Von Clara Roth
Seit einem Jahr hält die Pandemie die ganze Welt in Atem. Doch als ob nichts gewesen wäre, finden die Abschlussprüfungen dieses Jahr wie gewohnt statt und zwar mit denselben hohen Anforderungen wie vor der Pandemie. Die Abiturient_Innen sollen schließlich „auch in diesem Jahr ein anerkanntes Abitur machen“, so Berlins Bildungssenatorin Scheeres. Eine hohle Ausrede zur Verteidigung einer diskriminierenden Schulpolitik:
Denn auch und gerade für Schüler_Innen stellt die Pandemie in Anbetracht einer auf allen Ebenen verfehlten Schulpolitik eine enorme Belastung dar. Der Online-Unterricht an deutschen Schulen bleibt bis heute eine einzige Katastrophe. Das sträfliche staatliche Versäumnis, rechtzeitig ein einheitliches und adäquates Home-Schooling-Konzept zu entwickeln, mündete in einem willkürlichen Mix aus schlecht funktionierendem Fernunterricht und chaotischem Präsenzunterricht. Angesichts fehlender Endgeräte, langsamer Internetverbindungen mit ständigem Ausfall, mangelhaft geschulten Lehrpersonals, fehlender psychischer und sozialer Betreuung und fehlender finanzieller Unterstützung der Schüler_Innen, steht der deutsche Fernunterricht ziemlich mies da. Dass jedes vierte Kind kein funktionierendes Endgerät und/oder keine Internetverbindung hat und, dass jedem siebten Kind ein ruhiger Ort zum Lernen fehlt, dass demzufolge das Benotungssystem in diesem Jahr Kinder aus einkommensschwachen Familien unfairer behandelt als je zuvor, scheint kein ausreichender Grund für eine Aussetzung der diesjährigen Prüfungen zu sein.
Noch schlimmer sieht es allerdings bei der unverantwortlichen Rückkehr zum Präsenzunterricht aus, auf den Schulen weder personell noch technisch und hygienisch vorbereitet sind. So handelt die Politik seit einem Jahr entgegen aller Vernunft und setzt mutwillig das Leben der Schüler_Innen, Lehrer_Innen und deren Umfelder aufs Spiel. Aber ungeachtet all dessen, werden die Prüfungen als „alternativlos“ dargestellt und durchgezogen, zumal es durchaus eine Alternative in Form des Durchschnittsabiturs gäbe, der dieselbe Glaubwürdigkeit zukommen dürfte. Wieso wird selbst in einer Jahrhundertkrise weiterhin stur am gewohnten Abitur festgehalten? Woher kommt diese Notenbesessenheit?
Die Schule als Fabrik für Arbeitskräfte
Schauen wir uns einmal genauer an, nach welchen Kriterien wir in der Schule benotet werden. Es kommt einem zwar unmittelbar so vor, als würden wir danach bewertet, wie schnell wir lernen oder wie „schlau“ wir sind, doch wenn wir genauer hinsehen, stehen eigentlich Gehorsam und Fleiß an oberster Stelle. Wer zu spät kommt, sich den schulischen „Spielregeln“ widersetzt und nicht willens oder imstande ist, stundenlang ruhig zu sitzen, sich auf langweilige Inhalte zu konzentrieren und den Anordnungen der Lehrerkraft brav Folge zu leisten, hat von vorneherein keine Chance, eine gute Note zu erzielen. So versichern gute Noten den späteren Arbeitgeber_Innen, dass die Person sich ohne wenn und aber unterordnen und die ihr auferlegte Aufgabe erledigen kann. Doch das ist nur die Vorbedingung: Es kommt zusätzlich darauf an, sich in direkter Konkurrenz zu Mitschüler_Innen durchzusetzen und besser zu sein als andere. Lehrer_Innen sind dazu angehalten, zu verhindern, dass zu viele Schüler_Innen gleichzeitig gute Noten erzielen. Wenn das bei der Vorbereitung mal falsch eingeschätzt