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Q&A: Täterschutz in der radikalen Linken – Was tun, um das zu verhindern?

Von Leonie Schmidt

Ob in Berlin, Leipzig oder Karlsruhe, ob in der kommunistischen Parteijugend, der lokalen roten K-Gruppe oder im Anarcho Freundeskreis, ja selbst in der Linkspartei: Innerhalb der (radikalen) Linken kommt es immer wieder zu patriarchaler Gewalt (psychisch, physisch und sexualisierter Gewalt, zumeist ausgeübt durch cis Männer). Dabei flammen dann auch die Diskussionen über den Umgang damit auf und so wurden wir nun im Q&A gefragt, wie man mit solchen Taten umgehen sollte. Das soll dieser Text etwas konkreter beantworten, auch um einen Debattenbeitrag zu liefern. Denn in den meisten Fällen zeigt sich, dass linksradikale Strukturen keine allgemein festgelegte Vorgehensweise haben, um diese Fälle aufzuarbeiten, nicht transparent mit den eigenen Genoss_Innen darüber kommunizieren, oder die Anschuldigungen gar nicht erst ernst nehmen. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass der stabile Genosse wirklich zum Täter werden kann, vor allem wenn es (vermeintlich) keine Anzeichen dafür gab. Und so bleibt den Betroffenen (meist nach einem gescheiterten Aufarbeitungsversuch) nichts anderes übrig, als die Strukturen zu verlassen und Demos sowie Hotspots der Linken Szene zu meiden, während die Täter unbekümmert weiter Politik machen dürfen und bestenfalls sogar noch auf feministische Demos, wie z.B. den Tag gegen patriarchale Gewalt 2022 in Leipzig, geschleppt werden. Das darf aber nicht so sein, vor allem wenn wir uns als Kommunist_Innen sonst auf die Fahne schreiben, gegen Sexismus in all seinen Ausführungen zu sein. Wir als REVOLUTION haben daher eine Strategie ausgearbeitet, wie wir intern mit Tätervorwürfen umgehen. Diese wollen wir im Folgenden darstellen.

Disclaimer: Unsere jetzige Position haben wir über die letzten Jahre kontinuierlich erarbeitet. Sie ist das Ergebnis von Debatten über Definitionsmacht, sowie praktischen Erfahrungen im Umgang mit sexuellen Grenzüberschreitungen in unserer eigenen Organisation, bei denen sich auch betroffene Genossinnen mit Kritik beteiligt haben. Dabei wollen wir ehrlich sein: Wir haben bei diesen Prozessen auch Fehler gemacht und wir glauben nicht, dass unser Umgang perfekt ist. Unser Ziel ist es gewesen, einen demokratischen Umgang zu finden. Das bedeutet auch, dass wir nicht allen Bedürfnissen aller Betroffenen nachkommen können.

Warum gibt es überhaupt patriarchale Gewalt in linken Strukturen?

Wir sind alle ein Produkt unserer Umwelt. Somit hat das allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein, was patriarchal geprägt ist, Auswirkungen auf uns und unser Verhalten, auch wenn wir uns entscheiden, uns politisch zu organisieren. Die gesamtgesellschaftliche Frauenunterdrückung, basierend auf dem Idealbild der bürgerlichen Familie, unbezahlter Reproduktionsarbeit und sexistischer Stereotypen, sorgt dafür, dass Frauen als weniger Wert angesehen werden, während Männer die Starken sein sollen, die sich einfach nehmen, was sie wollen. Sprüche wie „Wenn Frauen nein sagen, meinen sie eigentlich ja“ verstärken das Bild der Frau, die alles über sich ergehen lässt, während der Mann für Grenzüberschreitung sogar noch gesellschaftlich belohnt wird. Dies wird in Filmen und Märchen ständig vermittelt, dass „richtige Männer“ immer ganz genau wissen, was sie wollen und was auch das Gegenüber vermeintlich will. Eine fehlende Auseinandersetzung mit Konsens-Konzepten in Erziehung oder während des Sexualkundeunterrichts tut ihr übriges, denn wenn man nicht lernt, über Konsens zu kommunizieren, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Übergriffigkeiten kommt, ziemlich hoch. Kurzum: Die bürgerliche Gesellschaft sozialisiert uns mit unterdrückerischem Verhalten und deswegen ist auch Niemand von uns „frei“ davon.

Prävention ist das A und O

Das führt uns dazu, dass es nicht reicht, erst zu handeln, wenn etwas passiert ist. Daher haben wir als Organisation verschiedenen Ansätze zur Prävention. Diese können zwar Übergriffigkeiten nicht komplett verhindern, aber zumindest dafür sorgen, dass wir uns kollektiv mit unseren Machtpositionen und Verhaltensweisen auseinandersetzen. Die SDAJ hat kürzlich in ihrem „Statement zum Vorwurf des Täterschutzes“ geschrieben, dass jede Person sich mit der eigenen geschlechtlichen Rolle auseinandersetzen muss. Das mag letzten Endes richtig sein, aber es scheint, als wäre es allen selber überlassen, als gäbe es keine Kontrolle oder gemeinsame Diskussion darüber. Wir haben den Ansatz, dass wir mehrmals jährlich für cis Männer verpflichtende Reflexionstreffen anbieten. Natürlich hat dieses Konzept auch seine Grenzen. Reflexion alleine kann keine lebenslang gelernten Verhaltensmuster beenden. Gleichzeitig ist es aber ein Mittel, sich die eigene Sozialisierung und die Auswirkungen dessen ins Bewusstsein zu rufen und mit Anderen in den offenen Austausch zu treten, sowie zu lernen, beispielsweise über das eigene Redeverhalten oder die eigene Sexualität zu reden. Außerdem ist es möglich, dass Frauen, LGBTIA-Personen und anderen gesellschaftlich unterdrückten Gruppen einen Caucus einberufen können, in welchem über Unterdrückungsmechanismen und Vorfälle innerhalb der Organisation diskutiert werden kann. Diese  Caucuse sind nur Personen der jeweiligen sozialen Unterdrückung betretbar. Wir wollen damit unterdrückten Gruppen einen Raum geben, um unter sich zu diskutieren und Missstände zu besprechen. Sie können sowohl organisatorische, politische als auch analytische Vorschläge an die Leitung machen und ihre Anliegen als Kollektiv in die Organisation tragen, während wir alle gemeinsam organisiert sind. Außerdem muss jede Person, die bei uns Mitglied werden möchte, ein Konsensgespräch führen, bei welchem wir unser Konsensprinzip „Nur ja heißt Ja!“ vorstellen und es auch eine Möglichkeit zur Reflexion gibt.

Wir wollen an dieser Stelle nicht so idealistisch sein und annehmen, dass es deswegen nie wieder Vorfälle geben wird oder wir als Organisation unterdrückungsfreie Räume schaffen können. Denn wie bereits erwähnt leben wir in einer Gesellschaft, die stetig unterdrückerisches Verhalten reproduziert. Deswegen ist es jedoch die Aufgabe einer jeden Organisation einen Umgang damit zu finden, Vorfälle aufzuarbeiten und wenn es geht, Personen gar nicht erst zu Tätern werden zu lassen. Das machen wir, während uns gleichzeitig bewusst ist, dass um sexistische und übergriffige Verhaltensweisen hinter uns zu lassen, es nicht nur reicht, an uns selbst zu arbeiten. Wir müssen das Problem bei der Wurzel packen, das gesamte Patriachat mitsamt der Klassengesellschaft zerschlagen.

Konkreter Vorwurf und jetzt?

Zuerst einmal müssen wir jeden Vorwurf und jedes Anzeichen ernst nehmen. Sollte also ein Vorwurf aufkommen, muss sofort gehandelt werden. Es wird eine Kommission gegründet, bestehend aus mehrheitlich gesellschaftlich Unterdrückten. Die Kommission hat dabei das Ziel, den Fall im Interesse der Organisation zu untersuchen und ist ihren Strukturen rechenschaftspflichtig, sowie wähl- und abwählbar. Ihre Aufgabe ist, den Fall zu untersuchen und eine Empfehlung bzgl. des Täters an die demokratisch legitimierte Leitung auszusprechen, welche dann darüber entscheidet. Im Gegensatz zu einer Einzelperson hat das Kollektiv die Möglichkeit, darüber zu diskutieren, wie zu verfahren ist und das Problem wird nicht bei einer Einzelperson abgelegt, wie es in Teilen der radikalen Linken üblich ist. Die Kommission untersucht nicht aufgrund von Misstrauen gegenüber der betroffenen Person den Fall, da wir ihre Aussage auch als Indiz werten. Da es aber manchmal widersprüchliche Aussagen gibt oder auch das Ziel ist, herauszufinden, ob von der beschuldigten Person weiter Gefahr ausgeht, braucht es eine überprüfende Instanz. Dabei hat die betroffene Person viele Rechte. Beispielsweise hat sie die Möglichkeit, eine Sprecherperson für sich zu wählen, damit sie nicht zwangsläufig mit fremden Genoss_Innen darüber sprechen muss oder kann auch wesentlich später eine Aussage machen, falls es ihr nicht gut geht. Ebenso kann sie auch Einspruch einlegen, wenn sie mit dem Ergebnis der Kommission nicht einverstanden ist.

Die beschuldigte Person auf der anderen Seite wird ihrer demokratischen Rechte enthoben, während gleichzeitig ihre Pflichten gegenüber der Organisation bestehen bleiben. Dies ist nicht mit der Schuldsprechung gleichzusetzen, sondern gilt zum Schutz der Organisation. Dieser Zeitraum kann auch unterschiedliche Auflagen mit sich bringen, beispielsweise Kontakteinschränkungen um Gossip und Falschdarstellungen durch den Täter zu unterbinden. Hier ist aber die Mitarbeit am Kommissionsprozess verpflichtend. Der Name von betroffenen Personen wird aus Schutzgründen nicht genannt, während der Täter aus Sicherheitsgründen intern genannt werden muss, um Transparenz vor der Mitgliedschaft zu gewährleisten. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal betonen, dass es wichtig ist, diese Prozesse nicht vor der Mitgliedschaft zu verheimlichen! Natürlich dürfen keine Details veröffentlicht werden, von denen Schlüsse gezogen werden können, wer die betroffene Person ist, oder unnötig intime Details der Tat, die niemanden was anzugehen haben. Aber nur die (interne) Transparenz kann helfen, Täterschutz zu unterbinden. Zeigt der Täter keine Einsicht, hält sich mehrmals nicht an die Auflagen oder ist nicht reflexionswillig, so wird er aus der Organisation ausgeschlossen. Hier behalten wir uns vor, die Person an andere linke Strukturen zu outen. Dabei ist es für uns zentral, dass wir klare Aufforderungen machen, wie die Tat aufgearbeitet werden soll, da es uns darum geht, Druck aufzubauen, um die Aufarbeitung in Gang zu setzen, aber auch einen Weg aufzeigen, über den ein Täter wieder zurück in die Organisation finden kann. 

Der Kommissionsprozess dient zur Klärung des Falles, bringt der Betroffenen an sich jedoch wenig, zumal so ein Prozess meist emotional belastend ist. Der Fokus sollte natürlich sein, die Betroffene zu unterstützen und ihr zu helfen, wieder ein selbstbestimmter Teil der Organisation zu sein und an politischen Treffen und Aktionen teilnehmen zu können. Als politische Organisation haben wir nur begrenzt Ressourcen und als in diesem Bereich unausgebildete Jugendliche können wir keine psychologische Aufarbeitung gewährleisten. Daher unterstützen wir Betroffene auch bei der Suche nach Hilfsangeboten. Auf eine andere Art und Weise verfahren wir mit dem Täter, sobald er die Tat glaubhaft eingestanden hat. Hier stellen wir keine Ressourcen für die Aufarbeitung bereit, sondern geben Auflagen vor und überprüfen dessen Stand. Eine Aufarbeitung passiert nicht in ein paar Wochen oder Monaten, je nach Intensität der Tat kann eine (aus unserer Sicht verpflichtende) Therapie nötig sein. Meist fordern wir auch eine politische Auseinandersetzung mit der Tat oder das Vorbereiten von Inputs oder Artikeln zum Thema. So kann die Auseinandersetzung mit der übergriffigen Verhaltensweise überprüft werden und ob dabei wirklich Fortschritte gemacht werden. Wir halten hier den Ansatz des Konzepts der transformative Justice für interessant. Der Täter muss neben dem glaubhaften Eingeständnis auch Anerkennen, welchen Schaden er durch sein bewusstes Handeln angerichtet hat. Er muss die Gründe für sein Handeln nachvollziehen und herausfinden, ob zusätzliche Abhängigkeitsstrukturen durch ihn geschafft wurden. Zentral ist es, Strategien aufzuzeigen, wie er diese Verhaltensweisen zukünftig verhindern sollte. Dahinter steht ein fortschrittliches Menschenbild: Wir glauben daran, dass Menschen sich ändern können! Ansonsten könnte man es mit dem Kommunismus auch insgesamt vergessen.

Reicht das?

Aber ein sehr wichtiger Aspekt dieses Ansatzes ist auch, dass die Community, Szene oder Gruppe in dessen Kontext die Tat geschehen ist, ebenso angesehen wird. Wurden Anzeichen übersehen? Gibt es konkrete Ansätze der Gruppe, die so etwas verstärken können wie zum Beispiel, dass individuelle Gewalt und besonders männlich-dominantes Auftreten als legitime politische Mittel angesehen werden, psychische Gewalt als nicht so schlimm abgetan wird oder es kein genügendes Verständnis davon gibt, was eigentlich schon alles patriarchale Gewalt ist? Gibt es überhaupt Mechanismen, wo man sich präventiv z.B. mit Konsens auseinandersetzen kann? Gibt es Möglichkeiten zur kollektiven Reflexion? Und noch einen sehr anderen wichtigen Punkt vor allem bzgl. Täterschutz, der von vielen vergessen wird: Gibt es sowohl für die Mitgliedschaft als auch für Außenstehende eine nachvollziehbare Ansprechperson, im besten Fall ein Teil der Leitung, um solche Fälle zu melden? Um Täterschutz zu vermeiden und einen Umgang mit Gewalt zu finden, sollten sich Organisationen diese Fragen stellen!

Insgesamt muss uns jedoch bewusst sein: Als politische Organisation haben wir begrenzte Ressourcen für Prävention, zur Unterstützung von Betroffenen oder zur Aufarbeitung mit Tätern. Das ist in jedem Fall – insbesondere für die Betroffenen- ein Problem. Verursacht wird das jedoch nicht durch falsche Schwerpunktsetzung einzelner Organisationen, sondern ist Ergebnis des gesellschaftlichen Missstandes im Umgang mit sexualisierter Gewalt. Das heißt: Der obig beschriebene Umgang mit sexueller Gewalt ist nicht genug. Deswegen muss es die Aufgabe von Kommunist_Innen sein, für gesamtgesellschaftliche Veränderungen einzustehen, auch wenn man den Umgang in der eigenen Organisation oder der Linken insgesamt ändern will. Konkret heißt das: Wir können das Elend der Gesellschaft nicht auffangen, deswegen müssen wir zeitgleich dafür kämpfen, dass eine Bewegung entsteht, die das Problem – den Kapitalismus an der Wurzel packt, während man auch für konkrete Verbesserungen im hier und jetzt kämpft:

  • Nein heißt Nein reicht nicht aus! Für die Pflicht aktiv sexuellen Konsens zu suchen! Verbot einer Befragung, bei der die Betroffene nach Kleidung gefragt wird oder ihr in irgendeiner anderen Weise die Schuld zu gesprochen wird.
  • Anzeigen dürfen keine Hürden sein! Flächendeckende Anlaufstellen zur Meldung von sexueller Gewalt! Sofortige, kostenlose psychologische Betreuung, wenn gewünscht; sowie der Ausbau von Frauen_FLINTA-Häusern! Statt Polizei Untersuchungskommissionen bestehend aus Gewerkschaften & Betroffenenvertretungen, die vollen Zugang zu den Mitteln der Polizei haben!
  • Kostenlose Rechtsberatung und Übernahme der Prozesskosten, sowie längerfristige Hilfeangebote für Betroffene von sexueller Gewalt, finanziert durch den Staat! Für das Recht auf mehr bezahlte Urlaubstage, sowie eine Mindestsicherung angepasst an die Inflation!
  • Weg mit den Berufsrichter_Innen, für rechenschaftspflichtige, demokratisch wähl- und abwählbare Tribunale, die sich aus der Arbeiter_Innenklasse und Menschen mit verschiedenen Unterdrückungserfahrungen zusammensetzen!
  • Für demokratisch gewählte und organisierte Selbstverteidigungskomitees von Frauen und LGBTIA+ in Zusammenschluss mit der Arbeiter_Innenklasse!
  • Für die Einrichtung und Ausbau von Rehabilitationsprogrammen für sexuelle Gewalttäter.

Hier noch 2 weiterführende Texte von uns:

Wohin mit all den Täter?

Kampf gegen sexuelle Gewalt an Frauen: abseits des Staats, gegen ihn oder mit ihm?




Spanien – Vorreiter im Abtreibungs- und Sexualstrafrecht?

von Leonie Schmidt (REVOLUTION/ Gruppe Arbeiter:innenmacht), zuerst erschienen in Neue Internationale 266, Juli/August 2022

Die seit 2020 amtierende neoreformistische Regierung im spanischen Staat, bestehend aus sozialdemokratischer PSOE und linkspopulistischer Podemos, hat in diesem Jahr einige Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht, die verschiedenste Bereiche der geschlechtsspezifischen Unterdrückung betreffen und künftig für mehr reproduktive Rechte und härtere Strafen bei geschlechtsspezifischer Gewalt führen sollen.

Spanien scheint von außen oft eher konservativ und wird auch zuweilen als Macho-Land abgetan, zumal die katholische Kirche gesellschaftlich auch noch sehr präsent ist. In Sachen Antisexismus gibt es jedoch schon seit einiger Zeit ein Umdenken in den Parlamenten. Doch die fortschrittlichen Gesetze kommen nicht von irgendwo her, sie wurden erkämpft.

Was ändert sich?

Besonders auffällig ist das gelockerte Abtreibungsgesetz: So dürfen Schwangere schon ab 16 Jahren ohne elterliches Einverständnis abtreiben, Abtreibungen sind bis zur 14. Woche legal und die 3-tägige Bedenkzeit soll ebenso abgeschafft werden. Außerdem müssen öffentliche Krankenhäuser mit gynäkologischer Abteilung über fachkundiges Personal verfügen, welches einen Abort durchführen kann.

Ferner wurde das Sexualstrafrecht verschärft, und zwar gilt nun „Nur Ja heißt Ja“, was eine fortschrittlichere Regelung ist als „Nein heißt Nein“, da nun auch Täter für eine Vergewaltigung verurteilt werden können, deren Betroffene sich nicht wehren oder äußern konnten, sei es aus Schockstarre und Angst oder Bewusstlosigkeit. Dies fiel vorher lediglich unter den Straftatbestand der sexuellen Belästigung. Konkret heißt es nun im neuen Gesetzesentwurf: Alle Handlungen, die „die sexuelle Freiheit einer anderen Person verletzen“, gelten als Vergewaltigung und können für die Täter bis zu 15 Jahre Gefängnis bedeuten. Konservative kritisieren, dass es nun keine Unterscheidung mehr zwischen Übergriffen und Vergewaltigungen gebe und sehen die Unschuldsvermutung in Gefahr. Auch Catcalling wird nun strafbar insofern, als jegliche Annäherungen in Form eines Flirts von allen Beteiligten gewollt werden müssen und andernfalls als Straftatbestand gelten.

Neben diesen Verschärfungen wurde der sogenannte Periodenurlaub von bis zu 3 Tagen monatlich nun eingeführt. Wenngleich das eine gute Idee ist, ist der Name doch etwas missverständlich, denn in Spanien war es bisher erst möglich, ab 4 Tagen Krankheit eine Lohnfortzahlung vom Unternehmen zu erhalten. Daher wurde hier nur eine Lücke geschlossen. Spanien hat somit als erstes europäisches Land den Periodenurlaub eingeführt. Bisher existieren derartige Regelungen vor allem im asiatischem Raum, bspw. in Taiwan, Südkorea und China. Außerdem soll es nun endlich Verordnungen zur Prostitution in Spanien geben. Diese ist nämlich weder verboten noch legal, was vielen ein Dorn im Auge ist.

