Christian Gebhardt, Gruppe ArbeiterInnenmacht
Lange hat es gedauert. Zuerst galten Kinder und Jugendliche angeblich überhaupt nicht als gefährdet. Es hieß, sie würden von dem Corona-Virus zwar infiziert werden können, aber gesundheitlich sei nichts zu befürchten. Es wäre viel unverantwortlicher, die Schule zu schließen, da ansonsten ihre Eltern nicht zur Arbeit gehen könnten.
Dieses „Argument“ galt bis Mitte März, also bis kurz vor dem Beschluss der Schulschließungen. Die Ausbreitung der Pandemie zwang zu einem Kurswechsel. Die sozialen Auswirkungen der Schulschließungen – Vereinsamung, Verstärkung der sozialen Ungleichheiten beim home-schooling, Fehlen fest jeder Vorbereitung der SchülerInnen, Lehrer_Innen und Eltern – spielten damals noch keine Rolle. Das Schuljahr sollte auf Teufel komm raus durchgezogen werden.
Dann kam die „Online-Wende“. Innerhalb weniger Tage, ja Stunden wurden die Schulen geschlossen. Kein/e Schüler_In werde dadurch einen Nachteil erhalten. Schließlich würden ausreichend Online-Angebote geschaffen und alles ohne weiteres daheim weitergehen können. Dieses „ohne weiteres“ war schnell abzusehen: Schüler_Innen aus ärmeren Haushalten waren durch die jetzige Situation stärker daran gehindert, ordentlich digital zu lernen (Leben unter Corona – aus der Sicht eines Lehrers).
Die derzeitige Situation – unter anderem geschaffen durch das jahrelange Verschlafen notwendiger digitaler Versorgung aller Schulen, Lehrer_Innen und Schüler_Innen unabhängig von ihrer Herkunft – verstärkte die Ungleichheit der Bildung weiterhin. Ein effektives Lernen unabhängig von der sozialen Herkunft des jeweiligen Kindes ist in der derzeitigen Situation nicht realistisch.
Stattdessen sollte daran gearbeitet werden, die Kerngruppen zu verkleinern, jede_N Schüler_In mit einer digitalen Ausstattung zu versorgen sowie Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen (z. B. Stadtbibliotheken, Eingliederung in die Notfallbetreuung in den Schulen), in denen Schüler_Innen, die zuhause über keine räumlichen Voraussetzungen verfügen, ohne Stress lernen können. Nur so könnte es den Lehrkräften sowie den Schüler_Innen ermöglicht werden, ein effektiv Lernen zu gestalten und daran teilzunehmen.
Nachdem nun die Schulschließungen über vier Wochen andauern, war die Diskussion der letzten Tage rund um die allgemeinen Lockerungsbemühungen auch immer stark von der Frage geprägt: „Wann können wir die Schulen wieder öffnen?“
Anders als noch vor den Schließungen waren die Argumente nun nicht ausschließlich die, dass es den Eltern so schnell wie möglich wieder ermöglicht werden sollte, die Arbeit wieder aufnehmen zu können. Neben diesem Argument wurde plötzlich auch auf die soziale Ungleichheit der derzeitigen Situation hingewiesen und ,wie schwer es vielen Familien fällt, mit dieser Situation umzugehen. Ganz nach dem Motto „spalte und herrsche“ werden hier die Interessen der Eltern gegen die der Schüler_Innen und der Gesellschaft insgesamt ausgespielt.
Bemerkenswert auch, dass der selektive Charakter des E-Learnings plötzlich jenen auffällt, die ansonsten den Klassencharakter des Schulsystems verteidigen und für Privatisierung und verstärkte Auslese eintreten.