wurde, kommt es auch mal vor, dass bei Prüfungen Benotungskriterien absurderweise im Nachhinein verschoben werden, damit der Notenspiegel nicht zu gut ausfällt. Ein derartiges Benotungssystem definiert den eigenen Erfolg unmittelbar über den Misserfolg der Mitmenschen. Von Kindesbeinen an lautet das Motto: Du bist auf dich gestellt, du musst dich durchsetzen und wenn es bedeutet, auch mal die Ellbogen auszufahren. Anderen zu helfen bringt einem höchstens was, wenn man mal als Gruppe bewertet wird und sich dabei wiederum mit anderen Gruppen misst. Ansonsten ist in der Konkurrenz Nachsicht mit anderen eher kontraproduktiv. Und jedem Individuum, das sich gegen diese zutiefst antisoziale und das Gemeinschaftsglück zerstörende Schulrealität aufzulehnen wagt, oder sich nicht an die Verhältnisse anpassen kann oder will, drohen schlechte Noten. Unterdurchschnittliche oder gar fehlende Abschlüsse verbauen den Weg des sozialen Aufstiegs und resultieren in mies bezahlter, harter Arbeit und lebenslangen prekären Verhältnissen. Die Angst vor schlechten Noten ist somit keine Eitelkeit, sondern berechtigte Existenzangst und als solche ein effektives repressives Druckmittel der Herrschenden, um gesellschaftliche Machthörigkeit zu schaffen und aufrechtzuerhalten.
Im Endeffekt ist, wie das gesamte Bildungssystem, auch das Notensystem auf den Kapitalismus ausgerichtet. Dem Staat und dem Kapital geht es selbstverständlich nicht um persönliche Entfaltung und Bereicherung des Lebens von Schüler_Innen. Da es die höchste Priorität darstellt, die Wirtschaft am Laufen zu halten und Profite zu maximieren, ist die Schule als Ort entworfen, an dem massenhaft Arbeitskräfte ausgebildet werden. Und weil alles im Kapitalismus einen Geldwert haben muss, dienen schulische Noten gewissermaßen als individuelle Preisschilder der Lohnabhängigen und liefern den Kapitalist_Innen eine „objektive“ Orientierungshilfe, wer sich eher für die Führungsetage eignet und wer zum/zur einfachen Arbeiter_In taugt. Ähnlich wie bei Preisschildern für normale Produkte hängen Noten und Abschlüsse damit zusammen, wie viel Aufwand und Lebenszeit es durchschnittlich gekostet haben dürfte, diese zu erreichen und je mehr das ist, desto höher dürfte auch der Preis (in Form des Lohns) für deine Arbeitskraft liegen, um diesen Aufwand zu entschädigen. Und damit sind wir dann beim Kern des Problems angelangt: Falls es in diesem Jahr gerechterweise Erleichterungen für die Abschlussjahrgänge gäbe, wäre auf einmal nicht mehr klar, wie hoch diese Entschädigung tatsächlich ausfallen sollte, weil die Kapitalist_Innen sich nicht mehr darauf verlassen können, wie viel der Abschluss und damit die Arbeitskraft eigentlich „wert“ ist, wenn man diesen mit anderen Abschlüssen vergleicht. Das würde zum einen für Chaos am Arbeitsmarkt sorgen und damit die Verwertung stören, zum anderen gäbe es dann aber auch für die Kapitalist_Innen die „Gefahr“, dass manche Arbeiter_Innen „zu hoch“ bezahlt werden. Deswegen ist es auch für die Herrschenden das allerwichtigste, dass trotz aller Widrigkeiten für die Schüler_Innen die Abschlüsse „allgemein anerkannt“ sind und damit wird klar, dass auch diese Vergleichbarkeit bloß vorgetäuscht ist. Und mit den verschiedenen Startbedingungen, die jeder_jede aus den sozialen Hintergründen mitbringt, war diese Vergleichbarkeit auch noch nie gerecht!
