Gut genug für die Notbetreuung aber nicht für eine gerechte Bezahlung

Interview mit einer Kindheitspädagogin

Für die viel gelobten „systemrelevanten Berufe“ gab es bisher nicht viel mehr als ein bisschen müden Applaus vom Balkon oder aus Merkels Homeoffice. Wir sprachen mit Clara (Name von der Redaktion geändert), einer Kindheitspädagogin aus Berlin, um zu erfahren, was eigentlich in der Kinderbetreuung abgeht und wie sich ihr Arbeitsalltag durch Corona verändert hat.

REVO: Hey Clara, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, mit uns zu sprechen. Vielleicht kannst du zum Anfang einmal kurz beschreiben, wie die allgemeine Situation in der Kinderbetreuung so aussieht?

Clara: Gerne! Seit dem 1. August 2013 hat jedes Kind ab dem vollendeten ersten Lebensjahr in Deutschland einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz, der von Kindergärten, Kinderläden und Kindertagespflegepersonen zur Verfügung gestellt werden soll. Dort werden tausende Kinder tagtäglich von pädagogischen Fachkräften, welchen, die es noch werden wollen und Quereinsteiger_Innen betreut, damit sie im sozialen Miteinander lernen und sich bestmöglich entwickeln können, Bildungsungleichheiten ausgeglichen werden sollen und Eltern ihren Erwerbstätigkeiten nachgehen können.

So stellt es die Theorie jedenfalls dar. Dass es in der Praxis häufig ganz anders aussieht, wird immer wieder versucht in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Situation für Kinder und Fachkräfte ist oft ziemlich belastend. Mehr als 90 % mussten in den vergangenen 12 Monaten zumindest zeitweise mit einer bedenklichen Personalunterdeckung arbeiten. 94 Prozent der Kitas haben nach Angaben der befragten Leitungskräfte für unter dreijährige Kinder eine Fachkraft-Kind-Relation, die hinter der wissenschaftlichen Empfehlung von 1 zu 3 zurückbleibt. Die Personalsituation in deutschen Kitas ist also dramatisch. Abstriche bei der Förderung und erhöhte Haftungsrisiken sind die Folgen.

REVO: Hast du denn das Gefühl, dass diese Missstände von der Regierung in Angriff genommen werden?

Da ich davon praktisch nicht viel merke, habe ich mal im Internet nachgeschaut. In den Lageberichten auf den Seiten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist die Rede vom lobenswerten Anstieg der Betreuungszahlen und der auf den Weg gebrachten Gelder und Projekte.

Das, was dort steht, ist jedoch fernab der tatsächlichen Realität. Mal abgesehen davon, dass das Augenverschließen vor den Tatsachen schon schlimm genug ist, spielt dieser Umgang mit der kritischen Situation auch die Lage der Kinder und Fachkräfte in der frühkindlichen Betreuung extrem herunter. Diese vorherrschenden Rahmenbedingungen in der Kinderbetreuung bürgen erhebliche Risiken, da unter anderem das Empfinden von Stress enorm ansteigt, was die Entwicklung der Kinder sehr beeinträchtigen kann. Eine individuelle Förderung jedes Kindes kann unter den derzeitigen Bedingungen in vielen Einrichtungen nicht gewährleistet werden.

REVO: Deine Berufsbezeichnung heißt ja genau genommen „Kindertagespflegeperson“. Was hat es damit auf sich? Sind die Arbeitsbedingungen in diesem Bereich besser?

Angesichts der zugespitzten Lage in vielen Kitas ist es für manche Eltern ein ziemlicher Lichtblick, wenn sie einen Betreuungsplatz bei einer sogenannten „Kindertagespflegeperson“ erhalten können. In diesem Modell werden maximal fünf Kinder von einer Person bzw. maximal zehn Kinder von zwei Kindertagespflegepersonen im Verbund betreut. Im Vergleich zu Kitas mit bis zu 200 Kindern klingt das sehr harmonisch und familiär.

Aber auch hier wird dabei außer Acht gelassen, dass der von frühpädagogischen Expert_Innen empfohlene Betreuungsschlüssel von Kindern unter drei Jahren generell bei eins zu drei liegt. Um eine durchgehend qualitativ hochwertige Bildung und Erziehung zu gewährleisten, dürften auf eine Tagespflegeperson eigentlich nur drei Kinder kommen. Da in den meisten Fällen Kindertagespflegepersonen selbstständig tätig sind, obliegt ihnen die freie Wahl, wie viele Kinder sie betreuen wollen. Rein theoretisch hätten sie also die Möglichkeit im Wohle des Kindes zu entscheiden und durch eine geringere Betreuungszahl eine bestmögliche Entwicklungsumgebung zu gestalten.

