von der Krankpflegerin zur Ärztin) war lange nicht denkbar.

Doch obwohl Frauen heute fast selbstverständlich erwerbstätig sind, auch wenn sie heiraten, und es immer mehr Ärztinnen gibt, hat sich an der schlechten Bezahlung und den miserablen Arbeitsbedingungen wenig geändert. Wie kann das sein?

Die Ursache liegt im grundlegenden Verhältnis dieser Arbeit zum Kapital. Solange Reproduktionsarbeit (wozu private Kindererziehung ebenso zählt wie die Betreuung in der Kita) in staatlichen Einrichtungen geleistet wird, entsteht durch sie kein Mehrwert für das Kapital. Wenn es sich also nicht vermeiden lässt, diese Arbeiten außerhalb der Familie und des privaten Haushaltes zu verrichten, muss es eine andere Möglichkeit geben, damit Profit zu generieren: Privatisierung!

Privatisierung und Prekarisierung

Spätestens seit Einführung der Fallpauschale 2004 in Deutschland, welche für jedes Krankheitsbild eine durchschnittliche Bezahlung für die Behandlung festlegt, womit alles, was darüber hinausgeht, ein Defizit für die Klinik oder enormen Bürokratieaufwand bedeutet, sahen sich viele Kommunen gezwungen, ihre Kliniken an private Unternehmen zu verkaufen. Seit 1991 ist die Zahl der privaten Klinken um 70 % gestiegen und über 320 % mehr privatisierte Betten sind seitdem entstanden. Das führt dazu, dass vor allem die Behandlungen durchgeführt werden, die am meisten Profit bringen und im Gegenzug möglichst viel Geld beim Personal eingespart wird, um konkurrenzfähig zu bleiben. Kein Wunder also, dass allein zwischen 2002 und 2006, also rund um die Einführung der Fallpauschalen und den Beginn der Privatisierungswelle, circa 33.000 Vollzeitstellen in der Pflege wegfielen. Aktuell fehlen rund 100.000 Vollzeitstellen. Pflegekräfte arbeiten momentan rund 10 Jahre lang in ihrem Beruf, bevor sie wegen Überlastung eine neue Beschäftigung suchen.

Was tun?

Es ist also vor allem der Druck, Profit im Care-Sektor zu generieren, welcher letztendlich sowohl den Beschäftigten schadet als auch den Patient_Innen und damit der gesamten Bevölkerung. Wir fordern deshalb, dass der Care-Sektor nach den Bedürfnissen derer ausgerichtet werden muss, die er versorgt und die darin arbeiten. Dazu braucht es auf der einen Seite die Entprivatisierung und Neuorganisierung öffentlicher Einrichtungen unter Arbeiter_Innenkontrolle wie auch die Vergesellschaftung der privaten Reproduktionsarbeit in Form von öffentlichen Wäschereien, Küchen, Kitas etc. Diese Forderungen können aber letztendlich nicht vollständig im Rahmen des kapitalistischen Systems realisiert und müssen deshalb immer als Teil einer revolutionären gesellschaftlichen Umwälzung gesehen werden, die das Ziel hat, den Kapitalismus zu überwinden. Bis dahin muss es aber auch unsere Aufgabe sein, für konkrete Verbesserungen im Hier und Jetzt zu kämpfen wie zum Beispiel: Die Offenlegung aller Geschäftsbücher und damit volle Einsicht der Beschäftigten in Kosten und Einnahmen ihrer Betriebe

  • Die Verstaatlichung und den Ausbau des gesamten Care-Sektors unter Kontrolle der Beschäftigten, Patient_Innen, Gewerkschaften und Arbeiter_Innen, finanziert durch die Besteuerung der Reichen!
  • Mehr Planungssicherheit und Wertschätzung für Care-Berufe! Das heißt: höhere Löhne, verringerte Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich und mehr Personal in sämtlichen Pflegebereichen!
  • Das Ende der Fallpauschalen! Für eine Behandlung, die an der Gesundheit und den Bedürfnissen der Patient_Innen ausgerichtet ist und nicht am Profit privater Konzerne!

Quellen:

https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—dgreports/—dcomm/—publ/documents/publication/wcms_633166.pdf




Wie kommt die Refugeebewegung aus der Defensive?

Dilara Lorin (REVOLUTION, Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland)

August 2021: Die Aktivistin Napuli Langa sitzt seit zwei Tagen auf einem Ahornbaum auf dem Kreuzberger Oranienplatz. Auf den Plakaten sind Slogans zu lesen wie „Rechte für Geflüchtete sind Menschenrechte“ und „Luftbrücke für afghanische Geflüchtete“. Sie protestiert für deren Rechte. Ebenso will sie mit ihrer Besetzung an die vergangenen Proteste erinnern. Schließlich ist sie sowas wie ein Urgestein der Bewegung. Doch die 30 Unterstützer_Innen, die sich am Fuße des Baumes versammeln, wirken gleichzeitig wie ein schwaches Echo der Vergangenheit und werfen ungewollt die Frage auf: Was ist passiert?

Keine Verbesserung der Lage

Ende 2020 waren laut „Global Trends Report“ des UNHCR (UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge) 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Zahl steigt jedoch kontinuierlich an und es ist keine Besserung in Sicht. So ist im November veröffentlichten „Mid-Year-Trends 2021“ von mehr als 84 Million die Rede. Von diesen sind rund 50 % Frauen und Mädchen. Sie verlassen die Heimat oft mit einer doppelten Bürde auf ihren Schultern. Denn es sind mehrheitlich Frauen, die mit Kindern und älteren Familienmitgliedern fliehen und auf den Fluchtrouten mehr Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind. Angekommen in Lagern oder Notunterkünften sieht es nicht besser aus.

All das sind keine Neuigkeiten. Dennoch scheint die Situation an den Außengrenzen der Europäischen Union fast vergessen und in den Medien nicht präsent zu sein. Ausgenommen, es finden größere Katastrophen statt wie der Brand in Moria 2020. Die traurige Realität ist, dass es nicht im Interesse der herrschenden Klasse liegt, diese Menschen vor den Gefahren auf den Fluchtrouten zu schützen. Dafür sprechen die Deals der EU mit der Türkei oder Libyen, die versuchen, die Flüchtenden an deren Außengrenzen aufzuhalten und sie in den Lagern der Länder verrecken zu lassen.

Die Linke in Europa hat es nicht geschafft, in den letzten 10 Jahren eine Perspektive für diese Menschen zu entwerfen und gemeinsam Verbesserungen zu erkämpfen. Das heißt nicht, dass es immer so bleiben muss. Doch bevor wir uns der Frage widmen, wie wir die Situation ändern können, müssen wir einen kurzen Blick auf die Vergangenheit werfen.

Kurzer Rückblick auf die antirassistische Bewegung in Deutschland

Der Suizid eines Flüchtenden 2012 in Würzburg brachte viel ins Rollen wie den Marsch der Geflüchteten nach Würzburg. Es folgten zahlreiche Hungerstreiks wie der von 95 Betroffenen in München 2013 und Besetzungen wie die des DGB-Hauses Berlin-Brandenburg 2014. Am bekanntesten ist wohl heute noch das Camp auf dem Berliner Oranienplatz, welches vom 6. Oktober 2012 bis 8. April 2014 existierte. Im Zuge dessen entwickelten sich viele Supporter_Innenstrukturen. Doch deren lokale Isolation erschwerte eine dauerhafte Arbeit. Es folgten zahlreiche Antifa-Vollversammlungen, Krisenmeetings und letzten Endes bildeten sich nach zwei Jahren bundesweit verschiedene Bündnisse: „Jugend gegen Rassismus“, „Aufstehen gegen Rassismus“, „Nationalismus ist keine Alternative“, „Welcome2Stay“ und „Fluchtursachen bekämpfen“. Dies erfolgte zwischen Ende 2014 und Anfang 2015 als Mittel gegen das Aufkommen der wöchentlichen Pegida-Proteste (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). Doch der verhinderbare Aufstieg der AfD ging weiter. Antirassistische Proteste wurden kleiner, kratzten nicht mal an der Zahl von 10.000 Teilnehmer_Innen. Besetzungen wurden geräumt und die Zahl der Angriffe auf Geflüchtete stieg weiter. Bei den Wahlen hatten SPD und DIE LINKE fast überall Stimmen verloren. Es wurden stetig verschärfte Asylgesetze verabschiedet.

An Aktionen mangelte es nicht. Doch die Strategie der Bewegung hat nicht dazu geführt, den Rechtsruck in Deutschland zu stoppen oder auf europäischer Ebene einen koordinierten Protest zusammen mit Geflüchteten zu initiieren. Vielmehr mündete die Bewegung in einer Niederlage. Es bleiben vereinzelte Seenotretter_Innen, die wagemutig und auf eigene Faust Menschenleben retten, und NGOs, die vor Ort an den Grenzen versuchen, das Leid ein bisschen zu lindern, ab und zu große Aktionen, wenn es brennt, wie in Moria. Sie zeigen, dass Potenzial für eine antirassistische Bewegung existiert und bleiben doch ein Zeichen der Schwäche, da sie so schnell wie sie spontan entflammen, auch wieder verschwinden.

Wie kann sich das ändern?

So muss es nicht bleiben – die wohl einzige, tröstliche Erkenntnis. Doch dazu muss man auch aus den Fehlern der Vergangenheit lernen:

1. Raus aus der Defensive!
Es reicht nicht, nur immer wieder Angriffe abzuwehren. Wenn ein Protest Erfolg haben und nachhaltig die Situation von Geflüchteten verbessern soll, dann müssen auch konkrete Verbesserungen erkämpft werden. Das heißt konkret, dass wir nicht nur dafür kämpfen müssen, dass Seenotrettung kein Verbrechen ist und wir gegen Abschiebungen eintreten, sondern auch für offene Grenzen und Staatsbürger_Innenrechte für alle, damit Geflüchtete nicht ewig in Lagern leiden müssen oder als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Dabei muss anerkannt werden, dass es keine gesellschaftliche Polarisierung bezüglich der Antirassismusfrage gibt, sondern einen deutlichen Rechtsruck.

