Syrien zwischen Waffenstillstand und Eskalation

Reaktionärer Vormarsch oder permanente Revolution


VON MARVIN SCHUTT


Waffenstillstand hier, Waffenstillstand dort: was aktuell in Syrien passiert, ist entgegen den allgegenwärtigen Bekundungen der beteiligten Kriegsparteien alles andere als eine „Friedenslösung“. Stattdessen scheinen sich neue Frontverläufe abzuzeichnen. Entweder droht eine reaktionäre Befriedung von oben durch die Großmächte oder eine Fortsetzung, ja Eskalation, durch die Einflussnahme von Regionalmächten wie Saudi-Arabien oder der Türkei. Die verbliebenen Kräfte der syrischen Revolution, jene, die für ein demokratisches, säkulares Syrien, frei von Ausbeutung und imperialistischer Einmischung, kämpfen, stehen mit dem Rücken zu Wand.


Aleppo


Erst vor kurzem hat das Bündnis aus den Assad-treuen syrischen Regierungstruppen, der libanesischen Hisbollah und schiitischen Milizen aus dem Irak einen militärischen Vorstoß auf die von Anti-Assad-Kräften kontrollierte Stadt Aleppo gewagt. Ziel dieses Angriffes war es wohl, die Stadt von außen nach und nach einzukreisen, die Opposition strategisch zu schwächen – unter Inkaufnahme des Aushungerns der Bevölkerung.
Nachdem das syrische Regime durch den Kriegseintritt Russlands im September 2015 wieder neuen Rückenwind bekommen hat, scheint es nun die Strategie zu verfolgen, sein kontrolliertes Gebiet durch neue militärische Vorstöße im Schatten russischer Luftangriffe auszuweiten und sich vor allem die größte syrische Stadt Aleppo als wichtiges soziales und wirtschaftliches Zentrum unter den Nagel zu reißen.
Für die syrische Regierung und ihre Verbündeten dienen „Waffenstillstand“ und „Friedensverhandlungen“ daher dazu, die erzielten Geländegewinne zu festigen und so – ob nun unter Einbeziehung pro-imperialistischer oder kapitulierender Oppositionführungen oder nicht – den Fortbestand des aktuellen Regimes und v.a. des Staats- und Herrschaftsapparates zu sichern.


Rojava


Im Norden Syriens gelang es den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG/YPJ), zwei der kurdischen Autonomieregionen durch einen militärischen Vorstoß miteinander zu verbinden. Die neuen Gebietsgewinne und die, wenn auch begrenzten, demokratischen und antisexistischen Fortschritte, die in diesen Gebieten (auf Kurdisch: Rojava) unter Führung der kurdischen Partei PYD (dem syrischen Ableger der kurdischen Arbeiterpartei PKK) erreicht wurden, sind jedoch ein dicker Dorn im Auge des türkischen Staates.
Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den IS führte die Türkei zahlreiche Bombardements auf kurdische Städte in Rojava durch, welche hunderte von zivilen Todesopfern forderten. Noch zorniger wurde der türkische Präsident Erdogan, als die USA offen ihre Unterstützung für die kurdischen Kampfeinheiten YPG/YPJ aussprachen. Auf den empörten Protest Erdogans antwortete das US-Außenministerium jedoch beschwichtigend, dass die USA das Vorgehen der türkischen Truppen gegen die Kurd_Innen im eigenen Land unterstützen, sie die PKK in Syrien jedoch als „effektive Streitkräfte im Kampf gegen den Daesch (IS) und bei der Eroberung und Rückeroberung von Territorien“ betrachten würden. Die USA scheinen sich also einen Scheiß um die kurdische Bewegung zu scheren, die sich gerade in der Türkei gegen die massive Repression des Staates und in Syrien gegen den IS als auch gegen die türkischen Luftangriffe verteidigen muss. Stattdessen scheinen sie die PYD als temporären militärischen Bündnispartner zu betrachten.
Zu Gute kommt ihnen dabei wahrscheinlich der Nationalismus der PYD, der nur auf die Errichtung kurdischer Autonomiegebiete abzielt und sich ansonsten auf keine Seite im syrischen Bürger_Innenkrieg schlägt. Klar ist jedoch, dass Rojava mit all seinen Fortschritten nur durch die syrische Revolution aufgebaut werden konnte und auch seine Zukunft vom Verlauf des Krieges und dem Sieg der Revolution abhängt.


Zwischen Befriedung und Eskalation


Die militärischen Erfolge der Pro-Assad-Koalition aus Russland, Iran und Hisbollah ließen die Regionalmächte Saudi-Arabien und Türkei, die seit Jahren mit hohem Kostenaufwand die erz-islamistischen und reaktionärsten Kräfte in der Bewegung gegen Assad unterstützen, nun offen darüber nachdenken, direkt in den Krieg zu intervenieren. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar gaben sie zu verstehen, dass sie den Einsatz eigener Bodentruppen in Erwägung ziehen würden.
Ein solches Szenario würde eine unausweichliche militärische Konfrontation mit Assads Truppen, dem Iran und Russland bedeuten. Obwohl die USA das Ziel der Absetzung von Assad längst abgeschrieben haben und aktuell nur noch auf einen Übergang mit Assad hinarbeiten, könnte ein direkter Kriegseintritt Saudi-Arabiens und der Türkei auch den Einsatz von US-amerikanischen Bodentruppen provozieren. In diesem Falle käme es zur direkten militärischen Konfrontation zwischen den USA und Russland, den beiden größten Atommächten der Welt.