Wie kam es dazu?

Wie konnte es nun zu solchen fortschrittlichen Zugeständnissen kommen, während weltweit ein extremes Rollback gegen Frauen und LGBTIA-Personen im vollen Gange ist, insbesondere Abtreibungsrechte reihenweise verschärft werden – siehe Polen und die USA. Hierfür sind mehrere Gründe verantwortlich. Einerseits, wie bereits eingangs erwähnt, wurden die Gesetzesänderungen maßgeblich durch die Frauenbewegung in Spanien erkämpft. Diese ist ziemlich stark, zu den 8.-März-Protesten gehen landesweit Millionen Menschen auf die Straße. Alleine in Barcelona waren es 2021 über 100.000 Personen.

Die Größe der Bewegung ist insbesondere historisch bedingt, denn während in den späten 1960er und 1970er Jahren in den westlichen Industrieländern der Kampf um Gleichberechtigung und sexuelle Befreiung erstarkte, war in Spanien noch das halbfaschistische Regime Francos an der Macht, in welchem Frauen zu Kinder, Küche, Kirche verbannt waren. Erst 1978 wurde ein Gesetzantrag zur Gleichstellung von Mann und Frau erwirkt, das Recht auf Scheidung gibt es erst seit 1981. Das kollektive Trauma dieser Zeit besteht fort und sorgt auch heute noch für größeres und kämpferischeres Bewusstsein. Bereits in den späten 1990er Jahren konnte ein Gesetz durch Massenproteste ins Rollen gebracht werden.

Diese formierten sich 1997 nach einem Femizid an einer Frau, Ana Orantes, deren Mann sie ermordete, weil sie in einem Fernsehinterview über die 40 Jahre häuslichen Missbrauchs durch ihn an ihr und den gemeinsamen Kindern sprach. Sie hatte sich zuvor sogar an die Polizei gewandt, 15 Anzeigen gestellt. Doch diese wollte ihr nicht helfen, da es keine entsprechenden Gesetze gab, die Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt schützten. Als die Scheidung nach über 10 Jahren endlich durchkam, musste sie dennoch weiter mit ihm zusammen wohnen.

Die damals konservative Regierung unter der Partido Popular, einer rechtskonservativen Volkspartei, sprach von einem Einzelfall, was nicht unbeantwortet blieb. Unter dem Motto „ Wir sind alle Ana“ gingen damals Tausende auf die Straßen. Im Anschluss wurde 2004 ein erstes Gesetz auf die Beine gestellt, welches weitreichend gegen häusliche Gewalt ankämpfen sollte. Alleine schon die Benennung der geschlechtsspezifischen Gewalt stellte einen großen Schritt nach vorn dar. Außerdem wurden Spezialgerichte für die Verfolgung der Straftaten eingerichtet und Männer, die Frauen Gewalt antun, werden nun durch das Gesetz stärker bestraft als Frauen, die Männern etwas antun, oder Männer, die anderen Männern etwas antun. Seit 2007 wird auch jegliche geschlechtsspezifische Gewalttat statistisch erfasst, was in Deutschland bspw. erst seit 2015 der Fall ist.

Das „Ja heißt Ja“-Gesetz kam vor einem ähnlichen Hintergrund zustande: Nach einer Gruppenvergewaltigung an einer 18-Jährigen durch 5 Männer (welche ihr Opfer zusätzlich filmten) wurden die Täter nur wegen sexueller Belästigung verurteilt, da sie das Opfer nicht schlugen oder bedrohten, und sie sich nicht wehrte. Sie bekamen somit nur 9 Jahre Haft. Jedoch mobilisierten auch 2016 erneut die spanischen Feminist:innen gegen dieses milde Urteil und erzwangen somit dessen Revision. Die Täter wurden nun doch wegen Vergewaltigung verurteilt und sitzen eine 15-jährige Haftstrafe ab. Das neue Gesetz soll auch zukünftig ähnliche Gerichtsurteile ermöglichen und wurde somit de facto durch die Frauenbewegung in Spanien erkämpft. Außerdem wirkte sich positiv aus, dass auch die Gewerkschaften mit der feministischen Bewegung wahrhaft vernetzt sind und es sich bei vielen 8M-Protesten wirklich um Frauenstreiks handelte, welche mit Streikposten einhergingen und nicht wie bspw. in Deutschland einen rein symbolischen Charakter trugen.

Einige Politikerinnen und Ministerinnen der Regierung PSOE/Podemos entstammen ebenfalls einer Tradition feministischer Proteste und haben sich auch deswegen für diese Belange eingesetzt. Generell ist die reformistische Regierung natürlich auch ein Grund für die Durchsetzung. In Krisenzeiten gibt es zwar klassischer Weise Rollbacks gegen Frauen und LGBTIA-Personen, aber irgendwas muss die linke Koalition trotzdem der mobilisierten Wähler:innenschaft anbieten. Dass es im Rahmen von Krieg, Krise, Umweltkatastrophe und Pandemie nur wenig Spielraum gibt, ist klar. Denn ansonsten ist die Regierung eher weniger linksorientiert, als es eventuell scheinen mag. Die Politik, die gefahren wird, ist durchaus arbeiter:innenfeindlich. So werden bspw. Streiks im Auftrag der Regierung durch Polizei und Militär brutal niedergeschlagen. Insbesondere während der Pandemie zeigten die Politiker:innen ihr wahres Gesicht. So sperrten sie die Arbeiter:innen in ihren Stadtvierteln ein, diese durften sie nur verlassen, wenn sie zur Arbeit fuhren.

Kritik an der Gesetzesänderung

Kritik gab es einige, sowohl aus feministischen Kreisen als auch von rechts. Die Feminist:innen in Spanien sind stark beeinflusst von Andrea Dworkin, welche als Radikalfeministin insbesondere eine abolitionistische Position gegenüber der Prostitution einnahm. Sie sahen sich und das Anliegen eines Sexkaufverbots in den neuen Entwürfen nicht gehört, denn das nordische Modell wurde anfangs nicht eingeplant. Prostitution wurde 1995 in Spanien entkriminalisiert, Zuhälterei ist allerdings strafbar. Anfang Juni wurde jedoch ein Entwurf ins Rollen gebracht, der einem Sexkaufverbot gleichkommt: Das vorgeschlagene Gesetz soll diejenigen bestrafen, die Prostituierte finanziell ausbeuten, für ihre Dienste bezahlen oder wissentlich Räumlichkeiten für die Ausübung der Prostitution zur Verfügung stellen. Wenngleich die PSOE in Spanien sich für dieses, vom „nordischen Modell“ inspirierte Gesetz ausspricht, so ist es alles andere als sicher für die betroffenen Sexarbeiter:innen, denn so werden sie in noch unsicherere Arbeitsverhältnisse gedrängt (ausführlicher Artikel zur Frage siehe Neue Internationale 257, Juli/August 2021). Beibehaltung der Entkriminalisierung, die Möglichkeit für sichere und kostenlose Umschulungen zum Ausstieg sowie gewerkschaftliche Organisation der Sexarbeiter:innen wären aus einer marxistischen Perspektive die deutlich sinnvolleren Mittel gewesen.

Interessant ist auch, dass diese Frage zu einer Spaltung innerhalb der Koalition geführt hat. Die PSOE arbeitet nun bzgl. des Gesetzesentwurfs mit der rechtspopulistischen PP (Partido Popular) zusammen, während sich Podemos dagegen stellt, da er zu moralisierend wäre. Für die feministische Partei Spaniens ist der Vorschlag von PSOE und PP aber dennoch zu unkonkret, sie fordert umfassendere Maßnahmen. Außerdem gab es Proteste mit bis zu 7.000 Frauen, die sich für ein abolitionistisches Gesetz aussprachen.

Auch wenn der Gesetzentwurf ansonsten einen wichtigen Schritt darstellt, so bleibt Sexismus eine strukturelle Unterdrückung im Kapitalismus, welche sich nicht einfach durch Gesetze wegreformieren lassen kann und so auch in Spanien unter der linken Regierung bestehen bleibt: Reproduktionsarbeit wird auch hier weiterhin vornehmlich von Frauen ausgeführt.

Zugleich gibt es natürlich auch Kritik von rechts und aus konservativen Kreisen. Die rechtsradikale VOX, drittstärkste Partei im Parlament, möchte das Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt aus dem Jahr 2004 schon länger abschaffen. Sie ist außerdem gegen die Legalisierung von Abtreibung. Gegen die Veränderung des Abtreibungsgesetzes gingen auch 100.000 Konservative auf die Straße, unter anderem angestachelt durch die Aufhebung von Wade vs. Roe in den USA.

Wie weiter?

Auch wenn in Spanien wichtige gesetzliche Verbesserungen errungen werden konnten, so ist der Kampf längst nicht vorbei. Einerseits findet auch innerhalb der Bewegung ein Kampf zwischen fortschrittlichen und reaktionären Richtungen (siehe die Frage der Prostitution) statt. Die PSOE, aber auch wichtige Strömungen des Feminismus schrecken dabei auch vor einer Zusammenarbeit mit den Konservativen nicht zurück. Andererseits macht die extreme und konservative Rechte gegen alle fortschrittlichen Verbesserungen weiter mobil, wie die Massendemonstrationen der VOX verdeutlichen.

Die enge Verbindung zwischen den feministischen Streiks und der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innenklasse war jedoch nicht nur entscheidend dafür, warum wichtige Verbesserungen überhaupt durchgesetzt werden konnten. Sie ist auch der einzige Weg zur Verteidigung und Ausweitung dieser Errungenschaften und zur Schaffung einer proletarischen Frauenbewegung – nicht nur in Spanien, sondern international.




Amber Heard vs. Johnny Depp – Was der Gerichtsprozess zweier Megastars mit der weltweiten feministischen Bewegung und dem Patriarchat zu tun hat

Von Leonie Schmidt

In den letzten Wochen führten Johnny Depp und Amber Heard vor den Augen der Welt einen Prozess zum Thema häuslicher Gewalt in deren Ehe. Für die Öffentlichkeit war schon vor Beginn klar, dass Heard die Täterin sei und der Hashtag #justiceforjohnny trendete in allen möglichen sozialen Netzwerken. Wir wollen uns in diesem Beitrag nicht abschließend auf eine Seite stellen, möchten aber beleuchten, wo wir im Prozess selber ungeklärte Fragen sehen und insbesondere, inwiefern dieser Prozess richtungsweisend für zukünftige, ähnliche Fälle ist. Denn eigentlich müsste uns so ein Prozess millionenschwere Celebrities wenig interessieren. Doch er ist ein Symbol für das weltweite Rollback gegenüber Frauen und LGBTIA-Personen. Nicht nur der Prozess selber und das gefällte Urteil, auch die Reaktionen insbesondere im Netz zeichnen ein klares Bild.

Hintergründe des Prozesses

n dem Prozess selber ging es nicht, wie von vielen angenommen, um die Frage, wer in der Beziehung von Heard und Depp mehr Gewalt ausgeübt hat und den manipulativeren Part ausgeführt hat, sondern darum, ob Depp überhaupt jemals Gewalt gegen Heard ausgeübt hat. Diese hatte das nämlich in einem anonymen Artikel geschrieben, welcher 2018 in der Washington Post veröffentlicht wurde. Daraufhin verklagte Depp die britische Boulevardzeitung „The Sun“, welche ihn in einem Artikel bzgl. Heards anonymen Berichts als „Frauenschläger“ bezeichnete. Im damaligen (britischen) Gerichtsprozess wurde Depp in 12 von 14 Anklagepunkten der häuslichen Gewalt schuldig gesprochen. Da er damals aber nicht Heard sondern nur die Zeitung verklagte, konnte er in diesem Jahr gegen sie in den USA vor Gericht ziehen.

Ein fairer Prozess?

Wenngleich die Jury in den USA von der Öffentlichkeit abgeschirmt wird, um dafür zu sorgen, dass keine Meinungsbildung manipuliert werden kann, wurde bereits vor Prozessbeginn mächtig Stimmung im Netz gegen Amber Heard gemacht. Die „crazy ex Girlfriend“-Rhetorik wurde immer wieder ausgegraben. Beweise von Heard wurden von den Richtern nicht zugelassen (bspw. medizinische Dokumente, die ihre Verletzungen über einen Zeitraum seit 2012 dokumentieren) und trotz ihres Erfolgs und Status‘ zeichnet sich ganz klar ab, dass sie weniger Geld für ihr Anwaltsteam locker machen konnte. Auch wurde sie bereits mit Morddrohungen bombardiert und wir können uns sicher sein, dass das mit jedem passiert, der für sie aussagt, de facto zum Beispiel mit ihrer Schwester. Auf der anderen Seite haben wir Johnnys Zeugen, viele aus seinem beruflichen Umfeld, die natürlich ihre Karriere in Hollywood nicht gefährden wollen. Des Weiteren darf der Altersunterschied nicht außenvorgelassen werden, Amber war Mitte 20 zu Beginn ihrer Beziehung, Johnny bereits Ende 40. Ebenso war er stark drogen- und alkoholabhängig, wobei der Rausch durchaus zu Gewaltexzessen führen kann, an die man sich möglicherweise nicht mehr erinnern kann. Es existieren Mitschnitte, aber auch die können natürlich manipuliert sein, nicht per se durch den Schnitt, aber wenn eine Partei sich zur Aufnahme entscheidet und die andere nicht davon weiß, kann sich die Person, die aufnimmt, anders verhalten und somit in ein besseres Licht rücken. Hinzu kommt, dass Johnny Depp mit anderen mutmaßlichen Tätern gut befreundet ist, bspw. Marilyn Manson und Roman Polanski. Ebenso wurden Chat-Verläufe mit Vergewaltigungs- und Mordfantasien von Depp gegenüber Amber Heard öffentlich, welche auf eine misogyne Grundeinstellung schließen lassen können.

Im Prozess konnte geklärt werden, dass auch Amber gewalttätig gegenüber Johnny war, aber, was viele nicht sehen wollen, die Frage des Machtverhältnisses innerhalb der Beziehung und vor allem der Kontext für die Gewalt bleibt ungeklärt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass bei Betroffenen häuslicher Gewalt auch mal alle Stricke reißen nach jahrelangem Missbrauch und sie wortwörtlich zurückschlagen. Das wird auch als reactive abuse bezeichnet, ist ein natürlicher Verteidigungsmechanismus des Körpers auf Situationen, die als lebensbedrohlich wahrgenommen werden (Stichwort fight or flight) und ist schon bei vielen Betroffenen aufgetreten. Ob das in diesem Fall so war, können wir aus unserer aktuellen Position heraus nicht bewerten. Aber auch ein bürgerliches Gericht kann und will diese Frage nicht ausdifferenzieren. Dafür müssten nämlich noch weitere gesellschaftliche Hintergründe mit einbezogen werden: das Patriarchat.

Was hat das Patriarchat jetzt damit zu tun?

Das Patriarchat und die Klassengesellschaft gehen Hand in Hand und prägen unser Leben. Es sorgt für die Unterdrückung von Frauen und queeren Personen, drückt uns in Rollenbilder, um die bürgerliche Familie und somit die Reproduktionsarbeit ins Private zu drängen und aufrecht zu erhalten. Und es macht es Betroffenen geschlechtsspezifischer Gewalt besonders schwer, gegen die Täter vorzugehen. Besonders stark zeigt sich dies in Fällen sexualisierter Gewalt, wo die Dunkelziffer und die verurteilten Täter unfassbar stark auseinander gehen. Aber auch die Reaktion der Öffentlichkeit hat etwas damit zu tun. Im Fall Heard vs. Depp wurde Amber Heard vorgeworfen, sich nicht wie ein richtiges Opfer häuslicher Gewalt zu verhalten, sie habe geschauspielert. Allein die Vorstellung, ein Opfer patriarchaler Gewalt müsse sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, ist zutiefst misogyn. Hinzu kommt die Hetze, welcher sie sich ausliefern muss. Wie schon so oft bewiesen, bekommen Täter in Hollywood nicht einmal ansatzweise so viel Hass ab, wenn überhaupt. Aber auf Plattformen wie Tiktok wurde sich über sie und ihre Aussagen, in welcher sie auf potentiell retraumatisierende Art und Weise den Missbrauch schildert, wortwörtlich das Maul zerrissen. Die Kommentare bezogen sich aber nicht nur darauf, sondern auch auf ihr Aussehen, ihre schauspielerische Tätigkeit, ihre mentale Gesundheit und außerdem ignoriert der wütende Internet-Mob, dass auch Depp in diesem Prozess ebenfalls schuldig gesprochen wurde.

Mentoo oder Metoo?

Johnny Depp gilt aktuell als Paradebeispiel für männliche Betroffene häuslicher Gewalt. Es ist richtig und wichtig, dass auch Feminst_Innen sich einsetzen müssen für Männer, die Gewalt in Beziehungen erleben. Dass diese oft belächelt werden, weil sich so ein „richtiger Mann“ nicht verhalten würde, ist ein Fakt und zu kritisieren (und ebenfalls in den patriarchalen Rollenbildern verwurzelt). Doch trotzdem sind Frauen in heterosexuellen Beziehungen viel öfter Gewalt (und besonders schwerwiegender und vor allem oftmals auch tödlicher Gewalt) von Männern ausgesetzt und der Gerichtsprozess führt nicht dazu, dass männliche Opfer im großen Rahmen gestärkt werden, sondern vor allem, dass männliche Täter ihre weiblichen Opfer besser zum Schweigen bringen können. Incels pochen bereits darauf, wie großartig der Ausgang doch sei, dass sie jetzt ein Paradebeispiel haben, welches beweist, dass Frauen sich ihren Missbrauch für ein bisschen Aufmerksamkeit, Erfolg und Geld einfach nur ausdenken würden. Marilyn Manson zum Beispiel plant nun ebenfalls, seine Ex Rachel Wood wegen Verleumdung zu verklagen. Aber es bleibt nicht bei den prominenten Fällen. Fakt ist: es gibt jetzt einen Präzedenzfall, bei dem selbst die Aussage, man habe häusliche und/ oder sexualisierte Gewalt erfahren, ohne den Namen des Täters zu nennen, schon als Verleumdung und somit Straftat gilt. Leider ist das Urteil jedoch nicht verwunderlich, denn Rechte von Frauen und LGBTIA- Personen werden in den letzten Jahren immer wieder angegriffen, erkämpfte Rechte zurückgenommen – wie aktuell auch ebenfalls in den USA: die Frage nach der körperlichen Selbstbestimmung bezüglich Verhütung und Abtreibung. Das Rollback kommt nicht einfach so, es ist eng verwurzelt mit der Wirtschaftskrise, in welcher wir uns aktuell wieder einmal befinden.

Unsere Perspektive

Wir glauben nicht, dass der bürgerliche Staat in der Lage ist, Fälle von häuslicher und sexualisierter Gewalt angemessen aufzuklären, daher fordern wir:

  • Unabhängige Gremien bestehend aus Arbeiter_Innen, gesellschaftlich Unterdrückten und Jugendlichen zur Aufklärung dieser Taten und zur Entscheidung über Konsequenzen und mögliche Aufarbeitungen
  • ständige Thematisierung von Konsens und Aufklärung über geschlechtsspezifische Gewalt in Schule und der gesamten Gesellschaft
  • Ausbau von Beratungsstellen und Zufluchtsorten für Betroffene von Beziehungsgewalt
  • Aufbau von Selbstverteidigungskomitees für FLINTA

Zwei längere Texte, in welchen wir uns ausführlich damit beschäftigen, wie wir gegen sexualisierte Gewalt kämpfen wollen, findet ihr hier:




#LinkeMeToo: Aus den Fehlern lernen!

