Warum unterstützen wir nationale Befreiungskämpfe?

Von Felix Ruga, Dezember 2023

Als Kommunist:innen kämpfen wir tagtäglich für eine Welt ohne Nationen, ohne Klassen, ohne Staatlichkeit, mit offenen Grenzen für alle, für eine Welt unbeschränkter Freiheit. Hierfür widersetzen wir uns auch den rechtsnationalen Kräften von AfD und Konsorten und setzen dem ein solidarisches Weltbild entgegen, in der die Grenzen nicht zwischen „Deutsche“ und „Ausländer“ verläuft, sondern zwischen unserer Klasse und der herrschenden Klasse. Erst recht wird keine:r von meinen Genoss:innen eine Deutschlandfahne in der Twitter-Bio haben oder die eigene Identität rund um das „Deutschsein“ aufbauen. Nichts könnte uns ferner liegen als solche nationalistischen Ideen.

Auf der anderen Seite stehen wir entschlossen auf der Seite bestimmter nationalistischer Bewegungen. Wir erheben unsere rote Fahne im Meer von kurdischen oder palästinensischen Fahnen. Letztendlich Nationalfahnen, aber von Völkern ohne Land. So verteidigen wir auch das Recht der vielen Völker, die ihrer nationalen Selbstbestimmung beraubt werden, wie jüngst den Armenier:innen, den Ukrainer:innen oder den kolonialisierten Völkern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens. Wir wollen uns in diesem Artikel die Frage stellen, wie wir nationale Befreiung mit der Menschheitsbefreiung verbinden.

Was ist überhaupt Nationalismus?

Der Nationalismus behauptet, die Nation stelle eine Schicksalsgemeinschaft dar, die schon immer existiert habe und für immer existieren werde. Doch das ist reinste Ideologie. Vor der Entstehung des modernen Kapitalismus haben sich die Leute viel eher regional oder religiös identifiziert. Vorkapitalistische Staaten hatten oftmals keine festen Grenzen und forderten vom Volk keine Identifizierung mit der Staatsgewalt. Der Nationalismus ist Produkt der bürgerlichen Epoche, musste sich über Jahrhunderte gegen viele Widerstände durchsetzen und erfüllt einige zentrale Funktionen für die kapitalistische Ausbeutung: Zum einen das Zusammenfügen großer Länder zu einer vereinheitlichten wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Grundlage, auf der sich der bürgerliche Staat gründen konnte. Dieser führte und führt unter dem Banner der Nation stets koloniale Feldzüge, imperialistische Kriege und regionale Überfälle auf andere Nationen. Zum anderen als Ideologie einer nationalen „Gemeinschaft“ – selbstverständlich unter der Dominanz der herrschenden Klasse- , die den damals aufkommenden Klassenwiderspruch verdecken sollte. Dem Proletariat soll weiß gemacht werden, dass sie dieselben „nationalen Interessen“ wie die Bourgeoisie hätten und so an ihre kapitalistischen Ausbeuter:innen gebunden werden. Aber dass der Nationalismus letztendlich etwas Konstruiertes ist, sollte uns nicht trügen: Das gemeinsame nationalistische Selbstbewusstsein ist eine reale politische Macht und eine der mächtigsten bürgerlichen Ideologien überhaupt.

Auf Demos ereignet sich oft der Klassiker, dass schwarz-vermummte Menschen den Slogan „Hoch die internationale Solidarität“ mit „antinationaler Solidarität“ versuchen zu überschreien. Der sogenannte Antinationalismus klingt durch seine Negation der Nation zwar radikal aber übersieht, dass die enge Verbundenheit nationalistischer Ideologien mit dem Kapitalismus eine leider anzuerkennende Realität darstellt und gibt daher auch keinen Weg vor, sie zu überkommen. Wir müssen stattdessen im revolutionären Kampf das Nationendenken und die Existenz von Nationalstaaten als materielle Realität anerkennen, um sie überwinden zu können aber ohne uns dem auch nur ein Stück weit anzupassen. Das wird insgesamt unter dem Begriff „Internationalismus“ zusammengefasst, der für revolutionäre Marxist:innen zentral ist. Erkennbar ist das beispielsweise an der berühmten antimilitaristischen Parole Karl Liebknechts „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“, bei dem man zwar in nationalen Kategorien denkt und handelt, aber im Sinne der internationalen Solidarität, sodass jede Arbeiter:innenklasse nur ein Teil der internationalen Arbeiter:innenklasse darstellt.