2. Keine Zugeständnisse, Schluss mit dem Opportunismus!

Schluss mit dem Opportunismus der Gewerkschaften! Es ist eines der Schlüsselelemente von Solidarität, dass der DGB Geflüchtete als Mitglieder aufnimmt und nicht wie in der Vergangenheit vor Angst, dass eine klare antirassistische Positionierung Mitglieder kosten kann, davor kneift. Das führt dazu, dass Unterdrückte gegeneinander ausgespielt werden und hängt mit der Ideologie der „Standortsicherung“ zusammen. Dabei sorgt die Aufnahme von Geflüchteten in die Gewerkschaften dafür, dass diese in Kämpfe vor Ort eingebunden werden können – auch wenn sie nicht arbeiten dürfen. Der Angst, dass noch mehr Mitglieder abzuspringen, muss man entgegenhalten, dass die aktive Organisierung von Kämpfen um die soziale Frage dem Abhilfe schaffen kann. Dafür müssen der DGB und seine Einzelgewerkschaften Forderungen aufstellen wie nach bezahlbarem Wohnraum oder Mindestlohn für alle. Allerdings darf man auch nicht der Illusion verfallen, dass es nur ausreicht, die „sozialen Fragen“ zu betonen. Diese Forderungen müssen konsequent mit Antirassismus verbunden werden, denn nur in praktischen Kämpfen kann man den sich etablierenden Rassismus anfangen zu beseitigen. Sonst vergisst man, dass Rassismus spaltet, kann ihn also schlechter bekämpfen.

3. Schluss mit „Jeder kämpft für sich allein“!

Wenn wir effektiv antirassistischen Widerstand aufbauen wollen, dann dürfen wir uns nicht spalten lassen. Weder von zunehmendem Rassismus noch Sektierertum der Linken oder der fadenscheinigen Überzeugung, dass Geflüchtete, Jugendliche, Parteien und Autonome jeweils ihr eigenes kleines Bündnissüppchen kochen sollen. Wir brauchen zwischen allen von ihnen und den größeren Organisationen der Arbeiter_Innenklasse zusammen mit denen der Geflüchteten eine Einheit in der Aktion. Dabei reichen nicht nur einzelne, große Mobilisierungen aus. Diese Events gab es bereits in der Vergangenheit und haben wenig gebracht. Deswegen ist es zentral, im Zuge der Proteste Verankerung vor Ort an Schulen, Unis und in Betrieben aufzubauen. Dies kann durch Aktionskomitees entstehen, die mobilisieren, indem sie beispielsweise Rassismus thematisieren und über Forderungen der Bewegung mitentscheiden.

4. Aktuelle Kämpfe verbinden!

Die antirassistische Bewegung hierzulande ist also derzeit geschwächt, fast gar nicht mehr existent. Deswegen dürfen wir nicht einfach auf die nächste Katastrophe warten, sondern müssen in den vorhandenen Kämpfen wie der Umweltbewegung oder dem um Wohnraum (Deutsche Wohnen & Co. enteignen) für klare, antirassistische Positionen auftreten. So ist die Umweltzerstörung einer der häufigsten Fluchtursachen. Bei der Enteignung von Wohnraum ist es zentral, auch für die Abschaffung von Geflüchtetenunterkünften einzustehen und für die dezentrale Unterbringung in eigenen Wohnungen. Wichtig ist v. a. die Forderung nach offenen Grenzen. Dabei ist es wichtig, dass solche Forderungen, falls angenommen, nicht nur Lippenbekenntnisse bleiben, sondern auch praktische Mobilisierungen darum erfolgen.

5. Der Kampf ist international!

Mit Deals zwischen unterschiedlichen Ländern oder gemeinsamen „Initiativen“ wie Frontex versuchen vor allem imperialistische Länder, sich die Probleme der Geflüchteten vom Leib zu halten. Um Festungen wie die Europas erfolgreich einzureißen, bedarf es mehr als einer Bewegung in einem Land. Deswegen müssen wir das Ziel verfolgen, gemeinsame Forderungen und Aktionen über die nationalen Grenzen hinaus aufzustellen. Nicht nur um mehr Druck aufzubauen, sondern auch aus dem Verständnis heraus, dass Flucht ein Problem ist, welches erst durch die Ausbeutung der halbkolonialen durch die imperialistischen Länder so virulent wird.




Femizide, Feminizide und kapitalistische Krise

Martin Suchanek (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland)

50.000 oder mehr Femizide registrieren internationale Organisationen und Forschungsinstitute jährlich – und dies umfasst nur jene Morde, die in Partnerschaften oder durch Verwandte verübt wurden, und auch nur jene Länder, die gesonderte Statistiken überhaupt erstellen. Doch schon diesen Zahlen zufolge werden weltweit täglich mehr als 135 Frauen getötet. In Deutschland fällt jeden dritten Tag eine Frau oder ein Mädchen diesem Verbrechen zum Opfer.

Probleme der Erhebung

Schon diese Zahlen sind erschreckend genug. Sie geben jedoch den Umfang und damit das gesamte Ausmaß dieses extremen Ausdrucks der Unterdrückung aus mehreren Gründen nicht wieder. Erstens umfassen viele Erhebungen keine trans Personen und andere Menschen mit einer nicht-binären Geschlechtsidentität.

Zweitens basiert die Zuordnung zum Femizid oft auf einer relativ engen Definition, d. h. nur ein Teil der intentionalen Morde oder Todschläge an Frauen geht in die Statistik ein. Die Zahlen – so auch die oft genannte von 50.000 Femiziden im Jahr 2017 – beziehen sich in erster Linie auf eine bestimmte, in der Tat sehr bedeutende Form des Frauenmordes, den intimen (innerhalb einer Partnerschaft erfolgenden) und verwandtschaftlichen Femizid (z. B. Ehrenmord). Diese beiden Kategorien machen jedoch selbst nach den Erhebungen aus dem Jahr 2017 nur etwa die Hälfe aller vorsätzlichen Frauentötungen aus, also aller Verbrechen, wo es eine bewusste, intendierte Absicht war, eine Frau, ein Mädchen, eine trans Person wegen ihres Geschlechts oder ihrer Geschlechtsidentität umzubringen.

Intentionale Morde an Frauen oder geschlechtlich Unterdrückten, die außerhalb dieser Sphäre stattfinden und mit der Durchsetzung privatkapitalistischer, neokolonialer oder staatlicher Interessen verbunden sind, gehen in die Statistiken nicht ein. Eine Reihe linker, antikolonialer und antiimperialistischer, feministischer Autor:innen hat für solche Morde an Frauen und LGBTIAQ-Menschen den Begriffe des Feminizides geprägt, um der Verengung des Blicks auf Femizide im privaten und häuslichen Kontext entgegenzuwirken. Wir verwenden daher im folgenden Text die Begriffe Femizid und Feminizid in diesem Sinne, wohl wissend, dass eine eindeutige Zuordnung selbst problematisch ist, wie z. B. das Phänomen der Ehrenmorde verdeutlicht. Schließlich kommt hinzu, dass die Begriffe in der deutschsprachigen Literatur einfach synonym verwendet werden.

Drittens bildet die Kriminalstatistik eine Hauptquelle für länderübergreifende Vergleiche. Doch diese wird von verschiedenen Staaten sehr unterschiedlich geführt und Femizide/Feminizide werden oft erst gar nicht als solche erfasst. Das Ausmaß dieser Form der intentionalen Tötung von Frauen oder LGBTIAQ-Personen lässt sich schon deshalb oft nur schätzen. Somit gehen Verbrechen erst gar nicht ein, weil sie nicht erhoben oder gar verschleiert werden oder z. B. in Kriegen und Bürgerkriegen überhaupt keine Erhebungen mehr möglich sind.

Viertens haben nur wenige Länder formale Abkommen zur Bekämpfung von Femiziden ratifiziert. So wurde z. B. das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (besser bekannt als Istanbuler Konvention) nicht nur von der Türkei spektakulär aufgekündigt. Zahlreiche europäische Länder haben es erst nach Jahren (z. B. Deutschland und die Schweiz erst 2017) ratifiziert. Andere Unterzeichnerstaaten haben dies bis heute nicht getan (Großbritannien, Lettland, Litauen, Tschechien, Ungarn, Ukraine, Moldawien, Armenien), womit das Abkommen keine Rechtsverbindlichkeit besitzt. In Bulgarien wurde es vom Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt. Polen hat seinen Austritt angekündigt, wenn auch noch nicht vollzogen.

Umfang und Vergleich

Trotz dieser Schwierigkeiten wollen wir im Folgenden etwas näher auf die Zahlen eingehen. Dabei gibt es in Europa noch relativ verlässliche Statistiken, was intime und verwandtschaftliche Femizide betrifft. Diese zeigen ein lang anhaltend hohes Niveau und in einigen Fällen sogar einen Zuwachs in den letzten Jahren. So stieg die Anzahl in Österreich von 18 (2014), 17 (2015) seit 2016 (28) massiv und hält sich seither über 30 pro Jahr (2017: 36, 2018: 41, 2019: 39, 2020: 31) (Quelle: https://www.aoef.at/index.php/zahlen-und-daten).

Weiter unten werden wir uns mit den Ursachen für Femizide und deren Anwachsen beschäftigen. In jedem Fall liegt eine enge Verbindung zum Rechtsruck nahe, der 2017 zur Bildung der ÖVP-FPÖ-Regierung und damit zu Kürzungen in der Sozialpolitik führte, aber auch mit einem staatlich sanktionierten politischen, gesellschaftlichen und ideologischen frauenfeindlichen Rollback einherging.

Für die EU insgesamt lässt sich von 2015 – 2018 ein leichtes Absinken von Morden an Frauen von 0,75 auf 0,69 je 100.000 Einwohnerinnen feststellen, allerdings mit bedeutenden Unterschieden zwischen verschiedenen Ländern (https://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/submitViewTableAction.do). Da es auch in Europa in etlichen Staaten keine gesonderten Statistiken für Femizide gibt, muss die Entwicklung der Frauenmorde insgesamt auch als Indikator für deren Umfang und für einen Vergleich betrachtet werden. Wo Daten vorliegen, wird immer auch deutlich, dass, global betrachtet, Morde durch Partner und Verwandte einen signifikanten Anteil darstellen, oft zwischen der Hälfte und einem Drittel.

In Europa bewegen sich Länder wie Italien, Spanien, Schweden oder die Niederlande über mehrere Jahre bei rund 0,5 Frauenmorden pro 100.000 Einwohnerinnen. Selbst dieser vergleichsweise „niedrige“ Anteil darf aber nicht vergessen lassen, dass wir in beiden Staaten noch immer von weit mehr als 100 Morden pro Jahr sprechen! Länder wie Deutschland, Frankreich oder auch Österreich gehören, betrachten wir den Anteil von Frauenmorden an der Bevölkerung, zum unrühmlichen europäischen Durchschnitt mit Schwankungsbreiten um die 0,6 bis 1 Frau(en) je 100.000 Einwohnerinnen. Besonders hohe Raten weisen über Jahre hinweg Länder wie Russland, Lettland, Litauen, Ukraine auf mit 1,5 bis 4 ermordeten Frauen und Mädchen pro 100.000 Einwohnerinnen auf (siehe: https://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/submitViewTableAction.do und https://dataunodc.un.org/content/homicide-country-data).

