Was ist Stalinismus?

Jonathan Frühling

Ende Oktober 1917 stürzten bewaffnete Arbeiter_Innen und Soldaten die provisorische bürgerliche Regierung Russlands und errichteten den ersten Arbeiter_Innenstaat der Geschichte. Innerhalb von nur zehn Jahren wurden sie jedoch durch die Staatsbürokratie von der Macht verdrängt und viele Errungenschaften der Revolution wieder rückgängig gemacht. Wie konnte das passieren?

Für uns als Marxist_Innen ist eine Analyse des Stalinismus von Bedeutung, um die Geschichte und das Scheitern der UdSSR sowie auch jene Organisationen zu verstehen, die sich auf diese positiv beziehen. Dies gibt uns auch die Möglichkeit, die Oktoberrevolution und das Erbe Lenins vor Angriffen von bürgerlichen Kräften zu verteidigen. Wir möchten nun versuchen, die grundlegenden Argumente und Zusammenhänge grob zu skizzieren.

Gründe für den Sieg der Reaktion

Nach dem Sieg in der Revolution sah sich der neue Sowjetstaat mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg konfrontiert. Ein darauffolgender Bürger_Innenkrieg, provoziert von den alten herrschenden Klassen und den imperialistischen Staaten, führte in die endgültige wirtschaftliche Katastrophe. Das schwächte die politische und wirtschaftliche Macht der Arbeiter_Innenklasse massiv. Mit dem Tod der revolutionären Arbeiter_Innen an der Front gingen auch die Selbstverwaltungsorgane der Arbeiter_Innenklasse, die Sowjets, unter. Der wichtigste Grund für das Scheitern der Revolution war jedoch ihre Isolation von Westeuropa. In ganz Europa endeten die revolutionären Erhebungen in Blutbädern, da sich die Sozialdemokratie auf die Seite des Kapitalismus schlug. Siegreiche Revolutionen und weitere Arbeiter_Innenstaaten hätten die Auswirkungen des Bürger_Innenkriegs in Russland abfedern können, indem der äußere Druck auf mehr Länder verteilt wird und durch Hilfslieferungen die ohnehin schwache russische Wirtschaft hätte gestützt werden können. Eine Verwaltung der Nöte statt einer Verwaltung des Reichtums ist eine denkbar schlechte Voraussetzung für eine demokratische Planwirtschaft und provoziert Verteilungskämpfe und damit auch die Bürokratisierung.

Auswirkungen der Reaktion nach dem Oktober 1917

_Nach dem Bürger_Innenkrieg nahmen statt der Arbeiter_Innenklasse die Verwaltungsbeamten (die Bürokratie) die dominante Rolle in Staat und Wirtschaft ein. Zur Errichtung ihrer eigenen Herrschaft war es ihr Ziel, die Arbeiter_Innenklasse als unabhängige politische Kraft zu vernichten.

Stalin war Anführer jener Kräfte, die diese degenerative Entwicklung in der UdSSR bewusst vertieften und rückschrittliche Kräfte im Kampf gegen die Arbeiter_Innenklasse organisierten, weswegen diese Strömung auch nach ihm benannt ist. Im Kampf um die Macht haben sie die Autorität der Bürokratie theoretisch untermauert und politisch verteidigt, indem sie linke Kräfte verfolgt und das Verhältnis zu den kapitalistischen Ländern befriedet haben. Zudem wurden viele Rechte abgebaut, z.B. wurden allerhand Frauenrechte, wie das Abtreibungs- und Scheidungsrecht abgeschafft.

Die stalinistische Sowjetunion

Die Sowjetunion war ein planwirtschaftlicher Staat. Planwirtschaftlich, weil die Produktionsmittel (Fabriken, Immobilien und Land) verstaatlicht waren und geplant verwendet wurden. Von Kapitalismus spricht man dagegen, wenn sich die Produktionsmittel in der privaten Hand einer Kapitalist_Innenklasse befinden. Zwar hat die Planwirtschaft für einen sehr deutlichen wirtschaftlichen Aufschwung und für eine allgemeine Verbesserung der Lebensverhältnisse gesorgt, jedoch waren die Arbeiter_Innenklasse und Bäuer_Innenklasse in der UdSSR von der Macht über die Wirtschaft vollständig ausgeschlossen. Es gab keine Räte auf nationaler oder lokaler Ebene, wie z.B. in den Schulen, den Nachbarschaften, den Fabriken oder auf dem Land. Diese wären aber für die demokratische Steuerung des Staates und der Wirtschaft notwendig gewesen. Stattdessen wurden alle Entscheidungen von der herrschenden Schicht der Bürokratie getroffen.

