Libanon, Irak – blüht der Arabische Frühling wieder auf?

An vielen Orten in Nordafrika und Westasien kam es in den vergangenen Wochen und Monaten zu Massenprotesten. Die Gründe dafür sind überall ähnlich: Massenarbeitslosigkeit, steigende Preise, schlechte öffentliche Infrastruktur. Schuld daran sind staatliche Sparprogramme, die die lokalen Regierungen durch den Druck ihrer imperialistischen Geldgeber_innen auferlegen mussten. Das Bild der „korrupten und unfähigen Politiker_innen“, das die Medien im Westen gerne zeichnen, verschleiert nur zu gut, die eigene Mitschuld an der aktuellen Misere. Noch während der Protestwelle des sogenannten „Arabischen Frühlings“ haben viele arabische Regierungen die Staatsausgaben erhöht, um die Demonstrierenden durch öffentliche Investitionen zu befrieden. Angesichts ausbleibenden Wirtschaftswachstums und erhöhtem Druck der internationalen Gläubiger, sahen sie sich nun jedoch gezwungen, mit neoliberalen Sparmaßnahmen die Staatsausgaben zu verringern. Der Funken, der die Proteste entzündete sah vielerorts anders aus. Im Libanon entflammte zum Beispiel die Einführung einer Steuer auf Whatsapp-Anrufe die lange angestaute Wut über Jahrzehnte neoliberaler Wirtschaftspolitik. Unzählige Videos und Bilder dokumentieren, wie die großen Plätze überfüllt wurden. Selbst in den Seitenstraßen beteiligten sich die Einwohner_Innen, so dass zeitweise ganze Städte oder Wohngebiete vollzählig an den Protesten teilnahmen. Dabei werden die Rufe nach mehr Freiheit, mehr Mitbestimmung und Demokratie immer lauter. Gleichzeitig sind die Massen wütend auf die Korruption und die Aufteilung der Ämter nach religiösen/sektiererischen Linien unter den wirtschaftlichen und politischen Eliten des Landes. Während sich die Taschen der Reichen füllen, werden jene der Armen noch leerer gemacht.

Ähnlich auch im Irak. Die Worte eines Demonstranten zeigen deutlich, wie groß der Hass auf die Bourgeoisie und ihre Parteien ist: „Diese Männer repräsentieren uns nicht. Wir wollen keine Parteien mehr. Wir möchten nicht, dass jemand in unserem Namen spricht!“. Die Demonstrant_Innen bestritten jegliche Verbindungen zu Parteien und Milizengruppen, denn diese sehen sie auch als Teil der zahlreichen Probleme an. In der südlichen Stadt im Irak Nasiriya haben Demonstrant_Innen Büros von 6 politischen Parteien angezündet. Diese hatten versucht, die Situation auszunutzen.

Irak – die militantesten Demonstrationen seit Jahren

Der Irak ist der fünftgrößte Ölproduzent der Welt, aber die Bevölkerung bekommt von diesem „Reichtum“ nichts ab. Die riesigen Gewinne aus den Bodenschätzen behalten sich stattdessen die Unternehmer_innen ein oder versickern in einem korrupten Staatsapparat. 22 % der Bevölkerung leben laut den Vereinten Nationen in absoluter Armut und 25 % der Jugendlichen sind laut der Weltbank arbeitslos, die Dunkelziffer liegt noch viel höher. Nachdem das Land von einer US-Invasion zerstört wurde kam eine politische Elite an die Macht, die abseits ihrer eigenen Bereicherung relativ wenig auf die Kette bekommen hat. Die Folge waren die Ausbreitung des IS, Einflussgewinne durch den Iran sowie eine sich stetig verschlechternde Lebenssituation der Iraker_innen auf allen Ebenen.

Die Massenarbeitslosigkeit, das Fehlen der wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen und die brutale Gewalt des Staates gegen die Demonstrant_Innen bewegte Tausende auf die Straße. Unteranderem im Bezirk Sadr City von Bagdad, wo 3,5 Millionen Menschen leben, wurde die Demonstration brutal niedergeschlagen. Insgesamt wurden während der Proteste im ganzen Land bis zu 300 Menschen getötet und bis zu 6.000 verletzt.

