Von der Förderschule in die Behindertenwerkstatt: Schluss mit Unterdrückung und Ausbeutung!

Von Erik Likedeeler, Oktober 2023

Dass sich die AfD für das Weiterführen von Förderschulen ausspricht, ist kein Geheimnis: Erst diesen Sommer behauptete Björn Höcke, die schulische Inklusion sei ein Ideologieprojekt, von dem das Bildungssystem befreit werden müsse. Damit verfolgt seine Partei natürlich Kapitalinteressen, denn der Weg von der Förderschule in die Behindertenwerkstatt ist eine profitbringende Einbahnstraße.

In Zeiten der Krise und Sparmaßnahmen gehören behinderte Menschen zu den ersten, die die Kürzungen des Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereichs zu spüren bekommen. Gegen die Unterdrückung und Entrechtung Behinderter vorzugehen ist daher grundlegender Bestandteil des Klassenkampfes!

Teilhabe ohne Mindestlohn?

In Deutschland gibt es aktuell fast 800 Werkstätten für Behinderte, in denen ca. 320.000 Menschen arbeiten. Die Tätigkeiten, die diese Betriebe ausführen, reichen von der Landwirtschaft über das Zusammenschrauben von Autoteilen bis hin zur Wäscherei. Welche Aufgaben sie übernehmen, dürfen sich die Arbeiter_Innen in den meisten Fällen nicht selbst aussuchen.

Behindertenwerkstätten verfolgen zwei offizielle Ziele. Ihr verpflichtender gesetzlicher Auftrag ist es, dafür zu sorgen, dass die Beschäftigten den Übergang vom zweiten Arbeitsmarkt auf den ersten Arbeitsmarkt schaffen – also von der Werkstatt in einen regulären Betrieb.

Doch diesen Sprung schaffen im Laufe ihres Lebens nur ca. 1% aller Mitarbeitenden. An dieser geringen Zahl zeigt sich, dass die Werkstätten ihrem Auftrag nicht nachkommen und eine echte Förderung nicht stattfindet.

Das liegt vorrangig an dem zweiten Ziel der Werkstätten: Sie arbeiten gewinnorientiert; jährlich erzielen sie einen Umsatz von ca. 8 Milliarden Euro. Das tun sie natürlich nicht, um den Mitarbeitenden einen anständigen Lohn zu ermöglichen, oder um ihnen „das Gefühl zu geben, dass sie sinnvolle Arbeit machen“, wie es so oft behauptet wird.

Wie in jedem Unternehmen schöpfen die Werkstattbetreiber_Innen den Profit ab – und die haben kein Interesse daran, ihre nützlichsten Arbeiter_Innen zu verlieren. Das ist auch der Grund, warum die Betreiber_Innen so gern behaupten, dass der Lohn für die Arbeit nicht vorrangig Geld sei, sondern „Teilhabe“.

Arbeitskampf ohne Arbeitsvertrag

Die angemessene Belohnung für 35-40 Stunden Arbeit pro Woche soll es also sein, überhaupt arbeiten zu dürfen und für Kapitalist_Innen Gewinne zu erzielen. Aber was hat es mit Teilhabe zu tun, vom Großteil der Gesellschaft abgespalten zu arbeiten und von einem Hungerlohn zu leben? Mit einem Stundenlohn von 1-2€ kommt bis zum Ende des Monats nur ein sogenanntes „Taschengeld“ von ca. 180-200€ zusammen.

In Behindertenwerkstätten Arbeitskämpfe auszufechten, gestaltet sich schwierig. Denn als richtige Arbeitnehmende gelten die Arbeiter_Innen nicht – sie befinden sich lediglich in einem „Beschäftigungsverhältnis“. Statt Arbeitsverträgen gibt es nur „Werkstattverträge“.

Weder gibt es das Recht auf die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder das Durchführen von Streiks, noch bestehen Möglichkeiten für Tariflöhne oder das Gründen von Betriebsräten. Durch die gezielte Abgrenzung vom Rest der Arbeitswelt wird jede politische Organisierung erschwert.

Keine Ausbildung für Jugendliche

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, betrifft die behindertenfeindliche Ausrichtung des Arbeitsmarktes bereits Jugendliche. Ca. 330.000 Schüler_Innen in Deutschland besuchen eine Förderschule. Dass der Weg in die Werkstatt schon von Beginn an als Einbahnstraße gedacht ist, zeigt sich daran, dass Förderschulklassen oft keine Berufsmessen besuchen, sondern Werkstattmessen. Häufig absolvieren Förderschulen ihre Betriebspraktika nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt, sondern in einer Werkstatt.

Wenn Schüler_Innen durch Förderschulen oder andere Umstände in das Werkstattsystem hineingedrückt werden, durchlaufen sie als Einsteiger_Innen zunächst ein dreimonatiges Eingangsverfahren. Im Anschluss wechseln sie in den Berufsbildungsbereich, wo sie bis zu zwei Jahre bleiben, bevor sie in den normalen Arbeitsbereich gelangen. Das klingt zwar erst einmal nach einer Art Ausbildung, allerdings hat diese keinen anerkannten Abschluss zur Folge.

Es gibt keinerlei Unterstützung oder Maßnahmen, die das Ziel hätten, die Einsteiger_Innen in eine reguläre Berufsausbildung hineinzuhelfen, und vom Berufsschulunterricht sind sie ebenfalls ausgeschlossen. In den ersten zwei Jahren gibt es mit ca. 120€ noch weniger „Taschengeld“ als im regulären Arbeitsbereich.