Die Entscheidungen traf die Bürokratie natürlich im Sinne ihres eigenen Wohlstandes und Machterhalts und nicht im Sinne eines Fortschreitens in eine kommunistische Welt. Um ein Wiederaufflammen der Arbeiter_Innenbewegung zu verhindern, wurden in den Jahren 1936-38 nahezu alle Parteimitglieder getötet, die die Revolution miterlebt hatten. Die revolutionäre Tradition Russlands wurde damit endgültig unterbrochen.

Der Zusammenbruch des Stalinismus und seine Gründe

Trotzki formuliert bereits 1936 in seinem Buch „Die Verratene Revolution“, dass es zur Fortentwicklung eine politische Revolution der Arbeiter_Innenklasse geben müsste, die die bürokratische Herrschaft durch Arbeiter_Innendemokratie ersetzt. Anderenfalls würde die UdSSR wieder in den Kapitalismus zurückfallen. Versuche dieser Revolutionen hat es zwar gegeben, sie alle zerbrachen aber letztlich vor allem an der entschlossenen militärischen Initiative der UdSSR.

Das Genick brachen der UdSSR deshalb nicht die Aufstände der Arbeiter_Innen, sondern die eigenen Probleme mit der bürokratischen Wirtschaftsplanung. Wenn die Planvorgaben in Stückzahlen ausgedrückt wurden, wurden besonders billige Produkte hergestellt. Wenn das Gewicht der Sollwert war, dann wurden besonders schwere Produkte produziert. Planungsfehler wurden nicht korrigiert und Korruption wurden nicht offengelegt. Tatsächlich wurde nicht für den Bedarf, sondern für den höchsten Bonus der Fabrikmanager produziert. Aufgrund nationaler Widersprüche scheiterte der Ostblock daran, seine gesamte Wirtschaft sinnvoll zu vereinigen. So blieben die Länder zurückentwickelt und mussten immer mehr teure Maschinen aus dem Westen importieren und sich dafür verschulden. Die wirtschaftliche und finanzielle Basis der Sowjetstaaten erodierte so mit der Zeit. Als der Öl- und Goldpreis Mitte der 80er Jahre sank, war das Ende des Ostblocks gekommen.

Die Arbeiter_Innen erhoben sich im gesamten Ostblock für die Verbesserung ihrer Lebenslage. Sie trat allerdings nirgendswo groß und politisch klar genug auf, um die Entwicklung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Hauptgrund dafür war, dass die stalinistische Diktatur den Massen den Glauben an sich selbst und das Funktionieren einer demokratischen Planwirtschaft genommen hatte. Stattdessen wurde durch den rechten Teil der Bürokratie die Wirtschaft privatisiert und so der Kapitalismus wieder eingeführt. Damit wurde der wirtschaftliche Verfall total. Ende der 80er Jahre lebten 1,5% der Menschen in der UdSSR in Armut, 1994 waren es 39-49%. Das BIP sank von 1991-1994 jährlich um durchschnittlich 11,5%, machte jedoch ab 1997 eine Kehrtwende und ist bis heute nur etwas über den Wert von 1991 hinausgewachsen.

Stalinistische Taktiken

Im Laufe seiner Geschichte hat der Stalinismus einige politische Taktiken formuliert, die jedoch nur Rechtfertigungen seiner konterrevolutionären Realpolitik waren. Das Kernproblem liegt dabei darin, dass sie die „Not zu Tugend“ gemacht haben, also dass die prekäre Lage, in der sich die Sowjetunion nach der Revolution befunden hat, und die Politik, die leider zur Verteidigung während des Bürger_Innenkriegs notwendig aber auf keinen Fall so durch die Revolutionär_Innen gewollt war, zementiert wurde, indem sie theoretisch zum gewünschten Zustand erklärt werden. Tragischerweise werden sie heute noch von stalinistischen Gruppen angewandt.

Ein treffendes Beispiel: Der Verrat am Internationalismus setzte bereits 1924 mit der „Theorie des Sozialismus in einem Land“ ein. Obwohl die Entwicklung des Sozialismus zum Weltsystem bislang als notwendig galt, wurde nun die Isolation der Sowjetunion zu einem unproblematischen Zustand erklärt. Sie rechtfertigte die Herrschaft der Bürokratie und die friedliche Koexistenz mit dem Imperialismus. Mit dem Untergang des Ostblocks hat diese Theorie jedoch völlig an Bedeutung verloren.

