Dürfen Linke Forderungen an den Staat stellen? (#ZeroCovid)

Guter Artikel unseres Genossen Wilhelm Schulz, zuerst veröffentlicht in Neue Internationale 253, Februar 2021

#ZeroCovid stellt den ersten linken Vorstoß mit potenziellem Massencharakter der, der sich gegen die staatlichen Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie stellt und die Auseinandersetzung in die Betriebe tragen möchte. Es stellt eine zentrale Aufgabe auch der subjektiv revolutionären Linken dar, die Initiative und ihren Erfolg nach Kräften zu stärken und sie politisch zu prägen. Daher unterstützen wir sie kritisch und fordern alle linken und proletarischen Kräfte auf, es uns nachzutun.

Während an die 100.000 den Aufruf unterschrieben haben, bleibt die Reaktion unter sozialistischen Linken bislang recht verhalten. Die SAV unterstützt die Kampagne nicht, weil sie es nicht für mehrheitsfähig in der Klasse hält, einen Shutdown auch auf die Wirtschaft auszuweiten. Der Funke (IMT) verweigert sich, weil der Aufruf die Methoden des Klassenkampfes nicht anwende, sondern  den Staat als Subjekt der Veränderung sieht und damit Illusionen in eben jenen schüre.

In verschiedenen Stellungnahmen aus linken Organisationen, Parteien und Plattformen können wir in den letzten Tagen eine relative Paralyse gegenüber der Forderung nach einschränkenden Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie beobachten. Forderungen an den Staat erscheinen manchen prinzipiell, also unabhängig von ihrem Inhalt, als Teufelszeug.

Staat und Reformen

Bevor wir auf die Frage näher eingehen, wollen wir kurz fünf Forderungsblöcke von #Zero-Covid darlegen:

„1. Wir schränken unsere Kontakte auf ein Minimum ein – auch am Arbeitsplatz. Wir müssen alle nicht gesellschaftlich notwendigen Bereiche der Wirtschaft für eine Zeit stilllegen.

2. Niemand darf zurückbleiben: Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig.

3. Der Markt hat nichts geregelt. Der Gesundheits- und Pflegebereich muss sofort ausgebaut werden. Das heißt auch: Löhne rauf und weg mit dem schädlichen Profitprinzip im Gesundheitswesen.

4. Eine globale Pandemie lässt sich nur global besiegen: Impfstoffe dürfen nicht den Profiten von Unternehmen dienen, sondern müssen allen Menschen überall zur Verfügung stehen.

5. Die nötigen Maßnahmen kosten Geld. Deshalb brauchen wir europaweite Covid-Solidaritätsabgaben auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen.“

Diese fünf Forderungen könnten natürlich noch deutlicher und konkreter gefasst werden. Das ist hier aber nicht das Wesentliche. Alle zielen auf den Gesundheitsschutz, die soziale Verbesserung der Lage der Lohnabhängigen, von Selbstständigen, unabhängig von Alter, Nationalität, Geschlecht sowie auf die Finanzierung dieser Maßnahmen durch Umverteilung von oben nach unten.

Forderungen im Kapitalismus

Solange wir den Kapitalismus noch nicht gestürzt haben, richten sich solche Forderungen nach sozialen und politischen Verbesserungen oder Reformen immer notwendigerweise an den Staat. Das trifft z. B. auch auf die Forderungen nach einer gesetzlichen Arbeitszeitverkürzung, nach einem Mindestlohn, nach Enteignungen großer Konzerne, nach dem Ausbau demokratischer Rechte zu.

Würden die VertreterInnen einer solchen Kritik ihre eigenen Argumente ernst nehmen, so müssten sie jede Bewegung, jeden Kampf für politische und soziale Reformen kategorisch ablehnen und, ähnlich wie die „antiautoritären“ und anarchistischen KritikerInnen von Marx und Engels in der Ersten Internationale, den Weg des politischen Abstentionismus beschreiten, also der Enthaltung vom und Ablehnung des politischen Klassenkampf/es für Verbesserungen im bestehenden System.

Die Geschichte lehrt hingegen, dass der Kampf um solche Reformen als Mittel genutzt werden muss, um die ArbeiterInnenklasse zu organisieren und in Bewegung zu bringen. Schließlich hat der bürgerliche Staat als Sachwalter des Kapitals nichts zu verschenken. Und jede/r weiß, dass die Ziele von #ZeroCovid nur durch massive Mobilisierungen erzwungen werden können, um diese gegen den Widerstand von Kapital, bürgerlichen Parteien und Regierung zu erzwingen.

Nur wenn die Forderungen mit weiterführenden Kampfmaßnahmen wie Demonstrationen, Streiks und Besetzungen verbunden werden, kann die Klasse Zugeständnisse erzwingen und im Zuge ihrer dafür notwendigen Selbstorganisation die Umsetzung kontrollieren. Im Nachfolgenden wollen wir also die Frage, ob und inwiefern wir Forderungen an den Staat stellen sollten, weiter beleuchten.