Ausgleichsleistung statt Inklusion

Man muss kein Genie sein, um sich zusammenzureimen, dass Konzerne kein Interesse daran haben können, behinderte Menschen einzustellen. Denn dann müssten sie diesen womöglich ein richtiges Gehalt zahlen, ihre Gebäude barrierefrei ausbauen lassen, oder Zeit in die Förderung eines inklusiven Arbeitsumfelds investieren. Zwar gibt es die Möglichkeit, für solche Anpassungen Geld vom Staat zu beantragen, doch das Verfahren ist zu kompliziert und bürokratisch, um ein überzeugender Anreiz zu sein. Nicht einmal 1000 Inklusionsbetriebe gibt es aktuell in Deutschland.

Des Weiteren gibt es ein Gesetz, welches Unternehmen dazu verpflichtet, schwerbehinderte Menschen einzustellen. Allerdings muss ein Unternehmen nur 140€ Ausgleichsleistung zahlen, um sich dort herauszuwinden. Und selbst diese Ausgleichszahlung kann noch umgangen werden, indem Unternehmen Behindertenwerkstätten als Dienstleister beauftragen. So können sie von der Überausbeutung behinderter Menschen profitieren, ohne ihnen den Mindestlohn bezahlen zu müssen oder sich auch nur für eine Sekunde mit dem Thema Inklusion auseinanderzusetzen.

Kein „Safe Space“ vom Kapitalismus

Die Existenz von Behindertenwerkstätten wird oft damit gerechtfertigt, dass sie „sichere Räume“ für Behinderte bieten. Auch gegen die Einführung des Mindestlohns wird zum Teil damit argumentiert, dass dieser dazu führen könnte, dass damit der besondere „Schutz“ der behinderten Menschen wegfallen könnte – so als könnte nur Überausbeutung den Schutz vor Diskriminierung rechtfertigen.

Tatsächlich ist es so, dass manche Arbeiter_Innen in den Werkstätten Angst davor haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht bestehen zu können. In den Werkstätten gibt es tendenziell weniger Leistungsdruck und es kann offener kommuniziert werden, wenn man mal eine Pause braucht.

Dass manche behinderte Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance haben, liegt aber nicht an persönlichen Defiziten. Die Angst vor Ausgrenzung und Mobbing ist berechtigt. Die Unterdrückung von Behinderten, auch Ableismus genannt, erzeugt eine weitere Spaltungslinie innerhalb der Arbeiter_Innenklasse, welche deren Organisierung entgegenwirkt.

Außerdem gehört es in der kapitalistischen Arbeitswelt dazu, sich bis an den Rand des Zusammenbruchs kaputt zu schuften. Löhne sind gerade einmal so hoch, dass sie dazu reichen, die eigene Arbeitskraft wiederherzustellen und am nächsten Tag wieder auf der Matte zu stehen. Auch der Urlaub ist so knapp bemessen, dass er für die meisten Menschen gerade ausreicht, um nicht zusammenzubrechen. Den Mehrwert, der bei dieser Arbeit produziert wird, schöpfen Kapitalist_Innen ab.

Diversere Ausbeutung? Nein danke!

Natürlich gibt es immer Menschen, die dabei unter die Räder geraten. Behinderung ist keine individuelle Angelegenheit, denn viele Behinderungen entstehen direkt aus der kapitalistischen Ausbeutung heraus, welche gefährliche Arbeitsplätze, ein unzureichendes Gesundheitssystem und Hunger mit sich bringt. Nicht nur körperlich und geistig Behinderte arbeiten in den Werkstätten, sondern auch Menschen, mit psychischen Krankheiten, oder solche, denen der erste Arbeitsmarkt die Diagnose „Burn-out“ verschafft hat.

Der erste Arbeitsmarkt ist also ein zuverlässiger Lieferant für den zweiten Arbeitsmarkt. Es ist der massive Leistungsdruck, der dafür sorgt, dass Menschen bei der Lohnarbeit bis an die Grenzen der Belastbarkeit gehen müssen. Daraus die Notwendigkeit der Behindertenwerkstätten als „Safe Space“ abzuleiten, spielt den Kapitalist_Innen in die Hände und kann keine fortschrittliche Lösung für das Problem sein.

Doch die gesellschaftliche Spaltung kann auch nicht aufgehoben werden, indem wir uns lediglich bei ein paar Konzernen für Rollstuhlrampen ein paar mehr Pausen einsetzen. Statt für eine inklusivere und diversere Ausbeutung müssen wir für eine Welt kämpfen, in der jegliche Ausbeutung der Vergangenheit angehört. Erst dann kann die Kategorie der Behinderung überhaupt aufhören, so relevant zu sein, wie sie es momentan ist.

Um dieses Ziel zu erreichen, fordern wir:

  • Für die Gründung von Gewerkschaften für Behindertenwerkstätten, um einen Lohn zu erkämpfen, von dem man auch leben kann! Überwachung der Löhne und Arbeitsbedingungen in Betrieben und der Pflege durch Komitees der Betroffenen und Organisationen der Arbeiter_Innenklasse!
  • Für den Ausbau von Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen, bezahlt durch die Besteuerung der Reichen. Bessere Arbeitsbedingungen für pflegende Angehörige, um die Überarbeitung und das damit verbundene Leid der zu Betreuenden und deren Familien zu verhindern.
  • Eine Schule für alle! Schluss mit dem mehrgliedrigen Schulsystem und der daraus entstehenden Abschottung behinderter Kinder und Jugendlicher. Für den Zugang zu Ausbildungsplätzen und Praktika in allen Betrieben!
  • Schluss mit Ausgrenzung und Mobbing! Umfassende Information, Aufklärung und Sensibilisierung zum Thema Behinderung an Schulen und in Betrieben. Für das Recht von Behinderten, Caucusse in jeder Organisation der Arbeiter_Innenklasse zu gründen.
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