Aber gut, dass wir sogenannte „Expert_Innen“ haben, denen uneingeschränkt und ohne Probleme geglaubt werden kann. Dumm nur, wenn sich diese in den wesentlichen Dingen widersprechen. Forderte die Nationale Akademie der Wissenschaften, Leopoldina, die Schulförderung direkt nach den Osterferien mit den jüngsten Klassen zu beginnen, kam von den Expert_Innen des Robert-Koch-Institutes (RKI) die Empfehlung, mit den älteren Jahrgängen zu beginnen, da sich diese eher an die Hygienevorschriften halten könnten. Von Seiten der Regierungen des Bundes und der Länder wurde sich nun am 15. April darauf verständigt, dem Rat des RKI zu folgen. Die Schulen sollen nun noch bis zum 4. Mai geschlossen bleiben und danach soll mit dem Unterricht der Abschlussklassen erneut begonnen werden. Wie dieser Unterricht sowie die notwendigen Infrastrukturen (Schulweg, Pausenregelungen etc.) gestaltet werden sollen, soll nun durch die Kultusminister_Innenkonferenz (KMK) bis zum 29. April erarbeitet werden.
Doch manche Länder preschen vor – ohne dass irgendwelche hygienischen oder sonstigen Voraussetzungen, z. B. Grundreinigungen der Schulen, schon flächendeckend gewährleistet sind. Diese Sonderregelungen sehen Bund und Länder ausdrücklich vor. Bundesländer, die schon zeitnah das Abhalten ihrer Abschlussprüfungen (z. B. das Abitur) angekündigt haben, sollen auch schon vor dem Stichtag ihre Schulen wieder öffnen dürfen. Der Berliner Senat hat angekündigt, in der kommenden Woche, vom 20.–24. April, mit dem Lateinabitur anfangen zu wollen. Ab 27.4. sollen weitere Schulen geöffnet werden. In Rheinland-Pfalz sollen die Schüler_Innen der Abschlussklassen ebenfalls schon Anfang nächster Woche wieder den Unterricht besuchen. Die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen will ab 23. April die Schulen wieder teilweise öffnen.
Die Frage der Abschlüsse wird ebenfalls von allen Politiker_Innen hochgehalten, spielen sie doch in einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft eine wichtige ideologische Rolle. JedeR soll unter Stress und Druck beweisen, dass die Bereitschaft und Fähigkeit zur Leistungserbringung im System vorhanden ist. Unabhängig ob nun die Schulen wieder voll starten können oder nicht, sollen die Prüfungen für die Schüler_Innen früher oder später durchgezogen werden.
Auch wenn argumentiert werden kann, dass der Großteil des Lernstoffes schon vor der Schulschließung im Unterricht behandelt wurde, fehlen wichtige Bestandteile einer gut organisierten Prüfungsvorbereitung: die Übung, Wiederholung und Vernetzung von Lernstoff der letzten Jahre. Klar kann sich theoretisch im Selbststudium daheim der Inhalt beigebracht und für die Prüfungen gelernt werden. Aber das wichtige, begleitete Üben mit einer Lehrkraft sowie das gemeinsame Abfragen und Lernen mit Mitschüler_Innen fällt in der jetzigen Situation wieder denen zu, die durch ihre familiäre Situation eine ruhige und feste Lernatmosphäre vorfinden.
Zu Recht protestieren Elternvertretungen, Gewerkschaften und Schüler_Innen gegen Prüfungen unter diesen Bedingungen. Eine erste Wirkung hat das erzielt. Das Land Hessen will allen Schüler_Innen eine Versetzung in die höheren Klassen erlauben.
Die überhastete Wiedereröffnung der Schulen darf jedoch nicht nur im Zusammenhang mit schulischen Fragen betrachtet werden. Die Bundesregierung und die Länder setzen unter dem Druck der Unternehmer_Innenverbände auf ein möglichst rasches Hochfahren der Wirtschaft, also darauf, möglichst viele wieder zur Arbeit zu schicken, Geschäfte und Restaurants zu öffnen.