Doch warum die Palästina- und Kurdistanfahnen, wenn wir so entschiedene Gegner:innen des Nationalismus sind?

Kampf um nationale Befreiung

Die kapitalistische Produktionsweise hat sich im Zuge ihrer Ausdehnung auf den gesamten Erdball zu einem globalen System des Imperialismus entwickelt. Dieses kennt nur einige wenige imperialistische Staaten auf der einen und von ihnen abhängige Staaten auf der anderen Seite. Egal in welchem Land: Der Nationalismus verschleiert stets den Klassenwiderspruch, legitimiert bürgerliche Herrschaft und muss bekämpft werden. Eine sozialistische Revolution wird und kann nur erfolgreich sein, wenn sie das Banner des Nationalismus in Stücke reißt und ihre rote Fahne weht. Die entscheidende Frage ist hier jedoch das Wie?

Darüber gab es lange Streit in der Kommunistischen Internationalen und dieser Streit setzt sich auch heute noch zwischen revolutionären Kommunist:innen, Anarchist:innen, Antinationalen und Stalinist:innen fort. Lange ging man in der Kommunisten Internationalen davon aus, dass man erst die Revolution in den imperialistischen Ländern brauche und dann könnte man ihre Kolonien gleich mitbefreien. Dagegen machte Trotzki stark, dass die Befreiung in den imperialistischen Ländern und den Kolonien ein wechselseitiger Prozess ist, bei dem das eine das andere bedürfe. Nach der russischen Revolution stellte sich die Internationale die Frage, wie man mit den ehemaligen Kolonien des Zarenreichs nun umgehen solle. Dabei wollte man vermeiden, dass den unterdrückten Massen die neue Sowjetmacht nun als neue Fremdherrschaft, die die zaristische Unterdrückung ersetze, vorkomme. Also entschied man sich dafür, den ehemaligen Kolonien das Recht auf nationale Unabhängigkeit zu gewähren und hoffte darauf, dass sie sich freiwillig der Sowjetunion anschließen würden, was auch viele taten. Somit wurde der Kampf für nationale Selbstbestimmung für die Kommunistische Internationale zu einer Taktik im Kampf für die Weltrevolution, die jedoch stets den Zweck hatte, die Unterdrückten von ihrem falschen nationalistischen Bewusstsein wegzubrechen und für den internationalistischen Kampf zu gewinnen.

Die Unterdrückung in den Kolonien, ob vom Zarenreich oder anderen imperialistischen Nationen, förderte einen Nationalismus, der meist den schlichten Wunsch nach Unabhängigkeit und dem Ende von Fremdbestimmung verkörperte. Die Forderung nach kultureller Freiheit und politischer Unabhängigkeit, also das Recht, die eigene Sprache, Religion, politische Ideen oder sonstige Eigenheiten frei ausleben zu dürfen, ist zu unterstützen, solange dadurch niemand anderes Freiheit eingeschränkt wird. Aber auch das gleiche politische und juristische Recht, egal wo man lebt, der Schutz vor staatlicher Willkür und sowieso auch das Recht, zurückzukehren an den Ort, von dem man vertrieben wurde. Das sind alles legitime und unterstützenswerte nationale Forderungen. Auch wenn es heute keine Kolonien mehr in der Form gibt wie zu Zeiten der kommunistischen Internationale bestehen trotzdem auch heute noch (halb-)koloniale Abhängigkeiten, die bei den Unterdrückten die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung aufkommen lassen.

Hierbei gilt es sich in Anbetracht eines Unrechts stets auf die Seite der Unterdrückten zu stellen. Dies ist sogar besonders gefragt, wenn es sich um westliche Linke handelt, denn „unsere“ Nationalstaaten sind meist direkt verantwortlich für die Misere kolonialisierter Völker oder machen gemeinsame Sache mit den Unterdrückerstaaten wie der Türkei oder Israel. Unsere Solidarität ist wichtig, denn wir fallen damit auch „unseren“ Imperialist:innen und ihren außenpolitischen Ambitionen in den Rücken. Hinzu kommt auch, dass eine heftige nationale Unterdrückung dazu führt, dass sowohl in der „unterdrückenden“ als auch in der doppelt unterdrückten Arbeiter:innenklasse jegliche politische Auseinandersetzung ethnisch gelesen wird. Dadurch rückt die Klassenzugehörigkeit in den Hintergrund und die nationale Zugehörigkeit überdeckt diese. Das stellt für den Klassenkampf natürlich ein Problem dar und dementsprechend verbessert der Kampf um nationale Befreiung die Möglichkeiten, Klassenkonflikte offenzulegen.