Jaqueline Katherina Singh, Infomail 1185, 18. April 2022

Zuerst veröffentlich unter: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/18/linkemetoo-aus-den-fehlern-lernen/

Der SPIEGEL-Artikel „Entweder wir brechen das jetzt, oder die Partei bricht“ und unzählige Tweets unter dem Hashtag #LinkeMeToo sorgen für Aufregung. Es wird von Missbrauchsvorfällen berichtet innerhalb des hessischen Landesverbandes der Linkspartei sowie der Linksjugend. Unter den zehn Betroffenen, mit denen der SPIEGEL gesprochen hat, ist auch eine Person, die zum Zeitpunkt der Vorfälle 2017/18 minderjährig war. Besonders sticht dies heraus, da mehrere Betroffene sagen, dass führende Mitglieder von den Vorfällen gewusst, aber nichts getan hätten – darunter auch Janine Wissler, aktuelle Bundesvorsitzende der Linkspartei. Ein paar Worte zur beginnenden Debatte.

Sexualisierte Gewalt in linken Strukturen

Zuerst muss klar gesagt werden: Lasst uns bitte nicht schockiert tun! Sexismus und sexualisierte Gewalt sind niemals „das Problem der anderen“. Sie sind Alltag in der gesamten Gesellschaft. Politik und linke Strukturen bilden keine Ausnahme. Sie sind keine Inseln der Freiheit, wo alle unbefangen miteinander leben können.
Das ist auch logisch. Wir alle sind von der bürgerlichen Gesellschaft geprägt, verinnerlichen dementsprechend Rollenbilder sowie Stereotype, die nicht einfach so verschwinden. Gerade in großen Organisationen sind unterschiedliche Wissens- und Bewusstseinsstände normal, auch, weil neue und neu politisierte Menschen hinzukommen. Entsetzt zu sein, dass „so etwas überhaupt jemals passieren konnte“, ist Teil des Problems. Es geht davon aus, dass es sichere Räume geben könne, aus denen ein für alle Mal rückständige Ideen und Verhalten verbannt sein könnten. Das gibt es leider nicht. Gleichzeitig sorgt diese Annahme auch dafür, dass gewaltausübende Personen (Täter:innen) es leichter haben, sich aus der Anklage zu ziehen. Denn wenn es so unglaublich, so unfassbar ist, dass Gewalt stattgefunden hat, ist es auch leichter, Betroffenen nicht zu glauben, zu zweifeln und keine Schritte zur Klärung einzuleiten.

Lasst uns deswegen sagen: Sexismus und sexualisierte Gewalt sind Probleme der Gesellschaft und deswegen ist die Linke nicht frei davon. Das senkt die Hemmschwelle für Betroffene, sich zu erkennen zu geben, und bricht mit der Schweigekultur. Die Frage ist nicht, ob es die Übergriffe überhaupt gibt, sondern welche Strukturen aufgebaut werden, um dagegen anzugehen.

Stellungnahmen und Konsequenzen

Der hessische Landesvorstand hat am 15. April eine kurze Stellungnahme herausgegeben. In dieser wird davon gesprochen, dass dieser Ende November 2021 Kenntnis erlangte und begonnen hat, auf allen Ebenen das Geschehene aufzuarbeiten. Perspektivisch sollen Vertrauenspersonen eingesetzt sowie ein Workshop zur Sexismussensibilisierung organisiert werden. Im Statement der Bundespartei, ebenso vom 15. April, wird klar gemacht: „Patriarchale Machtstrukturen finden sich überall in der Gesellschaft. DIE LINKE ist davon nicht ausgenommen.“ Ebenso wird festgehalten, dass der Parteivorstand im Oktober 2021 die Vertrauensgruppe innerhalb des Parteivorstandes gegründet hat, um Menschen, die innerhalb der LINKEN Erfahrungen mit Sexismus, Übergriffen oder Diskriminierung machen, beratend zur Seite zu stehen. Im SPIEGEL wird dies zwar erwähnt, näher beleuchtet wird die Arbeitsweise und Zusammensetzung dieses Gremiums aber nicht. In den Fokus gestellt wird dafür ein Handout zu den „Vorwürfen sexualisierter Gewalt“ – geschrieben von einem mutmaßlichen Täter.

Es ist gut, dass es die Schritte gegeben hat. Der Kritikpunkt, der intern aufgearbeitet werden muss, lautet: Warum braucht es für die Einrichtung solcher Dinge erst den öffentlichen Druck von Betroffenen? Welche Annahmen hat es gegeben, dass diese nicht schon früher eingeleitet wurden?

Als Antwort auf die Artikel hat auch der Jugendverband einen offenen Brief verfasst, den bisher 500 Mitglieder unterschrieben haben. In diesem werden u. a. gefordert:

  • Transparente und lückenlose Aufklärung aller Vorfälle.
  • Verpflichtende Awarenessstrukturen, deren Mitglieder nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Partei stehen oder Abgeordnete sind.
  • Verpflichtende Seminare zum Thema Awareness und Feminismus für Funktionär:innen und Angestellte.
  • Finanzielle Unterstützung durch DIE LINKE für alle Betroffenen, wenn sie juristische oder auch psychologische Beratung und Hilfe in Anspruch nehmen.
  • Eine Vertrauensperson für Mitarbeitende von Partei, Mandatsträger:innen und Fraktionen, die von Sexismus, verbalen Übergriffen und sexualisierter Gewalt betroffen sind.

Dies sind unterstützenswerte Forderungen. Die Aufarbeitung scheint begonnen zu haben und die Forderung nach Strukturen, die nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Funktionen stehen, ist enorm wichtig. Auf weitere Punkte, die sinnvoll sein könnten, gehen wir im späteren Teil des Artikels ein. Zuerst wollen wir uns jedoch mit einer anderen Frage beschäftigen:

Rücktritt als Lösung?

Ebenso wird in dem offenen Brief auch der Rücktritt aller beteiligten Personen gefordert – ob sie nun selber Täter:in sind oder die Taten anderer gedeckt haben. Dazu soll an der Stelle gesagt werden: Ein Wechsel von Personen bedeutet nicht immer, dass der Umgang sich verbessert und nachhaltige Strukturen geschaffen werden. Vielmehr kommt es auf Einsicht an. Damit ist nicht gemeint, dass alle, die jetzt aufschreien, aus dem Schneider sind. Das heißt: Jene, die beiseite treten, die offen Fehler eingestehen, jene, die den Raum für Aufklärung freimachen, sollten bedacht werden – denn es ist ein Zeichen, mit den Strukturen brechen zu wollen. So hat Janine Wissler selbst eine Stellungnahme verfasst, in der sie zu den aufgeworfenen Fragen des SPIEGEL Stellung bezieht und klarmacht, dass sie nicht wusste, dass es sich für die Betroffene um eine Grenzüberschreitung gehandelt hat. Ob diese ausreichend ist oder nicht, sollte eine Kommission entscheiden – nicht nur bei ihr, sondern allen, die involviert waren. Besagte Kommission sollte aus FLINTA-Mitgliedern bestehen, die unabhängig vom Parteiapparat sind und die verschiedenen politischen Strömungen der Partei repräsentieren. Auch kann so verhindert werden, dass solche Fälle für politische Machtkämpfe um Posten benutzt werden können.
Aber Achtung: Das Problem bei Awarenessstrukturen und Meldestellen liegt immer darin, dass diese nur so effektiv sind wie das Bewusstsein der Leute dort selber. Denn ein Problem, warum Diskriminierungen totgeschwiegen werden und man auf soviel Widerstand bei der Aufklärung stößt, sind die unklaren Konsequenzen. Wer Angst hat, für jeden Fehler abgestraft zu werden, wird das Beste versuchen, diese Fehler unter den Teppich zu kehren, insbesondere wenn Einkommen und Karriere davon abhängig sind. Das ist an der Stelle kein Appell für einen Freifahrtschein für Täter:innen und jene, die sie schützen. Es ist ein Appell dafür, künftig mit den Konzepten von Transformative Justice zu arbeiten, wo es Sinn macht.

Der Kampf für Verbesserung ist ein gesamtgesellschaftlicher

Viele Dinge müssen geschehen. Die Diskussion in DIE LINKE und [‚solid| könnte so einen Beitrag leisten im Kampf gegen Sexismus und Gewalt in der Linken und in der Arbeiter:innenbewegung. Aber wie? Gesamtgesellschaftlich brauchen wir einen anderen Umgang mit sexualisierter Gewalt. Zuerst braucht es eine politische Kampagne, die konkrete Verbesserungen erkämpft. Forderungen, die dringend notwendig sind:

1. Flächendeckende Meldestellen für sexuelle Gewalt!

Für flächendeckende Anlaufstellen zur Meldung von sexueller Gewalt, die ebenso, wenn gewünscht, kostenlose psychologische Beratung anbieten. Dies muss damit verbunden werden, dass es breite Aufklärungskampagnen bezüglich Gewalt an Frauen an Schulen, Universitäten und in Betrieben gibt.

2. Finanzielle Unterstützung für Betroffene!

Im Falle eines konkreten gerichtlichen Prozesses braucht es besondere Unterstützung für die Betroffenen. Dabei reden wir nicht nur von psychologischer, sondern kostenloser Rechtsberatung und Übernahme der Prozesskosten, unabhängig von dessen Ausgang. Darüber hinaus bedarf es längerfristige Hilfeangebote für Betroffene von sexueller Gewalt, finanziert durch den Staat. Solche Verfahren sind keine Kleinigkeit. Deswegen bedarf es des Rechts auf mehr bezahlte Freistellung, zusätzliche Urlaubstage sowie eine Mindestsicherung, angepasst an die Inflation! Dies ist notwendig, um die ökonomische Grundsicherung für Betroffene zu gewährleisten, ihnen überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich so einem aufreibenden Prozess zu stellen.

3. Öffentliche Untersuchungen und Verfahren unter Kontrolle der Betroffenen und der Arbeiter:innenbewegung!

Die ersten beiden Forderungen wären im Hier und Jetzt einfach umzusetzen. Die dritte ist nicht so einfach, aber die substantiellste. Solange der bürgerliche Polizei- und Justizapparat die Untersuchungen und Rechtsprechung beherrscht, werden Verbesserungen immer wieder an diesen Strukturen scheitern oder bestenfalls auf halbem Wege steckenbleiben. Es braucht daher vom Staatsapparat unabhängige Untersuchungskommissionen sowie von den Betroffenen gewählte Richter:innen. Diese sollten mehrheitlich aus Frauen und geschlechtlich Unterdrückten zusammengesetzt sein.

Ebenso sollten sie für den Umgang mit Betroffenen von Gewalt sensibilisiert und geschult worden sein. So kann man gewährleisten, dass Entscheidungen hinterfragt werden und nicht abhängig von der männlichen Sozialisierung der Richtenden und Untersuchenden sind. Im Zuge dessen könnte auch das Sexualstrafrecht überarbeitet werden und festhalten, dass das Konsensprinzip „Nur Ja heißt Ja“ eine sinnvolle Grundlage wäre. Warum? Dies liegt dem Ansatz zu Grunde, dass Polizei und Staat zum einen kein materielles Interesse an der Verfolgung solcher Vorwürfe hegen. Zum anderen sind diese Formen wesentlich fortschrittlicher, als wenn jede/r für sich alleine bestimmt, was richtig ist und nicht. Ausführlicher leiten wir das in diesem Artikel her: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/17/kampf-gegen-sexuelle-gewalt-abseits-des-staates-gegen-oder-mit-ihm/

Und in linken Strukturen?

Der Kampf für so eine Kampagne ist essentiell. Denn linke Strukturen sind aus sich heraus nicht nur meist zu schwach, dauerhafte und professionelle Hilfe für Betroffene zu gewährleisten – was es diesen wiederum erschwert, wieder in politischen Zusammenhängen aktiv zu werden. Sie können und sollen auch keinen Ersatz die Herstellung allgemeiner gesellschaftlicher Rechte im Kampf gegen Unterdrückung bilden. Doch das heißt nicht, dass man bis dahin nichts tun kann. Präventionsarbeit durch beispielsweise regelmäßige Debatten über sexuellen Konsens sind ein Beispiel – unabhängig davon, ob es Übergriffe gegeben hat oder nicht. Dabei braucht es das Verständnis, insbesondere für männlich Sozialisierte, dass ein Ausbleiben eines Ja keine Zustimmung ist. Nur Ja heißt Ja und aktives Nachfragen ist nicht nur nett, sondern notwendig. Zudem braucht es eine Sensibilisierung für den Umgang mit Machtverhältnissen wie Alter, Herkunft oder auch Stellung in der eigenen Gruppe. Für weiblich sozialisierte Menschen macht es Sinn, sich dessen bewusst(er) zu werden und zu lernen, wie die eigenen Bedürfnisse artikuliert werden können. Darüber hinaus braucht es eigene Treffen – Caucusse – für gesellschaftlich diskriminierte Gruppen, die sich über Missstände innerhalb von linken Strukturen austauschen und Veränderungen einfordern.

DIE LINKE hat sicher Mist gebaut. Aber sie hat die Chance, ja die Pflicht, ihre Politik zu ändern. Sie verfügt über die Ressourcen, eine Kampagne zu starten, wie sie hier umrissen ist. Das würde nicht nur den Betroffenen am ehesten gerecht werden. Es kann auch dafür sorgen, dass DIE LINKE mal wieder irgendeinen ernstzunehmenden Kampf führt, was zur Zeit sicher keine/r behaupten kann.




deutschrapmetoo – Wird Hip Hop jetzt feministisch?

von Sani Meier

Nachdem Nika Irani dieses Jahr auf Instagram ihr Vergewaltigungsouting gegen den Rapper Samra öffentlich gemacht hat, ist in der deutschen Hip-Hop-Szene eine längst überfällige Debatte über sexualisierte Gewalt ausgebrochen, die so viel Aufmerksamkeit und Kontroversen erregt, wie nie zuvor. Mittlerweile äußern sich immer mehr Frauen mit ähnlichen Erfahrungen, sodass sich bereits nach kurzer Zeit die Initiative „deutschrapmetoo“ gründete, welche die Berichte Betroffener veröffentlicht und sie bei der Aufarbeitung unterstützt. Es zeichnet sich mittlerweile ab, wie tief verankert sexualisierte Gewalt gegen Fans und Kolleginnen ist, aber auch, wie effektiv Täter durch Managements und Labels geschützt werden. Während viele Künstler vor allem damit beschäftigt sind, Samras Unschuld zu verteidigen, wird innerhalb der Szene darüber diskutiert, wie es überhaupt so weit kommen konnte: Sind sexistische und gewaltverherrlichende Texte das Problem, Plattenlabels und Managements, die diese tolerieren oder ist Gewalt am Ende einfach Teil der Hip-Hop-Kultur?

Nikas Entscheidung, sich offen zu diesem bisher tabuisierten Thema zu positionieren, ist extrem mutig und hat weitreichende Folgen mit sich gebracht. Während sie nun von Samras Anwält_Innen verklagt und von seinen Fans auf der Straße beleidigt und geschlagen wird, muss sie sich fast täglich Diffamierungsversuchen entgegenstellen, die ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen sollen. Sei dies aufgrund der Tatsache, dass sie als Erotikmodel tätig ist und damit für viele Menschen gar nicht erst in der Lage sei, sexuelle Gewalt zu erfahren, oder aber, weil sie aus Misstrauen gegenüber der Polizei und Justiz zu Beginn auf einen Strafprozess verzichten wollte. Dass in Deutschland von 100 Vergewaltigungen im Schnitt nur 1 zu einer Verurteilung führt und dieser Prozess für Betroffene extrem retraumatisierend sein kann, wird dabei gerne ignoriert. Diese Reaktionen sind leider nicht überraschend und spiegeln wider welchen Widerständen Betroffene von sexuellen Übergriffen häufig ausgesetzt sind – vor allem wenn sie gegen weitaus mächtigere Täter aussagen.

Gleichzeitig hat sie damit aber auch den Startschuss für eine Debatte gegeben, die den Diskurs über Sexismus innerhalb der Szene neu bestimmen könnte. Übergriffe öffentlich zu machen, ist ein sinnvoller und oft notwendiger erster Schritt. Auch muss sich an den Machtstrukturen innerhalb der Musikindustrie einiges ändern, sodass sexistische und übergriffige Künstler in der Zukunft keine Bühne mehr bekommen und ihre Managements sie nicht weiter schützen können. Gleichzeitig ist es aber unbedingt notwendig, zu erkennen, dass Sexismus und sexualisierte Gewalt keine Probleme der Hip-Hop-Szene an sich sind, sondern strukturelle Unterdrückungsmechanismen, die wir ebenso in jedem anderen Bereich unserer Gesellschaft wiederfinden und bekämpfen müssen.

Die Unterdrückung von Frauen entspringt der geschlechtlichen Arbeitsteilung im Kapitalismus, nach der Frauen sich vor allem der unbezahlten Reproduktionsarbeit im Rahmen der Familie widmen sollen (Kindererziehung, Kochen, Putzen, emotionale Fürsorge etc.), damit den Kapitalist_Innen immer genug Arbeitskräfte zur Verfügung stehen und die Lohnkosten möglichst gering gehalten werden können, da diese Arbeit im Privaten nicht entlohnt wird. Der daraus resultierende Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe und die finanzielle Abhängigkeit von Männern haben ein Unterdrückungsverhältnis etabliert, das sich bis heute aufrechterhält und auch im Deutschrap gewaltvoll reproduziert. Dementsprechend wird sich dieses auch nicht auflösen, wenn allein mehr Frauen im Vorstand von Labels wie Universal sitzen oder Lyrics weniger sexistisch sind. Narrative, die dieses Problem allein auf die Hip-Hop-Szene begrenzen, reproduzieren letztendlich rassistische und klassistische Klischees, da sie meist migrantische und nicht-akademische Künstler zum Hauptakteur der Gewalt erklären, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse zu kritisieren, durch welche sie sozialisiert wurden und welche Frauenhass kommerziell rentabel machen. Victim Blaming oder fehlendes Einfordern von aktivem Konsens (Ja heißt Ja) sind Probleme, die sich durch alle Schichten unserer Gesellschaft ziehen und z.B. durch Medien wie kommerzielle Pornographie oder reaktionäre Sexualerziehung tief in ihr verankert sind. Auch ist es eben kein Zufall, dass sexistische Texte von den Fans gefeiert werden, wenn sie im Endeffekt (häufig überspitzt) die gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegeln, die im Kapitalismus unsere Vorstellung von Geschlecht und Sex prägen. Um die eben erklärte Hierarchie zu festigen, hilft es natürlich, wenn Männer sich mit dominanten und mächtigen Stereotypen identifizieren. Dieses Phänomen hat aber nicht Hip Hop oder die Kultur an sich erfunden, sondern die kapitalistische Klassengesellschaft und die sogenannte „rape culture“ existierte auch schon vor frauenverachtender Musik – auch wenn wir es unter keinen Umständen abstreiten, dass diese die Entwicklung von v.a. Jugendlichen negativ beeinflussen und sexistische Vorurteile manifestieren kann. Um ein Gegengewicht dazu zu etablieren, könnte ein erster Schritt in die richtige Richtung hier bereits in den Schulen gemacht werden, z.B. durch umfassende Aufklärung über Strukturen und Ursachen sexueller Gewalt und die Integration von Konsens-Workshops in den Sexualkundeunterricht.

Dass Hip Hop wieder zu seinen Ursprüngen als Sprachrohr gesellschaftlich unterdrückter Gruppen zurückkehrt, ist eine Forderung, die nicht isoliert vom Rest der Gesellschaft und vom kapitalistischen System realisiert werden kann. Solange der Markt vom Profit kontrolliert wird und Kapitalist_Innen auf diesen angewiesen sind, wird Gewalt gegen Frauen und andere Unterdrückte weiter rentabel bleiben und deshalb auch nicht aufhören. Da dieses System nicht nur Frauen unterdrückt, sondern auch alle Menschen jenseits der heteronormativen und binären Geschlechterordnung, xMigrant_Innen, Arbeiter_Innen, Jugendliche u.v.m., ist es notwendig, unsere Kämpfe zu verbinden und dieses System an seiner Wurzel zu bekämpfen. Nur eine Bewegung, die den Kapitalismus selbst angreift, kann diese Unterdrückung wirklich überwinden.

