Von Svenja Spunck
Was eine große Demonstration für Frieden und gegen den Staatsterror der AKP werden sollte, endete im blutigsten Massaker der jüngsten Geschichte der türkischen Republik. Über 10.000 junge Menschen aus dem ganzen Land waren über Nacht angereist, um sich vor dem Hauptbahnhof in Ankara zum sogenannten „Miting“ zu versammeln. Hauptsächlich hatten die Gewerkschaften DISK, KESK, TMMOB und TTB mobilisiert, sowie natürlich auch die HDP und viele weitere linke Gruppierungen. Alle schätzten die Demo im Vorhinein als einen gemächlichen Marsch ein, bei dem vielleicht höchstens am späten Nachmittag Ausschreitungen der Polizei gegenüber den Jugendlichen zu erwarten seien. Als wir uns vor dem Bahnhof trafen, herrschte ausgelassene Stimmung, lange nicht gesehene GenossInnen wurden begrüßt, Halay getanzt und kurdische Lieder für Rojava gesungen.
Die Menschen trugen Schilder und Plakate, auf denen stand „Wie haben wir es vermisst, einen Himmel ohne Blut zu sehen“.
Um 10:04 Uhr detonierten dann inmitten des HDP-Blocks direkt hintereinander zwei Bomben, wovon mindestens eine von einem Selbstmordattentäter gezündet wurde. Fahnen und Körperteile wurden durch die Luft geschleudert, sofort verbreitete sich der Geruch von verbranntem Fleisch und Blut. Die Menschen gerieten in Panik, begannen zu schreien und zu rennen. In den ersten Minuten begriff niemand, was geschehen war. Das menschliche Gehirn reagiert im Schutzmodus: man versucht das Gesehene mit Bekanntem zu verknüpfen. Kam der Knall von einem schweren Gegenstand, der heruntergefallen war? Hatte die Polizei vermutlich in die Menge geschossen? War das Fleisch auf dem Boden vielleicht nur vom Köfte-Stand heruntergefallen? War das dort wirklich ein Herz und daneben eine Leber? Noch während wir rannten und versuchten, unsere GenossInnen zu finden, griff die Polizei die Menschenmenge mit Tränengas an. Dies versperrte den ohnehin ungenügenden Krankenwagen (2!!) den Weg, was sicherlich dazu beitrug, dass im Laufe der nächsten Stunden über 100 Menschen ihr Leben verloren und mehr als 500 verletzt ins Krankenhaus kamen. Ein Video zeigte uns später, dass einige GewerkschafterInnen sich mit Holzlatten gegen die Angriffe der Polizei wehrten – wenigstens eine kleine Möglichkeit, den Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Nachdem wir uns auf einer nahen Wiese gesammelt hatten, teilten wir uns selbst die glücklichste Nachricht des Tages mit: alle unsere GenossInnen waren gesund, keiner verschwunden oder verletzt. Im Schockzustand, viele in Tränen aufgelöst, liefen wir los, um uns in der Innenstadt im Parteibüro zu versammeln. Als wir am Krankenhaus vorbeikamen, standen Menschen vor der Tür, die jeden nach seiner Blutgruppe fragten und um Spenden baten. Noch die ganze Nacht über gingen Leute in die Krankenhäuser, um zu helfen, sei es nur mit warmen Decken oder Schokolade.
Im Büro angekommen, setzte Stille ein, Totenstille, wie auf einem Friedhof. Die platonische Frage an neu dazukommende Leute „wie geht’s“ wurde mit einem platonischen „gut“ beantwortet. Jedes Telefonat begann mit „Ich lebe“. Im Laufe der nächsten Stunden stieg nicht nur die Zahl der Toten, sondern auch die Zahl der absolut hirnlosen Pressemitteilungen und Interviews von AKP-Politikern im Fernsehen.
Hinter dem Attentat würden vermutlich Terroristen stecken, entweder von der PKK, zwei anderen linken Gruppen, oder auch vom IS. Da sei man sich noch nicht sicher, aber alles sei möglich. Angeblich sei das Motiv der PKK, Mitleid zu erregen und dadurch mehr Stimmen für die HDP bei den kommenden Wahlen am 01. November zu erpressen. Im Grunde zeigen diese zynischen Unterstellungen und Lügen nur, wie die AKP-Führung denkt. Sie unterschiebt der kurdischen Befreiungsbewegung, eine Politik, die sie selbst gegenüber den unterdrückten Massen seit Jahren betreibt.