Die Protestierenden verlangen den Sturz von Premierminister Adil Abd al-Mahdi. Die irakischen Regierungen sind seit 2003 im Grunde in Koalitionen rivalisierender Parteien, um die Ressourcen des Landes zu plündern. Und die Forderungen der Massen gehen noch weiter, sie verlangen mehr Mitbestimmung und sie sprechen sich gegen das iranische Mullah- Regime aus, welches bis heute viele wichtige Teile der irakischen Politik koordiniert. Im Zuge dessen wurden Rufe laut wie: „Iran raus raus, Bagdad bleibt frei.“

Vor allem die Jugend, die seit zwei Jahrzehnten nichts gesehen und erlebt hat außer Krieg, Terror, Verelendung, Arbeitslosigkeit und Armut findet sich in den ersten Reihen der Demonstrationen, Streiks und Besetzungen.

So entstanden auf dem Tahrir-Platz in Bagdad nach einer Woche der Proteste Formen der Selbstorganisation. Es gibt freies Essen und Strom. Street Art zeigt den Geist der Massen. Eines der höchsten Gebäude am Tahrir-Platz, in welchem sich ein türkisches Restaurant befand, wurde besetzt und ist zum Symbol der andauernden Proteste im Land geworden.

Am vergangenen Wochenende haben die Arbeiter_Innen von Basra den Hafen der Stadt und die Ölfelder bestreikt. Die irakischen Behörden wussten was ihnen blüht, wenn aus den Streiks ein Lauffeuer des Klassenkampfes entflammen würde und gingen mit aller Härte gegen die Streiks vor. Mehrere Tote und hunderte Verletzte waren die Folge. Schuld an der Ermordung dieser Arbeiter_innen sind nicht allein die irakischen Machthaber_Innen sondern auch die europäischen und nordamerikanischen Kapitale, deren viel an ihrem Zugang zu billigen Öl gelegen ist.

Mit allen Mitteln versucht der Staat deshalb, die Proteste zum Schweigen zu bringen. Mit Tränengas und Scharfschützen der Polizei versuchen sie, die Menschen auf den Straßen zu zerstreuen. Die Regierung schaltete bereits mehrmals das Internet ab, um eine Ausbreitung von Informationen und die Koordination weiterer Proteste zu verhindern.

Bis jetzt hat die Regierung zwei verzweifelte Pakete von sozialen Reformen versprochen. Aber wenn einmal die Massen entschlossen sind, die korrupte Bande von Politiker_Innen, Geistlichen und Gelehrten loszuwerden, ist es unwahrscheinlich, dass solche schwachen Abhilfemaßnahmen die Dinge für lange Zeit zum Schweigen bringen. Die nächste Konfrontation und weitere Zuspitzung sind vorprogrammiert.

Libanon

Auch hier finden Massenproteste gegen Korruption einerseits, sowie gegen die vetternwirtschaftliche Aufteilung des Landes und den politischen Einfluss entlang konfessioneller Linien andererseits statt. Auf den Straßen von Beirut hört man sogar den Slogan „Klasse gegen Klasse“, auch wenn die Bewegung insgesamt nicht nur von den proletarischen und bäuerlichen, sondern auch den kleinbürgerlichen Schichten der Bevölkerung getragen wird.

Und auch im Libanon sehen wir, dass wie im „Arabischen Frühling“ die Straßen und Plätze besetzt wurden. Das Land an der Mittelmeerküste ist tief verschuldet. Die Staatsverschuldung erreicht 150 % der Wirtschaftsleistung. Aber auch im Libanon sind wichtige Dienstleistungen nicht bis kaum vorhanden. Es gibt keine Züge oder öffentlichen Nahverkehr. Für Stunden fällt auch die Stromversorgung immer wieder aus. Die Menschen in Beirut bekommen ihr Wasser per Lastwagen und aufgrund der seit 2015 nicht mehr funktionierenden Müllentsorgung verschmutzen die Küsten und Straßen. Vor allem die sehr hohe Armuts- und Arbeitslosenrate brachte die Massen zu Hunderttausenden auf die Straße: 37 % der Jugendlichen sind arbeitslos. Auf die gesamte Bevölkerung bezogen beträgt die Arbeitslosenrate 25 %. Außerdem leben rund 28,5 % der Menschen unterhalb der Armutsgrenze und am stärksten sind die Geflüchteten im Libanon betroffen. Dabei ist anzumerken, dass im Land bis zu 1,5 Millionen Geflüchtete leben. 65 % der Geflüchteten aus Syrien fristen ihr Dasein in absoluter Armut. Ebenso 65 % der palästinensischen Flüchtlinge und 89 % der palästinensischen Flüchtlinge, die aus Syrien kamen.