Lasst uns also gemeinsam kämpfen für eine Welt, die an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet ist und in der wir Kunst, wie die Musik, selbst aktiv mitgestalten und organisieren, anstatt sie dem Einfluss einiger weniger Konzerne zu überlassen! Für eine Sexualerziehung, die alle mit einschließt, safe spaces ermöglicht und nach den Bedürfnissen der Jugendlichen gestaltet wird! Für eine Gesellschaft, in der Gewalt gegen Frauen & andere Unterdrückte bekämpft und nicht vermarktet wird!




Vater, Mutter, Kind – Bürgerliche Familie

Von Janeck
Peschel

Kennst
du das? Mama macht die Wäsche, kocht, hält die Wohnung sauber und
stemmt nebenbei noch ihre berufliche Karriere. Deine Eltern sagen dir
mit 14 du sollst 16 werden, damit sie es dir erlauben, wenn du 16
bist, 18 und wenn du 18 bist, sobald du deine Füße nicht mehr unter
ihrem Tisch hast. Ebenso wie Sätze, wie: „bist du nicht langsam in
dem Alter, wo du eine Familie gründen solltest?“ oder „Du bist
bisexuell? Ich verstehe das voll, in deinem Alter will man sich auch
mal ausprobieren“. Das alles ist bürgerliche Familie, das alles
ist das patriarchalische Familienbild, in welchem eine klare
Rollenverteilung herrscht und mit ihrer Ideologie unser Leben prägt.
Familie bedeutet in diesem System nicht nur Fürsorge,
Verbindlichkeit und Solidarität, sondern auch Zwang und
Unterdrückung. In diesem Artikel werde ich mich der Jugend- sowie
Frauenunterdrückung annehmen und klären, woher diese kommt und wie
sie sich äußert.

Frauenunterdrückung in der
bürgerlichen Familie

Ich werde im Folgenden
über die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau sprechen, wozu eine
Sache noch angemerkt ist: In welche Rolle wir gedrängt werden, hängt
letzten Endes von unserer Sozialisation ab, also wie wir erzogen
werden, und was wir tagtäglich um uns herum erleben. Diese muss
nicht mit dem biologischen und erst recht nicht mit dem empfundenen
Geschlecht zusammenfallen. Dennoch existiert diese binäre
gesellschaftliche Zuschreibung und um dessen Wirkung beschreiben zu
können, verwende ich dennoch die Begriffe Frau und Mann.

Frauen- und
Jugendunterdrückung sind ein strukturelles Problem in der
kapitalistischen Gesellschaft. Betrachten wir dazu einmal das Problem
mit der Hausarbeit, welche den Frauen in der bürgerlichen Familie
angehangen wird. Ein Mann, der weiß, wie man eine Waschmaschine
bedient oder in Elternzeit geht, ist auch in der heutigen BRD eher
noch ein Randphänomen als Standardpartner. Denn diese Unterdrückung
beschränkte sich keinesfalls auf vergangene Zeiten, wie die 50er und
60er, in denen es der Ehefrau nicht einmal erlaubt war, ohne die
Zustimmung des Ehemanns arbeiten zu gehen, geschweige denn ein
eigenes Konto zu besitzen. Sie ist trotz gewisser feministischer
Errungenschaften nach wie vor Teil dieser Gesellschaft, fußend auf
kapitalistischer Wirtschaftsweise und der sich daraus ergebenden
Ideologie. Frauen sind nunmehr durch Beruf und Hausarbeit doppelt
belastet, wobei ihnen oftmals selbst in aufgeklärten Haushalten nur
spärlich Arbeit abgenommen wird, indem z.B. der Gender Pay Gap dafür
sorgt, dass es finanziell mehr Sinn ergibt, dass die Frau den
Großteil der Hausarbeit übernimmt.

Sowohl die Monogamie als
auch die Norm der heterosexuellen Beziehung beruht auf derselben
Grundlage der Arbeitsteilung. Auch wenn (zumindest in der BRD)
„Zuwiderhandlungen“ nicht bestraft werden, läuft das bürgerliche
Gesetz auf die bürgerliche Kleinfamilie hinaus und begünstigt sie
deutlich über alternative Lebensformen, beispielsweise beim
Sorgerecht. Indem auch auf ideologischer Ebene die „klassischen
Familie“ als gesellschaftliche Norm festgelegt wird, werden
jegliche Abweichungen im besten Fall unsichtbar gemacht, im
schlimmsten Fall von Konservativen bis Rechten angegriffen.

Stellt sich nun also die
große Frage nach dem „Warum“? Wozu dient die Frauenunterdrückung
im Kapitalismus? Was ist ihr tieferer Sinn? Um zu klären, warum sich
ausgerechnet die Unterdrückung der Frau durch den Mann ergibt,
empfehle ich das Werk „Ursprung der Familie, des Staats und des
Privateigentums zu lesen“ von Friedrich Engels. In diesem Werk wird
der Ursprung von Sexismus genauer beleuchtet, wofür in diesem
Artikel kein Platz bleibt. Dafür möchte ich aber darauf eingehen,
wie der Kapitalismus und seine Ausbeutungsform der Lohnarbeit seinen
Nutzen aus Sexismus, zieht. Modellhaft ist das leicht erklärt: Der
Mann muss seine Arbeitskraft an die Kapitalist_Innen verkaufen und um
die Kraft dafür zu haben, sprich um sich reproduzieren (seine Kraft
wiederherstellen) zu können, braucht es die Frau, welche kostenlos
die Hausarbeit übernimmt und die Kinder umsorgt. Der Kapitalismus
braucht diese klare aufgabenbezogene Rollenverteilung, um einerseits
den Nachwuchs neuer Arbeitskräfte und andererseits die Reproduktion
und somit die Wiederverwertbarkeit der Arbeitskraft zu garantieren,
ohne dass dabei die Hausarbeit ebenfalls entlohnt wird, also ohne
selbst Profitverluste dadurch machen zu müssen. Diese
Rollenverteilung ist heutzutage keinesfalls gelöst, da sie sich
jeher ideologisch fortpflanzt und ihren Nutzen findet.

Jugendunterdrückung

Ebenso wird die Jugend in
dem bürgerlichen Familienbild stark benachteiligt. Finanzielle
Abhängigkeit von den Eltern und rechtliche Bevormundung sind hier
die Hauptproblempunkte. Als Jugendliche_r kann man sich meist bereits
eine Meinung bilden und eigene Ziele im Leben setzen, ist aber an die
Eltern gebunden. Wohnort, Kleidungsstil und generelle Lebensplanung
sind in vielen Fällen vom elterlichen Reichtum abhängig. Die dazu
kommende rechtliche Benachteiligung, wie das Verbot, Verträge unter
18 Jahren abschließen zu können, verschafft den Eltern gegenüber
ihren Kindern ein starkes Machtverhältnis, was nicht allzu selten in
Manipulation endet.

Dass Jugendlichen nicht
alle Rechte zustehen, weil sie noch nicht arbeiten, wird zwar oft als
Argument angeführt, ist aber etwas zu kurz gedacht: Einerseits
werden Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt ebenfalls diskriminiert und
nicht vollwertig für ihre Tätigkeiten bezahlt (es gilt in der
Ausbildung oder unter 18 kein Mindestlohn). Anderseits sollte die
eigene Persönlichkeitsentwicklung nicht von der eigenen Arbeitskraft
und dem finanziellen Stand abhängen. Aber genau dieses Bild einer
Gesellschaft, welches auf Leistungsdruck aufbaut, führt zu einer
Herabwürdigung derer, welche noch nicht in den Arbeitsprozess
eingebunden sind, als nutzlose und unselbständige. Vielmehr sollte
das Ideal der Solidarität und größtmöglichen Entfaltung aller
gelten!

Was ist der Sinn der
bürgerlichen Familie und was sind ihre Auswüchse?

Der Sinn ist also die
Reproduktion von Arbeitskraft und Erziehung von neuen Arbeitskräften
ins Private zu verlagern, damit das Kapital Kosten sparen kann.
Weiterhin werden Jugendliche und Kinder in so einem Familiensystem
schon früh zu Gehorsam und Unterordnung erzogen, was sie später
ihrer/m Kapitalist_In zeigen sollen. Außerdem dient die bürgerliche
Familie in der herrschenden Klasse immer noch dem, was die monogame
Familie seit ihrer Entstehung in jeder Klassengesellschaft leisten
sollte: der Vererbung von Privateigentum innerhalb genetischer
Abstammungslinien, also dem Erhalt der herrschenden Klasse als
Besitzende.

Somit schafft es die
bürgerliche Familie ein klares Rollenbild zu vermitteln und dem Mann
eine höhere Stellung zu verleihen, gemäß dem patriarchalen Aufbau
dieses Familiensystems. Alles zu dem Zweck, eine geordnete
Arbeitsteilung im Rahmen der Familie zu haben, damit der Fortbestand
des Systems und der kapitalistischen Ausbeutung auch durch die
Familie geschützt wird. Die Bevorteilung des Mannes, welche sich vor
allem finanziell stützt, setzt ihn als Familienoberhaupt ein, sodass
dieser tonangebend gegenüber Frau und Kindern wird. Nicht selten
mündet dieses strukturelle hervorgebrachte Privilegium auch in
häuslicher Gewalt, worunter Frauen und Jugendliche jahrelang leiden
und tiefe psychische Verletzungen davontragen können. Gerade durch
den Lockdown hat diese nochmal erheblich zugenommen, da die Familie
nunmehr den einzigen Rückzugsort ohne Einschränkungen darstellt.
Dabei stellt der Lockdown aber nicht die Hauptursache dar, sondern
verschärft, was im System bereits grundlegend vorzufinden ist.

Was können wir
dagegen tun?

Kurzum, die bürgerliche
Familie ist patriarchal, diskriminierend gegenüber Frauen,
Jugendliche und den LGBTIAQ*-Menschen; sie ist aber auch überwindbar.
Ein Lösungsansatz für die Enthebung des Patriarchats ist unter
anderem die Vergesellschaftung der Hausarbeit, sodass dieses Problem
der Reproduktion ein gesellschaftliches wird, welches nicht durch den
einzelnen Hausstand geregelt werden muss. Hierbei muss es mehr
Möglichkeiten im öffentlichen Raum geben, um anderen Menschen bei
ihren alltäglichen Arbeiten zu helfen, wie kostenlose Kitas, Mensen
und Wäschereien. Am Rande bemerkt ist dies sogar
ressourcensparender, da nicht jeder Haushalt für sich alleine zig
Geräte hat, die die meiste Zeit nicht genutzt werden. Ein weiterer
wichtiger Punkt ist es, Akzeptanz gegenüber alternativen
Beziehungsformen zu erreichen, sowie den Betroffenen von häuslicher
Gewalt mehr Schutz und Gehör zu verleihen. Außerdem sollten
gemeinschaftliche Selbstverteidigungskomitees gegen Gewalt und
Übergriffe gegen Frauen und LGBTIAQ* aufgebaut werden. Zur
Beendigung der finanziellen Abhängigkeit müssen wir einerseits
gleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit durchzusetzen und
andererseits Jugendlichen mit einem garantierten Mindesteinkommen und
gute Alternativen zu ihrem Elternhaus ihre Freiheit und
Selbstbestimmung zurückgeben.

Die
bürgerliche Familie ist weder ewig noch alternativlos, sondern
entsteht aus der konkreten kapitalistischen Gesellschaft. Daher lässt
sich das Patriarchat sehr wohl lösen, indem der Kapitalismus
zusammen mit dem Privateigentum fällt und eine Vergesellschaftung
der Produktionsmittel uns den Weg in den Sozialismus ebnet, der
unsere Klasse, die Arbeiter_Innenklasse, von dem Joch der Ausbeutung
des Menschen durch den Menschen befreit. Nur durch die Aufhebung
wirtschaftlicher Ungleichheit lässt sich eine Gleichheit der
Menschen aus emanzipatorischer Sicht erreichen. Wenn wir die private
Kontrolle über die Produktion aufheben, und gemeinschaftlich als
Arbeiter_Innen bestimmen, was die Gesellschaft braucht und was
produziert werden muss, wird es auch möglich sein die Reproduktion
der Arbeitskraft aller gemeinschaftlich und frei von privater
Überbelastung zu organisieren (=Vergesellschaftung der Hausarbeit).
Dafür wird, auch die private Vererbung und die private Erziehung
aufgelöst, und zu einer Aufgabe der Gemeinschaft gemacht werden. So,
dass keine Frau, kein Jugendliche/r, keine LGBTIAQ* Person mehr
Unterdrückung erleiden muss. Lasst uns gemeinsam das Patriarchat
zerschlagen!




Was tun mit all den Tätern?

Sexualisierte Gewalt gegen Frauen[1] ist Alltag in unserer Gesellschaft. Selbst nach offiziellen Studien, die viel Raum für Dunkelziffern lassen, haben 40% aller Frauen seit ihrem 16. Lebensjahr physische oder sexuelle Gewalt und 42% haben psychische Gewalt erfahren. International ist die Tendenz steigend. Es ist außerdem anzunehmen, dass diese Studien eine sehr enge Definition dessen verwenden, was sie unter sexueller Gewalt verstehen, sodass viele Vorfälle und Taten nicht in solcherlei Statistiken einfließen. Naturgemäß sind diese Zahlen auch eher Schätzungen, da ein großer Teil der erfahrenen Gewalt nie öffentlich gemacht wird, denn häufig findet sie im engsten Umfeld der Betroffenen statt: im eigenen Zuhause oder in der Familie. Entgegen der allgemeinen Idealisierung des “trauten Heims” als Schutzraum, stellt es diesen häufig nicht für die Betroffenen dar, sondern vielmehr für die Täter, die ihre Verbrechen vor der Öffentlichkeit verbergen. Neben den körperlichen Folgen ist die Erfahrung von sexueller Gewalt für Betroffene nicht nur in der Gewaltsituation, sondern auch danach und oftmals ein Leben lang eine schwere emotionale Belastung. So führt der durch die Gewalterfahrung verursachte Kontrollverlust bei vielen Betroffenen zu Schuldgefühlen, Identitätsproblemen, Bindungsproblemen und Traumata. Es sollte also jeder_m klar sein, wie verbreitet und alltäglich Gewalt gegen Frauen ist in dieser Gesellschaft.

„Warnt nicht eure Töchter, erzieht eure
Söhne“, steht dazu an einer Elbbrücke in Dresden. Obwohl dieser Slogan das
Problem richtigerweise bei den männlichen Tätern lokalisiert, ist es mit der
“richtigen” Erziehung leider nicht getan. Die essentialistische Annahme Männer
seien gemäß ihrer genetischen Veranlagung aggressiver und gewalttätiger und
Frauen seien biologisch eher zurückhaltend und friedliebend irgnoriert die
entscheidende Rolle, die gesellschaftliche Verhältnisse bei der Entstehung und
auch bei der Veränderung von Geschlechterrollen spielen. Deshalb kann auch eine
gewaltfreiere Erziehung von Jungen das Problem nicht allein lösen. Seine
Wurzeln liegen im kapitalistischen Patriarchat, das die als gesellschaftlich
wertvoll betrachtete Produktionsarbeit von der als wertlos betrachteten
Reproduktionsarbeit (also Erziehung, Hausarbeit und Sorgearbeit) trennt. Frauen
werden dadurch in die Abhängigkeit von Männern gedrängt, haben schlechtere
Chancen auf dem Arbeitsmarkt und werden schlechter bezahlt. Daneben führt diese
materielle Basis der sexistischen Unterdrückung auch zu geschlechtsspezifischen
Bewusstseinsformen, die uns im Alltag häufig als Geschlechterstereotype
begegnen. Bei vielen Männern führt das beispielsweise zu dem Gedanken, dass es
Teil ihrer Männlichkeit sei, Dominanz auszuüben, sich “zu nehmen was einem
zusteht”, Frauen “erobern” zu wollen und infolgedessen auch zur Annahme ein
Recht zu besitzen, die eigenen Bedürfnisse im Zweifel auch durch den Einsatz
von Gewalt gegen Frauen durchsetzen zu dürfen.

Sexuelle Gewalt in der Linken: Keine
Einzelfälle!

Wie wir durch Outings von Tätern und einer
zunehmenden Öffentlichkeit um das Thema der sexuellen Gewalt beobachten können,
ist auch die Radikale Linke nicht frei davon. Weder von Sexismus allgemein,
noch von sexualisierter Gewalt. Immer wieder müssen wir von sexuellen
Übergriffen lesen und hören: egal ob auf Festivals, in Hausprojekten oder
linken Gruppen. Immer wieder kommt es zu Outings oder zum Ruf von Betroffenen.
Zahlen gibt’s zwar keine, aber klar sollte sein: Das sind keine Einzelfälle.

Aus gegebenem Anlass wollen wir mit diesem
Artikel eine grundlegende Debatte in der Linken anregen, wie wir als Linke,
Antisexist_innen und Kommunist_innen mit Taten und Tätern kollektiv und
emanzipatorisch umgehen können. Dabei ist uns zu erst einmal wichtig zu
betonen, dass es sich bei sexueller Gewalt nicht um individuelle unglückliche
Einzelfälle handelt, sondern um ein strukturelles Problem! Der Kapitalismus
selbst profitiert von der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung und der Unterdrückung
von Frauen und LGBTIAs. Dementsprechend werden oft grundlegende patriarchale
Strukturen nicht thematisiert und kommt es zu Fällen von sexueller Gewalt, wird
nicht über gesellschaftliche Strukturen, sondern über tragische Einzelfälle
gesprochen. Die Betroffenen als auch die Täter werden individualisiert. Dabei
reproduziert der Untersuchungs- und Rechtsprechungsprozess durch bürgerliche
Polizei und Justiz häufig die Ohnmachtserfahrung der Betroffenen. Statt
Selbstermächtigung und organisiertem Handeln aus dem Kollektiv heraus herrscht
Vereinzelung vor.

Wollen wir also der Machtblindheit und Vereinzelung der bürgerlichen Strukturen eine fortschrittliche Version entgegensetzen, müssen wir uns jedoch auch die Grenzen bewusst machen, welche die kapitalistisch-patriarchalen Strukturen unserem Vorhaben setzen. Denn wir sind alle innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft sozialisiert worden und erfahren das Patriarchat jeden Tag aufs Neue. Das bedeutet, dass wir geprägt sind und täglich neu geprägt werden von den klassischen Geschlechterrollen. Davon können wir uns nicht einfach frei machen, nur weil wir heute beschließen Antisexist_innen sein zu wollen. Auch die bürgerliche Sexualmoral ist, ob wir wollen oder nicht, tief in uns verankert. Nie haben wir gelernt, eine Sprache für unsere eigenen sexuellen Bedürfnisse und Grenzen zu finden. Doch der Zwang, der Druck und die Gewalt, die die gesellschaftlichen Verhältnisse auf uns ausüben, entlädt uns nicht von der Verantwortung die wir alle haben. Dennoch sollten wir uns klar machen, dass wir nie einen vollständigen und abschlossenen Safe Space schaffen können. Das klingt hart aber wer das nicht anerkennt schürt nur Illusionen in eine vermeintliche Sicherheit. Erschwerend kommt hinzu, dass wir keine abgekapselte linke Szenebubble sein wollen, sondern neue Leute von unseren Idealen begeistern und in unsere Strukturen integrieren wollen. Wenn wir uns die Statistiken vom Anfang des Artikels anschauen, bedeutet das jedoch auch, dass eine große Zahl von Männern in der Vergangenheit schon einmal Täter waren und wir als Organisation einen Umgang damit finden müssen. Da die Menschen im Kapitalismus nicht als Kommunist_innen geboren werden, sind wir ferner ständig damit konfrontiert, dass wir mit weniger antisexistischem Bewusstsein umgehen und daran arbeiten müssen. Wir müssen jedoch auch anerkennen, dass wir sexuelle Gewalt auch in unseren linken Strukturen nie vollständig zu 100 % verhindern werden können. Umso wichtiger ist es, sich mit Unterdrückung innerhalb der eigenen Organisationsstrukturen auseinanderzusetzen. Ob Rassismus, LGBTIA+-Diskriminierung oder auch sexuelle Gewalt. Darüber zu schweigen oder so tun als gäbe es das nicht, weil man ja schon so unfassbar befreit und fortschrittlich ist, hilft da Niemandem. Es braucht Präventionsarbeit zur Verhinderung von seuxeller Gewalt genauso wie einen adäquaten Umgang mit Vorfällen im Sinne der Betroffenen.