Befreit die Bildung!
Wie kann aber eine mögliche Alternative zum täglichen Noten- und Leistungsdruck konkret aussehen? Wie können wir die Schule in einen Ort verwandeln, an dem Schüler_Innen ohne Angst und Druck gemeinsam lernen, neben Fachwissen auch soziale Kompetenz erlangen, ihre Talente entdecken und entfalten können, anstatt sie ins Korsett der Verwertung zwängen zu müssen? Es gibt bereits jetzt schon alternative Lernmodelle (Beispielsweise Montessori oder Waldorf), die sich in Hinblick auf das Notensystem durchaus bewährt haben. An diesen Schulen erhalten die Schüler_Innen von der ersten bis zur achten Klasse sogenannte individualisierte Leistungsbeurteilungen und Noten kommen erst ab der neunten Klasse ins Spiel. Sie widerlegen die kapitalistische Grundannahme, dass Kinder ohne Notendruck und aus freien Stücken nichts Produktives zustande bringen würden. Schüler_Innen fühlen sich dort oftmals wohler und die schlussendlichen Leistungen ab der Benotung können sich meist auch sehen lassen. Brecht scheint wohl recht damit zu haben, dass der Mensch, weil er ein Mensch ist, Stiefel im Gesicht nicht gern hat- auch nicht beim Lernen.
Diese alternativen Inseln können aber für sich nicht der Misere des kapitalistischen Bildungssystems beikommen. Zum einen sind sie vielerorts für breite Bevölkerungsschichten kaum zugänglich, da es sich um Privatschulen handelt. Bei mangelnder Ausstattung der Schulen oder zu hohen Klassengrößen helfen dann nur hohe Gebühren. Zum anderen müssen sie sich letzten Endes dem Diktat des vorherrschenden Bildungswesens beugen, spätestens wenn es um Abschlüsse wie das Abitur geht. Der Kapitalismus in der Gestalt liberaler Demokratie kann eine begrenzte Menge harmloser Spielerei durchaus dulden, gar begrüßen, wenn es aber ernst wird, sind Ziffernzeugnisse unbedingt notwendig und nicht verhandelbar. Noten sind nun einmal integrale Bestandteile eines Bildungssystems, das vor allem auf die Bedürfnisse der Kapitalist_Innen zugeschnitten ist.
Daher ist unsere Perspektive eine gänzlich andere: Wir wollen Komitees aus Schüler_Innen, Lehrer_Innen und Eltern erkämpfen, damit wir uns wirklich von der Macht des Staates und Kapitals entkoppeln können und die Schule so gestalten, wie wir sie uns wünschen. Das Schulsystem muss dahingehend demokratisiert werden, dass Eltern, Schüler_Innen und Lehrer_Innen gemeinsam sowohl über die Lerninhalte, als auch über die Art und Weise der Bildung und Erziehung bestimmen können. Die Lernenden und Lehrenden sollten selbst entscheiden können, welche Inhalte sie interessieren und wirklich auf das Leben vorbereiten. Dazu sollte sich der Unterricht an der Lebensrealität der Schüler_Innen orientieren und nicht bloß an den Anforderungen der Herrschenden. Weiterhin muss Bildung für jede/n zugänglich sein: Privatschulen müssen verstaatlicht werden, Lernmittel wie Bücher oder Tablets müssen kostenlos verfügbar sein und Schüler_Innen, die zuhause nicht lernen können, müssen Zugang zu öffentlichen Lernräumen bekommen. Jedoch reicht es nicht nur das Bildungssystem zu revolutionieren: Bildung kann ihren wahren Wert erst dann erlangen, wenn auch die Arbeit ihren erlangt hat. Erst wenn das kapitalistische Ausbeutungssystem überwunden ist und unsere Arbeit vom Zwang, verwertet zu werden, befreit wird, wird auch die Bildung vom Notenzwang und Konkurrenzdruck befreit werden können.