VON BEN ZIMMER
Am 23. Juni trat Großbritannien aus der Europäischen Union aus. Die Nachrichten überschlugen sich. In Großbritannien trat Cameron zurück, Theresa May, eine Parteirechte, wurde Premier-Ministerin. In ganz Europa wurde und wird über einen möglichen Zerfall der EU diskutiert, die Rechte hat neuen Rückenwind bekommen und die Börse erlebte weltweit ein kleines Beben.
Die Europäische Union ist neoliberal, undemokratisch und militaristisch. So oder so ähnlich wird die EU oft richtigerweise beschrieben. Beispielhaft hierfür steht die innere und äußere Krisenpolitik. Dass die EU militaristisch ist, sieht man ganz gut an der rassistischen, paramilitärischen Grenzschutz-Agentur Frontex oder auch der Schaffung der 60.000-Menschen starken Eingreiftruppe. Diese dient einzig dem Ziel, Geflüchtete aus Krisengebieten außerhalb der EU zu halten, um diese nicht nach den (ohnehin zu schwachen) Asylgesetzen der einzelnen Mitgliedsstaaten doch aufnehmen zu müssen. Es werden demokratische Rechte ausgehebelt, zum Beispiel durch das Troika-Diktat über Griechenland und den Zwang gegenüber krisengebeutelten Ländern, öffentliche Güter zu privatisieren und massiv an den Sozialleistungen und Mindestlöhnen, so vorhanden, zu kürzen. Das alles offenbart, welcher Klasse die EU-Bürokrat_Innen hörig sind.
Was jedoch bei „neoliberal, undemokratisch und militaristisch“ fehlt, sind die sozialen Interessen, die hinter der EU stehen und welches Verhältnis die EU zu den Nationalstaaten und deren Interessen hat. Die EU ist nämlich keine supranationale („über dem Staat stehend“) Institution, wie sie gerne vorgibt, sondern vielmehr ein imperialistischer Block aus Nationalstaaten, dessen Gemeinschaft es ihnen ermöglicht, sich besser im Kampf um die Neuaufteilung der Welt gegen andere Mächte, wie z.B. die USA, zu behaupten, auch wenn es immer wieder größere Probleme innerhalb dieser Allianz gibt.
Der Vorgänger der EU, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), wurde damals noch von den USA gestärkt, die sich als Hegemonialmacht Vorteile im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion erhoffte. Dies widersprach allerdings den Interessen einiger europäischer Imperialist_Innen, die langfristig auf einen einheitlichen, europäischen Staat hofften, der in der Lage sein würde, als eigenständiger Imperialist die Hegemonialmacht auf der Erde zu werden. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung der BRD in den 70ern und die Wiedervereinigung unter kapitalistischen Produktionsbedingungen schaffte es der wiedererstarkte, deutsche Imperialismus, eine führende Rolle in der EU einzunehmen.
Auch wenn es zwischenzeitlich Fusionen zwischen dem deutschen und dem französischen Kapital gab, erlitt die Idee eines Eurostaates schon 2005 einen herben Rückschlag, als in Frankreich eine EU-Verfassung abgelehnt wurde. Die jetzige EU ist sehr weit entfernt von einer „Einheit“. Deutschland ist die dominierende Macht der EU, was dennoch nicht bedeutet, dass alle einfach nach deutscher Pfeife tanzen. Jeder Nationalstaat hat seine eigene Kapitalist_Innenklasse, die ihr eigenes Soziales vertritt und untereinander in kapitalistischer Konkurrenz zu den anderen steht. Die Widersprüche und Konflikte innerhalb der EU sind Ausdruck davon und nicht, wie Rechte es immer behaupten, Ausdruck kultureller Unterschiede.
Auch nationale Kapitalist_Innenklassen sind nicht einheitlich, sondern haben verschiedene Interessen. Dies kann man ganz gut am Brexit erkennen: In Großbritannien hat sich die Kapitalfraktion, die sich nicht auf den europäischen Markt fokussiert, bei der Volksabstimmung über den EU-Austritt durchsetzen können und so Großbritannien als eine der wirtschaftlich stärksten Nationen in Europa aus der EU raus brechen können.
Der Austritt aus der EU steht nicht erst seit dem Brexit auf der Tagesordnung. Erstmals wurde 2009 darüber diskutiert, ob man Griechenland aus der EU wirft, 2014 kamen die Diskussionen wieder auf. Damals ging es hauptsächlich darum, sich von Griechenland zu lösen, das mit einer Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 50% und einer extrem hohen Staatsverschuldung keinen Plan hatte, wie man aus der Krise kommt. Es wurde dann mit der Troika (einer Kooperation von Europäischer Zentralbank (EZB), Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer Kommission) das griechische Parlament in seiner Macht sehr stark eingeschränkt, da dieses fast keine Entscheidungen mehr über den eigenen Haushalt treffen konnte. Die Alternative zum Rausschmiss war ein starker Staat, der die bürgerliche Demokratie und Arbeiter_Innenrechte zugunsten des Kapitals eingeschränkt hatte. Auch beim Referendum 2015, bei dem es darum ging, ob man das Schuldendiktat der Troika annimmt, wurde mehrheitlich mit OXI, also Nein, gestimmt. Dank des Verrates von SYRIZA, der Schwesterpartei der Linkspartei, wurde das Schuldendiktat trotzdem angenommen und die griechischen Arbeiter_Innen und Jugendlichen müssen weiter unter dem wirtschaftlichen und sozialen Niedergang leiden.