Weit weniger statistisches Material steht für Asien und Afrika zur Verfügung. So finden sich z. B. in der UN-Datenbank zur Kriminalität (https://dataunodc.un.org/content/homicide-country-data) keine offiziellen statistischen Berichte aus dem Iran, Pakistan oder der Volksrepublik China, um nur einige bevölkerungsreiche Staaten zu nennen. Außerdem fehlen auch hier häufig Differenzierungen zwischen Morden an Frauen im Allgemeinen und Femiziden durch Partner und Verwandte. Grundsätzlich weisen aber viele Länder hohe bis sehr hohe Zahlen auf. Eine der höchsten weltweit finden wir in Südafrika: 2018 waren es 2.771 oder 9,46 Frauen pro 100.000 Einwohnerinnen. Indien weist z. B. in den Jahren 2015 – 2020 Raten von 2,47 (2020) bis 2,81 Frauen je 100.000 auf, was rund 17.000 Morden pro Jahr entspricht.

Vergleichsweise umfangreiches Datenmaterial und eine reichhaltige Literatur existiert in Lateinamerika. Dies hat zwei Gründe. Zum einen spiegelt es das Ausmaß des Problems wider, zum anderen aber die Existenz großer und politisch dynamischer Frauenbewegungen auf dem Kontinent, die seit Jahren den Kampf gegen Gewalt an Frauen ins Zentrum ihrer Tätigkeit rücken.

Die folgende Statistik gibt die Zahl der Femizide und Feminizide (nicht aller Frauenmorde) in Lateinamerika, der Karibik und Spanien im Jahr 2020 wieder. Darin zeigt sich ein besonders hoher Anteil pro 100.000 Einwohnerinnen in den Staaten Zentralamerikas und der Karibik. In absoluten Zahlen springt das schiere Ausmaß der Verbrechen in Brasilien und Mexiko in Auge.

Lateinamerika, Karibik und Spanien (19 Länder): Feminizide oder Femizide, letztes verfügbares Jahr (in absoluten Zahlen und Werten pro 100.000 Frauen), Quelle: CEPALSTATS, 2020 (aus: Alejandra Santillana Ortíz, Flora Partenio und Corina Rodríguez Enríquez, Feministische Überlegungen zur Gewalt, Buenos Aires 2021, Herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung)

Die Broschüre „Feministische Überlegungen zur Gewalt“, der die Tabelle entnommen wurde, führt darüber hinaus auch an, dass die Zahl der Morde wie generell die Gewalt gegen Frauen in der Pandemie deutlich zugenommen haben: „Zwischen Januar und Juli 2020 wurden in Mexiko 2.240 Frauen ermordet, was im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Vorjahr 2019 (laut dem Exekutivsekretariat des Nationalen Systems zur öffentlichen Sicherheit Mexikos) einen Anstieg von 7,7 % bedeutet; in Ecuador gab es zwischen dem 1. Januar und dem 16. November 2020 insgesamt 101 Femizide (darunter 5 Transfeminizide); in Argentinien belief sich die Zahl auf 168.“ (Feministische Überlegungen zur Gewalt, S. 46)

Als Ursachen führen die Autorinnen die Isolation der Frauen im privaten Haushalt während der Lockdowns, aber auch die zunehmende Gewalt gegen obdachlose, auf der Straße lebende Frauen, Sexarbeiterinnen und trans Menschen an.

Bemerkenswert an den Zahlen zu Femiziden und Feminziden in Lateinamerika und der Karibik ist schließlich auch ein Vergleich zur Lage in den USA. In den Jahren 2015 – 2020 fielen dort je 100.000 Einwohnerinnen 0,8 bis 0,84 Frauen einem häuslichen oder verwandtschaftlichen Femizid zum Opfer, allein 2020 waren das 1.420. Pro 100.000 Einwohnerinnen lag die Zahl der Frauenmorde in diesem Zeitraum konstant über der Zahl 2, betrug in absoluten Zahlen nie weniger als 3.333 (2015).

Auch wenn Daten bezüglich der Zunahme von Frauenmorden und Femiziden während der Pandemie bisher nur lückenhaft vorliegen, so dürften die signifikanten Zunahmen, wie sie sich in Mexiko zeigen, auch für die meisten anderen Länder und Regionen gelten, vor allem für die halbkoloniale Welt. Das legen andere Untersuchungen oder Belege für die Zunahme von häuslicher Gewalt nahe, die sich auch in der massiven Zunahmen von Notrufen ausdrückt. Zweitens haben wirtschaftliche Krise und Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 generell die Ursachen von Gewalt gegen Frauen und von Femiziden verschärft und erstere zugleich stärker an den Haushalt gefesselt.

Erklärungen und Ursachen

Zu Recht verweisen viele linke Feminist:innen und Aktivist:innen der Frauenbewegung darauf, dass die Beschränkung auf Femizide, partnerschaftliche („intime“) und verwandtschaftliche Morde zwar eine erschreckende und extreme Form häuslicher, patriarchaler Gewalt zum Vorschein bringt. Betrachten wir jedoch nur diese, verengt dies den Blick. Ein beträchtlicher Teil intentionaler Morde findet außerhalb dieser familiären Sphäre statt. Dies betrifft im Besonderen rassistisch, ethnisch oder nationale Unterdrückte und im Allgemeinen Frauen und Mädchen in den halbkolonialen, vom Imperialismus ausgebeuteten Ländern sowie Menschen, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität marginalisiert werden.

Familie, Geschlechterrollen, Akkumulation

Doch betrachten wir zunächst den intimen, partnerschaftlichen oder verwandtschaftlichen Femizid. Er findet an einem bestimmten gesellschaftlichen Ort, im Rahmen einer bestimmten Institution statt: der bürgerlichen Familie oder einer ihr ähnlichen Beziehung (z. B. der intimen Partner:innenschaft). Der Femizid bildet dabei häufig den Endpunkt einer langen Reihe von „partnerschaftlicher“ Gewalt und Missbrauch. Gewalt und Unterdrückung sind grundsätzlich der Familie inhärent, sei es als unmittelbares, „privates“ Verhältnis zwischen männlichen Tätern und weiblichen Opfern, sei es als Ort der Vermittlung und Rechtfertigung der Normen, Regeln, moralischen Werte und Geschlechterrollen. Doch das enthebt uns nicht der Notwendigkeit, zwischen der Ausprägung, Form und Ursache zwischen verschiedenen Klassen vor dem Hintergrund verschiedener gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Gesamtlagen zu unterscheiden. Nur so können wir historisch spezifische Veränderungen begreifen und den Kampf gegen Femizide als extremsten Ausdruck von Gewalt gegen Frauen zielgerichtet führen.

Zunächst unterscheiden sich die Familien verschiedener Klassen. Jene der herrschenden genießen natürlich das Privileg, dass für sie kein Arbeitszwang existiert. Alle ihre Mitglieder leben von der Aneignung der Arbeit anderer – und können auch im privaten Haushalt andere für sich arbeiten lassen.

Für die Arbeiter:innenklasse stellt sich das grundlegend anders dar. Der Mann oder Familienvater fungiert, jedenfalls dem Anspruch nach, als Ernährer, der den größten Teil des Haushalts- oder Familieneinkommens verdient. Die Frau gilt als Hausfrau. Auch wenn diese bürgerliche Familienform für das Proletariat erst im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus etabliert wurde und nie „rein“ existierte, wurde sie zur prägenden ideellen Form und damit auch zu einem Kern reaktionärer Geschlechterrollen. Die Verallgemeinerung dieser Ideologie basiert auf einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.

Um relativ friktionsfrei und dauerhaft auch in der Klasse der Lohnabhängigen weltweit etabliert und reproduziert werden zu können, ist sie aber an einen bestimmten Stand der Akkumulation des Kapitals gebunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte diese Familienform in den imperialistischen Metropolen, in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten und selbst unter den bessergestellten Schichten der Lohnabhängigen in den Halbkolonien etabliert werden, wenn auch oft nur ansatzweise. Zugleich unterhöhlte die Entwicklung der Kapitalakkumulation auch schon damals die bürgerliche Familie, weil die wirtschaftliche Expansion auch Lohnarbeiterinnen erforderte.

Dies unterminierte objektiv die Rolle des Mannes und bildete eine der Ursachen für die Entstehung der zweiten Welle der Frauenbewegung und für den Kampf um rechtliche Gleichheit sowie für die Thematisierung häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder ab Ende der 1960er Jahre. Allerdings fanden diese Veränderungen vor dem Hintergrund einer expansiven kapitalistischen Akkumulation statt, die während des sog. langen Booms die Ausdehnung des Konsumfonds der Arbeiter:innenklasse und Umverteilungsspielräume ermöglicht hatte. Dies betraf sowohl Lohneinkommen und Kaufkraft als auch die Ausdehnung des Soziallohnes (staatliche Dienstleistungen, Sozialversicherung, sog. Sozialstaat).

Mit der Wende zum Neoliberalismus und der kapitalistischen Globalisierung und erst recht in den letzten Jahrzehnten veränderte sich das Bild grundlegend – und das noch einmal seit der globalen Krise 2008.

Die Arbeiter:innenklasse wuchs zwar auch unter den Bedingungen der strukturellen Krise und der Überakkumulation des Kapitals weiter. Das Wachstum der Lohnabhängigen war und ist jedoch wesentlich eines in „unsicheren“, prekären Verhältnissen oder im informellen Sektor beschäftigten Teils. Das betrifft in besonderem Ausmaß den Zuwachs an lohnarbeitenden weiblichen Arbeitskräften. Zugleich ist für immer größere Teile der Klasse der Lohn so weit gesunken, dass der Mann längst nicht mehr alleine die Familien ernähren kann. Die Lohnarbeit der Frau, oft auch der Kinder wird zur Existenzbedingung der Reproduktion der Klasse – und selbst dies reicht oft nicht einmal aus.

Hierbei handelt es sich um kein konjunkturelles Phänomen, das mit Rezessionen kommt und geht. Vielmehr führten massive Veränderungen und Angriffe zu Deregulierung, Lohnsenkungen, Privatisierungen und zur Zerstörung von sozialen Sicherungssystemen, um so dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken und die Profite vor allem des imperialistischen Finanzkapitals zu sichern. Dass immer größere Teile der Arbeiter:innenklasse gezwungen sind, ihre Arbeitskraft unter den Reproduktionskosten zu verkaufen, stellt ein grundlegendes Kennzeichen der aktuellen Periode dar, vor allem für Lohnabhängige im globalen Süden und für rassistisch unterdrückte und migrantische Arbeitskräfte. Diese Entwicklung bedroht jedoch längst auch die Masse der Lohnabhängigen in den Metropolen und selbst Teile der Arbeiter:innenaristokratie.

