JAQUELINE KATHERINA SINGH
Um zu merken, dass sich das politische Klima in Deutschland in den letzten zwei Jahren stark verändert hat, braucht man nicht mal regelmäßig Zeitung zu lesen. Wer auch nur sporadisch die Neuigkeiten verfolgt, merkt, dass sich einiges gewandelt hat. Im Jahre 2015 wurden fünfmal mehr Angriffe gegen Unterkünfte von Geflüchteten verübt als 2014. Laut Bundeskriminalamt – einer Quelle, die sicher keiner linken Einstellung verdächtig ist – waren neun von zehn „rechtsmotiviert“ (https://www.lpb-bw.de/fremdenfeindlichkeit.html).
Die Zahl der Angriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte hat sich im Jahr 2016 im Vergleich zum ersten Halbjahr des Vorjahres mehr als verdoppelt (https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/reportagen/neue-dimension-der-gewalt-2016-06). Hetzjagden wie in Bautzen, Freital oder Heidenau, wo der rechte Mob Geflüchtete angreift und Bürgerwehren für Ordnung sorgen, sind das i-Tüpfelchen des Grauens. Gekrönt werden diese Ereignisse noch durch die Ergebnisse der Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin.
Die AfD gewann in Mecklenburg-Vorpommern 20,8 Prozent und in Berlin 14,2. Zugleich verloren die SPD und Linkspartei in (Mecklenburg-Vorpommern) mehr als 10 Prozent, in Berlin verlor die SPD 6,7 Prozent, die Linke konnte zwar 3,9 Prozent dazugewinnen. Insgesamt ändert das aber nichts am Gesamttrend, dass die bürgerlichen Arbeiter_Innenparteien massiv an Boden verlieren, während der Rechtspopulismus wächst.
Begleitet wurden diese Ergebnisse von einer Bundesregierung, die sich vom Image der „Willkommenskultur“ verabschiedete. Fast im Halbjahrestakt jagte sie rassistische Asylgesetzverschärfungen und rassistische Gesetze wie das „Integrationsgesetz“ durch den Bundestag und bereitet mit zahlreichen Deals wie dem Valletta- oder Afghanistan-Abkommen eine Welle von Massenabschiebungen vor.
So hat sich mittlerweile eine rassistische Bewegung verfestigt, die leider ganz und gar nicht mehr neu ist. Vielmehr hat es eine gesellschaftliche Polarisierung gegeben, deren bitteres Ergebnis ein Rechtsruck ist. Dieser Prozess ist keineswegs alternativlos, sondern bot auch Chancen, durch Widerstand den Rechtsruck zu stoppen. Wie schon angemerkt, stiegen seit Ende 2014 die Anschläge auf die Unterkünfte von Geflüchteten ebenso wie rassistische Mobilisierungen stetig. Es gab also viele Gründe und Möglichkeiten zu intervenieren.
Nach der Ausbreitung PEGIDAS in Deutschland entstanden ebenso zahlreiche Gegenproteste. Auch während des sogenannten „Sommers der Migration“, von Rechten „Flüchtlingskrise“ genannt, wurden zahlreiche Menschen in Willkommensinitiativen oder Supporter_Innenstrukturen aktiv.
Aber die Gegenproteste wie auch die Supporter_Innenstrukturen und ein Großteil der selbstorganisierten Geflüchtetenstrukturen agierten regional begrenzt und überwiegend isoliert voneinander. Es wurde verpasst, die Aktiven zusammenzuführen, eine gemeinsame Perspektive und gemeinsame Forderungen zu formulieren. Kurzum, es wurde immer wieder versäumt, diese Menschen zu einer antirassistischen politischen Massenbewegung zu formieren – ein Versäumnis, das nicht den vielen aktiven Supporter_Innen angelastet werden kann, sondern den politischen Organisationen, die diese Schwäche der Bewegung nicht zu überwinden versuchten oder gar zur Tugend verklärten.
Das schwächte die Möglichkeit, Angriffe seitens der Rechten abzuwehren, ein Gegenwicht auf der Straße zu bilden und dem staatlichen Rassismus entgegenzutreten.
Allerdings wäre es falsch, einfach zu sagen, dass es keine Versuche dahingehend gab. Verspätet gründeten sich Anfang 2016 unterschiedliche bundesweite Bündnisse: Anfang Januar „Jugend gegen Rassismus“, es folgten „Aufstehen gegen Rassismus“, „Nationalismus ist keine Alternative“, „Welcome2Stay“ und „Fluchtursachen bekämpfen“.
Der Rechtsruck der Gesellschaft drückt sich auch darin aus, dass antirassistische Mobilisierungen oft nur noch wenige tausend Menschen auf die Straße bringen.
„Aufstehen gegen Rassismus“ mobilisierte im September gerade über 6000 Menschen, obwohl dazu etliche Massenorganisation von Gewerkschaften über SPD, Linkspartei, Grüne aufriefen. Aber sie scheuen vor Weiterem zurück, teils weil sie die Auseinandersetzung mit rassistischen Einstellungen unter ihrer Basis meiden wollen, teils weil sie die Regierung nicht in Schwierigkeiten bringen wollen.
Kleinere Bündnisse wie „Fluchtursachen bekämpfen“ oder „Jugend gegen Rassismus“ waren zwar in der Lage, im Jahr 2016 für ihre Größe beachtliche Demos zu organisieren. Aber diese sind natürlich weit davon entfernt, auch nur ansatzweise jene Kraft zu entfalten, die notwendig wäre, um dem staatlichen Rassismus und den Rechten wirksam entgegenzutreten. Dazu ist es unumgänglich, Massen – und das heißt auch Massenorganisationen wie die Gewerkschaften – zu gewinnen.
