Dies ist ein aktualisierter Artikel aus unserer aktuellen Zeitung, welche Ende Juli – also vor Erdogans Krieg in Kurdistan und Syrien – erschienen ist. Den ursprünglichen Artikel findet ihr hier: http://www.onesolutionrevolution.de/allgemein/parlamentswahlen-in-der-tuerkei-ende-der-alleinherrschaft-erdogans-und-dann/
Die Parlamentswahlen in der Türkei am 07. Juni 2015 fanden vor einem besonderen politischen Hintergrund statt. Die AKP (Adalet ve Kalk?nma Partisi – Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) prägt seit ihrer Übernahme der Regierung vor 13 Jahren das Land mit ihrem islamistisch-konservativen Kurs. Erst im Februar 2015 verabschiedete sie im Parlament ein neues „Sicherheits“gesetz, nach dem Demonstrationen ohne gerichtlichen Beschluss verboten und Polizisten auf Demonstranten schießen dürfen. Um weitere repressive Gesetze beschließen zu können, plante Recep Tayyip Erdogan das Präsidialsystem einzuführen. Dafür wäre eine absolute Mehrheit bei den nationalen Wahlen nötig gewesen.
Für viele Jugendliche und andere sozial Unterdrückte, beispielsweise Kurd_innen, Frauen, Alewit_innen1, Atheist_innen und Homosexuelle schien jedoch eine neue Partei der ersehnte Hoffnungsträger zu sein. Die HDP (Halklar?n Demokratik Partisi – Demokratische Partei der Völker) ist die einzige Partei mit einer männlichen und weiblichen Doppelspitze und fordert Gleichberechtigung und friedliches Zusammenleben für alle Menschen, die in der Türkei leben. Viele Anhänger_innen der PKK wählten sie, deren politischer Arm BDP die HDP dominiert. Dieses Jahr trat die HDP das erste Mal zu den Wahlen an und musste die 10 Prozent Hürde überwinden (im Vergleich, in Deutschland sind es 5 Prozent) um ins Parlament einzuziehen. Die HDP wurde als die gefährlichste Oppositionspartei dargestellt. Nicht nur in den Medien wurde gegen sie gehetzt, auch gegen ihre Büros, ihre Wahlveranstaltungen und einzelne UnterstützerInnen gab es Anschläge, bei denen Menschen getötet und schwer verletzt wurden.
Bis zuletzt war noch unklar, ob die HDP diese 10-Prozent-Hürde überwinden würde, deshalb waren die erreichten 13,12 Prozent ein großer Erfolg, der in der Türkei ausgiebig gefeiert wurde. Die erste große Niederlage seit 13 Jahren musste jedoch die regierende AKP einstecken. Auch wenn sie mit 40,9 Prozent die Wahl klar gewonnen haben, müssten sie nun in einer Koalition regieren. An erste Stelle käme dafür die MHP (Milliyetci Hareket Partisi – Partei der nationalistischen Bewegung) in Frage. Dies ist eine nationalistisch-faschistische Partei, die bekannt ist für ihre militante Verteidigung des „Türkentums“ und ihre Kompromisslosigkeit in der Kurdenfrage. Dass sie über 5 Prozent mehr als bei den letzten Wahlen erhielt (von ca. 11 auf 16,3 Prozent) ist darauf zurück zu führen, dass sie sich als Bollwerk gegen die kurdische Bewegung darstellten, der sie die Spaltung des Landes und Kooperation mit „Terroristen“ unterstellen. Die kemalistische2 Partei CHP (Cumhurriyet Halk Partisi) ist nach wie vor zweitstärkste Partei im Parlament und käme zwar auch als Koalitionspartner in Frage, jedoch geht keine der anderen Parteien auf ihre Verhandlungsangebote ein. Die Bildung einer Regierung ohne die AKP, die dann aus CHP-MHP-HDP bestünde, hielten viele für Ausgeschlossen, jedoch äußerten sich einige HDP-Abgeordnete einer „Anti-Erdogan-Koalition“ gegenüber nicht nur ablehnend. Aus ihren Reihen kamen sogar Stimmen, die eine Regierung aus allen Parteien, also der „nationalen Einheit“ befürworteten. Falls sich bis Mitte August keine Regierung bildet, muss der Präsident zu Neuwahlen aufrufen. Dabei könnte die HDP wichtige Stimmen verlieren, die es aktuell verhindern, dass Erdogan das diktatorische Präsidialsystem einführen kann. Trotz seiner Niederlage ist die AKP nach wie vor mit großem Abstand die stärkste Partei und ihre politische Macht darf auf keinen Fall unterschätzt werden! Von ihrer Seite gibt es jedoch noch keinen klaren Favoriten für eine Koalition.
Vor allem im Osten, in den kurdischen Gebieten, ist die HDP die stärkste Partei geworden. Obwohl sie auch Teile der türkischen Linken vereint und diese zu ihrer Wahl aufgerufen haben, ist ihr Einfluss im Westen der Türkei nach wie vor sehr gering. Ihre deutliche Unterstützung der Kurd_innen sammelt einige fortschrittliche Türk_innen in ihren Reihen und ist ein Ansatz, um die nationale Spaltung in der Türkei zu überwinden. Jedoch lenkt dies auch ab von der tatsächlichen Spaltung, die zu Unterdrückung und Ausbeutung führt: die Spaltung in Klassen. Nicht allein ob man türkisch oder kurdisch ist, entscheidet über politische Fortschrittlichkeit. Die Jugendlichen und die Frauen werden durch die patriarchale Familie überall unterdrückt. Die Arbeiter_innen in Ankara werden an ihrem Arbeitsplatz genau so ausgebeutet wie die Arbeiter_innen in Mardin. Und an keinem Ort in der Türkei ist es leicht, sich als homosexuell zu outen, wie die aktuelle Polizeirepression gegen die Gay-Pride-Parade zeigt. Obwohl die HDP sich offen gegen Frauenunterdrückung, Ausbeutung und für sexuelle Freiheit ausspricht, geht ihr Programm nicht an die kapitalistischen Wurzeln des Problems. Sie hat letztlich einen kleinbürgerlichen Klassenstandpunkt, Teile von ihr sind zudem kurdisch-nationalistisch eingestellt.