Vor diesem Hintergrund können wir verstehen, warum häusliche Gewalt und Femizide in der gegenwärtigen Periode zunehmen, warum die strukturelle Krise des Kapitalismus sowie die Ausweitung neokolonialer, imperialistischer Ausbeutung und rassistischer Unterdrückung diese extremen Ausprägungen der Unterdrückung verstärken.

Die Krise unterminiert die Rolle des Familienoberhauptes, des männlichen Ernährers. Sein Rollenversprechen, die Familie zu versorgen, kann er, unabhängig von seinem Willen, nicht länger erfüllen. Anders als in der Periode realer ökonomischer Expansion, in der die Einkommen der Familie über das bisherige Niveau und damit die ökonomische Unabhängigkeit der Frau stiegen, ist mehr und mehr Frauen aus der Arbeiter:innenklasse dieser Weg unter den Bedingungen einer strukturellen Krise verwehrt. Sie sind wirtschaftlich enger an die familiäre Hölle gekettet.

Diese Krise der Familie, aus der es aufgrund sinkender Einkommen und der Zerstörung öffentlicher und sozialer Versorgungseinrichtungen kein Entkommen gibt, bildet die strukturelle Basis für die Zunahme häuslicher Gewalt bis hin zum Femizid in der proletarischen Familie oder Partner:innenschaft. Während der Kapitalismus die ökonomischen Grundlagen der Arbeiter:innenfamilien (und auch jener der armen Bauern und Bäuerinnen und unteren Schichten des Kleinbürger:innentums) und damit auch die damit einhergehenden Geschlechterrollen, die Charaktermasken der Familienmitglieder unterminiert, in die sie hineingeboren und hinein sozialisiert werden, verunmöglicht er eine Auflösung dieses Widerspruchs. Die bürgerliche Gesellschaft selbst erweist er sich als größtes Hindernis, diese unhaltbare Form zu überwinden. Einen fortschrittlichen Ausweg bietet hier nur der Kampf der Lohnabhängigen und vor allem der proletarischen Frauen. Wo diese Perspektive fehlt, dringt der Widerspruch, in dem die Familie gefangen ist, in Form „privater“ Gewalt an die Oberfläche. Der Mord bildet die ultimative, extremste Form, worin der demoralisierte, in seiner eigenen Rolle versagende Ernährer sich selbst und seiner Frau noch einmal seine „Überlegenheit“ beweist.

Hier wird deutlich, wie eng der Kampf gegen Femizide und häusliche Gewalt mit der kapitalistischen Krise zusammenhängt – und warum dies besonders die ärmsten, am stärksten unterdrückten und ausgebeutetsten Teile der Arbeiter:innenklasse betrifft. Die barbarisierenden Tendenzen der gegenwärtigen strukturellen Krise manifestieren sich auch in der Zunahme von Femiziden. Die Krise, die wesentlich auch eine Krise der Reproduktionsbedingungen der Klasse ist, befördert natürlich die Zunahme von Gewalt und ihrer Extremform, von Chauvinismus und Sexismus. Dies stellt jedoch keinen Automatismus dar, der unabhängig von Bewusstsein, vom Organisationsgrad und der Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse vor sich geht. Ob sich die reaktionären Tendenzen durchsetzen, ob sie zur Vertiefung der Spaltung innerhalb der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten führen, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, die Klasse im Kampf gegen Femizide und ihre tieferen gesellschaftlichen Ursachen zu vereinen.

Liberalismus und Rechtsruck

Der Kapitalismus erzeugt nicht nur die prekären Verhältnisse, er wirkt zugleich als Brandbeschleuniger – und zwar nicht nur beim Abbau sozialer Leistungen und bei der immer weiteren Durchsetzung neoliberaler Angriffe.

Für den „demokratischen“, liberalen Flügel der Bourgeoisie und große Teile des bürgerlichen, westlichen Feminismus’ erscheint die Zunahme von Femiziden und häuslicher Gewalt vor allem als ein Phänomen der Rückständigkeit der Männer. Unbestreitbar lässt sich dies bei den Motiven der einzelnen Täter erkennen. Das Problem des bürgerlichen Feminismus besteht jedoch darin, diese Rückständigkeit bis hin zum offenen Frauenhass nicht als Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen, sondern als individuelle Eigenschaft und persönlichen Mangel an Bildung, Aufklärung und „Kultur“. Als Täter und Tatorte erscheinen daher vorzugsweise „verrohte“, proletarische oder subproletarische Männer und angeblich „rückständige“ Länder und Glaubensgemeinschaften.

Daher präsentieret liberaler, bürgerlicher Feminismus westliche Demokratie und Marktwirtschaft als Lösung zur Bekämpfung von Femiziden. Er individualisiert dabei im Grunde das Problem. Der Femizid erscheint als individuelle Gewalttat. Natürlich ist er auch immer eine solche. Dies leugnen weder Marxist:innen noch linke Feminist:innen. Aber der wesentliche Unterschied besteht darin, dass es diesen darum geht, nicht nur den Blick auf die einzelne Tat zu richten, sondern auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang.

Dieser wird von bürgerlich-liberalen oder selbst von bürgerlich-reformistischen Kräften allenfalls als zusätzlicher Nebenfaktor in Betracht gezogen, in der Regel ausgeblendet. Und das aus gutem Grund. Würden die gesellschaftlichen Ursachen betrachtet, so müssten auch die Profiteur:innen dieser Verhältnisse, die großen (und auch kleineren) Ausbeuter:innen, vor allem aber die großen kapitalistischen Konzerne, ihre Regierungen und Institutionen, die für die Verelendung der proletarischen Männer und Frauen verantwortlich sind, ins Visier genommen werden. Da der bürgerliche, liberale Feminismus jedoch selbst auf dem Boden dieser Ausbeutungsverhältnisse und imperialistischen Ordnung steht, also den Klassenstandpunkt des Kapitals einnimmt, muss er sich notwendig als unfähig erweisen, die tieferen Ursachen von Femiziden zu begreifen. Im Gegenteil: Er muss letztlich jene gesellschaftlichen Verhältnisse beschönigen und verteidigen, die immer wieder erst systematische Gewalt gegen Frauen und Femizide hervorbringen.

Doch damit nicht genug. Im Zuge der Krise und Unterminierung der Familien und ihrer Rollenbilder tritt auch eine reaktionäre, bürgerliche und kleinbürgerliche Gegenoffensive als Teil eines generellen Rechtsrucks auf den Plan.

Von dieser geht zwar in der Regel niemand so weit, individuelle Femizide offen zu rechtfertigen. Wohl aber verklären Rechte und reaktionäre, antifeministische Kräfte sie zur Reaktion auf die Zerstörung der angeblich natürlichen Rolle des Mannes (und der Frau). „Feminismus“, „Genderwahn“, feministische und Frauenbewegungen sowie der Queer-Aktivismus hätten gewissermaßen die natürliche Ordnung der Dinge zerstört, würden die „normalen“ Männer (und Frauen) unterdrücken und an den Rand drängen, die an ihren tradierten Normen, ihrer Arbeitsteilung, Lebensweise samt einer gewissen Dosis Machismus und Sexismus festhalten wollten.

Diese Ideologie, dieses „Narrativ“ stellt die Realität nicht nur auf den Kopf. Sie blendet zugleich auch die wirklichen Ursachen für die Unterminierung der bürgerlichen Familien durch Kapital, Markt und Konkurrenz aus. Auch das ist kein Zufall. Verschiedenste rechtspopulistische, rechtskonservative und rechtsextreme Kräfte, ob nun Trump oder Bolsonaro, AfD, FPÖ, Identitäre oder reaktionäre Islamisten, vertreten einen aggressiven Antifeminismus. Zugleich verteidigen sie die Marktwirtschaft – und sei es in einer idealisierten, kleinbürgerlichen, nationalistischen oder völkischen Version.

Die durchaus reale Krise der Familie und damit verbundene Unterhöhlung der tradierten Geschlechterrollen werden nicht als Resultat der Entwicklungslogik des Kapitalismus begriffen. Sie erscheinen vielmehr als Ausdruck des Angriffs auf das natürliche, vorgeblich harmonische Verhältnis zwischen Mann und Frau. Der Femizid wird folglich als allenfalls tragisches Resultat des „widernatürlichen“ Angriffs auf eine angeblich natürliche Ordnung verstanden, ja letztlich entschuldigt.

Die reaktionäre Kur ist auch einfach: Rückkehr zur tradierten Ordnung! Würden sich Frauen gemäß ihrer natürlichen Rolle verhalten, gebe es, dieser Sicht zufolge, auch keinen Grund mehr für Männer, auszurasten oder ihre Liebste in Rage zu bringen.

Ergänzt wird dieses Narrativ v. a. im Westen durch einen guten Schuss Rassismus, indem zwischen Femiziden von Männern der eigenen imperialistischen Nation und jenen der „rückständigeren“ Völker unterschieden wird. Unter weißen deutschen oder US-Amerikaner:innen stellt demzufolge der Femizid letztlich die Tat eines Einzeltäters, vorzugsweise aus „zerrütteten“, asozialen Verhältnissen dar. Der gute Deutsche behandelt seine Frau trotz ständigen feministischen Kulturkrieges und Genderwahns gut. Solche moralische Höhe attestiert die politische Rechte freilich nur der herrschenden Nation. Bei migrantischen Männern, Schwarzen oder Muslimen liegt die Sache anders. Sie mordeten, weil sie rückständig und letztlich Menschen 2. Klasse seien. Dieser Rassismus verträgt sich nicht nur gut mit Imperialismus und Sozialchauvinismus. Er bildet zugleich eine ideologische Brücke zu bürgerlich-feministischen Kräften.

Die rechten Strömungen begnügen sich freilich längst nicht damit, reaktionäres Gedankengut zu verbreiten und ebensolche Forderungen zu stellen. Sie verklären und verharmlosen nicht nur die Ursachen von Femiziden. Sie begünstigen diese aktiv, indem sie ein entsprechendes politisch-ideologisches Klima schaffen. Indem sie das patriarchale Familienoberhaupt, dessen reaktionäre, unterdrückerische Rolle durch den Kapitalismus selbst unterminiert wird, zu einem „Opfer“ stilisieren, proklamieren sie zugleich deren Wiederherstellung als zentrales Ziel. Damit nehmen sie nicht nur in Kauf, dass manche Männer dies als zusätzliche Rechtfertigung ansehen, die Wiederherstellung der „Ordnung“ in die eigene Hand zu nehmen. Sie agieren auch als Bewegung, die sich den Rollback von Frauenrechten auf ihre Fahnen schreibt und aggressiv durchzusetzen versucht. Darüber hinaus begünstigen etliche dieser Bewegungen direkt bestimmte Formen von Femiziden, die außerhalb der Sphäre von Partnerschaft, Familie und Verwandtschaftsbeziehungen stattfinden.

