Von Jona Everdeen, Dezember 2023
Es sorgte für einigen Spaß als bekannt wurde, dass Teile des neue „Tribute von Panem“ Prequel ausgerechnet in Duisburg gedreht werden sollten. Es wurde gewitzelt, dass die ökonomisch schwächelnde Industriestadt im Ruhrgebiet den post-apokalyptischen Vibe sehr gut treffe.
Doch was ist das wirklich für eine Welt, in der Jugendliche zur Teilnahme an den tödlichen Hungerspielen gezwungen werden und wo die große Mehrheit der Menschen in den Distrikten im Elend versinkt, während eine kleine Gruppe von Menschen im Kapitol ein selbst für große Teile der aktuellen Bourgeoisie schwer vorstellbares Luxusleben führt?
Und was hat diese dystopische Gesellschaft mit unserer Welt zu tun? Könnte Panem, wenn es dumm läuft, irgendwann ein sehr realer Schrecken sein?
Der Staat Panem besteht aus 12 Distrikten und einer Hauptstadt, dem Kapitol. In den Distrikten findet jeweils voneinander getrennt die Produktion verschiedener Güter statt (z.B. Holz, Textilien, elektronische Geräte), während vom Kapitol aus der Staat verwaltet wird.
Die Produktion in den größtenteils sehr armen Distrikten dient in erster Linie der Versorgung des Kapitols.
Die Menschen in den Distrikten sind dabei keine Sklav_Innen des Kapitols. Sklav_Innen sind lediglich die „Avoxe“, Bedienstete im Kapitol selbst, denen die Zunge herausgeschnitten wurde, damit sie sich nicht verbal verständigen können. Sie sind keine Leibeigenen im Sinne eines Feudalsystems, die für ihre Herren Frondienste verrichten und Abgaben leisten müssen, aber sonst für den Eigenbedarf produzieren. Und sie sind auch keine Arbeiter_Innen, die Arbeit verkaufen.
Genauso sind die Menschen im Kapitol auch keine Sklavenhalter_Innen, wobei die Gesellschaft des Kapitols einer antiken Stadtgesellschaft durchaus ähnlich ist, keine Feudalherren und keine Kapitalist_Innen, die ihre Stellung in erster Linie durch den Privatbesitz an Produktionsmitteln inne haben. Der Hauptwiderspruch dieser Gesellschaft ist eben der zwischen Kapitol und Distrikten und beruht letztendlich auf roher, kaum verhüllter, staatlicher Gewalt. Während die Menschen in den Distrikten schuften müssen, extrem prekären Lebensbedingungen ausgesetzt sind und auch noch jedes Jahr zwei Jugendliche aus jedem Distrikt zum Sterben in die Arena der Hungerspiele schicken müssen, lebt es sich im Kapitol in Saus und Braus.
Das Kapitol presst, um diesen Lebensstil finanzieren zu können, auf brutalste Art und Weise die Distrikte aus, wobei die Hungerspiele eigentlich nur die Spitze des Eisbergs sind. Weigern sich Menschen, die Schwerstarbeit zu leisten oder können sie schlicht die Liefermengen an das Kapitol nicht erfüllen, kommt es zu meist völlig willkürlichen Auspeitschungen und Hinrichtungen und somit extremster Repression durch die als „Friedenswächter“ bezeichnete Armee des Kapitols.
Diese Armee setzt sich aus verschuldeten Bürger_Innen des Kapitols oder Menschen aus dem etwas privilegierten Distrikt 2 zusammen.
Soziale Mobilität gibt es zwar in der Armee im beschränkten Maße. Aber als Kapitolbewohner_In klassische Distriktbewohner_In zu werden oder andersherum ist hingegen quasi ausgeschlossen und auch von einem Distrikt in den anderen zu „wechseln“, kann man zumindest nicht regulär.
Auch die Sieger_Innen der Hungerspiele nehmen in dieser Gesellschaft nur begrenzt eine Sonderrolle ein: Sie werden zwar im Kapitol zu einer Art Popstars und erhalten genug Geld um sich und ihren Familien ein sorgloses Leben zu ermöglichen, sie bleiben jedoch weiterhin Distriktbewohner_Innen.
„Sozialismus oder Barbarei“, diese Mahnung Rosa Luxemburgs ist in der marxistischen Linken allseits bekannt und bedeutet, dass, sollte es uns nicht gelingen, die gesellschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus auf revolutionärem Weg zu lösen, zwangsläufig dieses System an den Widersprüchen untergehen und die Gesellschaft in eine Barbarei stürzen müsse.
Was jedoch diese Barbarei genau bedeutet, ist dabei bewusst offengehalten. Zum einen wird damit die Entbändigung der kapitalistischen Gewalt im Faschismus beschreiben. Es geht dabei aber auch um eine apokalyptische nach-kapitalistische Welt. Man kann diese natürlich nicht vorhersehen, aber sich bestimmte Szenarien ausmalen, woraus einige kulturelle Genres entstanden sind.
Die erste Option können wir im Film „I Am Legend“ sehen oder auch bei manchen Klimagruppen hören. Hier gibt es die Vorstellung, dass nach einer großen Katastrophe wie Krieg, dem eskalierenden Klimawandel oder einer Pandemie die Menschheit als Spezies schlicht verschwindet.
Deutlich öfter und auch irgendwie überzeugender tauchen Visionen einer heftigen Dezimierung aber nicht Auslöschung der Menschheit auf, die dann ihr Dasein unter prekärsten, vormodernen Verhältnissen fristen muss, wie in Teilen der Fallout-Reihe oder Metro 2033. Die dritte Option ist jene von Tribute von Panem: Der Errichtung einer neuen Klassengesellschaft auf den Trümmern der alten. Einer Gesellschaft in der nicht mehr das kapitalistische Wertgesetz herrscht aber auch kein zentraler, rätedemokratischer Plan.
Wenn man sich aber auf diese wilde Spekulation einlässt, scheint eine Gesellschaft in der es einer privilegierten, technologisch überlegenen, Minderheit gelingt, eine neue Ordnung in ihrem Interesse zu erschaffen und die Gesellschaftsmehrheit unter Androhung und Anwendung exzessiver Gewalt dazu zu zwingen, für sie zu arbeiten, durchaus nicht unrealistisch.
Auch in einem weiteren post-apokalyptischen Universum sehen wir ein Beispiel für eine solche Gesellschaft, allerdings in ihrer Frühphase: Negans Saviors aus The Walking Dead.
Diese bilden letztendlich eine Gruppe aus Menschen die, von einem gut gesicherten Hauptquartier aus agierend, mit Waffengewalt andere Gruppen von Menschen dazu zwingen für sich zu arbeiten und Produkte, zum Beispiel Lebensmittel, als Tribut zu zahlen. Sollten diese nicht im geforderten Maße liefern, ist die Strafe meist die Erschießung eines Mitglieds der Gemeinschaft.
In Tribute von Panem wird nicht genauer erwähnt, wie die dortige Gesellschaft ursprünglich entstanden ist, jedoch ist ein ähnlicher Ursprung der Räuberei durch das Kapitol, die sich dann über die Jahrzehnte institutionalisiert zu einer Art Staat weiterentwickelt haben könnte, durchaus realistisch.
Tatsächlich sehen wir ja bereits jetzt, wie an verschiedenen Orten von Superreichen „Weltuntergangs-Resorts“ gebaut werden. Orte, an denen diese auch nach einem Zusammenbruch des kapitalistischen Weltsystems weiterhin ein privilegiertes Leben führen können, so zum Beispiel in Tirol oder in Neuseeland. Die meisten dieser Luxusbunker sind allerdings bisher recht klein konzipiert. Die abgeschottete und als autark geplante Stadt Neom in Saudi-Arabien, die bis 2030 gebaut werden soll, erinnert hingegen in ihrer futuristischen Konzeption schon sehr erschreckend an das Kapitol.
Wenn die Gesellschaft an der Unzahl von unlösbaren Krisen zerfällt, sind solche abgeschottete Rückzugsräume logische Notwendigkeit für die herrschende Klasse. Dann braucht es nur noch die Duisburger Arbeiter_Innen zur Versorgung des Luxuslebens! Und wenn die Gesellschaft sich schlussendlich das Luxusgut Moral und Menschlichkeit nicht mehr leisten kann, sind faschistische Ideologien zu Legitimierung und solche brutale „Spiele“ wie die Hungerspiele zur Stabilisierung der Gesellschaft auch nicht mehr weit.
Wenn wir also nicht wollen, dass unsere Enkel in Hungerspielen gegeneinander antreten müssen und in einer von schrecklichen Kriegen und einer eskalierten Klimakatastrophe verheerten Welt ihr Leben damit verbringen müssen, zu ackern, damit die Enkelkinder unserer Bosse weiter in Saus und Braus leben können, müssen wir jetzt etwas tun!
Deshalb müssen wir jetzt kämpfen, es wagen den Hunger nach Gerechtigkeit ein für alle Mal zu stillen und eine Welt zu erbauen, in der wir für immer frei von Ausbeutung und Unterdrückung leben können!
Vergessen wir nicht, wer der wahre Feind ist! Das sind nicht unsere Klassengenoss_Innen in anderen Ländern oder aus anderen Distrikten, nicht Menschen, die hierher vor Krieg und Elend fliehen, und nicht unsere Arbeitskolleg_Innen mit denen wir, zumindest laut unseren Bossen, um unsere Arbeitsplätze in Konkurrenz stehen müssen – Der wahre Feind sind die kapitalistischen Ausbeuter_Innen, die durch ihren Reichtum an Produktionmitteln bestimmen wie diese Gesellschaft funktioniert und ihre Privilegien im Zweifel auch nutzen würden, in einer post-apokalyptischen barbarischen Klassengesellschaft weiterhin die Herren zu bleiben! Nur eine Gesellschaft, die auf Solidarität, Demokratie und Gerechtigkeit fußt, kann überhaupt erst Krieg und Klimakatastrophe für immer verhindern!