Während die Eltern wieder in den Betrieb müssen, sollen die Schüler_Innen an den Schulen betreut werden. Es greift somit zu kurz, nur die Schulpolitik an den Pranger zu stellen. Schließlich müssen die Unternehmen wieder Gewinn machen – und das ist im Kapitalismus eben systemrelevant und allemal wichtiger als Demokratie und Gesundheit. Damit die Eltern wieder ungestört zur Arbeit können, sollen die Kinder und Jugendlichen in die Schule. Mit deren Öffnung wird bewusst das Risiko einer erneuten stärkeren Ausbreitung der Pandemie, einer zweiten Welle in Kauf genommen. Die Verantwortung für eine mögliche Steigerung der Infektionszahlen versuchen Bund und Länder dabei, vorsorglich auf Lehrer_Innen und Schüler_Innen abzuwälzen, die sich unter unverantwortlichen Bedingungen eben „verantwortlich“ zu verhalten hätten.
Zu Recht sprechen sich mehr und mehr Gewerkschafter_Innen sowie die GEW, Lehrer_Innenvereinigungen, Eltern- und Schüler_Innenvertretungen gegen die überhastete Öffnung der Schulen aus.
Der DGB spricht sich u. a. auch aus obigen Gründen zusammen mit der GEW dafür aus, in diesem Schuljahr keine Abschlussprüfungen mehr durchzuführen. Die Gleichbehandlung der Prüflinge sei nicht gegeben. Wir unterstützen diese Forderung, die Prüfungen für alle Schultypen abzusagen. Aber damit ist es alleine nicht getan, lassen sich doch nur durch die Forderung nach Absage einer Abschlussprüfung schnell Ängste und Unsicherheiten gegeneinander ausspielen: „Werde ich dann von meinem Betrieb übernommen?“, „Werde ich eine Anstellung mit einem Corona-Abschluss finden?“, „Wie kann ich meinen Abischnitt dann noch verbessern, um mich für meinen Wunschstudiengang bewerben zu können?“
Diese Fragen schwirren vielen derzeit bei der Diskussion um die Abschlussprüfungen im Kopf umher. Anders ist es nicht zu erklären, warum Landesschüler_Innenvertretungen wie die aus Baden-Württemberg sich dafür stark machen, zwar die Prüfungen abzusagen, es aber freigestellt sein soll, sich einer freiwilligen Prüfung zu einem späteren Zeitpunkt zur Notenverbesserung unterziehen zu dürfen.
Die richtige Forderung der GEW und des DGB nach Aussetzung der Prüfungen in diesem Jahr sollte daher noch durch weitere Forderungen ergänzt werden. Nur mit einem solchen Forderungskatalog kann der Druck von den Schüler_Innen, den Eltern und Erziehungsberechtigten genommen werden, um auch das häusliche Miteinander in Zeiten von Ausgangssperren zu vereinfachen. Rührt viel Druck und Stress doch auch daher, dass ein Schuljahr unter schwierigen Bedingungen „normal“ zu Ende geführt werden soll.
Wir fordern deshalb:
Wir werden diese Forderungen aber nicht geschenkt bekommen. Die DGB-Gewerkschaften müssen mit ihrer Burgfriedenspolitik brechen. Die GEW muss nicht nur kritisieren, sondern vor allem mobilisieren. Anstatt Politik zusammen mit den Unternehmen zu gestalten, sollte sie eher eine Bewegung für die Durchsetzung ihrer Forderungen aufbauen.
Es sollte zusammen mit den Schüler_Innenvertretungen sowie den Elternbeiräten an einem Boykott der Abschlussprüfungen gearbeitet werden. Auch wenn die derzeitige Situation die offensive Mobilisierung auf den Straßen erschwert, sollten Mittel der Verweigerung und des Streiks benutzt werden, um die diesjährigen Prüfungen zu stoppen.
Schüler_Innen, Bewegungen wie FridaysforFuture, die Gewerkschaften und die gesamte Arbeiter_Innenbewegung sollten gegen die Schulpolitik von Bund und Ländern aktiv werden und sie bestreiken! Gewerkschaften und Schüler_Innenvertretungen sollten nicht nur online protestieren, sondern auch an den Schulen den Kampf aufnehmen.