Was tun gegen sexuelle Gewalt in den eigenen
Strukturen?

Der absolute Schritt Nummer eins muss es sein,
die Schweigekultur die um das Thema sexuelle Gewalt herrscht zu durchbrechen.
Es gilt also ein Klima zu schaffen, in dem über sexuelle Grenzüberschreitungen
gesprochen wird. Ob von Betroffenen oder auch von gewaltausübenden Personen,
deren Verantwortung es ist, auch ohne Initiative der betroffenen Person die
Verantwortung für ihre Tat zu übernehmen. Es braucht Schutzstrukturen für
FLINT-Personen (sogenannte Caucusse), um in Abwesenheit von Männern über
Unterdrückungserfahrungen sprechen und auch spezifische Forderungen an die
Männer formulieren zu können. Gleichzeitig muss vermieden werden, dass wir
Frauen in der politischen Arbeit weniger präsent sind, da wir uns ja noch mit
unserer eigenen Unterdrückung beschäftigen müssen, während die Männer die
Revolution planen. Vielmehr ist es die Aufgabe von Männern als potentielle
Unterdrücker_innen sich mit der strukturellen Rolle, die ihnen der Kapitalismus
zuweist, auseinanderzusetzen und diese zu reflektieren. Paralellel zu
Caucus-Treffen müssen antisexistische Männertreffen stattfinden.

Gleichzeitig muss uns klar sein, dass man diese
Probleme nicht “weg-reflektieren” kann. Zwischen der Erkenntnis im Rahmen eines
Reflektionsprozesses und einer nachhaltigen Veränderung des Verhaltens liegt
häufig noch ein langer Weg. Reflektion ist dabei ein wichtiger Bestandteil
antisexistischer Praxis aber nicht die alleinige Lösung, um das Patriarchat zu
zerstören. Da wir in einer kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft leben,
bewegt sich unser Denken häufig auch in den Bahnen, die diese Gesellschaft
zulässt. Es ist auch für Antisexist_innen quasi unmöglich diese vollständig zu
verlassen, solange diese Gesellschaft uns tagtäglich etwas anderes vorlebt.
Deshalb heißt es genauso diese Gesellschaft anzugreifen und im Kampf dagegen eine
antisexistische Perspektive aufzuwerfen sowie Frauen gesondert zu fördern und
zu empowern.

Daneben ist es zentral, Präventionsarbeit zu
betreiben. Mit neuen Menschen, die an die Organisation herantreten, müssen
verpflichtende Diskussionen über sexuellen Konsens und das Ja-heißt-Ja-Prinzip
geführt werden. Dabei muss uns jedoch bewusst sein, dass bei den Leuten damit
erst einmal ein Prozess angestoßen wird, an dem aktiv weitergearbeitet werden
muss, den nur weil man drei mal über Konsens philosophiert hat bedeutet das
nicht automatisch, dass man offen über Grenzen und Bedürfnisse kommunizieren
kann.

Kommt es trotz aller Präventationsmaßnahmen zu
Fällen von sexuellen Übergriffen müssen wir jede Aussage und jedes Anzeichen
darüber sofort ernst nehmen. Die weit verbreitete Angst, dass Betroffene ja mit
Absicht eine Falschaussage machen könnten, um eigene Ziele zu erreichen, ist
nicht nur zutiefst chauvinistisch, sondern auch einfach unbegründet, da sich
wohl kaum eine Frau freiwillig der mit einem solchen Prozess verbundenen
emotionalen Belastung aussetzen würde.

In vielen Fällen ist die Sachlage sofort klar
und das Geschehene eindeutig. In anderen Fällen gibt es widersprüchliche
Aussagen und es braucht Strukturen, die bei der Aufarbeitung helfen. In jedem
Fall gilt es sofort eine Kommission zu gründen, die sich mit dem Fall
beschäftigt. Bei der personellen Zusammensetzung der Kommission gilt es zu
beachten, dass diese im Sinne der Betroffenen zusammengesetzt ist und
mehrheitlich aus sexuellen unterdrückten Menschen besteht. Ebenso ist diese (im
Gegensatz zu den bürgerlichen Justiz-Strukturen) auch wieder abwähl- und
ersetzbar. Die Aufgabe der Kommission ist es, den Fall aufzuarbeiten, der
Betroffenen (insofern sie dies möchte) emotionale Unterstützung und auch ein_e
Sprecher_in bereitzustellen, sowie konkrete Handlungsempfehlungen zu machen,
wie mit dem Täter umgegangen werden soll. Diese müssen von der Organisation
dann demokratisch abgestimmt werden.

Was macht man mit einem Täter?

Wichtig ist es erst einmal zu betonen, dass es
in dem Prozess vor allem um die Betroffene gehen und nicht um den Täter. Ziel
des Prozesses muss es also sein, der betroffenen Person Handlungsfähigkeit
zurückzugeben und einen Wiedereinstieg in die politische Arbeit zu ermöglichen,
sowie potentiell weitere Betroffene vor dem Täter zu schützen. Dennoch stellt
sich natürlich trotzdem die Frage: Was macht man den nun mit einem Täter?

Auf diese Frage gibt es leider keine allgemeingültige Antwort, denn das Ausüben von sexueller Gewalt kann unterschiedlich schwerwiegend sein. So spielt es eine Rolle, ob Zwang und Gewalt aktiv ausgeübt wurden, ob ein willentlicher Machtmissbrauch stattgefunden hat und auch wie lang die Person schon organisiert ist und es besser wissen müsste. Am leichtesten wäre es doch in jedem Fall, den Täter einfach auszuschließen, ihn aus allen Räumen und Kontexten rauszuschmeißen. Problem beseitigt – müssen wir uns nicht mehr mit beschäftigen. Aber was passiert dann mit ihm? Klopft er irgendwo anders an, um weitere Taten begehen zu können? Wie können wir kollektiv Verantwortung übernehmen und die Chance verringern, dass sich sexuelle Gewalt wiederholt? Die Antwort kann nicht darin liegen, sich dem Problem der Täter so einfach zu entledigen. Für linke Kleinsgruppen und Sekten ist das vielleicht eine Perspektive, nicht aber für Organisationen die den Anspruch haben eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufzuwerfen. Als Gesamtgesellschaft kann man den Täter nicht mehr einfach rausschmeißen. Wenn wir also lebenslange Isolationshaft, Todesstrafen oder Selbstjustiz ablehnen, müssen wir uns Gedanken darüber machen, was wir als Alternative dazu vorschlagen.

Der Staat regelt?

Wohl eher nicht. Der ist nämlich selbst eine
Struktur, die der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Klassenherrschaft und
damit auch des Patriarchats dient. Und als solche ist er Teil des Problems,
Stütze des Systems, das diese gewaltvollen Umstände hervorbringt und von ihnen
profitiert, niemals Teil der Lösung. Das sehen wir schon allein daran, was das
bürgerliche Gesetzgebuch überhaupt als sexuelle Gewalt definiert und was nicht.
Eine Vielzahl von Taten wird also von den bürgerlichen Gerichten einfach
abgeschmettert, die Betroffenen damit allein gelassen und vermutlich auch
retraumatisiert, da die von ihnen erfahrene Gewalt nicht anerkannt wird. Noch
dazu stehen sie vor dem bürgerlichen Gericht selber in der Beweislast, sich für
ihre “Anschuldigungen” gegenüber dem Täter rechtfertigen zu müssen.

Das Gerechtigkeitsverständnis des bürgerlichen
Staates beruht vor allem auf dem Konzept von „Wiedergutmachung durch
Strafe“. Doch durch Isolation im Knast wird wohl keine tiefgreifende
Besserung im Bewusstsein des Täters einsetzen. Immerhin hat der Staat noch
einen kleinen Anspruch von Resozialisierung der Täter, seine Methoden dazu
erweisen sich aber erstens als unwirksam und zweitens sollen die Täter ja
überhaupt nur wieder zurück in dieselbe Gesellschaft resozialisiert werden, in
der sie erst zu Tätern geworden sind.

Im Übrigen bedeutet unsere Ablehung des Staates
nicht, dass wir nicht Betroffene dabei unterstützen eine Anzeige zu stellen.
Dies hängt damit zusammen, dass wir uns prinzipiell bei der Abwägung zwischen
Bedürfnissen der Betroffenen und Entwicklung des Täters immer für die
Betroffene entscheiden sollten und auch damit, dass wir in frühen Aufbaustadien
wie jetzt manchmal nicht die notwendige Kraft haben, um ohne den Staat alle
Maßnahmen gegen jeden Täter durchzusetzen. Sollte es die Betroffene so wollen,
kann es auch ein sinnvolles Mittel sein, eine politische Kampagne darum
aufzubauen, um genau diese Defizite der bürgerlichen Justiz im Umgang mit
sexueller Gewalt öffentlich zu entlarven und Protest zu organisieren. Dabei
gilt es aufzuzeigen, was unsere gesamtgesellschaftliche Perspektive wäre:
Nämlich Reform des Sexualstrafrechts innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft,
sinnvolle Resozialisierungsmaßnahmen, Veränderung des Gerichtssystems (statt
Trennung Exekutive/Judikative abwählbare und demokratisch kontrollierte
Arbeiter_innentribunale).

Täter klatschen?

Ist emotional sicherlich eine sehr verständliche
Reaktion. Auch würden wir es einer Betroffenen nie verwehren, sich durch ein
paar Schellen ein wenig Handlungsfähigkeit zurückzuholen, falls sie das Gefühl
hat, dass es sie weiterbringt. Als politisches Programm fällt eine Logik von Blutrache
jedoch selbst hinter die bürgerliche Justiz zurück ins Mittelalter. Selbst im
Kapitalismus wird Straftätern ein Anspruch auf Resozialisierung zugestanden und
dass sie sich nach dem Verbüßen einer Strafe ändern können.

Es scheint nahezuliegen, dass gewaltvolle Rache
gegenüber dem Täter ein Versuch ist, Gerechtigkeit zu schaffen. Allerdings muss
auch hier wieder gesagt werden: Dies ist keine gesamtgesellschaftliche
Perspektive, die wir der Arbeiter_innenbewegung als Mittel im Kampf gegen
soziale Unterdrückung vorschlagen. Vielmehr täuscht es nur vor, super radikal
zu sein. Durch die unmittelbare Aktion aus diesen Taten, scheint es so, als ob
man dem gesamtgesellschaftlichen Problem eine greifbare Antwort bietet und sich
klar gegen sexuelle Gewalt positioniert. Allerdings verkennt es gleichzeitig
den strukturellen Charakter dieser Gewalt und drückt sich um die Verantwortung,
die Frage zu stellen, wie die Leute zu einem Wandel in ihrem Bewusstsein
kommen. Denn wenn wir nicht daran glauben, dass sich Leute verändern können,
warum sind wir überhaupt in linken Strukturen organisiert?

Die Gesellschaft, in der wir leben, kann nicht moralisch in gut und böse eingeteilt werden. Das Gute und das Böse sind ideologische Kategorien, die nicht für immer wahr und feststehend sind, sondern Produkte der historischen Entwicklung. Dementsprechend sind auch Menschen nicht genetisch-festgelegt böse und selbst das Ausüben von Gewalt muss nicht zwangsläufig zur unveränderlichen Identität eines Menschen gehören. Genauso wie wir Betroffene sexueller Gewalt nicht individualisieren dürfen, da das Problem strukturelle Ursachen hat, ist auch die sexuelle Gewalt von Männern kein Einzelfall, sondern ein strukturelles Problem. Obwohl ein Täter in der konkreten Situation natürlich die Wahl hat, sich gegen seine Tat zu entscheiden, beruht sein ganzes Verhalten und Denken im Kern auf dem, was eine patriarchale Gesellschaft vorlebt, vordenkt und vormacht. Sexuelle Gewalt ist also kein Problem, das von bösen Einzeltätern ausgeht. Dementsprechend bietet es keine Perspektive, falsches Bewusstsein mit Schlägen zu korrigieren. So sollte ja auch keine Gesellschaft aussehen, die wir erkämpfen wollen. Aber was dann?

Transformative Justice als ein Ansatz, den es
weiterzuentwickelt gilt

Das erste Ziel ist auf jeden Fall einigermaßen sicherzustellen, dass keine unmittelbare Gefahr für unsere Genossinnen von dem Täter ausgeht. Der erste Gedanke sollte also stets den Betroffenen und ihrer unmittelbaren Sicherheit gelten. Der zweite Gedanke gilt der Ermöglichung des Wiedereinstieges in die politische Arbeit für die Betroffene. Erst dann, aber dann auch wirklich, sollten wir uns dem Umgang mit dem Täter widmen. Im Prozess muss dabei der Täter zunächst eingestehen und glaubhaft anerkennen, welchen Schaden er verursacht hat und was das für die Betroffene bedeutet. Im Weiteren muss er eine tiefgehende Auseinandersetzung führen mit Fragen wie: Was hat dazu geführt, dass ich Grenzen überschritten habe? Warum habe ich Signale der Betroffenen nicht gesehen oder ignoriert? Welche Abhängigkeiten bestanden zwischen der Betroffenen und mir? Inwiefern habe ich zur Schaffung dieser Abhängigkeiten beigetragen oder habe mich ihrem Abbau gegenüber passiv verhalten? Ich wusste doch was ich für Schaden und Verletzungen anrichten könnte, ich kannte doch Wege und Strategien gegen dieses schädliche und verletzende Verhalten, warum habe ich mich dennoch selbst zum Täter gemacht? Wie kann ich verhindern, dass ich dieses Verhalten in der Zukunft wiederhole? Wie kann ich mein Leben fortführen mit dem Wissen, dass ich eine Tat begangen habe, die nicht wieder gut zumachen ist, wie kann ich mich unter anderen Menschen bewegen ohne die Tat zu verleugnen?

Dabei ist wichtig anzuerkennen, dass zwar der
Täter die volle Verantwortung für seine Tat trägt, dass die Verantwortung aber
auch immer irgendwo von seinem direkten Umfeld
(„Community“/“Szene“/“Gruppe“) mitgetragen wird.
In welcher Umgebung konnten die subtilen Anzeichen von z.B. male supremacy, die
die Tat schon im Vorhinein angekündigt haben, nicht gesehen oder ignoriert
werden? In welcher Umgebung wurden selbst Signale gegeben, dass so gewaltvolles
Verhalten akzeptabel sein könnte,  oder
dass es „nicht schlimm genug“ sei, um zu intervenieren?

Aber wie ein einzelner Täter nicht isoliert von seinem direkten Umfeld betrachtet werden kann, so kann auch eine einzelne Community nicht isoliert von der gesamten kapitalistischen Gesellschaft betrachtet werden. Diesen Schritt geht der transformative-justice-Ansatz häufig leider nicht. Ohne die Überwindung dieses Systems werden wir jedoch niemals die Voraussetzungen und Bedingungen, in denen gewaltvolles Verhalten entsteht, beseitigen können. Gleichzeitig ist jeder Transformationsprozess mit einem Täter extrem energie- und ressourcenaufwendig für das Umfeld, daher im Rahmen einer kleinen Organisation in seiner Vollständigkeit unmöglich umsetzbar. Dennoch bleibt es unserer Meinung nach als einzige Möglichkeit für einen Ansatz zum Umgang mit Tätern, wie er in revolutionäre Politik eingebettet sein kann.


[1]Da für die folgenden Fragen vor sozialisierte gender roles wichtig
sind, wichtiger als z.B. gender identity oder biological sex, wollen wir im
Folgenden die Vokabeln “Frauen” und “Männer” im Sinne von “als weiblich” und
“männlich sozialisierte Personen” benutzen.




Pan y Rosas: Zwischen Reform und Revolution?

Aventina Holzer, Arbeiter*innenstandpunkt, REVOLUTION
Österreich, Fight 9, März 2021

Seit Jahren nehmen nicht nur Angriffe auf Frauenrechte zu, sondern
stellen sich auch Bewegungen in unterschiedlichen Ländern dieser
Realität. Dies hat auch zu einer Wiederbelebung linker Strömungen
geführt, die darauf eine Antwort geben wollen. Auf der einen Seite
wird versucht, die Bewegungen zu unterstützen und zu analysieren,
auf der anderen sie loszutreten, sie zu befeuern und in eine richtige
Richtung zu lenken. Was die wenigsten Organisationen und Strömungen
aber begreifen, ist die Notwendigkeit, Frauenkämpfe nicht nur
abstrakt im Zusammenhang mit dem Kapitalismus zu sehen, sondern auch
dementsprechend revolutionäre und klassenspezifische Organisierung
zu erreichen. Deshalb halten wir es für zentral, in eine politische
Debatte mit jenen Kräften zu treten, die diesen Anspruch an sich
selbst und die Bewegung stellen. Schon in früheren Publikationen
haben wir uns mit programmatischen Manifesten und Theorien
beschäftigt, die selbst einen antikapitalistischen, sozialistischen
oder marxistischen Anspruch formulieren. So diskutierten wir in der
letzten Ausgabe von Fight!
das Manifest Feminismus der 99 %. Im Revolutionären
Marxismus 53
beschäftigten wir uns mit Lise Vogels
Marxismus und Frauenunterdrückung und der Social
Reproduction Theory.

Brot und Rosen

Im Folgenden besprechen wir das 2013 in Argentinien erschienene
Buch Brot und Rosen: Geschlecht und Klasse im Kapitalismus
(1) von Andrea D’Atri, dessen deutsche Übersetzung 2019
veröffentlicht wurde. Andrea D’Atri ist eine Aktivistin der
argentinischen Frauenbewegung und eine Genossin der
Frauenorganisation Pan y Rosas (Brot und Rosen) sowie der Partido de
los Trabajadores Socialistas (Partei der sozialistischen
ArbeiterInnen, PTS). Als eine der Gründerinnen von Brot und Rosen
hat sie auch einen beachtlichen theoretischen Beitrag ihrer
Organisation geleistet. Im Folgenden werden wir ihr Buch hinsichtlich
ihres historischen Verständnisses und ihrer Programmatik
untersuchen, aus denen sich maßgeblich ihre Vorstellungen für den
anvisierten politischen Kampf ergeben. Im Anschluss werden wir daher
auch auf  die programmatischen Grundlagen und
Schlussfolgerungen  des Internationalen Manifests von Brot
und Rosen
eingehen.

Auch wenn Andrea D’Atris Buch nicht das Produkt eines
gemeinsamen Beschlusses der gleichnamigen Organisation ist, so kann
man es durchaus als die politische Grundlage des Manifests von
Brot und Rosen
betrachten. Es beginnt mit einer Geschichte von
Frauenkämpfen. Mit einer Mischung aus historischem Gesamtblick und
einzelnen biographischen Erzählungen sollen aus einer proletarischen
Perspektive die Zugänge zum Kampf um Frauenbefreiung und Feminismus
erläutert werden. Beginnend mit Getreideaufständen in Europa und
gefolgt von der Französischen Revolution, über die
Industrialisierung, die Pariser Commune bis hin zum Kampf für die
demokratischen Rechte der Frau wird an episodischen Einzelschicksalen
die Situation und die Notwendigkeit der Kämpfe verdeutlicht. Danach
werden des Weiteren die Kriegssituation und auch die Kämpfe der
sozialistischen Frauenbewegung anhand der Organisationen und Debatten
der Zweiten Internationale dargestellt. Ein eigenes Kapitel
beschäftigt sich mit der Sowjetunion und Frauenrechten. Im weiteren
Verlauf wird auch deren stalinistische Degeneration beleuchtet.
Schließlich werden die Lage nach dem Zweiten Weltkrieg, der
Aufschwung der Linken nach 1968, das damit verbundene Anwachsen und
die Radikalisierung des Feminismus betrachtet. Am Ende findet sich
eine Kritik des institutionalisierten Feminismus wie des mit
Postmodernismus, Dekonstruktivismus und Postmarxismus einhergehenden
Vordringens von Individualismus und Skeptizismus.