Das Referendum über den Austritt Großbritanniens unterscheidet sich grundlegend vom diskutierten Rausschmiss Griechenlands. Zunächst wurde in Großbritannien als Folge eines Führungskampfes in der konservativen Partei, den David Cameron vorerst gewann, ein Referendum über den Verbleib in der EU abgehalten. Cameron hat die Abstimmung als Wahlversprechen in seine Kandidatur mit einfließen lassen und dem rechten Flügel so Wind aus dem Segel genommen. Doch was darauf folgte gleicht einem Sturm. Die UK Independence Party (UKIP), die, wie schon im Namen steht, für den Austritt Britanniens aus der EU (der „Unabhängigkeit“) eintritt, konnte zusammen mit dem rechten Flügel der Konservativen eine knappe Mehrheit beim Referendum erringen. Mit der Leave-Kampagne („leave“ = verlassen) wurde die Schuld am Niedergang der Wirtschaft, dem Verfall von Bildungseinrichtungen, dem Sinken der Reallöhne, der hohen Arbeitslosigkeit und sonstigen Auswüchsen des Kapitalismus den „Gast“-Arbeiter_Innen in die Schuhe geschoben. Die Partei behauptet, dass durch die EU viele Migrant_Innen in das Vereinigte Königreich geholt wurden und das britische Parlament durch die EU entmachtet wäre.
Diese rassistische Kampagne hat vielen Arbeiter_Innen eine Antwort auf die Krise gegeben, die die Linke, auch durch ihre Zersplitterung, unfähig war, zu geben. Aber das Interesse, dass diese Kampagne vertritt, ist keineswegs eines der Arbeiter_Innen. Die Migrant_Innen, egal, ob sie aus Syrien, den baltischen Staaten oder Polen kommen, werden von dem britischen Kapital genutzt, um ihren Profit durch Lohndrückerei zu erhöhen. Nach dem Motto „Wenn du den Job für diesen geringen Lohn nicht machst, dann macht es jemand aus Polen“ werden britische Arbeiter_Innen genauso gegeneinander ausgespielt, wie migrantische. Die Brexit-Kampagne hat der Arbeiter_Innenklasse nichts zu bieten. Sie ist im Interesse von Teilen des Kapitals, die sich weniger auf den europäischen Binnenmarkt, welcher die Profite eher in die Taschen deutscher Kapitalist_Innen verschiebt, und mehr auf den internationalen oder nationalen Markt, konzentrieren.
Die Debatten um den Rausschmiss Griechenlands und der Austritt Großbritanniens sind ein Ausdruck der Schwäche des imperialistischen Blocks EU. Dies liegt vor allem an den Differenzen zwischen einzelnen Nationen. So kam es auch, dass nach dem terroristischen Anschlag in Paris nur Frankreich und Deutschland gegen den IS militärisch intervenierten. Wäre die EU ein stabilerer Block oder gar ein Euro-Staat, so hätten dies nicht nur die zwei führenden Länder der EU getan.
Dass die EU nicht so geschlossen ist, wie sich einige Teile des Kapitals wünschen, bedeutet aber nicht automatisch, dass die EU jetzt auf Kurz oder Lang zerfällt. Selbst wenn weitere Teile mit der EU brechen, bedeutet das nicht den Zusammenbruch der gesamten EU. Das Weiterbestehen eines Kerneuropas oder eine Neuorganisierung sind denkbar. Sicher ist: Die Profitrate fällt langfristig, das Kapital ist daher weiter zu einer Überproduktion gezwungen. Das führt zu neuen Wirtschaftskrisen und einer verschärften imperialistischen Konkurrenz. Damit steigt der Druck für die einzelnen Kapitalfraktionen innerhalb der EU, entweder nach außen als gleichrangige Kraft gegenüber den großen imperialistischen Mächten zu agieren oder aber neue Bündnisse einzugehen. Damit würden sie im Fall kriegerischer Auseinandersetzungen militärischer oder wirtschaftlicher Art nicht auf verlorenem Posten stehen und sich der Neuaufteilung der hegemonialen Kräfte fügen.
„Wir haben dich aus dem Land gewählt!“ Solche Sätze müssen sich Migrant_Innen in Großbritannien im Moment von Rassist_Innen und Nationalist_Innen anhören. Die Zahl der rassistischen Angriffe stieg nach dem Brexit laut Polizeistatistik um 57% an. Diese Angriffe auf Migrant_Innen und ihre Rechte sind Ergebnis der rassistischen Brexit-Kampagne, bei der das Märchen von einer EU erzählt wurde, die absichtlich viel Geflüchtete und Gastarbeiter_Innen nach Großbritannien gebracht hat.