Gleichzeitig fordern die antikolonialen und nationalen Befreiungskämpfe das imperialistische System heraus. Viele kämpfende unterdrückte Nationalitäten sind den führenden imperialistischen Staaten ein Dorn im Auge, da ihr Widerstand Profite und Investments gefährdet und die imperialistische Vorherrschaft in der Region ernsthaft in Frage stellt. Antiimperialismus bedeutet also den ökonomischen und militärischen Machenschaften wie etwa deutscher, französischer, britischer, russischer, US-amerikanischer und chinesischer Kapitalist:innen hier wie dort den Mittelfinger zu zeigen. Die Welt ist verbunden. Kein Befreiungskampf kann als isoliert vom anderen begriffen werden. Deren Kampf ist unser Kampf.

Wir unterstützen deshalb bindungslos das Recht aller Völker auf nationale Selbstbestimmung, insofern dies den demokratisch bestimmten Wunsch der Mehrheit darstellt und die Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen im neu zu gründenden Staat gewährleistet werden kann. Wir erkennen damit die Notwendigkeit, dass der Widerstand gegen jeglichen äußeren Einfluss, Gewalt und Unterdrückung geleistet werden muss, auch wenn er das Banner des Nationalismus trägt. Das heißt jedoch nicht, dass wir jede nationale Befreiungsbewegung bedingungslos unterstützen. Nicht jeder Autonomiebestrebung geht voraus, dass eine nationale Minderheit reell unterdrückt wird, beispielsweise in der bayrischen oder schottischen Autonomiebewegung. Folgende Fragen müssen bei der Betrachtung einer nationalen Unabhängigkeitsbewegung beantwortet werden: Wie setzt sich die Bewegung zusammen? Welche Kräfte spielen die tragende Rolle? Aus welchen sozialen Klassen setzen sie sich zusammen? Was sind ihre Ziele? Wie ist die soziale Ausgangssituation? Also gibt es eine ökonomische Krise, rassistische Repression oder faschistische Angriffe und welche Autonomierechte existieren bereits?

Als Revolutionär_innen schicken wir jedoch keine Fragebögen an jegliche Befreiungsbewegungen und machen unsere Unterstützung von einer schriftlichen Antwort per Post abhängig. Wer ernsthafte revolutionäre Politik betreibt, bewertet Bewegungen anhand ihrer politischen Praxis und nichts weiter!

Jede Unterstützung nationaler Befreiungsbewegung fordert jedoch stets die Unabhängigkeit der proletarischen Bewegung, politisch wie organisatorisch. So kann es in (halb-)kolonialen Ländern notwendig sein, dass revolutionäre Marxist:innen Bündnisse mit nationalistischen Kräften eingehen. Revolutionär:innen dürfen sich denen jedoch nie unterordnen, so wie es stalinistische, maoistische oder klassische „Antiimp-Kräfte“ im Zuge ihrer Etappentheorie tun. Die Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen ist für uns lediglich eine Taktik, ein Mittel zum Zweck, um die Unterdrückten vom Nationalismus wegzubrechen und sie für den proletarischen Internationalismus zu gewinnen. Wir unterstützen die Bewegungen, da wir nicht als die marxistischen Besserwisser:innen am Zaun stehen wollen, sondern davon ausgehen, dass wir die Bewegung am besten vom Nationalismus wegbrechen können, indem wir im gemeinsamen Kampf um legitime Forderungen aufzeigen, dass sich diese nur durch ein Programm der permanenten Revolution umsetzen lassen.

Permanente Revolution!

Die Theorie der permanenten Revolution sagt grundlegend erstmal aus, dass in der imperialistischen Epoche die Möglichkeit besteht, in (halb-)kolonialen Ländern die sozialistische Revolution durchzuführen, indem man diese unmittelbar auch mit den Aufgaben und Forderungen einer bürgerlichen Revolution verknüpft. Dies funktioniert jedoch nur so lange, wie sich die Revolution danach auf andere Länder ausweitet, gewissermaßen als Startschuss der Weltrevolution. Mehr noch: Anders sind die bürgerlichen Forderungen nach Demokratie, gleichen Rechten, Befreiung von feudalistischen Rückständen, Frieden, Wohlstand und auch nationaler Befreiung nicht zu erreichen, weil die halbkolonialen Kapitalist:innenklassen im internationalisierten Kapitalismus zu klein und zu abhängig sind, als dass man von ihnen irgendwas Revolutionäres erwarten könnte. Also muss es das Proletariat im Bündnis mit den verarmten Bäuer:innen erkämpfen.