Als weitere Steuern auf die Nutzung von WhatsApp kommen und die Arbeiter_Innen und Jugendlichen für die Misswirtschaft der Regierung wieder zur Kasse gebeten werden sollten, reichte es der Bevölkerung. An vorderster Front stehen oft Jugendliche und Frauen aus der Arbeiter_Innenklasse, die kaum noch eine Perspektive in ihrem Land sehen. Sie haben es satt, sich für den verschwenderischen Lifestyle der herrschenden Klasse ausbeuten zu lassen, die dann in riesigen Villen mit Swimmingpool wohnen, währenddessen mehr als 3,2 Millionen Menschen in vollkommener Armut leben (Bevölkerungsanzahl insgesamt 5,9 Millionen).

Der Präsident das Landes, Michel Aoun, kündigte an, den Libanon mit einem 3-Punkte-Plan aus der wirtschaftlichen und sozialen Krise zu führen. Zuvor hatte schon Hariri, der Premierminister, Reformen angekündigt. Aber alle diese vorgeschobenen Maßnahmen konnten die Massen bislang nicht täuschen. Saad Hariri trat schließlich am 29. Oktober nach massenhaften Protesten zurück.

Er hatte seinen Rücktritt angekündigt, nachdem die schiitische Hisbollahmiliz und die Amal-Bewegung (eine konservative und populistische Partei der SchiitInnen im Libanon) ein Protestcamp zerstört und die Demonstrant_Innen auf dem Märtyrerplatz im Zentrum von Beirut verprügelt hatten. Die Hisbollah präsentierte sich in der Vergangenheit zwar oft als „soziale Kraft“ und Vertreterin der Armen, aber sie ist selbst eine wichtige Stütze des herrschenden Systems. Während ihr Vorsitzender Nasrallah verbal zu Beginn „Verständnis“ für die Proteste bekundete, so lehnte er doch den Rücktritt Hariris ab. Die Hisbollah stellt nicht nur eine wichtige Verbündete des Iran und des Assad-Regimes in Syrien dar, sie ist auch eine der einflussreichsten politischen Kräfte im Land, verfügt über eigene militärische Stärke und kontrolliert wichtige Transportknotenpunkte wie Flughäfen und Häfen. Die schiitische Miliz rief ihre Anhänger_Innen dazu auf, an den Protesten nicht teilzunehmen, nachdem in den von ihr beherrschten Stadtteilen Beiruts und in den Hochburgen im Süden des Landes Menschen ebenfalls gegen Korruption und Misswirtschaft auf die Straße gingen.

Vor allem Generalstreiks legten und legen weiterhin viele Produktionsstätten des Landes lahm. IM Gegensatz zu früheren Massenprotesten im Libanon sind die Gewerkschaften aktuell mit an der vordersten Front dabei. Teilweise zeigten die Aktionen auch antikapitalistischen Charakter: So wurde die Losung „Nieder mit dem Kapital“ von den Demonstrationen durch die Straßen von Beirut getragen, bis es die Bankiers und politischen Führer_Innen hören konnten.

Seit Wochen sieht man, wie Beirut und Tripoli brennen und es auf den Hauptstraßen keinen Platz mehr gibt, da sie von Menschen überfüllt sind. Am 13. November wandte sich Präsident Aoun an die Demonstrant_Innen und erklärte, dass er eine Technokrat_Innen-Regierung gründen werde. Wer damit nicht einverstanden sei, solle in ein anderes Land auswandern. Dies zeigt das zynische Gesicht dieses Staates und den Unwillen der Herrschenden, einen Schritt auf die demonstrierenden Massen zuzugehen. Am gleichen Tag starb Alaa Abou Fakher, ein Mitglied der progressiven Sozialistischen Partei, bei einer Straßenblockade in Beirut. Er ist der erste Märtyrer der aufkommenden Rebellion im Libanon.

Über konfessionelle Grenzen hinaus

In beiden Ländern installierten die ehemaligen Kolonialmächte (Frankreich im Libanon, und Großbritannien im Irak) ein Herrschaftssystem, das sich darauf stützte, die Bevölkerungen anhand konfessioneller Linien zu spalten, indem sie diese mit unterschiedlichen Machtpositionen und Privilegien ausstatteten. Auch nach dem Abzug der kolonialen Besatzer wurde diese Politik von den Nachfolgerregimes und gewählten Regierungen fortgesetzt, um die eigene Herrschaft abzusichern. Umso beeindruckender ist es nun, dass heute die Menschen unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit Seite an Seite gegen die aktuellen Missstände kämpfen. Trotz aller Gewalt, mit der man gegen die Demonstrierenden vorgeht, lassen sich die Menschen nicht unterdrücken und mundtot machen.