Was ist der bürgerliche Staat?

Der bürgerliche Nationalstaat ist in erster Linie ein Instrument zur Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung und Eigentumsverhältnisse – er ist ein kapitalistischer Klassenstaat. Er fungiert als ideeller Gesamtkapitalist, d. h. er muss die allgemeinen Produktionsbedingungen aufrechterhalten und auch als Sachwalter des Gesamtinteresses der herrschenden Klasse dienen. Dieses darf jedoch nicht als Addition der Interessen der konkurrierenden Einzelkapitale verstanden werden. Vielmehr muss er auch die Konkurrenzbedingungen unabhängig von diesen garantieren, was auch zu einzelnen Konflikten führt. Dieser Gegensatz zeigt sich aktuell auch durch die Schließung von Restaurants und Freizeiteinrichtungen, während die für die Mehrwertproduktion „essentiellen“ Konzerne um jeden Preis offen gehalten werden.

Zweitens verkörpert der Staat im Kapitalismus das gesellschaftlich Allgemeine, wenn auch das „falsche Allgemeine“, weil seine proklamierte „Neutralität“ und formale Gleichheit der BürgerInnen nur den Überbau bilden können, auf dessen ökonomischer Grundlage sich die Klassen reproduzieren. Damit die Sicherung dieser gesellschaftlich grundlegenden Verhältnisses gelingt, muss die bürokratische Staatsmaschinerie (Parlamente, Repressionsapparat, Verwaltung, Justiz, …) strukturell an die herrschende Klasse gebunden sein.

Daher kann der Staat nicht einfach übernommen, transformiert oder demokratisiert werden. So sind die Staatsbediensteten materiell und ideologisch an ebendiesen Staat gebunden. Auch ist der Großteil des Staates eben nicht demokratisch wählbar, was im Besonderen für die exekutiven Organe (Polizei, Militär, Geheimdienste) gilt.

Zugleich aber bildet der Kampf um politische und soziale Reformen einen Ort des Klassenkampfes in der bürgerlichen Gesellschaft. Unsere Politik muss daher notwendig zwei Aspekte berücksichtigen. Erstens geht es darum, die Klasse durch Forderungen wie jene nach einem Shutdown der Wirtschaft zusammenzuschließen und zu einer politischen Bewegung zu formieren, die nicht nur an einzelne UnternehmerInnen Forderungen nach Durchsetzung gesundheitlicher Unversehrtheit richtet, sondern diese als allgemeine politische erhebt. Als Zweites zielen diese Forderungen darauf ab, Illusionen in den Klassenstaat zu brechen, um dabei eine Perspektive zu weisen, die von den bestehenden Problemen aus die Notwendigkeit der Selbstorganisation und schlussendlich den Bruch mit dem Privateigentum aufzeigt.

Kann man also Forderungen an den Staat stellen?

Die zentrale Zielsetzung unserer Forderungen besteht nicht in Erreichung kleiner Teilerfolge, sondern sie muss darauf abzielen, einen unversöhnlichen Klassenstandpunkt aufzuzeigen und zu popularisieren (vergl. Luxemburg: Sozialreform oder Revolution). Damit sind wir an einem Punkt angelangt, an dem der Vorstoß von #ZeroCovid eine gewisse Doppeldeutigkeit annimmt, konkret an der Frage, wie die aufgestellten Forderungen umgesetzt werden können. Der Adressat der Online-Petition sind die „Deutsche Bundesregierung, Schweizer Bundesregierung, Österreichische Bundesregierung, Europäische EntscheidungsträgerInnen“ (siehe Petitionstext), während im Aufruf die Gewerkschaften aufgefordert werden, den Shutdown im Betrieb zu organisieren. Was von manchen somit als Appell an den Staat bezeichnet wird, ist unter Bedingungen einer klassenkämpferischen Bewegung in den Gewerkschaften und Betrieben ein Erzwingen zur Umsetzung der Maßnahmen gegenüber dem Staat.

Besonders interessant wird die verkürzte Darstellung von Forderungen an den Staat als rein appellierende Haltung, wenn wir uns andere soziale Bewegungen anschauen, allen voran Fridays for Future – eine Bewegung, die die meisten der ach so konsequenten linken Gruppen vermutlich (kritisch) unterstützen werden. Die Hauptforderung von FFF ist die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens, womit sie sich direkt auf den Staat bezieht, sogar ganz ohne Bezugnahme auf Gewerkschaften. Hier wiederum kämpfen viele der SozialistInnen in und um FFF für ein Klassenprogramm. Eine kurze Frage an die SAV an der Stelle: Ist die Umsetzung der Forderungen der Umweltbewegung denn in der ArbeiterInnenklasse aktuell mehrheitsfähig? Eventuell ist die Sorge auch eher, dass dies in der Linkspartei schwer mehrheitsfähig ist bzw. einen politischen Kampf mit sich brächte.