Dieser Überblick verdeutlicht schon, worum es sich beim Buch
handelt – und worum nicht. Brot und Rosen ist sowohl eine
geschichtliche Darstellung der Frauenunterdrückung und der
Entwicklung des Kampfes dagegen wie der Entwicklung des Feminismus.
Oft erscheinen auch die linken Strömungen des Feminismus als synonym
mit revolutionärer, marxistischer Politik. Anders als der Untertitel
des Buches – Geschlecht und Klasse im Kapitalismus
suggeriert, stellt es keine theoretische Ausarbeitung des
Verhältnisses von kapitalistischer Ausbeutung zu systematischer
Unterdrückung der Frauen dar. Das Buch betont zwar immer wieder zu
Recht, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung nicht vom
Klassenkampf getrennt begriffen werden darf, dass die
ArbeiterInnenklasse das zentrale Subjekt im Kampf für Sozialismus
und die Überwindung aller Unterdrückungsformen darstellt. Es
verweist auch immer wieder berechtigter Weise darauf, dass das
Kapital von der Fesselung der proletarischen Frau an die Hausarbeit
unmittelbar ökonomisch profitiert und die Spaltung der Klasse seine
Herrschaft politisch festigt. Auf analytischer Ebene allerdings
bleibt die Darstellung im Wesentlichen bei diesen allgemeinen
Wahrheiten stehen, die sowohl der Marxismus wie auch Teile des
sozialistischen Feminismus anerkennen. Die spannende, für
MarxistInnen zu beantwortende Frage wäre allerdings, wie die private
Hausarbeit, und damit die spezifische Form der Frauenunterdrückung,
mit dem Kapitalverhältnis zusammenhängt, wie das
 Lohnarbeitsverhältnisses der Reproduktionsarbeit seinen
Stempel aufdrückt. Diese theoretischen Schwächen werden
insbesondere dann deutlich, wenn die Konzeptionen verschiedener
feministischer Strömungen betrachtet werden. Im Buch wird sich
ebenfalls mit der zweiten Welle des Feminismus und weiteren neueren
Strömungen beschäftigt. Diese werden auch stärker politisch
analysiert und eingeordnet. Hier können wir auf die politische
Position der Autorin selbst Rückschlüsse zu ziehen und die
Abgrenzung zum bürgerlichen Feminismus besser verstehen. Es werden
dabei speziell die Unterschiede zwischen Gleichheitsfeminismus, zu
denen D’Atri auch einige Strömungen des sozialistischen Feminismus
zählt, und des Differenzfeminismus herausgearbeitet.

Gleichheitsfeminismus und Differenzfeminismus

D’Atri beschreibt in diesem Kontext die feministische Bewegung
Ende der 1960er Jahre sehr unkritisch: „Die generelle
Perspektive der feministischen Bewegung der 70er Jahre ist
anti-institutionell. Deshalb ist sie nur im Rahmen der weltweiten
aufständischen Bewegungen zu verstehen […].“
  (S. 175)
Dies geht für sie – auch mit einem gewissen historischen Recht –
mit einer Radikalisierung des Feminismus einer. Der
Gleichheitsfeminismus betritt die Bühne. Dieser beschäftigt sich
mit Geschlecht als Konstrukt, worauf auch die Unterscheidung in sex
und gender, also zwischen biologischem und sozialem
Geschlecht, aufbaut. Diesbezüglich schreibt D’Atri:

„Der Gleichheitsfeminismus hat das Verdienst, Geschlecht als
soziale Kategorie zu begreifen […]. Er macht sichtbar, dass die
Unterdrückung der Frauen einen historischen Charakter hat und keine
„natürliche“ Konsequenz aus anatomischen Unterschieden ist. Der
Differenzfeminismus wiederum widersteht der Anpassung an ein System,
das auf der Unterordnung, Diskriminierung und Unterdrückung all
dessen basiert, was vom „universellen“ Modell abweicht, welches
unter patriarchaler Herrschaft geschaffen wurde.“
(S. 196)

Die Radikalität der zweiten Welle des Feminismus verortet die
Autorin also darin, dass sie an den Versprechen der bürgerlichen
Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – anknüpfe
und diese gegen Patriarchat und Kapitalismus wende. D’Atri entgeht
dabei zwar nicht, dass auch der bürgerliche und liberale Feminismus
genau daran ansetzen. Sie geht jedoch nicht auf die Grenzen der
Methode ein, die Kritik an Ausbeutung und Unterdrückung durch einen
Abgleich mit den uneingelösten Freiheitsversprechen zu begründen.
Es entgeht ihr damit, dass diese selbst zu einer reformerischen
Lösung drängt, wie sie in der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft
selbst noch in deren Idealen befangen bleibt, statt diese selbst als
Ideologie zu begreifen.

Innerhalb des Gleichheitsfeminismus unterscheidet sie drei Formen:
Den liberalen, den radikalen und den sozialistischen. Ersterer wolle
den Kapitalismus reformieren, um die Lage der Frauen zu verbessern.
Zweiterer betrachte das Patriarchat als die grundlegende
Gesellschaftsstruktur, die es abzuschaffen gelte. Der Zugang, den die
radikalen Feministen wählen, macht den Feminismus zu einer
politischen Theorie, die die Gesamtheit des politischen Systems
beschreiben soll. Hier werden die Frauen selbst als eigene Klasse
betrachtet. Die sozialistischen Feministen konzentrieren sich, so
D’Atri, währenddessen auf die Verbindung von marxistischer
Gesellschaftsanalyse mit Frauenunterdrückung.

„Er (der sozialistische Feminismus; d. Red.) setzt den
Schwerpunkt auf das Konzept des Patriarchats und auf die historische
Entwicklung der Art und Weise, wie Familienverhältnisse in den
verschiedenen Produktionsweisen organisiert sind. Die sozialistischen
Feministinnen verstehen die Ungleichheit als eine ganz und gar
gesellschaftliche Frage: Sie beschäftigen sich vor allem mit dem
Konzept der gesellschaftlichen Arbeitsteilung – eine Teilung, die
für sie die Ursache für die soziale Ungleichheit zwischen den
Geschlechtern ist. Sie definieren das Patriarchat als die Gesamtheit
der gesellschaftlichen Verhältnisse der menschlichen Reproduktion,
die von der männlichen Dominanz über Frauen und Kinder strukturiert
sind.“
(S. 180)

Für einige, so D’Atri weiter, stellt das Patriarchat den Fokus
und auch den Ausgangspunkt aller anderen Unterdrückung dar, der aus
historisch-materialistischer und dialektischer Perspektive
aufgearbeitet werden muss. Für andere besteht die Hauptaufgabe
darin, Frauenunterdrückung mit der Entstehung der
Klassengesellschaft zu begreifen und sie im Hinblick auf Produktion
und Reproduktion zu analysieren. Die Autorin belässt es bei dem
Verweis, dass sozialistische Feministen das Verhältnis von
Patriarchat und kapitalistischer Ausbeutung verschieden fassen. Dabei
liegt das Grundproblem des sozialistischen Feminismus gerade darin,
dass er eine methodisch-theoretische Versöhnung zwischen radikalem
Feminismus und Marxismus versucht, bei ihm Patriarchat und
Kapitalverhältnis als mehr oder weniger gut miteinander verbundene,
parallele, die gesellschaftliche Dynamik strukturierende Verhältnisse
dargestellt werden.

Für den Marxismus stellt allerdings das Kapitalverhältnis den
grundlegenden gesellschaftlichen Widerspruch dar, der die
spezifischen Formen der modernen Reproduktion und damit auch die
Frauenunterdrückung formt (2). Der sozialistische Feminismus
vertritt hingegen letztlich eine dualistische Auffassung. Diese muss
logisch und politisch-praktisch zu einem unterschiedlichen Begriff
des revolutionären Subjekts führen. Für den Marxismus ist dies die
ArbeiterInnenklasse, für den sozialistischen Feminismus gibt es
hingegen letztlich zwei Befreiungssubjekte, die Lohnabhängigen und
die Frauen. Unterschiedliche Strömungen innerhalb des
sozialistischen Feminismus legen ein stärkeres Augenmerk auf das
eine oder andere Subjekt. Tatsächlich ist dies im Endschluss
allerdings eine Negation Zetkins vollkommen korrekter Bemerkung, dass
es eine „Frauenfrage für die Frauen des Proletariats, des
Mittelbürgertums und der Intelligenz und der oberen Zehntausend


[gibt]

; je nach der Klassenlage dieser Schichten nimmt sie eine
andere Gestalt an.“ (Zetkin,
Nur mit der proletarischen Frau wird der Sozialismus siegen
)

Von dieser grundsätzlichen Problematik des sozialistischen
Feminismus findet sich im Buch kein Wort. D’Atri unterstellt
vielmehr, dass der sozialistische Feminismus eigentlich auf dem Boden
der revolutionären ArbeiterInnenpolitik stehen würde: „die
sozialistischen Feministinnen – strategisch und mit verschiedenen
Nuancen – [bestehen] auf der Notwendigkeit einer
antikapitalistischen Revolution.“
(S. 181) Wir möchten
keinesfalls in Frage stellen, dass einige sozialistische
FeministInnen durchaus subjektiv revolutionäre Ambitionen hegen.
Allerdings verwischen solche Formulierungen die eigentlich
fundamentalen Unterschiede zum Marxismus. Anstatt sozialistische
FeministInnen für den historisch-dialektischen Marxismus zu
gewinnen, werden letztlich gewichtige Positionen des letzteren
aufgegeben. Unterschiedliche Theorien, oft auch mit unterschiedlichen
praktischen Resultaten, erscheinen als reine Nuancen. Logischerweise
wird daher auch der Niedergang des Gleichheits- und die Krise des
sozialistischen Feminismus ohne Bezug auf deren eigene, innere
Problematik erklärt. Er erscheint einzig als Resultat einer
geschichtlichen Epochenwende:

„Während die bürgerliche Restauration voranschreitet, kann
weder die Integration in die kapitalistische Demokratie des
Gleichheitsfeminismus noch die widerspenstige Gegenkultur des
Differenzfeminismus verhindern, dass sich Gewalt und Unterdrückung
von Millionen Frauen auf der ganzen Welt fortwährend reproduzieren
[…].“
(S. 197)

Richtig ist sicherlich die kritische Haltung gegenüber dem
institutionalisierten Gleichheits- und zum Differenzfeminismus.
Stärker wird außerdem mit der Intersektionalität und
Identitätspolitik abgerechnet, obwohl diese nur am Rande erwähnt
werden. Die Kritik konzentriert sich darauf, dass eine
Individualisierung der Unterdrückung nicht der Weg sein kann, um sie
kollektiv zu überwinden. Es sei gefährlich, Ausbeutung auf eine
Stufe mit Unterdrückung zu setzen, damit also auch die Ursprünge
der Unterdrückung im Kapitalismus unscharf zu machen. Während dies
der richtige Ansatzpunkt ist, wundern wir uns, warum diese Erkenntnis
nicht auf die eigene Analyse der gesellschaftlichen Rolle von Frauen
konsequent angewandt wird. Die Auseinandersetzung mit postmodernen
Strömungen ist vor allem auf Judith Butler bezogen und kritisiert im
weiteren Verlauf vor allem deren individualistische und idealistische
Ansprüche, keine Theorie für die Massen schaffen zu können und zu
wollen, daher auch teilweise keinen Anspruch zu hegen, das
kapitalistische System zu überwinden. Neben dieser sehr berechtigten
Kritik an unterschiedlichen Strömungen des Feminismus stellt sich
für die LeserInnen ein bisschen die Frage, was denn nun die eigene
Perspektive der Autorin ist. Das ist zwar nicht unbedingt die
Fragestellung des Buches, wird aber auch im Manifest nicht
ausreichend beantwortet, das am Ende des Buches veröffentlicht ist.

Brot und Rosen als Manifest

Das Internationale Manifest von Brot und Rosen stammt aus
dem März 2017. Die Genossinnen dieser Organisation sind zugleich
Teil der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale.
Ähnlich wie das Buch beginnt das Manifest mit einem kurzen Abriss
von Frauenkämpfen, von einzelnen Biografien revolutionärer Frauen
und von Kämpfen, die langfristige Veränderungen und Verbesserungen
für die ArbeiterInnenbewegung gebracht haben. Es wird damit versucht
zu erklären, in welcher Tradition Brot und Rosen sich sieht. Mit
diesen historischen Verweisen wird im weiteren Verlauf auch die
Notwendigkeit einer Abgrenzung von neoliberalen Lösungsversuchen und
vom bürgerlichen Feminismus begründet, die sich auf individuelle
statt kollektive Lösungsversuche verlassen. Zeitgleich wird aber
auch betont, wie die Kämpfe der Vergangenheit zu einer kompletten
Veränderung der Situation von Frauen weltweit führten, speziell was
die Frage von demokratischen Rechten angeht. Dies wirft, laut dem
Manifest, auch ein besonders schlechtes Licht auf den Stalinismus,
der nicht nur eine reaktionäre Rolle in Frauenkämpfen spielte,
sondern damit auch die Abkehr vieler Frauen vom Sozialismus zu
verantworten hatte.

Die weitere Analyse leitet den Existenzgrund der Gruppierung aus
dem speziellen Faktor der Gewalterfahrung aufgrund sexistischer
Diskriminierung ab, was mit der Bewegung „Ni una menos“ auch ein
wichtiger Ausgangspunkt der Entstehung der Organisation ist. Hierbei
geht es in der Analyse speziell um die Ohnmacht, die Frauen fühlen
und ihre Rolle als Opfer, wogegen sich Brot und Rosen stark machen
möchte. Frauen sollen ihren Subjektstatus wiedererlangen. Zeitgleich
wird argumentiert, dass man sich nicht auf den bürgerlichen Staat
verlassen könnte, um dieses Problem zu lösen und stattdessen der
Hass gegen Unterdrückung und unfaire Behandlung auf den wahren
Übeltäter, den Staat, gerichtet werden muss.

Im nächsten Abschnitt werden die ersten Forderungen mit den
vorhergehenden Analysen verbunden. Es geht auf der einen Seite um den
Kampf um politische Freiheiten und demokratische Rechte. An dieser
Stelle wird zu Recht eine ultralinke Politik abgelehnt und
argumentiert, dass man durchaus auch im Parlament für Verbesserungen
und  Frauenrechte kämpfen kann. Andererseits wird für die
breiter gefächerten Forderungen wie „gegen Gewalt an Frauen“
auch konkret vorgeschlagen, Frauenkommissionen in Betrieben,
Wohnorten und Ähnlichem zu gründen, die sich selbst organisieren.
Was diese Kommissionen dann aber konkret tun müssen, um aktiv gegen
Gewalt an Frauen anzukämpfen, wird nicht weiter ausgeführt.
Schlussfolgerungen wie Selbstverteidigung und demokratische Kontrolle
an und über Arbeitsplätze/n werden nicht erwähnt. Weitere
Forderungen beziehen sich auf antiimperialistische Positionen und ein
„Ende von Rassismus“, Selbstbestimmungsrecht über den eigenen
Körper, Ausbau von Kinderbetreuung und Trennung von Staat und
Kirche. Auch arbeitsrechtliche Verbesserungen haben ihren Platz im
Manifest wie das Ende von prekärer Arbeit und einzelne
Übergangsforderungen wie die nach Aufteilung der Arbeit auf alle
Hände.

Der Ursprung der Frauenunterdrückung?

Es wird sich zwar immer wieder auf klassenkämpferische Politik
bezogen, aber zeitgleich eine Ebene etabliert, auf der sexistische
Unterdrückung zusätzlich, daher letztlich auch begriffslogisch
unabhängig vom Kapitalverhältnis existiert. Folglich werden also
die Fragen von Reproduktionsarbeit und der Vergesellschaftung dieser
sowie zur Einbeziehung der gesamten Klasse in gemeinsame politische
Kämpfe um diese herum nicht als zentraler programmatischer
Ausgangspunkt gesehen – weder im Buch noch im Manifest.

Dieser Mangel führt auch dazu, dass wichtige Teilforderungen nach
sozialer und politischer Gleichheit nicht mit der eigentlich
strategischen Frage verbunden werden, in welche Richtung denn die
geschlechtsspezifische Arbeitsteilung überwunden werden muss. Eine
Reihe von Minimalforderungen aufzustellen, ist zwar gut und richtig,
führt aber zu keiner nachhaltigen Überwindung des Systems und
entwickelt auch keinen Ansatz dazu, wie nach einer erfolgreichen
Revolution Frauenunterdrückung überwunden werden kann.

Der ganze Text wirkt eher wie eine Aneinanderreihung von
Ungerechtigkeiten als eine systematische Analyse, aus der sich
logisch der gemeinsame Kampf gegen Staat und Kapital ergibt. Am Ende
wird anerkannt, dass die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus
die Aufgabe der ArbeiterInnenklasse ist. Diese Schlussfolgerung wird
aber davor kaum argumentiert. Sätze wie: „Denn in der
unbezahlten Hausarbeit ruht ein Teil der Profite der
Kapitalist_Innen, die so den Arbeiter_Innen nicht die Tätigkeiten
entlohnen müssen, die für ihre eigene tägliche Reproduktion als
Arbeitskräfte […] nötig sind“
(S. 252) beinhalten auch ein
einseitiges Verständnis der Ökonomie der privaten Hausarbeit. Es
wird suggeriert, dass diese immer mit einer Senkung des Werts der
Ware Arbeitskraft einhergehen würde. Dies ist aber keineswegs immer
der Fall. Unter bestimmten Bedingungen können die
Akkumulationsbedürfnisse sogar eine begrenzte Sozialisierung der
Reproduktionsarbeit erfordern, die ihrerseits mit einer Senkung des
Werts der Ware Arbeitskraft einhergeht, wenn z. B. die Kosten
für Lebensmittel sinken und Teile der Reproduktionsarbeit staatlich
organisiert werden. Die Steigerung des Profits ist in diesem Fall
nicht auf  Vermehrung privater Hausarbeit zurückzuführen, ja
kann sogar mit deren Abnahme einhergehen.

Ein Übergangsprogramm zur Frauenbefreiung?

Schlussendlich betont das Manifest, dass Klassenunabhängigkeit
erreicht werden muss. Die logische Schlussfolgerung ist die Schaffung
einer unabhängigen Arbeiter_Innenbewegung, die am Aufbau einer
revolutionäre Massenpartei und Internationale beteiligt sein müsse.
Das Programm endet mit der Betonung auf einem klaren Bruch mit dem
Reformismus und einem Bekenntnis zur ArbeiterInnenbewegung. Damit
steht es weit links von den meisten feministischen Strömungen. Die
Frage ist freilich, ob das Manifest selbst eine konsequente
programmatische Antwort liefert. Brot und Rosen steht in einer
trotzkistischen Tradition und vielen Forderungen lässt sich das auch
anmerken. Es fehlt aber eine Systematik, die versucht, ein
schlüssiges Programm miteinander verbundener Übergangsforderungen
zu entwickeln. Letztlich bleibt die Verbindung zwischen den heutigen
Kämpfen und der Revolution hölzern. Vielmehr handelt es sich beim
Manifest um eine Reihe an Minimal- und Maximalforderungen, die ohne
einen roten Faden mit sporadischen Einsprengseln einzelner
Übergangsforderungen aufgezählt werden.

