Alexander Breitkopf, November 2023
Heute vor 106 Jahren fand im damaligen Russland die Oktoberrevolution statt und brachte die Gründung der Sowjetunion mit sich. Es war der große Sieg des Sozialismus, auf den rund 70 Jahre später mit dem Fall der Sowjetunion seine große Niederlage folgte. Wie kam es dazu, dass das bislang größte sozialistische Projekt der Weltgeschichte so krachend scheiterte? Lag es an der gierigen Natur des Menschen? Am inhärent autoritären Charakter des Staates? War es einfach Pech?
Die Sowjetunion wurde gegründet als Arbeiter_Innenstaat und diesen Charakter hat sie bis ’91 nie ganz verloren. Die bedeutende Mehrheit der Produktionsmittel verblieb in der Hand des Staates, der Außenhandel blieb ebenfalls unter seiner Kontrolle, und statt dem Chaos des freien Marktes herrschte Planwirtschaft. Nichtsdestotrotz bedeutet das nicht, dass die Entscheidungen der Regierung auch im Interesse unserer Klasse waren. Im Gegensatz zum Kapitalismus, der sich auf die sich bereits im Feudalismus entwickelnden kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen stützen konnte, mussten diese für den Sozialismus erst entstehen. Da die Durchsetzung der neuen Ordnung gegenüber der alten an die Entwicklung der Produktivkräfte geknüpft ist, ist ihr Sieg auch immer zu bedeutenden Teilen eine ökonomische Frage – die neue Wirtschaftsweise, die Produktivkräfte mehr als die anderen fördert, gewinnt auf dem Weltmarkt. Eine ökonomische Vormachtstellung zementiert den Sieg des wirtschaftlichen Systems. Die Wirtschaft der Sowjetunion war jedoch nach einigen guten Jahrzehnten von Stagnation geprägt, und da die imperialistischen Staaten nicht kampflos kleinbeigeben, bedeutet Stillstand Rückschritt. Viel stärker als im Kapitalismus ist die Wirtschaft im Arbeiter_Innenstaat durch Entscheidungen des Staates bestimmt und bedarf einer korrekten Verwaltung. In diesem Sinne ist ein ökonomisches Versagen auch ein politisches (auch wenn die ökonomischen Grundlagen selbstverständlich eine bedeutende Rolle spielen).
Dass die Sowjetunion sich nicht auf dem besten Weg zum Kommunismus befand, lässt sich jedoch auch direkt an ihrer politischen Struktur beobachten. Der Staat nimmt im Sozialismus den Charakter eines Halbstaates unter der Kontrolle der Räte an, der die Bedingungen seiner eigenen Auflösung bereits in sich trägt. Anfangs noch benötigt als Struktur, die die Konterrevolution zurückhält und die Massen zur politischen Teilhabe befähigt, verliert er seine Notwendigkeit, je näher der Kommunismus kommt, und wird kleiner, bis er verschwindet. Das Gegenteil war in der Sowjetunion der Fall: Diese wurde geprägt von einem immer größeren und repressiveren bürokratischen Apparat, dessen Mitglieder ihre Stellung gegenüber den durchschnittlichen Arbeiter_Innen immer weiter zu verbessern wussten. Demokratische Strukturen waren Mangelware, die Identifikation der Arbeiter_Innen mit „ihrem“ Staat schwand zusehends – politische Emanzipation der Klasse sieht anders aus.
Wie kam es zu dieser Verkehrung der sozialistischen Ideen in ihr Gegenteil? Zentraler Faktor des Niedergangs der Sowjetunion waren die ökonomischen Voraussetzungen, die ihr geboten waren. Das zaristische Russland war bis auf wenige Ausnahmen wie St. Petersburg oder Moskau weit davon entfernt, kapitalistisches Zentrum zu sein, es hatte die Reste des Feudalismus nicht einmal vollständig abgeschüttelt. Diese Tatsache wurde durch den auf die Revolution folgenden Bürger_Innenkrieg noch verschärft, sodass Armut und Mangel herrschten. Dieser Tatsache sollte mittels der „Neuen ökonomischen Politik“, die in begrenztem Maße marktwirtschaftliche Elemente einführte, entgegen getreten werden. Dies geschah nicht ohne Erfolg – die Sowjetunion machte rasche Fortschritte in Richtung des Zieles, ökonomisch die imperialistischen Industriestaaten einzuholen. Zugleich ermöglichte dieser Aufschwung aber auch die Herausbildung einer privilegierten Schicht, und es wuchs ein bürokratischer Apparat heran, um zwischen diesen Gegensätzen zu schlichten. In Trotzkis Worten: „Wenn die Waren knapp sind, müssen die Käufer Schlange stehen. Wenn die Schlange sehr lang wird, muss ein Polizist für Ordnung sorgen.“ Diese Tatsachen waren ein Stück weit unvermeidbar. Der Kapitalismus löst sich nicht mit dem Hissen der ersten Sowjetflagge in Luft auf, seine Strukturen verschwinden nicht von heute auf morgen, und auf diese in begrenzten Maße zurückzugreifen ist in der Übergangszeit zwischen den Systemen auch für die perfekteste revolutionäre Partei unvermeidbar.