Viel entscheidender ist heute die Volksfronttaktik. Sie bedeutet eine Zusammenarbeit mit bürgerlichen Kräften und eine Unterordnung unter deren Programm. So schlagen Stalinist_Innen z.B. im Kampf gegen den Faschismus ein Bündnis mit den liberaleren Teilen der Bourgeoisie vor. Wir dagegen schlagen eine Arbeiter_Inneneinheitsfront vor, also eine Zusammenarbeit aller Organisationen der Arbeiter_Innenklasse gegen Faschismus und Kapitalismus, um damit auch die kapitalistische Grundlage des Faschismus angreifen zu können und einen konsequenten Kampf zu kämpfen. Ein tragisches Beispiel für die Volksfronttaktik ist der Spanische Bürger_Innenkrieg 1936-1939. Dabei erhielt die stalinistische Partei lieber den Kapitalismus, statt sozialistische Reformen durchzusetzen und verlor deshalb den Krieg.

Für unterentwickelte Länder schlagen weite Teile des Stalinismus‘ die Etappentheorie vor. Sie besagt eine Volksfront mit nationalen bürgerlichen Kräften bis diese einen voll entwickelten und unabhängigen Kapitalismus errichtet haben. Erst dann sei eine sozialistische Bewegung möglich. Faktisch endet diese Taktik in einem Scheitern der Revolution, wie Mitte der 1920er Jahre in China.

Stalinismus heute

Heute sind als wirklich stalinistische Staaten nur noch Kuba und Nordkorea übriggeblieben. Sie teilen die reaktionären Seiten des Stalinismus der UdSSR, inklusive ihrer wirtschaftlichen Probleme. China hat mittlerweile den Kapitalismus zurück ins Land geholt und fast alle Staatsbetriebe privatisiert. Aufgrund Chinas dominanten und ausbeuterischen Rolle in der Welt kann es heute nicht nur als kapitalistisch, sondern sogar als imperialistisch beschrieben werden.

Auch heute noch gibt es eine Vielzahl unterschiedlichster Organisationen stalinistischer Prägung, allen voran die meisten alten kommunistischen Parteien. Auch diese verfolgen in Bündnissen in der Regel eine Volksfrontpolitik. Dabei passen sie sich bürgerlichen Teilen des Bündnisses an und ordnen sich damit letztlich einer bürgerlichen Politik unter. Fortschrittlichere Positionen werden höchstens mit der Handbremse nach außen getragen. Es findet also auch eine Anpassung an ein rückschrittlicheres Bewusstsein statt. Stattdessen sollten wir versuchen, revolutionäres Bewusstsein aktiv zu verbreiten, offen um Ideen zu kämpfen und uns nur mit Organisationen der eigenen Klasse zu verbrüdern.

Auch feiern diese Organisationen Kuba total unkritisch ab und setzen sich kaum mit einer kritischen und marxistischen Analyse Kubas oder der UdSSR auseinander. Die Rolle von Arbeiter_Innenräten oder einer revolutionären Partei bleibt unerwähnt. Klassisch für stalinistische Gruppen ist auch ihr Mini-Maxi-Programm. Also Minimalforderungen, wie z.B. höhere Löhne, und die Maximalforderung nach einer kommunistischen Revolution. Da Übergangsforderungen fehlen, die eine Brücke zwischen minimalen und maximalen Forderungen schlagen und die Frage nach der konkreten Stärkung der Macht der Arbeiter_Innen beantworten, bleiben sie letztlich bei den Minimalforderungen und damit bei einer reformistischen Politik stehen.

Schlussfolgerung

Die Geschichte der Russischen Revolution zeigt uns die Möglichkeit einer kommunistischen Revolution, aber auch die Gefahr, die von einer Bürokratisierung der Revolution ausgeht. Das logische Produkt dieser Politik ist letztlich eine ausgewachsene Konterrevolution, also die Wiedereinführung des Kapitalismus. Diese Erkenntnisse müssen wir nutzen, um uns von der fehlgeleiteten Politik des Stalinismus zu befreien. Nur so kann die Klasse der Arbeiter_Innen weltweit siegreich im Kampf für Sozialismus sein.

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