Natürlich muss man den Kampf der Kurd_innen gegen den türkischen Staat unterstützen, der ihnen seit Jahren viele Rechte verwehrt, jedoch wäre ein autonomer kurdischer Staat nicht automatisch ein sozialistischer, der frei ist von all diesen Problemen. Ebenso wenig wird in keinem Parlament der Welt jemals über die Enteignung, Vergesellschaftung und Arbeiter_innenkontrolle von Produktionsmitteln abgestimmt werden.
Wie weiter?
Dass es gefährlich ist, abzuwarten, welche Regierung sich die AKP zusammen bastelt und in der Vorstellung zu verharren, dass Erdogan sich moralisch belehren ließe, zeigt die aktuelle Lage. In den letzten Wochen tauchten immer mehr handfeste Beweise für die Zusammenarbeit des Türkischen und Islamischen Staates in den Medien auf. Die syrisch-kurdische Stadt Rojava wurde erneut vom IS angegriffen, dieses Mal sogar von türkischem Staatsgebiet und Erdogan plant eine Militärintervention nach Syrien. Gleichzeitig bleiben Proteste in der Türkei gegen diesen Kriegseinsatz aus.
Für die Ziele, die die HDP erreichen will, ist ein politischer Klassenkampf, sind Massenmobilisierungen notwendig. Der momentane Kurs der HDP, der auf eine bloße Reformierung und punktuelle Veränderung des Staates ausgerichtet ist, wird keine wesentlichen Erfolge erringen, sondern statt dessen zu einer großen Enttäuschung der Wähler_innen führen. Daher gilt es für die linken, proletarischen, kämpferischen Teile in der HDP aktiv eine Alternative zu dieser Politik zu entwickeln, einen Flügel aufzubauen, der für eine revolutionäre Arbeiter_innenpartei kämpft – und damit auch für einen Bruch mit der aktuellen Ausrichtung der HDP.
Dazu muss von der HDP gefordert werden, die sozialen Kämpfe im ganzen Land voranzubringen und zu organisieren, die sich gegen die neoliberale Wirtschaft richten, gegen die Unterstützung von reaktionären Kräften wie dem Islamischen Staat und natürlich gegen die Unterdrückung sämtlicher Minderheiten in der Türkei. Sie muss dazu Aufrufen Aktionskomitees zu gründen, die die Proteste koordinieren und die Verbindung zur türkischen Arbeiter_innenklasse suchen. Das türkische und kurdische Proletariat sollte im Falle eines türkischen Einmarsch in Syrien oder einer Alleinherrschaft Erdogans zum unbefristeten Generalstreik dagegen mobilisiert werden und Streikkomitees aufbauen. Zudem sollte die HDP zum Aufbau von Selbstverteidigungsstrukturen der Bewegung aufrufen, um bspw. Demos gegen die Polizei oder Frauen vor Vergewaltigungen zu schützen. Ein wichtiger Teil der gesellschaftlichen Basis dafür findet sich bereits in der Wählerschaft der HDP. Dieses große Potenzial, das vor allem in der Jugend liegt, muss nun durch ein revolutionäres, sozialistisches Programm gebündelt werden.
Wir sagen deutlich:
Kein Kriegseinsatz in Syrien! Keine Angriffe auf Kurd_innen – in keinem Land!
Keine Beteiligung der HDP an einer Regierung mit Nationalisten, Islamisten und Faschisten!
Für einen säkularen Staat (Trennung von Staat und Religion)!
Aufbau einer landesweiten Arbeiter_innenpartei und Kampf um ein revolutionäres Programm in dieser!
Tek yol- Devrim! One solution- Revolution!
Ein Artikel von Svenja Spunck & Mahir Gezmis, REVOLUTION Berlin
(1)Das Alewitentum bezeichnet eine religiöse Gruppe. Es gibt zwar eine historische Verbindung zum schiitischen Islam, jedoch bezeichnen sich auch viele Alewiten nicht als Muslime. Etwas 15 Prozent der Einwohner in der Türkei sind Alewiten, jedoch sind sie dort bis heute nicht als religiöse Minderheit anerkannt.
(2) Der Kemalismus war die Staatsideologie der Türkei, die 1923 von Mustafa Kemal Atatürk gegründet wurde. Ein besonders wichtiger Aspekt ist der Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion, aber auch der Nationalismus, welcher sich gegen ein multiethnisches Staatskonzept richtet, wie es im osmanischen Reich bestand. Der Kemalismus verankert das „Türkentum“ in der Verfassung, auf dessen Beleidigung Strafen erfolgen. Durch diese Staatsideologie wurden Grundsteine zur Unterdrückung vieler Minderheit in der Türkei gelegt, zum Beispiel der Kurden oder Armenier.