Am augenscheinlichsten ist dabei, dass die Frage nach
Arbeiter_Innenkontrolle kaum erwähnt wird. Die Forderung
aufzuwerfen, dass es „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ braucht
oder auch eine Aufteilung der Arbeit auf alle Hände notwendig ist,
ist sicher richtig, beantwortet aber nicht, wer das kontrolliert und
wie diese Forderungen umgesetzt werden sollen. Die häufiger
erwähnten Frauenkommissionen, die an Arbeitsplätzen, Schulen und
Wohnorten gegründet werden sollen, bleiben relativ zahnlos. Es wird
nicht erklärt, wie sie zu einem Interaktionspunkt einer militanten
und von den kapitalistischen Institutionen unabhängigen
Frauenbewegung werden können. Hierfür müssten sie sowohl Organe
der  Selbstverteidigung einerseits sowie andererseits der
Kontrolle am und über den Arbeitsplatz, Wohnort etc. sein. Es müsste
außerdem dargestellt werden, in welchem Verhältnis sie zu den
bestehenden Massenorganisationen stehen sollten. Es erscheint, als
würden Gewerkschaften, reformistische oder links-populistische
Parteien sich zu solchen Organen nicht verhalten oder diese gar
kontrollieren falls sie morgen geschaffen würden.

Inwiefern sollen und können diese Frauenkommissionen mit dem
vorherrschenden Bewusstsein brechen? Unter welchen Umständen können
sie Gegeninstitutionen des bürgerlichen Staates verkörpern? Vor
allem aber bleibt auch unklar, ob solche Kommission als Organe der
proletarischen Einheitsfront oder Organe einer Minderheit der Klasse
auftreten sollen.

Richtigerweise wird im Manifest die Notwendigkeit des Bruchs mit
dem bürgerlichen Staat, dessen Institutionen und den bürgerlichen
Parteien gefordert. Aber dies bleibt abstrakt ohne Bezugnahme auf die
sehr reale Bewegung von Arbeiter_Innen, die organisatorisch oft von
reformistischen Parteien und bürokratischen Gewerkschaften
kontrolliert, ideologisch von unterschiedlichen nicht-revolutionären
feministischen Ideologien beeinflusst werden. In solchen Situationen
sind Einheit in der Aktion und revolutionäre Kritik von oberster
Bedeutung. Eine prinzipienfeste Anwendung der Einheitsfronttaktik
kann sogar zeitweilige Bündnisse mit bürgerlichen oder liberalen
Feministinnen wie mit Vertreter_Innen des Differenz- oder
Queerfeminismus als auch dem Reformismus erlauben. Aber natürlich
tragen solche Formationen einen Klassencharakter. Eine Schwäche von
Brot und Rosen ist die fehlende theoretische Tiefe, welche wiederum
kein breites taktisches Reservoir bietet. Das beinhaltet auch die
Gefahr, dass praktischer Kontakt mit z. B. einer bürokratischen
Gewerkschaft, die Arbeiter_Innen organisiert, oder liberalen
Feminist_Innen, die eine kämpfende kleinbürgerliche Frauenbewegung
anführen, impressionistisch bleiben muss.

Dies wird umso deutlicher, wenn wir uns vor Augen halten, dass die
subjektiv revolutionären Linke – und dazu gehört auch Brot und
Rosen – eine kleine Minderheit innerhalb der Arbeiter_Innenklasse
und der Frauenbewegung darstellt. Erfolgreiche Kämpfe sind auch auf
dem Gebiet der Verteidigung der Rechte der Frauen nur möglich, wenn
es gelingt, die Anhänger_Innen von Massenbewegungen zu gewinnen,
wenn wir die Forderung nach Einheit im Kampf sowohl an deren
Mitglieder als auch an deren Führungen systematisch stellen. Diese
methodische Schwäche bezüglich der Einheitsfront betrifft sicher
nicht nur Brot und Rosen alleine, sondern bildet eines der
Kernprobleme der zentristischen Politik der Trotzkistischen Fraktion
für die Vierte Internationale.

So erscheint das Entstehen einer revolutionären Kraft, der Bruch
mit der Bourgeoisie vor allem als deklamatorische Übung. Natürlich
kann es einer solchen Politik manchmal gelingen, eine beträchtliche
Minderheit von Radikalen zu versammeln. Aber welche Richtung wird
diese Minderheit einschlagen, um die Tore der gesamten Klasse zu
stürmen? Wir fürchten, dass Brot und Rosen eine theoretische
Schwäche innewohnt, die die Gefahr einer scharfen Wendung zum
Opportunismus oder einer Fortsetzung des Sektierertums in sich birgt,
sobald eine solche Organisation auf die Probe gestellt wird, wenn sie
sich tatsächlich in der größeren Arena des Klassenkampfes
praktisch verhalten muss. Dies ist verbunden mit einer Konzeption,
die leicht als idealistischer Ansatz missverstanden werden kann, der
erklärt, dass die Erfahrung der Unterdrückung und des radikalen
Bruchs an sich das Potenzial für die revolutionäre Überwindung des
Kapitalismus bieten würde.

Revolution, aber wie?

Neben diesen programmatischen Unklarheiten ist auch die
Schwerpunktsetzung etwas undurchsichtig. Für ein Programm, das sich
selbst auf die Fahne schreibt, für eine Überwindung des
Kapitalismus zu stehen, wird über diese letztlich kaum konkret
geschrieben. Vielleicht sieht sich Brot und Rosen nicht in der
Verantwortung, als Vorfeldorganisation eine eigenständige
konsequente, revolutionäre Programmatik vorzuschlagen, sondern
überlässt das lieber der Trotzkistischen Fraktion.
Nichtsdestotrotz: Für eine Organisation, die sich in Worten so stark
auf die Revolutionärin Luxemburg bezieht, wäre  eine
Revolutionskonzeption durchaus angebracht. Das Manifest erklärt das
Ziel der Schaffung einer Internationalen, aber auch hier erscheint
dies vor allem als eine Willensbekundung.

Die Forderungen des Manifests spiegeln weitestgehend den Inhalt
des Buches wider. Während wir mit den meisten konkreten Forderungen
übereinstimmen, fallen diese jedoch recht knapp aus. Ein wichtiger
blinder Punkt ist der Kampf um LGBTQIA+-Rechte, die vor allem in den
letzten Jahren ein essenzieller Bezugspunkt für Frauenkämpfe
geworden sind. Es wird weder klar, warum diese Kämpfe erneut an
Bedeutung gewonnen haben, noch wie diese in der revolutionären
Konzeption von Brot und Rosen zusammengeführt werden können.

Wie bereits erwähnt, fehlt ein zentraler programmatischer Punkt:
die Vergesellschaftung der Hausarbeit und zentrale damit verbundene
Forderungen. Leider fehlt auch eine Positionierung zu den
Frauen*streiks, immerhin eine Massenbewegung unserer Zeit, die die
Trennung von reproduktiver und produktiver Arbeit in den Vordergrund
gestellt hat.

Sowohl Buch als auch Manifest übersehen oder bestreiten, dass der
sozialistische Feminismus eine dualistische Interpretation des
gesellschaftlichen Grundwiderspruchs darstellt. Zumindest implizit
akzeptieren Brot und Rosen die Grundannahme aller feministischen
Strömungen, dass es eine spezielle Frauenfrage gibt, die mit den
Werkzeugen des historisch-dialektischen Materialismus nicht adäquat
erklärt werden kann. Statt den Marxismus weiterzuentwickeln, auch
durch kritische Auseinandersetzung mit empirischen, historischen oder
theoretischen Konzepten des Feminismus, wird der Marxismus dem
sozialistischen Feminismus angepasst.

So erklärt sich die dargestellte Dichotomie zwischen Feminismus
und Arbeiter_Innenbewegung, der die Leser_Innen nur schwer entkommen
können. Dies mag auch mit der Schwäche des Buches und des Manifests
zusammenhängen, unterschiedliche analytische Ebenen zu etablieren:
Theoretische Abstraktionen, historische Realitäten und zukünftige
Interventionen erscheinen nebeneinander. Während die
Auseinandersetzung mit der Historiografie und konkrete persönliche
Beispiele das Verständnis und die empathische Beziehung zu einem
Thema stärken können, wird es aber problematisch, wenn sich eine
solche Methode im Manifest widerspiegelt.

Buch und Manifest schwanken stark zwischen Proklamationen,
Geschichtsschreibung, persönlichen Erzählungen, theoretischen
Zusammenfassungen, Forderungen und einer Kritik am liberalen
Feminismus. Ein konsistentes Programm und zentrale Taktiken unserer
Zeit werden jedoch kaum entwickelt. Der implizite Fokus, so scheint
es, ist, den Feminismus wieder (?) sozialistisch zu machen. Dies
scheint der Weg zu sein, auf dem eine proletarische, eine
revolutionäre Frauenbewegung aufgebaut werden kann.

Letztlich ist es daher nicht verwunderlich, dass sowohl eine
theoretische als auch eine programmatische Trennung zwischen dem
Marxismus und den verschiedenen Spielarten des sozialistischen
Feminismus fehlen, wo diese notwendig wären. Dies wird durch eine
mangelnde Konzeption für die Intervention der revolutionären
Organisationen gegenüber den Massenorganisationen ergänzt. Der
Aufbau der proletarischen Frauenbewegung erscheint daher, wenn
überhaupt, als ein ambivalenter und diskursiver Prozess des
subjektiven sozialistischen Flügels innerhalb des Feminismus, nicht
aber als eine theoretisch klärende Intervention des Marxismus
gegenüber Strömungen des Feminismus.

Damit soll der wichtige Beitrag in den täglichen Kämpfen der
Genossinnen von Brot und Rosen nicht unterschätzt werden. Ganz im
Gegenteil. Gerade aufgrund der Impulse, die die Genossinnen gegeben
haben, sind wir der Meinung, dass theoretische und programmatische
Schwächen diskutiert werden sollten, bevor der gewonnene Fortschritt
durch die bevorstehenden größeren praktischen Tests rückgängig
gemacht wird. In diesem Sinne hoffen wir, dass diese Kritik auch als
eine solidarische verstanden wird. Wir haben unsererseits ein großes
Interesse sowohl an einem gemeinsamen Klärungsprozess als auch an
einer gemeinsamen Praxis beim Aufbau der heutigen Bewegungen.

Endnoten

(1) Andrea D’Atri, Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im
Kapitalismus, Argument Verlag, Hamburg 2019; Zitate aus dieser
Ausgabe

(2) Ausführlicher dazu: Bewegung für eine
revolutionär-kommunistische Internationale, Keine Frauenbefreiung
ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung, in:
Revolutionärer Marxismus 42 und Stefan
Katzer, Kritik des Feminismus
, in: Fight! Revolutionärer
Frauenzeitung Nr. 6




Let’s talk about sex: Über Konsens reden – aber wie?

Von JK Singh

Im Sexualkundeunterricht in der Schule
wird uns nicht viel beigebracht. Zwar können wir uns glücklich
schätzen, dass wir lernen, wie wir Kondome über Bananen stülpen
und wir auch mal einen seitlichen Anschnitt einer Vagina sehen oder
bekommen ’nen Tampon in die Hand gedrückt. Aber so wirklich
hilfreich ist’s dann auch nicht, wenn man versucht Sex zu haben. Im
Unterricht liegt der Fokus auf Genitalien, wobei die weiblichen an
der Stelle oftmals falsch dargestellt werden, (So ist beispielsweise
die Klitoris kein kleiner Punkt, der gaaaanz schwer zu finden ist),
Homo-, Bi- und Asexualität werden nicht wirklich angerissen und über
Intimität, Verantwortung oder Gefühle wird so gut wie nie geredet.
Stattdessen können wir dann auf die breite Palette der verzerrten
Darstellung von Intimität und Sexualität in der bürgerlichen
Gesellschaft zurückgreifen.

Ähm, was?

Ob in Filmen oder Serien: Intimität
wird in Extremen dargestellt. Entweder ist die Grundlage Liebe bis
ans Ende des unendlichen Universums, oder es geht darum seinen
eigenen Wert zu beweisen, in dem man Jemanden ins Bett bekommt.
Dazwischen gibt’s nicht viel zu finden. Voll romantisch und so.
Meist weiß der Mann auch natürlich, was die Frau braucht. Ohne zu
fragen, kann er einfach fühlen, dass die Frau jetzt geküsst werden
will und per Gedankentelekinese fügt sich alles nahtlos in einander
bis man auf einmal nackt ist –und die Frau durch reine Penetration
einen Orgasmus bekommt. Das ist noch die nette Variante, schließlich
gibt’s noch genügend Momente, wo die Frau auch Nein sagt, aber der
Mann natürlich ganz genau weiß, dass das nur ein geheimes Codewort
für „Fick‘ mich“ ist. Dementsprechend wird auch gehandelt und
als Zuschauer_In weiß man nicht, was man nun mit der Form der
sexuellen Gewalt, die man gerade gesehen hat, anfangen soll.

Was kann dadurch passieren?

Zusammengefasst hört sich das eher
ungeil an. Ist es auch. Die Idee, dass man sein Gegenüber erobern
muss, führt in der Praxis zu vielen Problemen. So kommt es zum
Überschreiten von sexuellen Grenzen und zu Übergriffen. Das kann
bewusster passieren, beispielsweise wenn man ein „Nein“ nicht als
„Nein“ wertet, weil man glaubt, man(n) muss die andere Person
überzeugen. Oder unbewusster, wenn man es einfach macht, weil man
glaubt, dass Nachfragen ein Zeichen des Unwissens und von Schwäche,
ist. Ebenso fühlt man sich selber unter Druck gesetzt, weil man
versucht einem Idealtyp zu entsprechen, den es so gar nicht gibt.
Sexualität verkommt also vielmehr zu einer Einzelleistung bei der
man auf magische Art und Weise weiß, was der Andere denkt und sich
selber „beweisen“ muss.

Aber warum ist das so?

Das liegt vor allem daran, dass in der
bürgerlichen Gesellschaft Sex in erster Linie dazu da ist, die
Fortpflanzung zu sichern. Für die herrschende Klasse Nachkommen, an
die sie ihren Besitz vererben (diese Vererbung findet meist über die
männliche Linie statt). Für die Arbeiter_Innenklasse wird so die
Existenz der Familie weiter gesichert, die unter anderem auch der Ort
ist an dem man sich selber erholen kann und die eigene Arbeitskraft
reproduzieren kann. Das hört sich jetzt stark veraltet an, ist aber
die Grundlage auf der sich heute viel abspielt. Das liegt daran, dass
im Kapitalismus 1. Immer bürgerliche Staaten und Großkonzerne in
wirtschaftlicher Konkurrenz stehen und daher möglichst viele neue
Arbeitskräfte auf dem Markt benötigen. Und 2. Insbesondere bei der
Unterdrückung von Frauen, dass diese in die unbezahlte Hausarbeit
und das Rollenklischee der Erzieherin gedrängt werden müssen, damit
die Kapitalist_Innen möglichst wenig aufbringen müssen für die
Reproduktionsarbeit, denn sonst würden sie ja weniger Profit machen.
So wird diese ins Private verdrängt. Sowohl die patriarchale
Vererbung, als auch die private Reproduktionsarbeit sorgen dafür,
dass sich Frauen in die typisch bürgerliche Familie einordnen
sollen, denn nur so kann der Mann sein Eigentum auch an „seine
Kinder“ vererben und hat in der Arbeiter_Innenklasse einen
Rückzugsort zur Erholung. Die Frauen werden zu reinen Geburten- und
Erziehungsmaschinen degradiert, die an Sex keinen Spaß haben müssen.
Sie sollen sich nur auf einen Mann fixieren, den sie ein Leben lang
lieben, und um zu rechtfertigen, dass sie nun auch noch den Großteil
der Hausarbeit (neben ihrer Arbeit) unbezahlt leisten müssen, werden
sie als weniger wert und dümmer dargestellt. All dies spiegelt sich
also in unserer Gesellschaft wider. Auch das Thema Sex, wie die
Hausarbeit, wird weiter ins Private verdrängt. Die 68er-Bewegung hat
für viele Errungenschaften in Bezug auf die Zurückdrängung von
veralteter Sexualmoral eine wichtige Rolle gespielt, trotzdem konnte
sie das Grundproblem nicht aufbrechen. So kommt es dazu, dass wir nun
an vielen Stellen einen offeneren Umgang mit Sexualität haben, aber
im Zuge dessen auch eine Liberalisierung des Sexualmarktes mit all
seinen negativen Facetten.

Das heißt: Sexualität im Kapitalismus
hat gar nicht den Zweck der eigenen Entfaltung. Auch wenn es so
scheint, dass man als Individuum unbegrenzte Freiheiten genießen
kann, geht es darum gar nicht. Vielmehr ist Sexualität stark davon
geprägt, dass existierende Unterdrückungsmuster wie Rassismus,
Sexismus und LGBTIA+ Diskriminierung mitreproduziert werden, die
aktiv verhindern, dass wir uns frei entfalten und Vorurteile wieder
spiegeln. So kommt es beispielsweise auch dazu, dass nicht-weiße
Frauen stark exotisiert werden oder es allgemein eine sehr starke
Fokussierung auf den Mann als Initiator gibt, während die Frau
oftmals stummes Beiwerk ist. Unser Sex-Leben ist also auch immer eine
Frage unserer Sozialisierung und kann nicht getrennt von der
Gesellschaft betrachtet werden.

Was hilft dagegen?

Die feministische Bewegung hat in
diesem Rahmen zwei Konzepte erarbeitet. Zum einen gibt es das „Nein
heißt Nein!“-Konzept. Das basiert darauf, ein Nein als solches
anzuerkennen, ohne nochmal Nachfragen zu stellen, die Druck aufbauen
können (Bist du dir sicher? Willst du nicht noch mehr trinken? Etc.)
und die Grenzen des Gegenübers zu akzeptieren. Das sollte eigentlich
recht klar sein, ist es aber vielerorts nicht. Allerdings klammert
dieses Konzept auch ein paar wichtige Dinge aus. So werden wir in
dieser Gesellschaft mit bestimmten Rollenbildern sozialisiert. Nicht
Jede_R hat die Möglichkeit aus sich heraus „Nein“ zu sagen.
Hinzu kommt, dass man erst wenn’s zu spät ist Feedback bekommt –
also, wenn man dabei ist eine Grenze zu überschreiten. Deswegen
wurde das Zustimmungskonzept „Ja heißt Ja“ entwickelt. Durch
aktives Nachfragen soll eine Verletzung der Grenzen vermieden werden,
damit sexuelle Handlungen nicht nur eine Einbahnstraße sind.

Das sagt sich so einfach, oder doch
nicht?

Wir wollen ehrlich sein: Aktiv
nachzufragen ist verdammt schwer. Das allgemein existierende Bild von
Sex in unserer Ecke der Gesellschaft gibt uns zu verstehen: Sex ist
immer toll und super heiß, dein eigener Wert wird dadurch bestimmt,
dass du ohne zu reden dein Gegenüber zum Orgasmus bringst und
einfach so total geile Sachen machst. Sex wird dadurch mehr zur
individuellen Leistung und nicht etwas, dass man gemeinsam hat. Oben
drauf kommen die stereotyphaften Erwartungen. Bei der männlichen
Sozialisierung gilt Nachfragen als schwach – schließlich nimmt
sich ein richtiger Mann, was er haben will und zeigt so seine Stärke.
Die weibliche Sozialisierung zeichnet sich dadurch aus, Sachen
hinzunehmen, schließlich muss man dem Typen auch gefallen.

Davon abgesehen, mischen sich je nach
Situation noch Versagensängste und die Angst aufgrund der eigenen
Bedürfnisse verurteilt zu werden rein. Insgesamt ergibt das also
eher einen Cocktail voller Zweifel, den man nicht so einfach
heruntergeschluckt bekommt. Also nein. Aktiv nachzufragen oder über
die eigenen sexuellen Wünsche zu reden, fällt vielen von uns
verdammt schwer. Es ist unangenehm, peinlich und man hat Angst. Aber
es lohnt sich. Die Frage ist nur:

Wo fängt man überhaupt an?

Auseinandersetzung mit sich selbst?