Long live the Syrian Revolution!


Die neuesten Ereignisse im syrischen Bürger_Innenkrieg sollten uns die große Gefahr der weiteren Eskalation des Krieges, die Dringlichkeit der Lage und die Notwendigkeit einer internationalen Anti-Kriegsbewegung aufzeigen. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass Syrien nicht nur eine riesige humanitäre Katastrophe mit über 250.000 Toten und 7,6 Millionen Vertriebenen darstellt, sondern als eine Revolution im Zuge des Arabischen Frühlings begonnen hat.
Die Massenbewegung, die 2011 gegen den Diktator Assad und seine neoliberalen Wirtschaftsreformen auf der Straße war, wurde vom syrischen Regime und seinen Verbündeten brutal zurückgeschlagen und in die Defensive gedrängt. Ihre Rufe nach Demokratie und Menschenrechten sind dennoch nicht erloschen!
Joseph Daher, ein Aktivist der Gruppe Syrian Revolutionary Left Current (Syrische Revolutionäre Linke Strömung), erklärte auf den Internationalismustagen der Neuen Antikapitalistischen Organisation (NAO), dass sich die syrische Revolution aktuell zwei Konterrevolutionen gegenübergestellt sähe: dem Assad-Regime und dem Islamismus. Beide Konterrevolutionen haben starke Verbündete und wurden vor allem durch die Interventionen der beteiligten Regional- und Imperialmächte angeheizt. Doch wie können wir, Lohnabhängige und Jugendliche in Deutschland, angesichts des eskalierenden Krieges und der Massen von unschuldigen Toten die syrische Revolution anheizen? Unsere Waffe muss vor allem die internationale Solidarität sein! Dabei gilt die Devise: Nicht nur quatschen, sondern handeln!
Hier in Deutschland müssen wir vor allem gegen die Beteiligung des deutschen Imperialismus am syrischen Bürgerkrieg auf die Straße gehen und den Abzug aller ausländischen Truppen fordern. Ebenso müssen wir uns dafür einsetzen, dass keine syrischen Geflüchteten mehr in türkischen Internierungslagern festsitzen oder durch Frontex und Co. an der Flucht gehindert werden. Wir müssen deshalb ebenso für die Öffnung der EU-Grenzen und die freie Versorgung der Geflüchteten mit Bildung, Arbeit, Wohnraum, Gesundheits- und Wohlfahrtsleistungen eintreten.


Verwirrte Linke?!


Dass die syrische Revolution noch nicht gescheitert ist, scheinen viele Linke vergessen zu haben. Während sich die stalinistische Linke teilweise bedingungslos mit Assad solidarisiert und für die Niederschlagung der Revolution eintritt, konzentrieren sich andere Linke allein auf Solidaritätsbekundungen zu Rojava und halten zu allen anderen Fragen die Klappe.
Auch eine Verhandlungslösung, wie sie zum Beispiel die Linkspartei vorschlägt, bedeutet letztendlich die Niederlage der syrischen Revolution. Denn, wenn sich alle beteiligten Mächte an einen Tisch setzen und sich den Kuchen aufteilen, geschieht das vor allem auf dem Rücken der syrischen Bevölkerung und rückt die Ziele der Revolution in weite Ferne. Auch die ökonomistische Konzentration auf reine „Arbeiter_Innenforderungen“ – in Wirklichkeit auf reine gewerkschaftliche und soziale Verbesserungen, bietet keine revolutionäre Perspektive. Angesichts des permanenten Kriegszustandes kann sich die Arbeiter_Innenklasse nicht auf Kämpfe in (kaum) vorhandenen Betrieben konzentrieren, sondern muss vielmehr ein Programm für den Sieg der fortschrittlichen Kräfte im Bürgerkrieg vertreten, um die Führung den reaktionären, bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräften zu entreißen. Dazu braucht es eine revolutionäre Arbeiter_Innenpartei.
Unsere ungeteilte Solidarität gilt daher allen fortschrittlichen, säkularen und demokratischen Kräften der syrischen Revolution! Ihre Ziele sind klar die Absetzung des Diktators, der Abzug ausländischer Truppen, die Vertreibung der Islamist_Innen und die Schaffung eines neuen Syriens. Das bedeutet auch die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes des kurdischen Volkes (einschließlich des Rechts auf Unabhängigkeit, sofern es das wünscht). Dabei dürfen keine Kompromisse gemacht werden!
Zugleich müssen wir stets die Klassenfrage stellen und uns bewusst machen, dass nur eine Massenbewegung der Arbeiter_Innen zusammen mit der Jugend und den Bäuer_Innen die nötige Kraft hat, um diese Forderungen umzusetzen und ein System zu erkämpfen, in dem sie dauerhaft verwirklicht werden. Die fortschrittlichen Kräfte in Syrien müssen sich dabei mit allen progressiven Kräften, Revolutionen und Widerstandsbewegungen in der Region vereinigen, denn nur über die Staatsgrenzen hinweg, und indem die demokratische Revolution zu einer sozialistischen wird, kann eine starke Bewegung der Unterdrückten geschaffen und der Kampf für eine Föderation Sozialistischer Staaten im Nahen und Mittleren Osten begonnen werden.


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