Im Frühjahr 2017 wurde ich von dem für mich zuständigen Jugendamt in Obhut genommen. Seitdem lebte ich drei Jahre lang in einer Einrichtung der Jugendhilfe. Ich entschied mich damals selbst, in Obhut genommen zu werden, um meinem Elternhaus zu entkommen. Während ich in diesem Hilfesystem lebte, lernte ich dessen Stärken, aber vor allem auch dessen Schwächen kennen. Im Grunde soll es Jugendliche dabei unterstützen, in ihr selbständiges Leben zu starten. Dabei stehen aber leider weniger die Entwicklung und Bedürfnisse der Jugendlichen im Vordergrund, sondern eher die Kostenminimierung und die traditionelle Hoheit der Familie. In Zeiten der Corona- und Wirtschaftskrise verstärkt sich dieser Zustand zunehmend, wie ich am eigenen Leib spüren musste.
Bereits bevor ich in die Jugendhilfe aufgenommen worden bin, merkte ich, welchen Stellenwert ich für das Jugendamt hatte. Erst nachdem zwei voneinander unabhängige Therapeutinnen und zwei voneinander unabhängige Sozialarbeiterinnen sich mit der Bitte, mich dabei zu unterstützen, mein Elternhaus zu verlassen, an das Jugendamt wandten und meine Eltern jegliche Zusammenarbeit verweigerten, wurde ich in Obhut genommen. Aber selbst dann war alles noch abhängig von der Unterschrift meiner Eltern. Diese mussten der Hilfe für mich zustimmen und auch einen Teil, gemessen an ihrem Einkommen, davon bezahlen. Im Endeffekt mussten sie von einem Familiengericht zur Unterschrift gezwungen werden. Da zeigt sich bereits, dass der_die Jugendliche kaum als mündiges Individuum betrachtet wird, sondern eher als Besitztum der Eltern. Auch, dass die Familie als Institution in konservative Weise immer noch als „Keimzelle der Gesellschaft“ betrachtet wird, behindert die Unterstützung der Jugendlichen, welche zuhause Gewalt erfahren. Dadurch bekommen die Eltern über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder die Chance, meist bei angemeldeten Hausbesuchen, den Schein zu wahren, dass doch alles in Ordnung sei. Egal von welchen schlimmen Taten der_die Jugendliche berichtet. Im schlimmsten Fall wird nach harmlosen angemeldeten Hausbesuchen dann die Intervention des Jugendamtes in der Familie beendet, der Fall zu den Akten gelegt und die Gewalttaten können wieder ungestört von statten gehen. Eigentlich alle Jugendlichen, welche ich während meiner Zeit in der Jugendhilfe kennengelernt habe, haben nicht nur eine, sondern mehrere Gewalttaten über einen langen Zeitraum hinweg erlebt, auch trotz mehrfacher Interventionen des Jugendamtes in diesen Familien.
Die Dunkelziffer an Familien, in denen Jugendliche physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt sind, ist unglaublich hoch. Hinter der bürgerlichen Fassade der Friede-Freude-Eierkuchen-Familie tut sich für manche von uns die Hölle auf. Nur ein kleiner Teil der Betroffenen schafft es daraus zu entkommen. Wenn man dann das Glück hat, in die Jugendhilfe aufgenommen zu werden, ist man zwar vor dem Elternhaus weitestgehend geschützt, wird aber stattdessen mit anderen Schwierigkeiten konfrontiert. Die Einrichtungen der Jugendhilfen unterscheiden sich sowohl stark vom Konzept als auch vom konkreten Zustand. Sie werden nicht direkt vom Jugendamt kontrolliert oder unterhalten. Dies wird von sogenannten freien Trägern übernommen. Diese sind meistens non-profit Organisationen. Diese bekommen pro Kind oder Jugendliche_r einen Betrag, um dessen Betreuung zu finanzieren. Davon werden dem_der Jugendlichen auch gewisse Beträge, anhängig vom Alter und Jugendamt und Träger, als Taschengeld, Hygiene-, Guthaben-, Fahrkarten- und Bekleidungsgeld ausgezahlt. Hört sich erstmal gut an. Allerdings sind diese Beträge weniger als ausreichend. Von meinem Fahrkartengeld konnte ich höchstens einmal in der Woche in die Stadt fahren. Für weitere Fahrten ging dann mein Taschengeld drauf, welches auch der einzige Betrag ist, über den ich, ohne eine Abrechnung zu schreiben, verfügen durfte. Alkohol durfte ich davon trotz Volljährigkeit dennoch nicht kaufen. Über das wenige Geld, was man bekommt, kann man also nicht einmal frei verfügen. Aber nicht nur bei diesen Geldern wird gespart, was das Zeug hält: auch die Ausstattung der meisten Einrichtungen ist sehr heruntergekommen. Bei den wenigsten kann man da von einem Zuhause sprechen. Jegliche Ausgaben der Wohngruppe, ob Ausstattung oder Ausflüge, müssen bei dem Träger begründet und genehmigt werden.
Dieser hat auch bei allem anderen die Entscheidungsgewalt. Er bestimmt, wer einziehen darf, welche Betreuer_Innen angestellt oder gekündigt werden und welches Konzept in der Wohngruppe angewendet wird. Daraus resultierte dann einige Male, dass Betreuer_Innen eingestellt oder einfach nicht entlassen worden sind, nachdem alle Jugendliche sich gegen die Zusammenarbeit mit diesen ausgesprochen haben. Gründe dafür waren zum Beispiel, dass der_die Betreuer_In handgreiflich geworden ist oder einfach ständig anfing, ungefragt über sexuelle Themen zu sprechen. Somit blieb uns Jugendlichen nichts anderes übrig als zu vermeiden, Zuhause zu sein, wenn der_die Betreuer_In Dienst hatte.