Wahrscheinlich zutreffend ist auch daher, was der HDP-Vorsitzende Demirtas der Regierung vorwirft, nämlich dass die Anschläge unter Billigung durch die staatlichen Dienste, vielleicht durch deren (Mit-)Organisation stattfanden. Das Attentat von Ankara ist seit dem Verlust der AKP-Mehrheit der dritte Anschlag in Folge auf linke Versammlungen. Kurz vor den Wahlen starben dabei mehrere Menschen in Diyarbakir, danach in Suruc. Erdogan selbst hatte vor kurzem erst deklariert, wenn das Volk ihm und seiner Partei die 400 Sitze im Parlament gegeben hätte, würde das Land nicht im Chaos versinken. Es scheint, als ob dieser Drohung nun Taten folgen, um die gewünschten Tatsachen zu schaffen.
Erst am 09. Oktober hatte die PKK bekannt gegeben, dass sie einen Waffenstillstand ausrufe, einen einseitigen, solange ihre Stellungen nicht angegriffen werden. In Zeiten eines sich anbahnenden Bürgerkrieges und massiver Repressionen gegen die kurdische Bevölkerung im Land ist dies wirklich ein bemerkenswertes Angebot. Die nach wie vor auf die Wahlen konzentrierte HDP könnte auch Anfang November wieder über die 10-Prozent-Hürde kommen. Ihre Hauptforderung, die sie von anderen Parteien unterscheidet, ist der Ruf nach Frieden im Land.
Dass die Spaltung in der Bevölkerung zunahm, zeigten die kürzlich verübten faschistischen Angriffe auf 400 Büros der HDP im ganzen Land. Um ihre Unterstützung zu halten, vielleicht sogar noch zu verstärken, macht die HDP deshalb deutlich, dass sie die Partei sei, die als einzige ernsthaft um Frieden und um das gleichberechtige Zusammenleben der Völker im Land bemüht ist.
Doch wie weit kommt man mit einer stetig pazifistischen, „reformistischen“ Politik, in einem Land, das von der eigenen Mitgliedschaft als faschistisch bezeichnet wird, in dem die Pressefreiheit ausgesetzt wird und in dem Attentate verübt werden, ohne dass ein Verantwortlicher dafür zur Rechenschaft gezogen wird?
Diese Frage beschäftigt nun viele in der Linken hier. Die Diskussionen über das „Wie weiter?“ finden statt in einer Zeit, in der Blut und Tod auf den Straßen klebt, in der dennoch viele Menschen Hoffnungen auf eine Besserung und auf mehr Demokratie durch die kommenden Wahlen haben und in der alle einer neuen Qualität der Gewalt gegenüberstehen, die auf jeder kommenden Demonstration wiederkehren könnte.
Kann man weitermachen wie bisher? An den Unis kleine Demonstrationen abhalten, zu Generalstreiks aufrufen, an denen sich dann doch nur wenige Betriebe beteiligen und auf facebook Bilder der Verstorbenen teilen, die mit Phrasen unterschrieben sind, die Gerechtigkeit fordern? Oder ist nicht langsam der Punkt erreicht, an dem andere Mittel notwendig sind?
Das Massaker von Ankara zeigt, dass wir es in der Türkei mit einer zunehmenden Tendenz zur nur noch notdürftig verhüllten diktatorischen Herrschaft zu tun haben, dass das AKP-Regime alles andere als ein „normales“ parlamentarisches Regime darstellt. Allein die Existenz einer legalen Massenpartei, die die kurdische Befreiungsbewegung mit großen Teilen der türkischen Linken verbindet, ist trotz ihrer reformerischen Ausrichtung und ihrer oft kleinbürgerlichen sozialen Basis und Programmatik zu viel für den türkischen Staat.
Gegen die zunehmende Repression und die Provokationen des Staates ist es notwendig, eine Einheitsfront aller Organisationen der Linken und ArbeiterInnenbewegung aufzubauen – nur so kann auch die Basis für politische Massenstreiks gelegt werden, die das Regime in die Defensive zwingen können und die ihrerseits gegen Angriffe von faschistischen und halb-faschistischen Kräften sowie gegen staatliche Repression verteidigt werden müssen.