VON SVENJA SPUNCK
Am Morgen des 12. Januar sprengte sich ein Selbstmordattentäter am bekanntesten Ort Istanbuls in die Luft. Den Sultan-Ahmet-Platz zwischen Hagia Sophia und Blauer Moschee passieren täglich tausende TouristInnen. An diesem Tag verloren ein Peruaner und 9 Deutsche ihr Leben, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. 15 weitere Menschen wurden verletzt. Nach dem Anschlag von Ankara am 10. Oktober ist dies nun der zweite Terrorakt in einer der großen westlichen Städte der Türkei, die auch von ausländischen UrlauberInnen besucht werden. Während die bisherigen Anschläge in Suruç, Diyarbakir und Ankara sich explizit gegen politischen AktivistInnen und Mitglieder der HDP richteten, ist der aktuelle auf TouristInnen angesetzt worden.
Schon kurz nachdem sich die Nachricht wie ein Lauffeuer in der Stadt herumgesprochen hatte, äußerte sich Präsident Erdogan zu den Geschehnissen. Der Attentäter sei ein junger Syrer gewesen, der dem IS angehöre. Während man sich noch wunderte, wie Erdogan so genau die Identität einer zerfetzten Leiche erkennen konnte, verbreitete sich eine andere Information. Linke Medien berichteten, dass der türkische Geheimdienst den Attentäter vorher auf dem Schirm hatte, aber dieser nicht aus Syrien, sondern aus Saudi-Arabien stamme und Nabil Fadlı heiße. Dazu passt die Aussage von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, die er nach dem Ankara-Anschlag von sich gab: „Wir haben eine Liste mit potentiellen Selbstmordattentätern vorliegen, aber solange sie ihr Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt haben, können wir nichts unternehmen, denn die Türkei ist ein Rechtsstaat.“
Diese „Rechtsstaatlichkeit“ mussten heute also 10 Menschen mit ihrem Leben bezahlen, die auf der letzten Station einer Anatolienreise in Istanbul spazieren waren.
Besondere Beachtung sollte man jedoch Erdogans Rede schenken: Er sagte, die Namen der Terroristen seien egal, denn jeder, der den türkischen Staat angreife, habe mit der gleichen Härte zu rechnen. Er rief die europäischen Staaten dazu auf, härter gegen Terrororganisationen und deren Sponsoren durchzugreifen.
In Anbetracht der aktuellen Angriffe der türkischen Armee auf kurdische Organisationen und ZivilistInnen im Osten des Landes, die sich vermeintlich gegen die PKK richten, bedeutet dies, dass sich alle vom türkischen Staat als Terrororganisation bezeichneten Gruppen auf härtere Repressionen gefasst machen müssen. Wie es jedoch nach Suruç und Ankara der Fall war, wird der Staat wohl weiterhin den islamistischen Gruppen gegenüber ein Auge zudrücken, da sie keine politische Gefahr für die AKP-Regierung darstellen.
Es wird wieder diejenigen treffen, die Teil der politischen Opposition sind oder Autonomie im türkischen Nationalstaat anstreben. Scheint das künstlich aufrechterhaltene Konstrukt der türkischen Nation, welches seit deren Gründung 1923 unter Mustafa Kemal Atatürk bis aufs Blut verteidigt wird, bedroht zu sein, schreckt die Regierung vor keiner Repressionsmaßnahme zurück. Direkt nach der Explosion am 12. Januar wurde eine Nachrichtensperre verhängt, die es den türkischen Medien untersagte, über den Vorfall zu berichten. Dies verunsicherte viele Menschen, die keinen Zugang zu ausländischen Medien hatten, machte sie gefügiger für die Propaganda der Regierung und könnte zu weiteren Repressionen gegen linke Medien führen, die trotzdem weiter berichteten.
Der Anschlag stellt die Menschen nun auch vor neue Herausforderungen. Wie kann man sich schützen gegen unerkennbare AngreiferInnen, die sich in Menschenmengen in die Luft sprengen? Eine hundertprozentige Garantie gibt es natürlich nicht, aber die Verantwortung dafür, dass es überhaupt erst dazu kommen konnte, liegt beim türkischen Staat. Dessen Geheimdienst ist ausreichend aktiv, um potentielle AngreiferInnen ausfindig zu machen, wie die Regierung ja selbst zugibt.
Doch solange die Kontrolle über entsprechende Maßnahmen in den Händen derer liegt, die es bevorzugen, nicht zu handeln, kann die Sicherheit natürlich nicht wiederhergestellt werden. Im Gegenteil, ebenso wie nach den Anschlägen von Paris nutzt es der Regierung sogar, wenn die Bevölkerung in Panik und Angst versetzt wird und das Versprechen einer starken Staates, totaler Kontrolle und harten Durchgreifens gegen alle möglichen „TerroristInnen“ die scheinbar einzige Lösung zu sein scheint.
Doch gerade in diesen Zeiten ist es die Pflicht der politischen Opposition, der SozialistInnen und linken Parteien, sich gegen mehr Überwachung durch einen Staat auszusprechen, der sowieso schon jedes Telefongespräch mithören und jede Wohnung durchsuchen kann und trotzdem keine sinnvollen Maßnahmen ergreift.
Der Anschlag wurde vielleicht vom IS oder einem seiner Sympathisanten verübt, aber die türkische Regierung trägt ebenso die Schuld daran, dass dieser nicht verhindert wurde. Die unschuldigen Todesopfer betrauern wir, egal welcher Nation sie angehören. Doch lassen wir die Wut über diese grausame Gewalt zu Widerstand werden. Jedes Statement der AKP-Regierung, jede Krokodilsträne, die Angela Merkel heute Abend vergießt, ist pure Heuchelei. Die deutsche Regierung paktiert ebenso mit der AKP auf EU-Ebene, um sich die Flüchtlinge vom Hals zu halten, die sich aus Syrien auf den Weg nach Europa machen. Als Belohnung, dass die Türkei diese Menschen aufhält, schweigt die deutsche Regierung zu den Massakern, die der türkische Staat im Osten an der kurdischen Bevölkerung verübt. Unabhängig davon, ob der Anschlag sich gezielt gegen deutsche TouristInnen richtete oder sie zufällig traf, die Spekulation, ob es eine Reaktion auf den deutschen Kriegseinsatz in Syrien war, ist sicher nicht ganz von der Hand zu weisen. Während die Interessen des deutschen Imperialismus auf dieser Art verteidigt werden sollen, sind es die einfachen Leute, die am Ende ihr Leben lassen müssen, seien es die syrischen ZivilistInnen oder eben diese deutsche Reisegruppe.
Die Antwort auf diesen Terror ist klar: internationalistische, antimilitaristische Solidarität! Sei es in der Türkei, in Deutschland oder in Syrien: Imperialistische Interessen am Konflikt im Nahen Osten müssen durch eine internationalistische, sozialistische Bewegung der ArbeiterInnen und Jugend durchkreuzt werden; nur so können Terrororganisationen wie der IS oder eben gewisse Regierungen besiegt werden. Nicht weniger als das sind wir Linken den Opfern dieses Terrors schuldig.
Başınız sağ olsun! – Herzliches Beileid!
Kahrolsun terorizm ve emperyalizm! – Nieder mit dem Imperialismus!