Am Beispiel Palästinas und Kurdistan kann man dies klar erkennen: Man kann sich eigentlich nicht vorstellen, dass die eigentlich genügsamen Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung, kultureller Freiheit, Gleichberechtigung und Schutz vor staatlicher Willkür noch innerhalb kapitalistischer Verhältnisse gelöst werden können. Ein eigener palästinensischer oder kurdischer bürgerlicher Nationalstaat scheint unerreichbar, vor allem als isolierter Kampf.

Aber dennoch gibt es eine Möglichkeit, diese Forderungen zu erreichen: Das Aufgehen in einer sozialistischen Föderation. Dementsprechend tragen gerade die nationalistischen Bewegungen unterdrückter Nationen die Perspektive in sich, selbst internationalistisch zu werden, sich mit anderen progressiven Bewegungen zusammenzuschließen, die Revolution zu entfachen. Wenn in einem zweiten arabischen Frühling all die Handlanger des Imperialismus hinweggefegt werden und sich eine sozialistische und internationalistische Bewegung erhebt, wird es keine Sekunde in Frage stehen, ob man den Palästinenser:innen, den Bergkarabach-Armenier:innen, den Belutschen oder den Kurd:innen ihre Freiheit zugesteht. Ein binationales Palästina und ein vereinigtes Kurdistan als Sowjetrepubliken in der Föderation der sozialistischen Staat des Nahen Ostens ist hier die Perspektive, die Revolutionär:innen aufmachen müssen. In einer solchen Föderation gibt es keine Notwendigkeit mehr, nationale Unterdrückung zu betreiben, andere Länder auszubeuten oder Feindschaften zwischen den Völkern zu sähen. Dies kann der Funken für die Weltrevolution sein und dies müssen wir als strategische Möglichkeit erkennen. Deswegen ist unsere Solidarität mit deren Kämpfen zentral.

Solidarität muss praktisch werden!

Das heißt, dass wir bedingungslos den Kampf der national Unterdrückten um Befreiung unterstützen. Wir dürfen dabei ein fortschrittliches Bewusstsein nicht voraussetzen, sondern es ist gerade unsere Aufgabe, dieses in den legitimen Kampf hineinzutragen. Wir müssen also auch anerkennen, dass diese nationalen Befreiungsbewegungen bis zu einem gewissen Punkt ihren eigenen Weg gehen und erstmal bürgerliche Lösungen für ihre Probleme verfolgen. Auch dies sollten wir zunächst unterstützen. Aber unsere Solidarität bedeutet auch, dass wir falsche Taktiken und Ideologien sowie den Nationalismus selbst kritisieren müssen, um den Kampf auch zum Sieg führen zu können. Beispielsweise glauben wir nicht, dass sich die nationale Befreiung erreichen lässt, indem man bloß für einen eigenen bürgerlichen Nationalstaat kämpft oder sich nun von der einen statt der anderen Großmacht unterjochen lässt. In manchen Fällen könnte das sogar zu einem Rückschritt führen, weil das zu einer neuen Zersplitterung der Arbeiter:innenklasse führt und eine Internationalisierung des Klassenkampfes verhindert. Tragen wir also das Feuer der Revolution in diese Bewegungen und vereinigen sie!

Deshalb fordern wir:

  • Kampf dem imperialistischen System! Für die Niederlage des deutschen, des westlichen und jeglichen Imperialismus‘!
  • Schluss mit der Besatzung! Für ein Abzug aller imperialistischen Armeen! Für eine Landreform unter der Kontrolle der Arbeiter:innen und Bäuer:innen!
  • Für Ende der internationalen Ausbeutung halbkolonialer Länder! Sofortiger Schuldenschnitt!
  • Nieder mit jeglicher kulturellen und religiösen Unterdrückung! Für politische und juristische Gleichberechtigung!
  • Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung! Erkämpfen wir es in der permanenten Revolution!
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