Sowie der Eintritt ist auch der Austritt aus der Jugendhilfe mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Viele Jugendliche, welche diese Hilfe in Anspruch nehmen, haben keine Eltern, die sie finanziell nach der Jugendhilfe unterstützen könnten. Somit müssen sie mit spätestens 21 Jahren ein geregeltes Einkommen und ein paar Rücklagen haben, um Dinge wie eine Mietkaution oder eine Erstausstattung zu finanzieren. Gelder für solche Dinge kann man zwar bei der wirtschaftlichen Jugendhilfe beantragen, aber auch diese Beträge reichen nicht aus. Selbst Geld anzusparen ist auch für Jugendliche mit einem Einkommen durch eine Beschäftigung nicht möglich. Jugendliche, welche in der Jugendhilfe landen, tragen meistens so krasse Lebensgeschichten mit sich rum, dass ein reibungsloser Bildungsweg oder dem Nachkommen einer geregelten Tätigkeit nicht möglich sind. Selbst wenn man arbeiten geht, ist man verpflichtet, ab einem Freibetrag, welcher unter 200 Euro liegt und in das Taschengeld mit eingerechnet wird, 75% deines Einkommens an das Jugendamt zu zahlen. Diese Pflicht wird damit begründet, dass die Kosten für die eigene Betreuung ja sehr hoch seien und auch irgendwie finanziert werden müssen. Du musst am Ende also dafür bezahlen, was deine Eltern angerichtet haben und musst dir so die Chance auf ein kleines finanzielles Puffer trotz harter Arbeit nehmen lassen. Dies führte bei den Jugendlichen, welche ich kennengelernt habe, entweder dazu, dass sie erst gar nicht arbeiten gegangen sind oder angefangen haben, Gelder zu hinterziehen. Jugendliche aus prekären Lagen werden durch die Hilfen also weiter prekarisiert.
Durch die momentane Corona- und Wirtschaftskrise hat sich die Situation der Jugendlichen weiter verschärft. Sie dürfen keine Kontakte außerhalb der Wohngruppe mehr haben und müssen so ihre gesamte Zeit in der Wohngruppe mit Betreuer_Innen verbringen. Dies ist eine hohe psychische Belastung. Für viele sind ihre Wohngruppen kein Zuhause, sondern hauptsächlich der Ort, an dem sie schlafen und essen. Ihre Freizeit verbringen sie hauptsächlich mit vertrauten Personen aus ihren Freundeskreisen, welche sie in der schweren Zeit in der Jugendhilfe begleiten. Zudem gibt es in den meisten Wohngruppen kaum Beschäftigungsmöglichkeiten. Auch unter den Einschränkungen, die ihrer Betreuer_Innen erfahren, leiden die Jugendlichen. Diese dürfen selbst keine sozialen Kontakte außerhalb der Wohngruppe pflegen und haben aufgrund der Corona Auflagen viel mehr zu tun bei gleichbleibendem Gehalt. Hinzu kommt noch das ohnehin schon erhöhte Arbeitsaufkommen durch Ausfall von Kolleg_Innen aus Risikogruppen. Durch diese hohe Arbeitsbelastung ist viel weniger Zeit, um sich mit den Jugendlichen auseinanderzusetzen und der Stress steigert sich täglich. Dies bekommen am Ende die Jugendlichen dadurch zu spüren, dass ihre Betreuer_Innen so viel mit sich zu tun haben, dass sie nicht mehr in der Lage sind, die Jugendlichen angemessen zu betreuen. So kam es in den letzten Monaten meines Aufenthaltes dort zu massiven Auseinandersetzungen und der Tatsache, dass ich meinen Auszug allein planen musste.
Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass die bestehenden Betreuungskonzepte bei Weitem nicht ausreicht, um Jugendlichen die Unterstützung zu bieten, welche sie brauchen und verdienen. Es müssen viel mehr Mittel für die Zukunft dieser Menschen zur Verfügung gestellt werden, damit sie die Chance haben, sich ein eigenständiges Leben unabhängig von ihren Eltern aufzubauen und die Benachteiligung aufgrund ihrer Familiengeschichte überwinden können. Statt dem Trägersystem braucht es gut finanzierte staatliche Einrichtungen unter vollster demokratischer Kontrolle durch die betroffenen Jugendlichen, Pädagog_Innen und Organisationen der Arbeiter_Innenklasse. Diese Rätestrukturen müssen auch das repressive Jugendamt ersetzen, dessen Aufgabe es ist, die Erziehungs- und Rechtsvorstellungen eines patriarchalen kapitalistischen Nationalstaates Namens Deutschland durchzusetzen, ob für oder gegen den Willen der Kinder und Jugendlichen. Wir fordern stattdessen vollste Mitspracherechte für uns darüber, wo wir mit wem wie wohnen wollen. Außerdem müssen die Hierarchien durchbrochen werden. Jugendliche sind mündige Menschen, die selber am besten einschätzen können, ob sie mit ihrer Familie zusammenleben oder mit welcher_m Betreuer_In sie zusammenarbeiten können. Zudem müssen Familien antastbar sein, damit sie keinen Schutzraum für Gewalttaten darstellen. Jugendliche sind nicht der Besitz ihrer Eltern, sondern eigenständige Menschen!