Feminizide im Herrschafts- und Kapitalinteresse

Bisher haben wir uns mit partnerschaftlichen, intimen und verwandtschaftlichen Femiziden beschäftigt. Dabei ist der Täter in der Regel männlich, steht zum Opfer in einer persönlichen Beziehung. Der Täter will seine Tat nicht öffentlich zur Schau stellen, sondern hofft vielmehr, der Strafverfolgung zu entkommen. Phänomene wie Ehrenmorde, die in der Regel dieser Form von Femiziden zugerechnet werden, stellen in gewisser Hinsicht ein Übergangsphänomen dar, als die Täter keineswegs Partner des Opfers sein müssen und ein, wenn auch tradierter Zweck verfolgt wird, nämlich die „Ehre“ der Familie auch öffentlich wiederherzustellen. Darüber hinaus verfolgt das aber keinen ökonomischen oder herrschaftlichen Anspruch.

Diese Form der Frauenmorde bildet aber nur einen großen Teil aller Femizide/Feminizide. Einen zweiten, großen Bereich stellen solche dar, die zur Durchsetzung eines Ausbeutungs- und/oder Herrschaftsinteresses außerhalb der Familie, Parter:innenschaft oder Verwandtschaftsbeziehung begangen werden.

Zu Feminiziden, die mit direkt ökonomischen Interessen verbunden sind, gehören beispielsweise Gewalt und Ermordung von Frauen im Zuge von Frauenhandel und Zwangsprostitution. Frauen oder trans Personen wird Gewalt bis zum Feminizid angetan, um ein Zeichen an andere zu senden. Wer sich gegen Verschleppung und Versklavung wehrt, muss damit rechnen, getötet zu werden. Der Mord ist also eine Botschaft an weitere potentielle Opfer, die für einen ökonomischen Zweck gefügig gemacht werden sollen – die Bereicherung des Zuhälters, anderer Krimineller und illegaler Geschäftemacher:innen, die daraus Profit schlagen und die Prostitution und den Frauenhandel kontrollieren. Es gehört damit zum Zweck dieser Feminizide, dass die Täter, wenn schon nicht persönlich, so doch als zuordenbare Gruppe anderen bekannt sind. Die Einschüchterung anderer funktioniert schließlich nur, wenn potentielle Opfer wissen, wer über sie Macht ausübt und durchsetzen kann.

Diese betrifft auch weitere Kapitaloperationen. So dienen Feminizide beispielsweise auch als Mittel zur Aneignung von Land indigener oder agrarischer Gemeinden durch das Agrobusiness oder extraktive Unternehmen in Lateinamerika oder Afrika. Vergewaltigungen oder der Mord an Frauen soll in diesen Fällen der Gemeinde, den zu Vertreibenden vor Augen führen, dass jeder Widerstand mit äußerst brutaler Gewalt niedergeschlagen wird, dies auch allen anderen droht. Die Täter führen so den Unterdrücken ihre Ohnmacht vor, knüpfen an einer patriarchalen Rollenverteilung an, indem sie auch den männlichen Mitgliedern des Dorfes oder der indigenen Gemeinde deutlich machen, dass sie nicht einmal in der Lage sind, „ihre“ Frauen zu schützen. Diese Form des Feminizids weist eine lange, koloniale Geschichte auf, die sich heute immer wieder in neokolonialer und imperialistischer Ausbeutung fortsetzt. Mögen die Täter auch gedungene Mörder sein, so agieren sie nicht auf eigene Rechnung, sondern im Auftrag einer bestimmten Kapital- und Unternehmensgruppe, eines Grundbesitzers, eines multinationalen Konzerns oder von deren Mittelsmännern.

Weniger direkt, aber nichtsdestotrotz auf die Durchsetzung einer sozialen und ökonomischen Stellung bezogen sind Feminizide durch kriminelle Gangs, beispielsweise wenn es um die Kontrolle eines Stadtviertels geht. Diese verfolgen damit einen wirtschaftlichen Zweck. Der öffentliche Mord dient der Abschreckung.

Eine weitere Form des öffentlichen Feminizids stellt die Zunahme von Hexenmorden in einigen Ländern Afrikas und Indien dar. Um sich das Eigentum einer zumeist älteren, verwitweten Frau anzueignen, wird diese – in einigen Ländern Afrikas mit Zutun von evangelikalen Sektenführern – der Hexerei beschuldigt und mit dem Tod bestraft. Das Eigentum der Frau (z. B. Grund und Boden) geht nach der Tat an jüngere Angehörige oder an lokale Unternehmer über, die dieses anderweitig nutzen wollen, für eine Produktion, die weniger auf Selbstversorgung, sondern einen städtischen oder globalen Markt ausgerichtet ist. Auch in diesem Fall erfolgt der Feminizid öffentlich, als Resultat einer (illegalen) Anklage, die von einem reaktionären Mob getragen wird. Er wird in der Regel öffentlich vollzogen.

Bei all diesen Formen ist nicht nur eine enge Verbindung zu Geschäfts- und Kapitalinteressen feststellbar, sondern oft auch zu staatlichen Institutionen wie der Polizei – sei es, indem diese selbst in unterdrückten Gemeinden ihre Stellung durch Mord zu unterstreichen sucht oder Feminizide an Marginalisierten, Sexarbeiter:innen, trans Personen oder schwarzen und migrantischen Menschen nicht oder nur am Rande verfolgt.

Wie beim Mord durch die Bande ist der Feminizid hier eng mit der Etablierung der gewalttätig oder auch ideologisch abgesicherten Vorherrschaft der Täter über eine bestimmte Gemeinschaft verbunden.

Darüber hinaus finden wir indirekte oder direkte Formen staatlich sanktionierter Feminizide. Dazu gehören entweder durch reaktionäre, oft religiöse Institutionen und Kräfte forcierte öffentliche Tötungen von Frauen – z. B. Steinigung durch islamistische Mobs, aber auch Hexenverbrennungen, die von evangelikalen Fundamentalisten oder Hinduchauvinisten ermutigt werden. Anderer Formen bilden Vergewaltigungen und Feminizide an national oder religiös unterdrückten Frauen, z. B. an Muslima in Indien durch rechte und protofaschistische Hindufundamentalisten. In bestimmten Fällen kann die Todesstrafe ein Feminizid sein, z. B. eine öffentliche Steinigung. In all diesen Fällen findet die Tat offen und öffentlich statt. Die Täter bilden eine reaktionäre, aggressive und mörderische Masse oder eine jubelnde Menge bei einer staatlich inszenierten Hinrichtung.

In diesen Fällen bildet der Feminizid ein Element zur Sicherung von Herrschaft, sei es, um durch die Mobilisierung einer kleinbürgerlichen Masse die politischen und gesellschaftlichen Gegner:innen einzuschüchtern und eine erzreaktionäre politisches Kraft an die Macht zu bringen oder ein bestehendes Regime durch ritualisierten Mord zu festigen. Die sicherlich brutalste und extremste Form stellen dabei Vergewaltigung, Folter und Frauenmord als gezielt eingesetztes Mittel im Krieg und Bürger:innenkrieg dar.

Die Verknüpfung von Feminiziden mit Kapitalinteressen und staatlichen Institutionen erklärt auch, warum zu diesen viel weniger verlässliche Zahlen vorliegen. Die Veröffentlichung von Berichten und Zahlen ist selbst oft erst das Resultat von Kämpfen und durch Bewegungen erzwungene/n öffentliche/n Untersuchungen. Das 2021 erschienene Buch „Feminizide and global accumulation“ dokumentiert exemplarisch wichtige Beispiele und Kämpfe, die auf einer internationalen feministischen Konferenz dargestellt und diskutiert wurden. Dass diese Frauenmorde überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein gelangen, als solche „anerkannt“ werden müssen, verdeutlicht, wie hartnäckig gerade der Feminizid im Interesse von Kapital und reaktionären Kräften politisch tabuisiert wird.

Folgerungen und Programm

Der Kampf gegen Femizide, Feminizide und deren Ursachen stellt eindeutig eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen Frauenunterdrückung weltweit dar. Zweifellos bildet dabei der Kampf um die Ächtung dieser Morde, was in vielen Ländern schon mit dem um die öffentliche Anerkennung ihrer Existenz beginnt, einen unerlässlichen Ausgangspunkt. Femizide, ihr Ausmaß und ihre Ursachen dürfen nicht nur nicht relativiert oder weggeredet werden, sie müssen vielmehr in ihrer gesamten Dimension oft überhaupt erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und das heißt vor allem auch der Arbeiter:innenklasse gerückt werden. Damit verbunden stellt auch der Kampf um die effektive Verfolgung dieser Straftaten einen wichtigen Bezugspunkt dar.

Vom Standpunkt der Arbeiter:innenklasse geht es dabei jedoch nicht um möglichst drakonische Strafsysteme, wohl aber darum, dass Täter nicht straflos davonkommen dürfen oder bei sexistischer und rassistischer Polizei und Gerichten recht milde Behandlung finden. Daher treten wir dafür ein, dass Untersuchungen von Femiziden unter Kontrolle von Frauenorganisation durchgeführt, Richter:innen von Frauen, also potentiellen Opfern, gewählt werden und mindestens die Hälfte aus Frauen besteht. Zugleich muss sichergestellt werden, dass vor allem Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, von rassistisch und national Unterdrückten voll repräsentiert sind.

Nicht weniger wichtig ist der Schutz möglicher Opfer und die Prävention. Dazu gehören dringende Sofortmaßnahmen wie der massive Ausbau von möglichen Schutz- und Rückzugsräumen für Frauen, deren Kinder und für geschlechtlich Unterdrückte, also Bau und Errichtung von Frauenhäusern, die vom Staat finanziert und unter Kontrolle von Frauenorganisationen selbstverwaltet betrieben werden.

Diese Forderungen dienen letztlich den Frauen aller Klassen, vor allem aber natürlich jenen aus der Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft.