REVO: Doch vermutlich liegen auch in diesem Sektor Theorie und Praxis weit auseinander richtig?

Genau, das wollte ich auch gerade sagen (lacht). Kindertagespflegepersonen werden in Berlin nicht nach Tarif des öffentlichen Dienstes bezahlt, sondern pro Betreuungsplatz, den das Jugendamt durch sie an Familien vermitteln kann. Das Einkommen, welches wir aus unserer selbstständigen Tätigkeit gewinnen, ist also davon abhängig, wie viele Kinder wir betreuen. Für ein Kind, welches bis zu sieben Stunden in einer Kindertagespflege betreut wird, wird in Berlin ein „Betreuungsentgelt“ von 467€ gezahlt. Seit dem 1.01.2019 wird zusätzlich pro Kind und Monat ein Betrag von 46€ ausgezahlt, um die pädagogische Vor- und Nachbearbeitungszeit zu entlohnen. Hinzu kommen noch 220€ „Sachkostenpauschale“ pro Kind, welche für die Verpflegung, Materialbeschaffung und anderweitige Ausgaben zur Verfügung stehen, aber nicht als Gehalt gerechnet werden können.

So beträgt also das Gehalt für eine Kindertagespflegeperson in Berlin, welche 5 Kinder von Montag bis Freitag jeweils 7 Stunden betreut 2565€ (brutto). Bei einer reinen Betreuungszeit von 35 Stunden pro Woche würde das einem Stundenlohn von 16,65€ entsprechen. Zieht man nun noch Steuern und Beiträge für die Sozialversicherungen ab, bleibt ein Netto-Gehalt von 1586,58€.

Eine Kindertagespflegeperson ist aber neben der Bildung und Erziehung der ihr anvertrauten Kinder, was die Entwicklungsdokumentation und das Vorbereiten und Durchführen von Elterngesprächen beinhaltet, auch für den Einkauf, das Kochen, das Putzen und die Buchhaltung zuständig. Diese Aufgaben können nicht parallel zur Kinderbetreuung durchgeführt werden und müssen in der Vor- und Nachbereitungszeit bewerkstelligt werden. Diese findet aber nur in geringem Maße Berücksichtigung in der Bemessung der Entgelte. Würde man die Rechnung nun, unter Beachtung der zusätzlich anfallenden Aufgaben und dem damit einhergehenden Zeitaufwand von mindestens 5 Stunden pro Woche berechnen, ergäbe sich ein Brutto-Stundenlohn von ca. 14,57€.

In Berlin werden die Kindertagespflegepersonen dazu angehalten, vorrangig Kinder im Alter von 0-3 zu betreuen. Der Bedarf an Pflege, Hilfestellung und Zuwendung ist in diesem Entwicklungsabschnitt der Kinder besonders hoch, daher empfehlen Expert_Innen schon den bereits erwähnten Betreuungsschlüssel von eins zu drei einzuhalten. So kann jedem Kind die nötige Zuwendung entgegen gebracht, eine stabile Beziehung aufgebaut und eine Atmosphäre geschaffen werden, welche das Kind in seinen Entwicklungsprozessen anregt aber nicht überreizt. Würden wir uns jedoch tatsächlich an diesen Vorgaben orientieren und nur drei Kinder betreuen, läge unser Bruttogehalt bei 1536€ und damit unser Stundenlohn bei 8,73€, denn nur die Anzahl der betreuten Kinder ändert eben nicht die Anzahl der Wochenstunden. Unser Nettogehalt betrüge dann circa 943€.

REVO: Ihr habt also die Wahl zwischen guter Betreuung oder einem Gehalt, mit dem ihr eure Miete bezahlen könnt?

Genauso ist es. Uns bleibt die Wahl zwischen der Sicherstellung einer durchgängig guten Betreuungsqualität unter eigenen hohen finanziellen Einbußen am Rande des Existenzminimums oder der Arbeit unter prekären Bedingungen für die Entwicklung der Kinder bzw. der eigenen psychischen Gesundheit in Folge eines hohen Betreuungsschlüssels, aber dafür mehr Geld.