Eins wird in diesen Protesten deutlich: Die Menschen sind bereit, mit ihrem Leben dafür zu kämpfen, dass es Veränderungen gibt, die ihren Interessen entsprechen und nicht derjenigen, die Alles besitzen und die Arbeiter_Innenklasse ausbeuten und verelenden lassen.

Perspektive

Im Irak wie im Libanon erheben die Massen politisch-demokratische (wie zum Beispiel Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, Verfassungsreform, Stopp der Korruption) und soziale Forderungen (wie zum Beispiel Ende der Massenarbeitslosigkeit, Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, Rücknahme von Steuererhöhungen) – es kommt darauf an, diese zu verbinden und zu bündeln. Revolutionär_Innen müssen Forderungen, wie zB. die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, aufgreifen und mit der Errichtung von Kampforganen der Arbeiter_Innenklasse und Unterdrückten – Aktionsräten, Selbstverteidigungsorganen – verbinden. Auf diesem Weg könnte die Massenbewegung zu einer revolutionären Bewegung werden, wo der Kampf für demokratische und soziale Rechte mit dem für eine sozialistische Umwälzung verbunden wird.

Der „Arabische Frühling“ und der darauffolgende Herbst der Konterrevolutionen haben uns gezeigt, dass die Forderungen der Proteste nur umgesetzt werden können, wenn sie mit einer sozialistischen Perspektive verbunden werden. Ohne ein klares Programm der sozialen Befreiung werden die Proteste nur von neuen Herrschaftscliquen als Sprungbrett zur Macht missbraucht werden. Damit stellt sich auch die Frage, welche soziale Kraft die Bewegungen zum Sieg führen kann. In unseren Augen kann das nur Arbeiter_innenklasse sein, denn sie allein hat nichts zu verlieren außer ihre Fesseln. Nur sie hat die Kraft, den kapitalistischen Verwertungsprozess und die Macht der Militärs, Politiker_innen und Unternehmer_innen aus den Angeln zu heben.

Während es in Europa von der Bourgeoisie angeführte bürgerlich-demokratische Revolutionen gegeben hat, die vergleichsweise stabile parlamentarische Demokratien hervorbrachten, wurden solche Prozesse durch die Kolonialisierung, Ausbeutung und Erzeugung einer künstlichen Abhängigkeit in vielen Teilen der Welt verhindert. Die ehemaligen Kolonien wurden somit in die internationale kapitalistische Arbeitsteilung eingegliedert, ohne dass sich entsprechende politische Überbauten ausbildeten. Maßgebliche demokratische Reformen im Libanon oder im Irak sind deshalb heute nur noch möglich, wenn sie mit dem sozialistischen Kampf gegen die bestehende Aufteilung der Welt unter den führenden imperialistischen Mächten verbunden werden. Erste Schritte dahin sind es, sich jeglichen Versuchen der Einflussnahme durch andere Mächte (ob Iran, USA oder Deutschland) zu widersetzen und den Abzug aller Truppen und Konzerne zu fordern.

Auch in Rojava sehen wir gerade wie die dort lebenden Kurd_innen versuchen sich mit aller Macht gegen die türkische Invasion zu verteidigen. Die Zukunft der Region ist abhängig davon, ob es die Arbeiter_Innen und Bauern vor Ort schaffen, nationale Spaltungen zu überwinden und sich gemeinsam gegen jede Form der Fremdbestimmung zu wehren. Die Proteste im Libanon und im Irak haben aktuell jedoch noch einen national beschränkten Charakter, obwohl sie Teil einer internationalen Welle des Klassenkampfes sind. Was wir brauchen ist eine Verknüpfung der Kämpfe des Proletariats der Region, von Rojava bis Palästina, von Libanon bis Irak. Dafür müssen sich multinationale Arbeiter_innenparteien auf einer gemeinsamen programmatischen Grundlage gründen, die die Proteste in den jeweiligen Ländern mit der Perspektive der Schaffung einer Föderation sozialistischer Staaten in Westasien verbinden!

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