Um die Notwendigkeit, Forderungen an den Staat zu stellen, zu verstehen, müssen wir uns kurz mit den drei Dimensionen des Klassenkampfes befassen, dem ökonomischen, politischen und ideologischen Klassenkampf (vgl. Lenin: Was tun?). Verkürzt gesagt, umrahmen sie idealtypisch folgendes Feld: Der ökonomische Klassenkampf bezieht sich auf die Verbesserungen des Verhältnisses bezahlter zu ausgebeuteter Lohnarbeit, der ideologische hingegen ist der Kampf um die Köpfe, besser um die Entwicklung von der Klasse an sich zur Klasse für sich, und im politischen Klassenkampf – um den es im Kern an dieser Stelle geht – richtet sich die ArbeiterInnenbewegung schlussendlich gegen das politische wie soziale System des Kapitalismus als Ganzes. Ziel ist es, die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen, somit auch ihren Staat zu schwächen, gar zu entmachten.

Charakter des „Autoritarismus“

Weiter oben haben wir verdeutlicht, dass die Forderung an den Staat mit der Mobilisierung der Klasse verbunden werden muss. Aus dem oben Gezeigten lässt sich auch leicht die Antwort auf eine Frage finden, die viele Linke anscheinend umtreibt: Führen Forderungen an den Staat denn automatisch zum Autoritarismus? Im Allgemeinen lässt sich sagen: Nein! Es hängt vielmehr jeweils davon ab, wessen Klasseninteressen, welche Anliegen sie zum Ausdruck bringen, nicht ob sie „autoritär“ sind oder nicht.

Bestünde ein solcher Automatismus hingegen, müsste jede Forderung nach sozialer Absicherung den Staat ein Quäntchen autoritärer machen, beispielsweise die Erhöhung des Mindestlohns. Auch bei #ZeroCovid geht es nicht um irgendwelche Forderungen an den Staat, sondern um die Forderung nach einem Shutdown des Gesamtkapitals.

Es ist kein Zufall, dass die Regierung bereit ist, einzelne, für die Mehrwertproduktion weniger wichtige Branchen zu schließen. Im Falle der Großindustrie setzt der reale Staat jedoch seine Macht ein, um solche Maßnahmen zu verhindern. Er sichert die Profite der Konzerne auf Kosten unserer Gesundheit. Die konkreten Maßnahmen, die #ZeroCovid vorschlägt, werden daher nur durch eine Bewegung erzwungen werden können. Selbst wenn sich der Staat genötigt sähe, diesem Druck vorübergehend nachzugeben, würden viele BürokratInnen und UnternehmerInnen kreativ nach Schlupflöchern suchen – ganz so wie wir das von der „autoritären“ Besteuerung der Unternehmen oder „autoritären“ Hygienevorschriften in Schlachtereien kennen. Große Konzerne würden versuchen, sich den Shutdown vergolden zu lassen. D. h. hier zeigt sich, dass die Frage der Erzwingung dieser Maßnahmen mit jener der Kontrolle durch die ArbeiterInnenklasse in den Betrieben und Stadtteilen verbunden werden muss.

Welche Forderung in wessen Interesse?

Vom Standpunkt der KapitalistInnenklasse und des KleinunternehmerInnentums sind staatliche Arbeitszeitbeschränkungen, Kündigungsschutz oder Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz natürlich „autoritär“. Vom Standpunkt der ArbeiterInnenklasse aus betrachtet hingegen oft löchrig wie Schweizer Käse. Für das Kapital wirkte sich die Kontrolle durch die Lohnabhängigen noch viel autoritärer aus als jene des Staates. Daher muss jede Kritik am „Autoritarismus“ auf ihren Klassencharakter hin überprüft werden. Der abstrakte, vom politischen und sozialen Inhalt einer Forderung abstrahierende „Antiautoritarismus“ entpuppt sich nämlich bei näherer Betrachtung als bürgerliche, arbeiterInnenfeindliche Ideologie.

Ist es denn kleinbürgerlich-moralisierend, Forderungen an den Staat zu stellen? Wie bereits verdeutlicht: Nein, nicht prinzipiell! Die Aufgabe ist es, die Forderungen, die in der Online-Petition formuliert werden, mit weiterführenden Kampfmaßnahmen zu füllen. Die Darstellung deren als kleinbürgerlich und staatsbejahend ignoriert vollkommen die Aufgabe von RevolutionärInnen, die Wirklichkeit dem Gedanken anzunähern und hat ausschließlich den praktischen Nutzen, im Nachhinein die eigene Passivität zu legitimieren. Eine solche Haltung tut in der Situation der Paralyse nichts anderes als dem vorherrschenden Bewusstsein in der Klasse, somit einem bürgerlichen, hinterherzulaufen. Deshalb: Nicht meckern, machen! Kämpft mit und in #ZeroCovid für eine proletarische Aktionsplattform im Kampf gegen Pandemie und Krise!

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