Der Kampf gegen Femizide muss darüber hinaus aber auch mit dem zur Sicherung der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückter, von Indigenen oder Minderheiten gemeinsam mit letzteren verbunden werden. Die zunehmende Verarmung und Verelendung breiter Schichten, die Ausbreitung von Arbeitsbedingungen und Löhnen, die die Existenz immer weniger sichern, bedeuten, dass der Kampf gegen Femizide wie überhaupt gegen jede Form der häuslichen Gewalt eng verbunden werden muss mit dem gegen Armutslöhne, informelle und Kontraktarbeit, Tagelöhnerei und die Zerschlagung sozialer Sicherungssysteme. Daher fordern wir Mindestlöhne, die die Existenz sichern und an die Inflation angepasst werden; die Abschaffung aller informellen und prekären Beschäftigung und ihre Umwandlung in tariflich gesicherte, von den Gewerkschaften und Arbeiter:innenkomitees kontrollierte; Arbeitslosen-, Krankengeld und Renten in der Höhe des Mindestlohns; ein Programm öffentlicher, gesellschaftlich nützlicher Arbeiten, das den massiven Ausbau von Kitas, Schulen, öffentlichen Betreuungseinrichtungen, Krankenhäusern, der Altenpflege, von Kantinen und anderen Einrichtungen zur Vergesellschaftung der Hausarbeit inkludiert.

Diese Forderungen richten sich gegen das Kapital als Klasse und stehen grundsätzlich im Interesse aller Unterdrückten, unabhängig von ihrem Geschlecht. Dennoch wäre es mechanisch und naiv, dass die proletarischen Männer in ihre Gesamtheit automatisch auf ihre Privilegien verzichten oder sexistische Verhaltens- und Denkweisen, die eng mit ihrer Geschlechterrolle verbunden sind, ablegen würden. Die proletarischen Frauen müssen daher das Recht haben, innerhalb der Arbeiter:innenbewegung eigene Treffen zu organisieren, um den Kampf voranzutreiben und männlichen Chauvinismus zu bekämpfen. Sie müssen eine proletarische Frauenbewegung um diese Kämpfe aufbauen, um so Rückständigkeit und Chauvinismus zu bekämpfen, aber auch die Führung im Kampf um die Befreiung der Frauen aller unterdrückten Schichten einzunehmen.

Diese vier Punkte bezogen sich vor allem auf den Kampf gegen intime und verwandtschaftliche Femizide und ihre gesellschaftlichen Ursachen. Wie wir gerade aus den beiden letzten Kapiteln ersehen, sind sie eng mit dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung verbunden. Dies trifft ebenso auf den Kampf gegen Feminizide im Herrschaft- und Kapitalinteresse zu.

Da hier die Auftraggeber der Morde oft auch ökonomische Interessen verfolgen (Ausbeutung bestimmter Arbeitskräfte, gewaltsame Aneignung von Ressourcen wie Grund und Boden) steht der Kampf auch hier im engen Zusammenhang mit der Frage nach Kontrolle ökonomischer Ressourcen und des Eigentums.

Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie bei der zweiten Form der Feminizide eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung. Um solchen Kräften entgegentreten zu können, bedarf es einer organisierten, von Massen oder Massenorganisationen getragenen Selbstverteidigung, letztlich des Aufbaus von bewaffneten Milizen der Arbeiter:innen und Unterdrückten.

Die Verhinderung des Feminizids erfordert den Aufbau von Organen der Gegenmacht – und wirft somit die Machtfrage selbst auf. Dies betrifft letztlich auch die Frage der Sicherung der Reproduktionsbedingungen der Gesamtklasse wie der Enteignung von Kapital oder großer, illegaler Geschäftemacher, die systematisch in Frauenmorde verwickelt sind. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern, können Reformen im Interesse der Arbeiter:innenklasse nur eine vorübergehende Besserung schaffen. Um Banden der Großgrundbesitzer, rechtspopulistischer oder protofaschistischer Kräfte des Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.




Frauen und Afghanistan: Widerstand gegen Islamismus und Imperialismus

Martin Suchanek (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland)

Die Niederlage und der schmachvolle Abzug der imperialistischen Besatzungstruppen in Afghanistan haben die Taliban wieder an die Macht gebracht. Die Niederlage der USA, der NATO und ihrer Verbündeten wie der Bundesrepublik offenbarte nicht nur den reaktionären Charakter dieser Herrschaft – sie offenbarten zugleich auch, dass es sich bei deren angeblichen Fortschritten weitgehend um Fiktionen handelte. Das Regime Ghani verfügte im eigenen Land über keine wirkliche Machtbasis. Die imperialistische Besatzung, die weitere 20 Jahre Bürger:innenkrieg brachte und Zehntausenden Menschen durch US- und NATO-Bombardements das Leben kostete, stützte sich im Wesentlichen auf Besatzungstruppen, einen korrupten Staatsapparat und eine Allianz mit reaktionären Eliten und Warlords.

Kein Wunder, dass diese Herrschaft von der Masse der Afghan:innen, insbesondere der ländlichen Bevölkerung immer als das empfunden wurde, war sie war: ein Besatzungsregime.

Seit der Machtübernahme der Taliban hat sich die Lage jedoch längst nicht stabilisiert. Unter US-Herrschaft wurde die Wirtschaft des Landes im Wesentlichen von westlichen Geldgeber:innen am Leben gehalten. Den einzigen profitablen Exportsektor des Landes stellte der formell illegale, faktisch jedoch immer tolerierte Drogenhandel dar. Dessen Profite eigneten sich natürlich nicht die Bauern/Bäuerinnen und Landarbeiter:innen auf den Mohnfeldern, sondern Mittelsmänner und Warlords an.

Nachdem die westlichen Besatzer:innen zum Abzug gezwungen worden waren, überließen sie das Land den Taliban. Die Geld- und Devisenreserven des Landes beschlagnahmten jedoch die USA, um so ein Milliarden US-Dollar schweres Druckmittel gegenüber dem neuen Regime zu behalten und dieses ökonomisch zu destabilisieren, nachdem sie die Kontrolle über das Land verloren hatten.

Damit trägt der westliche Imperialismus selbst bis heute wesentlich zum faktischen Zusammenbruch der afghanischen Wirtschaft bei und zu einer humanitären Katastrophe, die für Hundertausende, ja Millionen Afghan:innen eine tödliche Gefahr darstellt und sie mit dem Hungertod oder Erfrieren bedroht. Mit der Wirtschaft und der Versorgung lebensnotwendiger Güter brach zugleich das Gesundheitssystem zusammen. Millionen sind zur Flucht in die Nachbarländer gezwungen, vor allem nach Pakistan und in den Iran.

Dabei könnten die USA und ihre Verbündeten, die für die gesamte Katastrophe wesentlich verantwortlich sind, durch die Freigabe von Milliarden US-Dollar die Hungersnot und den Mangel an lebenswichtigen Gütern seit Monaten lindern. Für sie sind Millionen afghanische Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und selbst die Mittelschichten jedoch nur Marionetten, deren Leben nichts zählt, wenn es um geostrategisches Kleingeld geht und darum, den Taliban Zugeständnisse bei der Neuordnung des Landes abzuringen. Auch China und Russland halten sich, wie nicht anders zu erwarten, mit humanitärer Hilfe vornehm zurück. Millionen Afghan:innen werden so in die Flucht getrieben, sei es im eigenen Land, sei es in Nachbarländer wie Pakistan oder den Iran. Der Westen nimmt allenfalls einige Tausend ehemalige Beschäftigte der Besatzungsarmeen auf – und selbst diese werden zumeist im Stich gelassen. Für die Masse der Afghan:innen gibt es keinen Weg nach Europa oder in die USA. Und wer es dennoch schaffen sollte, dem/r droht die Abschiebung.

Die ökonomische Krise bedeutet jedoch, dass die Taliban bis heute ihre Herrschaft im Land nicht vollständig etablieren und durchsetzen konnten. In etlichen Regionen und Provinzen müssen sie sich auf traditionelle Eliten und Strukturen stützen. In manchen wird ihre Macht von noch reaktionäreren islamistischen Kräften herausgefordert, die dem sog. Islamischen Staat politisch-ideologisch nahestehen.

Frauen sind von der ökonomischen Krise besonders hart betroffen, weil sie in der Öffentlichkeit weniger bewegen und bis auf wenige Bereiche faktisch von der Lohnarbeit ausgeschlossen sind.

Unterdrückung und Widerstand

Doch viele Frauen sind selbst unter der Herrschaft der Taliban nicht bereit, sich als Opfer widerstandslos zu fügen. Im Gegenteil. Sie widersetzen sich unter diesen Bedingungen und trotz zügelloser Repression, die das eigene Leben kosten kann. Proteste ohne Genehmigung der Regierung werden verboten und Journalist:innen festgenommen, von denen viele schwer verprügelt wurden, sodass sie ins Krankenhaus mussten. Und dies sind nur einige gut dokumentierte Fälle der Repression.

Die Taliban behaupten zwar, sich für die Rechte der Frauen einzusetzen, aber alle, mit Ausnahme derjenigen im öffentlichen Gesundheitswesen, wurden aufgefordert, nicht zu arbeiten, bis sich die Sicherheitslage verbessert habe. Die gleiche Ausrede wurde in den 1990er Jahren benutzt, um Frauen von der Teilnahme am öffentlichen Leben fernzuhalten. Außerdem haben die Taliban den Frauen erneut eine strenge reaktionäre Kleiderordnung auferlegt, die das Tragen von Kopfbedeckungen und Gesichtsschleiern wie Hidschab und Niqab vorschreibt. Weiterführende Schulen für Mädchen wurden geschlossen. Längere Wege dürfen nur in männlicher Begleitung zurückgelegt werden.

Als Reaktion auf die zunehmende Zahl von Protesten haben die Taliban erklärt, dass Demonstrantinnen nicht nur eine Genehmigung des Justizministeriums einholen, sondern die Sicherheitsdienste auch Ort und Zeit des Protests und sogar die Verwendung von Transparenten und Slogans genehmigen müssen.

Frauen, die gegen die Talibanherrschaft protestieren, wurden angehalten, mit Peitschen geschlagen und mit Elektrostöcken geprügelt. Mit scharfen Salven, die angeblich über Menschenmengen in die Luft geschossen wurden, sind bereits im September 2021 drei Menschen getötet worden. Die Frauen wurden nicht nur mit Namen beschimpft, deren Wiederholung sie als beschämend empfinden, sondern es wurde ihnen auch gesagt, sie sollten nach Hause gehen, weil dies „ihr Platz“ sei. Dennoch protestieren die Frauen weiter, und zwar nicht nur gegen die Taliban, sondern oft auch gegen ihre Familien.