Im speziellen Fall der Sowjetunion entwickelten diese bürokratischen Organe jedoch mit ihrem Anwachsen auch ihre eigenen Interessen, namentlich den eigenen Machtausbau, und sie fanden sich in der Lage, diese auch durchzusetzen. Dies wurde dadurch begünstigt, dass, ebenfalls im Zuge des Bürger_Innenkrieges, führende Köpfe der Abrieter_Innenbewegung gestorben und andere ein Misstrauen gegenüber den Massen entwickelt hatten – die langen, konfliktreichen Jahre ließen viele müde und niedergeschlagen zurück. Gespiegelt wurde dies in einer gewissen Gleichgültigkeit der Massen an der Politik der Führung – der „Wille zur Massenorganisierung“ war an beiden Enden beschädigt. Besonders hilfreich bei der Festigung der Durchsetzung der bürokratischen Macht waren dabei zudem zwei politische Maßnahmen, die im Zuge des Bürger_Innenkrieges getroffen worden waren: Das Verbot von Oppositionsparteien sowie das Verbot von Fraktionen innerhalb der revolutionären Partei. Eigentlich als temporäre Maßnahme für die besonders zugespitzten Verhältnisse gedacht, waren diese nun willkommenes Mittel für die Kleinhaltung von Opposition von innen und außen auch in Friedenszeiten. Es kam zu einer Entmachtung der Partei und zu einer Zentralisierung der Kontrolle im Staat im bürokratischen Apparat unter der Führung von Stalin.
Dessen Theorie des „Sozialismus in einem Land“ wurde zur Staatsdoktrin, und das war den Massen durchaus nicht schwer zu verkaufen: Eine Reihe von Niederlagen, beispielsweise das Ausbleiben der Revolution in Deutschland, hatten den Glauben in eine Weltrevolution erodiert. Das bedeutete aber auch eine Abkehr vom Internationalismus: Friedliche Koexistenz mit den imperialistischen Staaten wurde gepredigt & beispielsweise mit dem Beitritt in den „Völkerbund“ auch praktisch umgesetzt. Arbeiter_Innenkämpfe wurden nur da unterstützt, wo es den eigenen Interessen diente, in Spanien setzten sich stalinistische Kräfte sogar direkt gegen sozialistische Forderungen ein. Unter sowjetischer Führung setzte sich diese Politik auch in der Kommunistischen Internationale durch.
Im Grunde ist es zu viel des Lobs, den „Sozialismus in einem Land“ überhaupt als Theorie zu bezeichnen. Sie wurde nirgends in vollständiger Form formuliert, im Grunde erfüllte sie nur den Zweck, die tagesaktuelle Politik Stalins im Nachhinein zu rechtfertigen. Bucharin selbst (!!) fasste seinerzeit den „Sozialismus in einem Land“ mit den Worten zusammen. „Wir können den Sozialismus selbst auf dieser armseligen technischen Grundlage aufbauen, das Wachsen des Sozialismus wird viel, viel langsamer gehen, wir werden im Schneckentempo dahinkriechen, und doch werden wir an diesem Sozialismus bauen, ja ihn gänzlich errichten.“ Kurze Zeit später wurde proklamiert, man müsse „in verhältnismäßig minimaler historischer Frist“ die kapitalistischen Staaten ein- und überholen. Mal war die Sowjetunion schon sozialistisch, mal nicht, mal gab es noch Klassen, mal nicht. Besonders deutlich werden diese Widersprüchlichkeiten am Schicksal des Kulakentums, des kleinbürgerlichen Bäuer_Innentums, das erst lange Jahre unter der Parole „Bereichert euch!“ heranwachsen durfte, bis die Führung merkte, dass sie den Karren „im Schneckentempo“ gegen die Wand fuhr. Als Gegenmaßnahme wurde aufs Gaspedal gedrückt, und die überhastete Enteignung der Kulaken hatte fatale Folgen für Produktion wie Menschen gleichermaßen. Dass jede Theorie an der Praxis geprüft und, wo nötig, revidiert werden muss, ist klar, aber eine „Theorie“, die ohne ersichtlichen Grund erst A und dann B hervorbringt, ist offensichtlich von klaffenden Lücken durchzogen.
Der Niedergang und Fall der Sowjetunion haben historisch belegt, dass die Idee des Sozialismus in einem Lande nicht funktionstüchtig ist. Es hätte einer erneuten, politischen Revolution bedurft, um den Weg in Richtung Kommunismus erneut einzuschlagen, einer Redemokratisierung in Form der Wiedereinführung von Rätemacht und demokratischen Zentralismus, einer Wiederbesinnung auf den internationalistischen Charakter der Arbeiter_Innenbewegung, auch auf die Gefahr hin, in Konflikt mit den imperialistischen Staaten zu treten. Statt aus der Not eine Tugend zu machen, gilt es heute, mit den Lehren aus der Oktoberrevolution dafür zu kämpfen, dass der nächsten sozialistischen Revolution ein besseres Schicksal vergönnt ist.