Revolution und die Gruppe Arbeiter_Innenmacht haben sich aktiv am Projekt „Jugend gegen Rassismus“ beteiligt. Ziel war es, einen Ansatzpunkt für eine Bewegung zu geben, insbesondere unter Jugendlichen. Getragen wurde dieses Projekt nur von kleineren linken Organisationen und Einzelaktivist_Innen. Dennoch schaffte es der erste bundesweite Streik- und Aktionstag, eine Dynamik zu entwickeln. Die 7 Städte, die verbindlich eine Aktion gegen Abschiebung, Ausgrenzung und Krieg veranstalteten, schafften es, 9 weitere zu motivieren, im Zuge von 3 Monaten ebenfalls Aktionen an dem Tag zu veranstalten. So gingen am 27. April 8.000 Jugendliche in 16 unterschiedlichen Städten in Deutschland auf die Straße. Im Vorfeld des Aktionstages gab es Veranstaltungen an Schulen sowie Universitäten und zahlreiche kleinere Aktionen, die auf den Tag hin mobilisierten.
Ebenfalls nahmen wir im Rahmen von Jugend gegen Rassismus an unterschiedlichen antirassistischen Konferenzen teil wie der von „Aufstehen gegen Rassismus“, „Welcome2Stay“ oder „Nationalismus ist keine Alternative“ und forderten diese Bündnisse auf, die schon existierenden und geplanten Aktionen gegenseitig zu unterstützen. Reaktionen gab es über „Fluchtursachen bekämpfen“ hinaus nicht, auch wenn Jugend gegen Rassismus auf einigen Podien sprechen konnte.
Der zweite Aktionstag war bedeutend kleiner. Am 29. September gingen in 7 Städten Deutschlands sowie in Wien knapp 4.000 Jugendliche auf die Straße. Angesichts der Kräfte von JgR war das immer noch beachtlich und in Berlin konnten rund 300 afghanische Geflüchtete für die Demonstration gewonnen werden. Trotzdem dürfen wir die Augen vor der gesunkenen Mobilisierungskraft nicht verschließen. Während die Mobilisierungen für antirassistische Aktionen wesentlich schwerer fallen, haben sich zum anderen auch keine neuen Kräfte beteiligt.
Größeren Organisationen war die Dynamik nicht „groß“ genug. Beispielsweise sah die SAV von Anfang an keine Dynamik in dem Projekt und startete lieber für Berlin ihre eigenen, sich auf die AfD beschränkenden Projekte wie „Reclaim Alternatives“ oder das „Bündnis für Soziale Gerechtigkeit Berlin“, die keine vergleichbaren Erfolge für sich verbuchen konnten. Die Linksjugend [’solid] schwieg sich auch lieber aus. Während sich Basisgruppen aus Bremen sowie Hannover aktiv beteiligten und die Landesmitgliedervollversammlung Niedersachsen dazu entschloss, mit Jugend gegen Rassismus an der Demonstration am 3.9. zu beteiligen, lehnte der Bundessprecher_Innenrat von [’solid] die Einladung für einen gemeinsamen Jugendblock allerdings ab. Aber nicht nur sie, auch die SDAJ verhielt sich als Gesamtorganisationen passiv. In Gießen sowie Kiel organisierten zwar ihre Basisgruppen Aktionen, beteiligten sich in unterschiedlichen Städten an den Protesten – und dennoch schwieg die Gesamtorganisation zu dem Projekt.
Diese Probleme von „Jugend gegen Rassismus“ illustrieren ein viel größeres, nämlich dass in einer Situation, in der eine gesellschaftliche Polarisierung stattfand und die Linke kaum eine Perspektive bietet, antirassistische Proteste kleiner werden.
Die Situation wird sich nicht dadurch ändern, indem man hofft, dass sich die AfD selbst zerlegt oder darauf wartet, dass die Linkspartei zur Bundestagswahl doch noch eine Initiative ergreift. Sie wird sich auch nicht dadurch ändern, dass man alleinig die soziale Frage in den Vordergrund stellt oder ganz fest daran glaubt, dass antikapitalistische Slogans hin zum G20 einem Großteil der Gesellschaft aufzeigen, dass Rassismus eigentlich schon immer Scheiße war.
Es braucht weiterhin ein Bündnis der Organisationen der Arbeiter_Innenklasse. Ziel muss es sein, nächstes Jahr im Frühjahr eine antirassistische, spektrenübergreifende Konferenz zu organisieren, auf der alle größeren Bündnisse oder Organisationen zusammenkommen und gemeinsame Aktionen festlegen.
Viel zentraler muss das Verständnis gestärkt werden, dass es bei größeren Demonstrationen etc. nicht darum geht, in Stadt XYZ durch die Straßen zu trotten, sondern dass die eigentliche Arbeit vor und nach der Aktion stattfindet. Es geht darum, dass die beteiligten Organisationen ihre Mitglieder mobilisieren und aktiv in Geflüchtetenheime, Schulen, Unis und Betriebe gehen, um dort Aktionskomitees aufzubauen, die eine bundesweite Bewegung tragen können. Dazu braucht es neben verbindlichen, gemeinsamen Beschlüssen auch Forderungen. Wir schlagen dazu folgende drei Kernpunkte
vor.