Bisher wurden die meisten Proteste von jungen Frauen und auch Männern angeführt, die vor allem aus der Mittelschicht stammen und beschäftigt sind/waren. Sie zeigen, wie sich die Urbanisierung unter der imperialistischen Besatzung auf Afghanistan ausgewirkt hat. Die 20 Jahre der Besatzung und des Krieges haben es einem Teil der jungen Afghan:innen ermöglicht, das Leben in den Städten mit gewissen Freiheiten zu erleben. Für sie würde die Herrschaft der Taliban bedeuten, dass sie in eine Gesellschaft gezwungen werden, die sie nie gekannt haben und in der sie die begrenzten „Privilegien“ verlieren, zu arbeiten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Insbesondere junge Frauen, die in den Städten aufgewachsen sind, sind dazu nicht bereit.

Dies wurde von Mitgliedern der Revolutionären Vereinigung der Frauen Afghanistans (RAWA) bei einer Protestaktion in Balkh (Balch; Nordafghanistan) am 6. September mit Plakaten deutlich zum Ausdruck gebracht: „Wir gehen nicht zurück!“ und „Frauen werden nicht zurückgehen!“

Trotz Repression gingen die Proteste in den letzten Monaten weiter. So organisierten Frauen in mehreren Städten öffentliche Proteste am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, und am 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte mit Losungen wie: „Fundamentalism + Imperialism = Barbarism!“ Auch gegen die im Dezember beschlossene Einschränkung der Bewegungsfreiheit gingen Frauen in Kabul auf die Straße.

In der Erklärung der RAWA zur Machtübernahme durch die Taliban wurde ihr Standpunkt klar und deutlich dargelegt: „In den letzten 20 Jahren war eine unserer Forderungen ein Ende der US/NATO-Besatzung und noch besser wäre es, wenn sie ihre islamischen Fundamentalisten und Technokrat:innen mitnehmen und unser Volk selbst über sein Schicksal entscheiden lassen würden. Diese Besatzung hat nur zu Blutvergießen, Zerstörung und Chaos geführt. Sie haben unser Land in den korruptesten, unsichersten, von Drogenmafiastrukturen durchsetzten und gefährlichsten Ort verwandelt, vor allem für Frauen.“

Dies unterstreicht den progressiven Charakter der Demonstrationen. Im Moment mag es ihnen an starker, landesweiter Unterstützung fehlen, aber zwei Faktoren könnten das drastisch ändern. Erstens: Die Abwertung der afghanischen Währung und die steigende Inflation führen dazu, dass die meisten AfghanInnen darum kämpfen, überhaupt Brot auf den Tisch bringen können, was die Aufrechterhaltung der Ordnung von Tag zu Tag schwieriger macht. Zweitens nehmen die Angriffe auf die demokratischen Freiheiten in dem Maße zu, in dem die Taliban mehr Kontrolle über das Land erlangen. Das führt dazu, dass immer mehr Schichten der Gesellschaft in den Widerstand gezogen werden, wodurch Raum für den Klassenkampf geschaffen wird, der das derzeitige reaktionäre Regime wirksam stürzen kann.

Kontrolle

Da es unter der Herrschaft der Taliban zu Protesten kommen konnte, zeigt sich auch, dass sie das Land noch nicht vollständig unter Kontrolle haben. Ihre Verbote werden trotz strenger Repressionen weiterhin missachtet. Infolgedessen organisierten die Taliban eigene Gegenproteste, bei denen verschleierte Frauen in Universitäten Talibanfahnen trugen, um deren Herrschaft zu verteidigen. Dies zeigt, dass die neuen Herren zumindest derzeit nicht mehr so regieren können wie in den 1990er Jahren. Diese inszenierten Gegenproteste sind ein Versuch, eine soziale Rechtfertigung für die Durchsetzung der Reaktion zu schaffen, anstatt einfach jede Opposition mit brutaler Gewalt zu unterdrücken.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Loyalität der lokalen Warlords. Sie mögen die Talibanherrschaft vorerst akzeptiert haben, aber solche Loyalitäten werden sich in Zeiten widerstreitender Interessen ändern. Auch die Kämpfe innerhalb der Talibanfraktionen sollten nicht außer Acht gelassen werden. Das Ausmaß, in dem diese Faktoren ihre Herrschaft schwächen und destabilisieren könnten, hängt weitgehend von der Rolle Chinas ab. Der chinesische Imperialismus hegt mit seiner „Neuen Seidenstraße“-Initiative ein eigenes Interesse daran, die Beziehungen zu den Taliban aufrechtzuerhalten. Der Rückzug der USA ermöglicht es ihm, zu einem noch mächtigeren Akteur in der Region zu geraten.

Die Liga für die Fünfte Internationale erklärt sich uneingeschränkt solidarisch mit der entstehenden Frauenbewegung in Afghanistan. Diese aufkeimende Bewegung ist derzeit noch fragmentiert und schwach und trägt einen klassenübergreifenden Charakter mit der unbestreitbaren Präsenz einiger proimperialistischer und Mittel- und Oberschichtelemente. Dennoch bietet sie Hoffnung für die Millionen kriegsgeschüttelter Afghan:innen, die der imperialen Besatzung überdrüssig sind, aber auch die Politik der ehemaligen Ghaniregierung und die Reaktion der Taliban ablehnen. In einem Land, in dem 80 Prozent der Bevölkerung arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, ist eine solche Bewegung das Gebot der Stunde.

Revolutionär:innen in Afghanistan müssen diese Bewegung aufbauen und ihre fortgeschrittensten und bewusstesten Schichten für das Programm der permanenten Revolution gewinnen. Im Kampf für demokratische Grundfreiheiten wie das Recht auf Arbeit und Sozialleistungen für Frauen treten wir für den Aufbau von Organisation der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen ein, die nicht nur die Taliban besiegen, sondern auch diese Rechte garantieren können und um die Macht kämpfen.

Die afghanischen Revolutionär:innen müssen sich auf der Grundlage eines revolutionären Programms organisieren, das keine Illusionen in eine imperialistische Macht, seien es die USA, China oder Russland, schürt. Dies wird entscheidend sein für die Intervention bei den aktuellen Protesten oder bei künftigen Bewegungen in dem Land. Die wirklichen Verbündeten der Arbeiter:innen, der armen Bauern und Bäuerinnen, der Frauen und der nationalen Minderheiten sind nicht die imperialistischen Mächte.

Es sind die Arbeiter:innen Pakistans, Irans, Turkmenistans, Tadschikistans, Usbekistans und Chinas, die in ihren jeweiligen Ländern für die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge kämpfen müssen. Es sind die britischen, amerikanischen, deutschen und französischen Lohnabhängigen, die sich nicht nur für die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge einsetzen müssen, sondern auch dafür, dass ihre Regierungen keine Sanktionen gegen Afghanistan verhängen und Reparationen für den Wiederaufbau des Landes zahlen.

Die Arbeiter:innen in der ganzen Welt müssen ihre Solidarität mit unseren afghanischen Brüdern und Schwestern, die schon viel zu lange unter dem Krieg leiden, in Aktionen organisieren. Es lebe die internationale Solidarität! Lang lebe der Kampf gegen die Taliban und den Imperialismus in Afghanistan!




Altersarmut in Deutschland

Helga Müller (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland)

Der Armutsbericht 2021 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes macht deutlich, dass die Pandemie die Armutsquote in Deutschland nach oben getrieben hat: Insgesamt 16,1 % oder 13,4 Millionen Menschen waren 2020 von Armut betroffen. Seit 2006 – mit einer Quote von 14 % – ist ein stetiger Aufwärtstrend in Deutschland auszumachen. Und das in einer der reichsten Industrienationen der Welt. Die soziale Ungleichheit vertieft sich auch hier: 10 % der Reichsten in Deutschland verfügen über 67 % des Nettogesamtvermögens. (https://www.deutschlandfunkkultur.de/armut-in-deutschland-die-soziale-ungerechtigkeit-waechst-100.html). Sozialwissenschaftler:innen sprechen von einer relativen Armut in Deutschland, die nach EU-Standard so definiert ist: Als Arm gelten Menschen, die über weniger als 60 % des mittleren Einkommens verfügen. (nach: https://www.deutschlandfunkkultur.de/armut-in-deutschland-die-soziale-ungerechtigkeit-waechst-100.html)

Nach Meinung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes wäre die Armutsquote während der Pandemie noch schneller in die Höhe geschossen, hätte die Große Koalition nicht Maßnahmen wie die Verlängerung und Aufstockung des Kurzarbeitergeldes oder des Arbeitslosengeldes I ergriffen.

Unter Erwerbstätigen – vor allem bei den Selbstständigen – hat die Einkommensarmut auf derzeit 53 % zugenommen. Wie in den letzten Jahren tragen auch 2021 vor allem Alleinerziehende und kinderreiche Paarhaushalte das höchste Armutsrisiko. Unter den Armen sind besonders Rentner:innen und Pensionär:innen mit 17,6 % überproportional betroffen. Bis zum Jahr 2013 spielte Altersarmut dagegen statistisch gesehen nur eine untergeordnete Rolle.

Wenn man Armut nach Geschlechtern auswertet, dann wird deutlich, dass vor allem unter Frauen (16,9 %) eine höhere als unter Männern (15,3 %) herrscht, besonders bei den Älteren ab 65 Jahren. Dies ist gegenüber 2019 nochmal eine Steigerung um 1 Prozentpunkt. Selbst der Armutsbericht kommt zu dem Ergebnis „Die Altersarmut ist damit überwiegend weiblich.“ (alle Zahlen nach: Armutsbericht 2021)

Die Gründe dafür, dass vor allem Frauen von (Alters-)Armut betroffen sind, sind vielfältig, aber auch Politiker:innen der Ampelkoalition bekannt und haben sich seit Jahrzehnten nicht verändert. Die Vorhaben im Koalitionspapier werden zur Linderung nicht viel beitragen, sofern sie überhaupt umgesetzt werden. Alle sozialen Maßnahmen stehen ja bekanntlich unter dem Vorbehalt der Wiedereinführung der Schuldenbremse und keinerlei zusätzlichem Einkommen durch Steuererhöhungen – vor allem für die Superreichen und großen Konzerne, die auch während der Pandemie einen guten Schnitt gemacht haben. Hier konnte sich die FDP voll durchsetzen:

  • Alleinerziehende – dies sind nach wir vor vor allem Frauen – stehen oft gar nicht in Lohnarbeit und sind auf Hartz IV angewiesen, dessen Regelsatz zu einem existenzsichernden Leben nicht ausreicht. Wenn sie arbeiten, müssen sie aufgrund der nicht ausreichenden Betreuungsmöglichkeiten oft genug auf Teilzeitjobs oder gar Mini- oder Midijobs zurückgreifen. Mitte 2020 übten 4,1 Millionen Frauen und 2,9 Millionen Männer einen Minijob aus. (https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Jede-vierte-Frau-arbeitet-im-Niedriglohnsektor-417694.html). Die Umbenennung von Hartz IV in Bürgergeld im Koalitionsvertrag, ohne kräftige Erhöhung des Regelsatzes und Abschaffung der Sanktionen ist – wie der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen in seinem Statement zum Armutsbericht sagt – nur eine Mogelpackung. Zu den Mini- oder Midijobs steht im Koalitionspapier lediglich, dass verhindert werden soll, dass reguläre Arbeitsverhältnisse in solche umgewandelt werden. Aber wie das konkret geschehen soll, bleibt unerwähnt.
  • Frauen verdienen nach wie vor deutlich weniger als Männer. Der Gender Pay Gap liegt 2020 lt. Statistischem Bundesamt noch bei 18 % (https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-1/gender-pay-gap.html). Auch daran wird die Ampelkoalition nichts ändern. Das Einzige, was dazu im Koalitionspapier steht, ist, dass das Entgelttransparenzgesetz – das nur einen Auskunftsanspruch gegenüber dem/r Arbeit„geber“In zu den Gehaltskriterien einer Tätigkeit beinhaltet – weiterentwickelt und die Durchsetzung gestärkt werden soll.
  • Wenn Frauen auf Teilzeit angewiesen sind, ist dies oft unfreiwillig und reicht nicht für ein selbstständiges, existenzsicherndes Leben. Vor allem aber wirkt sich dies negativ auf die Altersrente aus. Im Koalitionsvertrag wird hierzu nur Bezug auf Mini- und Midijobs genommen, die nicht zur Teilzeitfalle für Frauen werden sollen. Wie, bleibt auch hier offen.
  • Mehr Frauen als Männer arbeiten im Niedriglohnsektor: Ende 2019 rund 25,8 %. Bei Männern hingegen liegt der Niedriglohnanteil nur bei 15,5 % (Zahlen nach: Bundesagentur für Arbeit, in: Ärztezeitung vom 7.3.2021, s.o.). Viele von ihnen sind entweder auf einen Zweitjob angewiesen oder gehören zu den sogenannten Aufstocker:innen. Die im Koalitionspapier angekündigte Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro, die am 1. Oktober kommen soll, ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Sie wird aber nicht ausreichen, um Frauen aus dieser Armutsfalle herauszuholen.
  • Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung – vor allem Frauen arbeiten in sogenannten sozialen Berufen wie Pflege, Erziehung u. ä. – spiegelt sich auch in einem geringerem Gehalt wider. Auch die aktuellen Tarifabschlüsse dienen nicht dazu, dort eine angemessene Bezahlung zu ermöglichen. Außer allgemeinen Floskeln, dass die Löhne für Pflegekräfte verbessert werden sowie die Zuschläge und Prämien (bis 3.000 Euro) steuerfrei sein sollen, steht dazu nichts im Koalitionsvertrag.
  • Unterbrechung der Arbeit aufgrund der Versorgung von Kindern oder zu pflegenden Angehörigen, was in den meisten Fällen von Frauen geleistet wird – oft schon allein deswegen, weil sie in der Regel weniger verdienen als ihre Männer –, bedeutet weniger Rentenanspruch. Im Koalitionsvertrag steht dazu, dass haushaltsnahe Dienstleistungen gefördert werden sollen und Brückenteilzeit in Zukunft mehr in Anspruch genommen werden kann. Das ist sicherlich etwas, dass dazu beitragen kann, Familie und Beruf besser zu vereinbaren, wird aber nichts Grundlegendes verändern.
  • Hinzugekommen ist eine gestiegene Arbeitslosenquote während der Pandemie, welche das Altersarmutsrisiko von Frauen noch weiter erhöhen wird. Dabei stieg sie im Zeitraum von Februar 2020 bis Januar 2021 bei Frauen mit 5,7 % stärker als bei Männern (1,8 %). (s.: Ärztezeitung vom 7.3.2021).

Vor diesem Hintergrund ist es mehr als zynisch, was die Ampelkoalition zur „Sicherung“ der Renten in Zukunft vorhat. Dazu „werden wir zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen. Diese teilweise Kapitaldeckung soll als dauerhafter Fonds von einer unabhängigen öffentlich-rechtlichen Stelle professionell verwaltet werden und global anlegen. Dazu werden wir in einem ersten Schritt der Deutschen Rentenversicherung im Jahr 2022 aus Haushaltsmitteln einen Kapitalstock von 10 Milliarden Euro zuführen.“

D. h. nichts anderes, als dass ein Teil der Rente in Zukunft von den Finanzmärkten abhängig gemacht werden soll. Das ist ein weiterer Schritt zur Privatisierung der gesetzlichen Rentenversicherung nach Einführung der Riesterrente durch die rot-grüne Koalition 2001. Diese zusätzliche „Säule“ ist alles andere als sicher und stabil. Zudem weiß niemand, wann angesichts der zunehmend instabilen internationalen Situation es zu einem neuen Börsencrash kommen wird. Darüber hinaus werden 10 Milliarden aus dem laufenden Haushalt dafür zur Verfügung gestellt, die dann anderswo fehlen. Diese „Anschubfinanzierung“ wird nach Aussagen des Rentenexperten des DIW, Johannes Geyer, nicht ausreichen: „Man bräuchte mindestens 300 Milliarden Euro. Dann könnte man hoffen, jährlich 15 Milliarden Kapitalerträge zu erzielen, die dann an Rentner ausgeschüttet werden.“ (zit. nach: Das Renten-Versprechen und der Bluff, NEUES DEUTSCHLAND vom 21.02.22).

Es gibt keinen Grund, die Rente immer mehr vom Kapitalmarkt abhängig zu machen. Sie müsste stattdessen mit einer besseren Einzahlungsstruktur und mehr Mitteln aus dem Haushalt finanziert werden: Das Pro-Kopf-Volkseinkommen ist trotz beginnender Krise im Jahr 2019 um das Doppelte gestiegen (Die Rente könnte sicher sein, NEUES DEUTSCHLAND 25.7.2020). Auch das Steuereinkommen könnte ohne weiteres erhöht werden: Eine einmalige Vermögensabgabe mit einer Laufzeit von 10 Jahren würde 300 Milliarden Euro einbringen. Auch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer bei einem Steuersatz von 1 % könnte 20 Milliarden Euro auftun (a. a. O.).

Ganz klar zeigt sich hier, dass es nicht um eine Stabilisierung der Renten geht, sondern die Unternehmer:innen weiter von solch lästigen Dingen wie Lohnnebenkosten oder höheren Kapitalsteuern zu entlasten, um deren Wettbewerbsfähigkeit in der zukünftigen, krisenhaften Entwicklung nicht zu beeinträchtigen.

Es gibt jedoch Systeme, in denen Rentner:innen mehr erhalten und besser vor Altersarmut geschützt sind. Das bekannteste ist wohl Österreich: Die im Jahr 2018 in Ruhestand gegangenen Menschen erhielten hier ca. 1.700 Euro im Monat – in Deutschland waren das nur 1.000 (Zahlen nach Sozialwissenschaftler Florian Blank; in: Geteilter Genuss, NEUES DEUTSCHLAND vom 25.07.20). Das ist ein Unterschied von 70 %. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt fließt in Österreich mehr öffentliches Geld in Renten und Pensionen. Die Rentenbeiträge liegen seit Jahrzehnten stabil bei 22,5 %, 12,5 % davon zahlen die Arbeit„geber“:innen. Ein anderer entscheidender Grund ist, dass fast alle Erwerbstätigen einschließlich der Selbstständigen (außer den Beamt:innen) verpflichtend in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert sind. (a. a. O.) Aber auch in Österreich gibt es einen großen geschlechtsspezifischen Unterschied. Zudem ist auch hier damit zu rechnen, dass eine neoliberale Politik versuchen wird, diese Kosten zugunsten der Kapitalist:innen zu reduzieren.

Was wir brauchen, um Altersarmut zu verhindern:

  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Mindestlohn für alle Frauen, um ein Mindesteinkommen zu sichern, das die Reproduktionskosten deckt und ein Leben ohne Abhängigkeit vom (männlichen) Partner erlaubt!
  • Mindesteinkommen von 1.600 Euro/Monat für alle Arbeitslosen und Rentner:innen. Diese Regelung soll auf alle Freiberufler:innen, (Schein-)Selbstständigen, Studierende, Sexarbeiter:innen und andere ausgedehnt werden, die wegen der Pandemie ihre Dienste nicht verkaufen können!
  • Kostenloser Zugang zu Gesundheits-, Krankenversorgung, Pflegeeinrichtungen und gesicherte Renten für alle Frauen!
  • Kostenlose und bedarfsorientierte Kinderbetreuung, öffentliche Kantinen und Wäschereien – um eine gesellschaftliche Gleichverteilung der Reproduktionsarbeiten auf alle Geschlechter sicherzustellen!
  • Alle müssen in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen – auch Selbstständige, Beamt:innen und Parlamentarier:innen!
  • Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden/Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich!
  • Umwandlung prekärer Beschäftigungsverhältnisse in tariflich gesicherte; Abschaffung der Leiharbeit und Übernahme der Leiharbeiter:innen!
  • Für ein Programm gemeinnütziger öffentlicher Arbeiten mit Vollzeitstellen und auskömmlichen Tariflöhnen für Frauen, bezahlt aus Unternehmerprofiten und Vermögensbesitz!
  • Keine Rettungspakete und keine Milliardengeschenke für die Konzerne! Die Reichen müssen zahlen! Progressive Besteuerung von privaten Vermögen und Unternehmensgewinnen zur Finanzierung der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und der Sicherung der Einkommen und Renten der arbeitenden Bevölkerung! Entschädigungslose Enteignung aller Unternehmen unter Arbeiter:innenkontrolle, welche Löhne kürzen, Arbeitszeit verlängern oder Standorte schließen wollen!
  • Für eine verstaatlichte, einheitliche Sozialversicherung unter Arbeiter:innenkontrolle (Gesetzliche Krankenversicherung, Bundesanstalt für Arbeit, Rentenversicherung, Unfallversicherung, Arbeitslosen- und Sozialhilfe), finanziert durch eine progressive Besteuerung!
  • Für kommunale, regionale, bundesweite und internationale Selbstverwaltung der Einheitsversicherung durch die Versicherten! Unternehmer:innen raus aus den Aufsichtsräten der Sozialversicherungen! Weg mit jeder Einmischung des bürgerlichen Staats!

Um dies zu erreichen, ist der Aufbau einer Einheitsfront der gesamten Arbeiter:innenklasse, einschließlich aller Arbeitslosen und Rentner:innen, notwendig. Der Kampf gegen Altersarmut muss mit dem gegen den Kapitalismus verknüpft werden.