Bestimmt gibt es Kindertagespflegepersonen, die die persönlichen Ressourcen mit sich bringen, auch 5 Kindern eine fördernde und Sicherheit gebende Betreuung zu bieten. Doch das darf aber nicht Grundvoraussetzung für alle sein. Es sollte jeder Kindertagespflegeperson möglich sein, für sich selbst und im Sinne der ihr anvertrauten Kinder zu entscheiden, welche Gruppengröße möglich und förderlich ist, sodass das Wohl des Kindes stets im Hauptfokus ihrer Arbeit stehen kann. Das ist aber nur möglich, wenn die finanziellen Rahmenbedingungen so gestaltet sind, dass ihre materielle Existenz ab einer Betreuungsanzahl von drei Kindern gut abgesichert ist. Dann könnte jede Kindertagespflegeperson im eigenen Ermessen entscheiden, ob die Gruppe der Größe durch einen zusätzlichen Platz erweitert werden kann oder nicht, ohne den Druck ihrer eigenen Existenzgrundlage im Nacken zu haben.

Neben den prekären finanziellen Rahmenbedingungen kommt hinzu, dass Kindertagespflegepersonen nicht durch einen Träger geschützt werden. So kam es letztes Jahr zu Existenzängsten und vielen Diskussionen in Folge unerwarteter Steuernachzahlungen. Auch sollte im Zuge des „Guten-Kita-Gesetzes“ seit Anfang des Jahres unser Gehalt erhöht werden. Doch existieren bis heute keine näheren Angaben über die Gehaltserhöhung.

REVO: Wie hat sich euer Arbeitsalltag seit der Corona-Pandemie verändert?

Im Zuge der Pandemie haben wir noch einmal deutlich gemerkt, welchen gesellschaftlichen Stellenwert wir haben. Als die ersten Schul- und Kitaschließungen bekannt gegeben wurden, sollten wir noch weiterhin offen bleiben. Die offizielle Begründung war, dass das Ansteckungsrisiko ja relativ gering sei, da nur maximal 5 Kinder von einer Person betreut werden. Abgesehen davon, dass auch hier ein enormer Pool an Kontaktpersonen hinzu kommt, gibt es eben auch Großtagespflegestellen, in denen bis zu 10 Kindern von zwei Fachkräften betreut werden. Es wurde ein offener Brief an die Berliner Bildungssenatorin Scheeres verfasst, um die Forderungen nach Gesundheitsschutz zu kommunizieren und eine Schließung der Kindertagespflegestellen erreicht.

Bei vielen von uns herrscht jedoch weiterhin eine große Unsicherheit. Aufgrund der Selbstständigkeit ist unklar, in welchem Maße die Bezahlung in den nächsten Wochen und Monaten vom Senat gestaltet wird. Bis jetzt liegen noch keine Informationen dazu vor. Obwohl noch unklar ist, ob wir weiter Lohn erhalten, kam relativ schnell der Aufruf eine Notbetreuung anzubieten.

Dass es in diesen Zeiten ohne Solidarität und Notfalllösungen nicht geht, steht außer Frage. Aber einer Berufsgruppe, welche immer wieder zurück stecken muss, nun noch einmal zu zeigen, dass sie als billige Leistungsbringer gesehen werden, ist einfach nicht haltbar. Die meisten der Kindertagespflegepersonen sind Frauen, deren Situation durch diesen Umgang noch weiter prekarisiert wird und auch der Anteil zur Risikogruppe gehörenden Fachkräfte ist nicht zu unterschätzen. Viele der Tagespflegepersonen machen ihren Job Tag für Tag, ärgern sich über einen geringen Lohn und machen trotzdem weiter – den Kindern zu Liebe! Jetzt werden sie nur dürftig mit Informationen zu ihrer eigenen Situation versorgt, sollen aber weiterhin das System mit am Laufen halten.

REVO: Hast du schon versucht etwas mit deinen Kolleg_Innen gegen diese schlimmen Bedingungen zu unternehmen?

Ich habe mich mit einigen dazu ausgetauscht und letztes Jahr waren wir bei Demonstrationen, um gegen die hohen Steuerrückzahlungen zu protestieren. Auch nutzen wir immer wieder offene Briefe, um unsere Anliegen auszudrücken. Aber zu diesen Aktionen kommt es meistens nur in akuten Fällen, die das Fass zum Überlaufen bringen. Gewerkschaftlich ist unsere Arbeitsgruppe, glaube ich, nicht so stark vertreten, da wir ja als Selbstständige zählen. Es gibt jedoch einige Vereine und Verbände, die versuchen die Arbeitsbedingungen generell zu verbessern und das Ansehen der Tagespflegepersonen zu stärken.

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