Sexuellen Konsens zu lernen, klappt
nicht von heute auf morgen. Es ist ein Prozess. Dabei lohnt es sich,
sich erst mal mit sich selber auseinander zu setzen. Mit den eigenen
Bedürfnissen, den eigenen Wünschen, den eigenen Grenzen. Wer das
noch nie gemacht hat, dem fällt das wahrscheinlich ganz schön
schwer. Weibliche Sozialisierung und auch manche psychischen
Krankheiten erschweren die Auseinandersetzung damit. Praktisch kann
das dann so aussehen, dass man sich selber Fragen stellt und diese
nach und nach beantwortet. Beispielsweise: Kann ich gut „Nein“
und „Ja“ sagen? Kann ich mich selber akzeptieren? Worauf habe ich
eigentlich Lust, was will ich erleben? Habe ich Angst vor
Zurückweisungen? Wenn ja, was macht das mit mir? Daneben kann es
helfen, sich mit seinem Körper auseinanderzusetzen.
Gesellschaftliche Schönheitsideale können einen riesigen Druck
ausüben – ob zu große Brüste, ein zu kleiner Penis letzten Endes
wird dafür gesorgt, dass sich 99% aller Menschen nicht wohl in ihrer
Haut fühlen. Das hat auch automatisch Auswirkungen darauf, wie wir
uns vor anderen fühlen. Dessen sollte man sich bewusst sein und
anfangen, existierende Schönheitsideale kritisch zu hinterfragen.

Und zuletzt: Redet ernsthaft mit
Freund_Innen über Sexualität. Hört sich komisch an mit Menschen
mit denen man nicht intim werden will drüber zu reden, aber der
Austausch mit anderen kann einen aufzeigen, wie Grenzen bei Anderen
aussehen oder man vielleicht gar nicht alleine mit seinen Ängsten
und Schwierigkeiten ist. Das ist gerade in männlichen
Freundeskreisen schwer, da es eine große Hemmschwelle gibt über
Gefühle zu reden und gerade in der Schule Sexualität was ist, mit
dem sich profiliert wird. Aber auch das kann angegangen werden. Dort
hilft es vielleicht, so etwas nicht gleich in einer Gruppe, sondern
im Zwiegespräch mit einem besonders guten Freund, zu besprechen.
Wenn es keine Möglichkeit gibt mit Freunden darüber zu reden, kann
man sich natürlich auch noch andere Wege suchen. Wenn man z.B.
relativ offene Eltern hat oder, wenn gar nichts mehr geht, kann man
auch versuchen eine Psychologin/ einen Psychologen auf zu suchen. Im
Gegenteil zu gängigen Klischees, sind diese nicht nur für
psychische Krankheiten, sondern auch einfache psychische Probleme da.

Auch wenn sich das anstrengend anhört,
lohnt es sich diese Schritte auszuprobieren und sich daran
weiterzuentwickeln. Seine eigenen Bedürfnisse, Grenzen und Wünsche
herauszufinden – und dann auch aussprechen zu können, ist eine
gute Grundlage, um das Gespräch mit Anderen zu suchen.

Wo fängt man zu zweit an?

In Realität schlägt das Herz wie wild
und man ist sich nicht so ganz sicher was gerade passiert und
irgendwie küsst man sich dann. Oder man ist betrunken auf ’ner
Party. Oder, oder, oder. Aber selten hat man sich vorher mal die
Zeit genommen, zu fragen, was das Gegenüber will. Hat man ja auch
nicht gelernt. Dabei ist das recht leicht. Ein guter Einstieg ist es
am Anfang zu fragen, wie gut sie/ er die eigenen Bedürfnisse und
Grenzen äußern kann. Also: Wie leicht fällt es einem überhaupt
„Nein“ in konkreten Momenten zu sagen? Klappt das einfach oder
wäre ein Handzeichen besser? Woran merke ich, was der anderen Person
gefällt? Wie kommt man aus unangenehmen Situationen raus? Was gibt
Sicherheit? Was macht Angst? Was ist einem verdammt peinlich?

Die Fragenliste kann man noch um ein
paar mehr erweitern. Dabei gilt die Regel: Statt anzunehmen, dass man
weiß, was man macht, fragt man einfach mal nach. Auf Basis dessen
können dann Vereinbarungen untereinander entstehen, wie
beispielsweise non-verbale Kommunikation. Oder einem fällt es schwer
die Initiative zu ergreifen und man findet es gut, dass der andere
sie ergreift und das auch praktisch machen soll. Aber nicht einfach
aus dem Nichts heraus.
Gleichzeitig sollte man sich bewusst sein,
dass es auch Machtverhältnisse gibt, die die Antworten verzerren
können und die einem Umgang auf Augenhöhe im Weg stehen können.
Diese gehen oftmals mit existierenden Unterdrückungsmechanismen, wie
Sexismus oder Rassismus einher, wie beispielsweise die typisch
weibliche Sozialisierung, die dafür sorgt, dass man eher hinnimmt,
was die andere Person macht. Aber auch andere Dynamiken wie
Wissenshierachien/ Erfahrungshorizont, Drogenkonsum,
Abhängigkeitsverhältnisse (finanzielle beispielsweise) oder ein zu
großer Altersunterschied können beispielsweise dazu führen kann,
dass dem einem Gegenüber mehr Bewusstsein zugeschrieben wird, als da
ist und die eine Person sich einfach unterordnet.

Das bedeutet auch, sich bewusst zu
sein, Konsens nicht immer dafür sorgt, dass Alles gut geht. Das
Zustimmungsprinzip Ja heißt Ja ist an der Stelle kein abstraktes,
starres Regelwerk. Manche Sachen sind klar, wie „Nein heißt Nein“.
Aber sexueller Konsens beschreibt eigentlich ein Verhältnis zwischen
den Menschen, die miteinander intim werden und kann deswegen sehr
unterschiedlich praktiziert und ausgeübt werden. Es geht darum, zu
versuchen keine Gewalt zu reproduzieren und sein eigenes Bedürfnis
nicht einfach so durchzusetzen, sondern gemeinsam das zu machen, was
einander Spaß macht. In dem Wissen und unter Berücksichtigung, dass
es Sozialisierung und gesellschaftliche Unterdrückungsmuster gibt,
die dabei im Weg stehen können bzw. den Zugang dazu erschweren.
Manchmal merkt man erst im Nachhinein, dass die Situation gar nicht
so abgelaufen ist, wie man es gewollt hat. Das kann passieren, auch
wenn man sich Mühe gibt. Sexualität ist von Natur aus ein
Spannungsfeld und gleichzeitig gibt es in unserer Gesellschaft
unfassbar viele Unterdrückungsmomente. Deswegen gehört auch dazu,
dass man im Nachhinein bereit ist, über das Erlebte zu reden, Kritik
anzunehmen oder Sachen, bei denen man sich unsicher war, selber aktiv
anzusprechen. Sex ist also unmöglich wirklich angenehm und schön
für beide, ohne Zusammenarbeit und gegenseitige Rücksichtnahme und
Vertrauen.

Das hört sich alles anstrengend und
0 romantisch an!

Für Manche ist’s anstrengend, sich mit
sich und den Bedürfnissen anderer auseinander zu setzen. Wenn du
aber nicht gerade darauf stehst, andere zu verletzen (was, wenn es im
konsensualen Rahmen passiert, wiederum voll ok ist) und dein eigenes
Bedürfnis über Andere zu stellen, dann merkst du, dass das der
praktikabelste Weg ist. Die Idee von Romantik, die uns in Filmen und
Serien beigebracht wird, basiert darauf, dass sie grenzüberschreitend
ist. Und was ist daran bitte romantisch? Es scheint nur oftmals
leichter, weil man sich der Gefahr entzieht einen Korb zu bekommen.
Solche Aussagen sind an der Stelle nur Aussagen mit der man sich aus
der Verantwortung ziehen möchte.

Also machen wir das alle so und wir
haben eine befreite Gesellschaft?

Nein. Leider ist dem nicht so. Es gibt
es Leute, die von der aktuellen Gesellschaftsdynamik profitieren.
Diese haben gar kein Interesse Etwas zu ändern, denn um die
Grundlage dieser Unterdrückungsformen zu beenden, müssten diese
Menschen ihren Besitz und ihre Privilegien aufgeben. Dementsprechend
kann die Grundlage, die das Bewusstsein erzeugt, dass es in Ordnung
ist, einfach so mit Leuten zu schlafen, ohne zu Fragen nicht einfach
so verschwinden und wird weiter reproduziert. Es ist also gar nicht
möglich, dass alle Menschen das einfach so machen. Schließlich
wurden die Meisten anders sozialisiert. Wir müssen also erst eine
Grundlage dafür schaffen.

Also können wir es auch gleich
lassen?

Auch nein. Als Revolutionär_Innen
wissen wir zwar, dass wir in der bürgerlichen Gesellschaft nicht
einfach so befreit leben können. Schließlich sind wir uns den
Zwängen, wie beispielsweise dem Zwang unsere Arbeitskraft verkaufen
zu müssen, nicht einfach so entledigen. Oder einfach so die Art und
Weise, wie wir sozialisiert wurden, abwaschen und neu anfangen. Aber
wir können uns den Mechanismen innerhalb der bürgerlichen
Gesellschaft bewusst sein. Wir können, aber müssen auch
gleichzeitig. Schließlich kämpfen wir für eine befreite
Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Das klappt am
besten, wenn wir schon im Hier und Jetzt für Verbesserungen kämpfen
und versuchen mit gesellschaftlichen Diskriminierungen einen Umgang
zu finden, statt das Ganze auf die Zeit „nach der Revolution“ zu
verschieben. Deswegen fordern wir beispielsweise: die
Vergesellschaftung der Hausarbeit, weil sie eine Grundlage des
Sexismus in der bürgerlichen Gesellschaft angreift, und eine enorme
Entlastung für die Arbeiter_Innenklasse wäre. Zudem haben wir uns
als Organisation dazu entschieden, aktiv sexuellen Konsens als
Bestandteil in unserer Debattenpraxis aufzunehmen. Erfolgreich kann
das Ganze aber nur sein, wenn wir dem System die Grundlage entziehen,
indem wir die bürgerliche Familie und die geschlechtlichen
Stereotype auf den Müllhaufen der Geschichte verbannen! Dies können
wir aber erst in einem System ohne Lohnarbeit machen, wo die
Entscheidung nicht mehr in den Händen der (meist männlichen)
herrschenden Klasse liegt. Deswegen müssen wir kollektiv die
Produktion in unseren Besitz nehmen, die Kernindustrien enteignen und
unter demokratische Planung der Arbeiter_Innenklasse stellen. Erst
dadurch können wir auch die Reproduktion der Arbeitskraft kollektiv
bestimmen und damit der doppelten Ausbeutung der Frau, Sexismus und
Rollenklischees den Boden entziehen. So wird sich auch die
Sozialisierung und das Recht auf guten Sex für alle, der nicht ins
Privatgespräch gedrängt wird, verändern.




Cardi B & Co. – Sex Sells oder sexuelle Befreiung?

Von Sani Meier

Einer der erfolgreichsten Hip-Hop-Songs
im Jahre 2020 war auch einer der am meist diskutierten, sodass, als
letzten August “WAP” (“Wet Ass Pussy“) von Cardi B &
Megan Thee Stallion erschien, die Welt der Popkultur kurz stillstand.
Während der Song in sozialen Medien wie TikTok direkt viral ging und
sich wochenlang an der Spitze der internationalen Charts hielt, löste
die explizite, sexpositive (= Bejahung einvernehmlicher Sexualität
in all ihren Formen) Message innerhalb der Hiphop-Szene und der
US-amerikanischen Politik eine hitzige Debatte aus. Gestritten wird
darüber, ab wann offene, weibliche Sexualität vulgär und moralisch
verwerflich ist. Wir gehen in diesem Artikel der Frage nach, warum
diese Thematik überhaupt so kontrovers ist und welche Perspektiven
Künstlerinnen wie Cardi B & Co. für eine befreite Sexualität
von Frauen bieten.

„WAP“ ist sicherlich nicht der
erste Song seiner Art, sondern steht in einer Tradition sexpositiven
weiblichen Hiphops von Künstlerinnen wie u.a. Lil Kim, Missy
Elliott, Trina oder Nicky Minaj. Ihre Songs stehen dafür, dass
Frauen Sex haben können, wann und wie sie wollen und dabei ihr
eigenes Vergnügen im Zentrum steht. Eine Perspektive, die in unserer
patriarchalen Gesellschaft üblicherweise tabuisiert und beschämt
wird, vor allem wenn sie von Frauen selbst aufgeworfen und gelebt
wird. Das wird vor allem daran deutlich, dass männliche Künstler
völlig ungehemmt über ihre Sexualität reden können, selbst wenn
ihre Inhalte dabei Gewalt gegen Frauen verherrlichen. Deutschrapper
wie die „187 Straßenbande“ beispielsweise sprechen in ihren
Texten davon, Frauen mit K.O.-Tropfen zu betäuben, um sie später zu
vergewaltigen und werden dafür höchstens aus feministischen Kreisen
kritisiert. Währenddessen brechen sie Spotify-Rekorde und
profitieren somit materiell von der sexuellen Unterdrückung von
Frauen. Es macht also offensichtlich einen Unterschied, wer über
Sexualität sprechen darf- Warum ist das so?

Weibliche Sexualität wird in unserer
Gesellschaft stark reglementiert und unsichtbar gemacht. Um zu
verstehen, warum das so ist und wer davon profitiert, müssen wir zu
den Ursprüngen des Patriarchats zurückgehen. Kurz zusammengefasst
lässt sich historisch eine gesellschaftliche Ungleichbehandlung von
Frauen ab dem Zeitpunkt nachweisen, an dem Menschen anfingen,
sesshaft zu werden und Privateigentum zu besitzen. Ab diesem
Zeitpunkt spielte also auch die Vererbung genau dieses Eigentums eine
wichtige Rolle und dies geschah meist über die Erblinie des Vaters.
Um eine korrekte Vererbung zu gewährleisten, musste also eindeutig
nachweisbar sein, welche Kinder zu welchem Vater gehörten. Ohne
moderne Techniken der Vaterschaftstests oder ähnlichem bedeutete
dies die Einführung der Monogamie- für Frauen. Nur wenn es sicher
war, dass Frauen nur mit ihren Männern Sex hatten, war eine
Vaterschaft eindeutig nachweisbar. Was ihre Männer währenddessen
machten, wurde erst deutlich später relevant. Es gab also eine
materielle Notwendigkeit dafür, dass Frauen ihre Sexualität nicht
mehr frei auslebten, sondern einzig auf ihren Partner oder Ehemann
beschränkten. Dass ihre Bedürfnisse möglicherweise ganz andere
waren, musste negiert und unterdrückt werden. Die Auswirkungen
dessen spüren wir noch heute: Weibliche Körper werden von klein auf
durch Politik, Gesetze und kulturelle oder religiöse Vorstellungen
fremdbestimmt. Frauen wird anerzogen, sich für ihre Sexualität und
Körper zu schämen, ihre „Reize“ zu zügeln. Abweichendes
Verhalten wird moralisch abgewertet, was sich unter anderem daran
zeigt, dass ein Großteil aller sexistischen Beleidigungen für
Frauen auf ihre ungehemmte Sexualität abzielt. Diese Vorstellungen
sind oft so verinnerlicht, dass sich Frauen dahingehend selbst und
gegenseitig überwachen.

Aber nicht nur vor einigen
Jahrtausenden, sondern auch heute noch ist genau diese Kontrolle im
Interesse des kapitalistischen Systems: Indem aus Frauen sexuell
passive Wesen gemacht werden, lassen sie sich besser kontrollieren
und fügen sich einfacher in ihre zugeteilte gesellschaftliche
Funktion der Reproduktion ein. Im Rahmen der bürgerlichen
Kleinfamilie sollen sie im besten Fall möglichst viele Kinder
kriegen und Fürsorge für andere leisten. Für sexuelle
Selbstverwirklichung bleibt da kein Platz. Sex wird als Aktivität
erlebt, die den eigenen Körper zwar involviert, aber dem eigenen
Vergnügen wenig bis keinen Stellenwert einräumt. An der aktuellen
Kontroverse zeigen sich zusätzlich auch rassistische Aspekte, denn
vor allem schwarze Frauen sind stark eingeschränkt in den
Möglichkeiten ihrer sexuellen Selbstbestimmung. Besonders ihre
Darstellung in pornographischen Filmen hat einen Stereotyp der
„ungezügelten & wilden schwarzen Sexualität“ erschaffen,
den es zu „zähmen“ gelte.

Vor diesem Hintergrund ist es also
nicht mehr überraschend, dass Künstlerinnen wie Cardi B & Megan
Thee Stallion vor allem in Zeiten von Krise und sexistischen
Rollbacks Wut ernten, denn ihre Texte fordern die Kontrolle über
sexuelle Narrative und ihre Körper zurück. Dies ist ein großer
Fortschritt hinsichtlich der Frage, wer über weibliche Sexualität
sprechen und von ihr profitieren darf, allerdings muss es bis zu
einem bestimmten Punkt auch als das bewertet werden, was es ist: Ein
Produkt auf dem kapitalistischen Markt, welches möglichst viel
Profit einbringen muss. So ist es zwar sicherlich relevant, dass die
Künstlerinnen zwei Women of Colour sind, die ihre Sexualität und
Körper in ihrer Musik thematisieren, anstelle von männlichen
Künstlern, die diese Themen lediglich für ihren Profit nutzen,
indem Frauen als Accessoires in ihren Musikvideos auftauchen.
Allerdings stehen auch sie unter dem Druck, sich selbst möglichst
erfolgreich zu vermarkten, was in unserer Gesellschaft leider am
effektivsten über „sex sells“ funktioniert. Der Text ist auch
ziemlich auf sexuelle und Schönheitsklischees der bürgerlichen
Gesellschaft ausgelegt (Frauen mit enger Scheide, und Männer mit
großem Penis), und so dürfte ihr Erfolg auch zum Teil durch die
damit erreichte Provokation zu erklären sein. Wie bereits vorher
ausgeführt, liegt der Ursprung der sexuellen Unterdrückung der Frau
im Kapitalismus selbst und kann deshalb auch nur im Kampf gegen
diesen überwunden werden. Empowernde Texte können diesen vielleicht
unterstützen, indem sie das Bewusstsein der Konsument_Innen
beeinflussen, sie können ihn aber nicht ersetzen. Im Gegenteil kann
es bei sehr sexistisch eingestellten Menschen und insbesondere
mackerhaften Männern, auch zu einer vermehrten Ablehnung oder noch
vermehrten Objektivierung des weiblichen Körpers führen, während
es insbesondere Frauen natürlich auch ermutigen kann. Dennoch wird
es die sexistische Unterdrückung nicht beenden, weil es ihre Ursache
nicht angreift. Es braucht also eine revolutionäre Perspektive, die
die materielle Grundlage dieser Gesellschaft als Ganzes verändert
und nicht nur die Musik, die höchstens die Reproduktion dieser
verhindern kann.

Trotzdem lassen sich einige positive
Effekte festhalten: So ist das klare Aussprechen sexueller Wünsche
auch ein wichtiger Bestandteil von sexuellem Konsens und Texte, dies
das thematisieren, könnten dabei helfen, einen offenen Umgang damit
zu normalisieren. Wenn du noch mehr zum Thema Konsens wissen willst,
haben wir in dieser Zeitung auch einen ganzen Artikel dazu
geschrieben:„Let’s talk about Sex: über Konsens reden – Aber
wie?“
. Weiterhin brechen sie mit dem Anspruch, dass alle von
der Sexualität von Frauen profitieren können, außer sie selbst und
machen weibliche Perspektiven, Wünsche und Fantasien sichtbar. In
einer Gesellschaft, in der sich sexuelle Medien wie Musik und
Pornographie vor allem an ein männliches Publikum richten, bieten
sie Identifikationsfläche für viele junge Frauen und erschaffen
Narrative, in denen sie nicht nur passive Teilnehmerinnen sind,
sondern selbst aktiv ihre Lust in den Fokus stellen.