Doch nicht nur auf der Insel gibt es einen Anstieg von Rassismus. Europaweit versuchen Rechtspopulist_Innen den Brexit und die Unzufriedenheit der Gesellschaft nach der Krise 2007/2008 sowie der gescheiterten EU-Politik für sich zu nutzen. In den Niederlanden wird seitens Geert Wilders der Brexit bejubelt: „Die europhile Elite ist geschlagen“. Die Forderung nach einem Austritt der Niederlande, einem Nexit, wird laut. Ähnliche Töne lassen sich bei Rechtspopulist_Innen in ganz Europa feststellen. Marie Le Pen, Vorsitzende der rechten „Front National“,
sagt: „Das ist ein historischer Moment, in dem das Volk die Macht wieder übernommen hat“. Auch die Schweizerische Volkspartei (SVP), die österreichische, rechtspopulistische FPÖ und die AfD feierten den Brexit. Letztere forderte auch ein Referendum in Deutschland. AfD-Vorsitzende Frauke Petry forderte „ein Europa der Vaterländer“. Zweifelsfrei sind alle diese Bestrebungen genauso reaktionär wie der Brexit.
Doch die Rückkehr zum Nationalstaat ist keineswegs fortschrittlich und führt auch nicht dazu, dass Lebensbedingungen der Arbeiter_Innen verbessert werden. Das jetzt bestehende Europa – auch wenn kapitalistische Produktionsweisen herrschen – schafft für das Erkämpfen eines wirklich geeinten Europas eine bessere Ausgangslage, als eine Rückkehr zum klassischen Nationalstaat. Dies würde historisch einen Rückschritt darstellen. Ein Austritt aus der EU versetzt nicht nur dem internationalistischen Bewusstsein einen schweren Schlag, wie man am Brexit sehen kann, er schürt auch Illusionen in den Nationalstaat an sich. Allein deshalb ist der Brexit kein Grund zur Freude, sondern eine Niederlage, die sich nicht schönreden lässt. Der Brexit hat der Rechten europaweit einen Aufwind beschert. Um eine Antwort darauf zu finden, braucht es eine europaweite Konferenz der Linken, bei der man sich auf eine gemeinsame Kampagne gegen die drohende Gefahr von Rassismus einigt und diese anschließend auch durchführt.
Seitens der Linkspartei hört man oft, dass sie ein „soziales Europa“ will. In ihrem Programm schreibt sie, dass sie „nicht weniger als einen grundlegenden Politikwechsel in der Europäischen Union“ herbeiführen möchte und die EU „einen Neustart“ brauche. Weiter fordert die LINKE durchaus richtige Dinge, wie die Gleichstellung von Frauen und Männern, ökologische Nachhaltigkeit oder die Auflösung der Grenzschutzagentur Frontex.
Was aber der grundlegende, methodische Fehler der Linkspartei ist, ist die sehr vage Kritik an der Produktionsweise. Sie fordert eine EU, deren „Rechtsgrundlagen wirtschaftspolitisch neutral gestaltet“ ist und eine Offenheit „gegenüber einer gemischtwirtschaftlichen Ordnung“ (Mischung aus kapitalistischer Ausbeutung und staatlicher Planung). Damit greift sie unter dem Strich nicht die kapitalistische Produktionsweise, sondern nur die neoliberale Spielart dieser an und fordert letztlich ein kapitalistisches Europa mit geringfügigen staatlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten.
Wohin das führt sieht man beispielsweise an ihrer abstrakten Forderung nach Frieden. Ein „Frieden“ im Kapitalismus bedeutet auch ein Frieden mit der Ausbeutung der Arbeiter_Innen, ein Frieden mit der Umweltzerstörung und letztendlich auch ein Friede mit den kommenden Kriegen, die dieser zwangsläufig hervorbringen wird. Selbst wenn es eine EU gäbe, die so organisiert ist, wie die LINKE sich es vorstellt, ist diese EU immer noch dazu gezwungen, imperialistisch zu agieren und die Arbeiter_Innenklasse auszubeuten, weil dies der inneren Logik des Kapitalismus entspricht. Ein soziales Europa unter kapitalistischen Bedingungen wird es deshalb niemals geben können.
Um diesen Fehler nicht auch zu machen, sagen wir offen und klar, was für ein Europa wir wollen. Wir wollen ein vereinigtes sozialistisches Europa. Dieses sozialistische Europa kann nur das Ergebnis des gemeinsamen revolutionären Kampfes der vereinigten europäischen Arbeiter_Innenklasse gegen den Kapitalismus sein.
Doch trotz aller Kritik an der Linken sind wir weiterhin dafür, gemeinsam gegen die (kommenden) Angriffe zu kämpfen. Dafür braucht es, wie oben schon erläutert, einen konkreten Plan. Deshalb treten wir für eine europaweite Konferenz der Linken ein.
Auch wenn wir als Organisationen unterschiedliche Einschätzungen und Positionen zur EU und zum Brexit haben, heißt das trotzdem nicht, dass wir uns sektiererisch verhalten sollten. Für die praktische Auseinandersetzung heißt es nun, nicht lange verzagen, sondern die Verteidigungskämpfe zu organisieren und die Regierungskrise nutzen, um sie nicht den Rechten zu überlassen: