Nach dem Attentat des Islamischen Staats (IS) auf sozialistische Jugendliche in der türkischen Stadt Suruc am 20. Juli hat die türkische Regierung eine Großmobilisierung ihrer Sicherheitskräfte in Gang gesetzt. In großen Städten wie Ankara, Izmir und Istanbul wurden bislang mehr als 1.000 Menschen verhaftet, eine junge Frau wurde erschossen.
Doch nur wenige von ihnen sind AnhängerInnen des IS – im Gegenteil. Die Repressionswelle richtet sich v.a. gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK, Mitglieder der HDP, die sich für die Gleichberechtigung der KurdInnen einsetzt, und gegen linke Organisationen wie der „Revolutionären Volksbefreiungsfront“ DHKP-C. In Istanbul toben seit mehreren Tagen Straßenschlachten, sogar das Begräbnis der ermordeten Genossin Gülay Özarlan wurde von der Polizei überfallen.
Kampf dem Terrorismus?
Dieser Kampf gegen den inneren Feind von Erdogans AKP ist Teil einer größeren Offensive. Seit Wochenende fliegen türkische Kampfjets über Syrien und dem Nordirak. Laut BBC wurden etwa 10 Einsätze gegen den IS geflogen, fast 200 gegen Stellungen der KurdInnen in Rojava und im Nordirak. Sie sind das eigentliche Ziel.
Erst im Januar hatten die Volksverteidigungskräfte der YPG/YPJ in der Region Rojava in einem erbitterten Kampf die Stadt Kobanê vom IS befreitet und wurden dadurch international bekannt. Ebenfalls bekannt wurde die Rolle der Türkei, die durch ihre Grenzpolitik die kurdischen KämpferInnen in eine katastrophale Versorgungsnot gebracht und Munitionslieferungen verhindert hatte – während IS-Kämpfer in türkischen Privatkliniken behandelt wurden. Erst kürzlich sagte Erdogan deutlich, dass er kein kurdisches Autonomiegebiet an der türkischen Grenze zulassen würde. Ein solches Territorium unter der Kontrolle der PYD würde auch eine Stärkung der PKK bedeuten, was die AKP in den letzten Monaten ja eigentlich durch ihre „Friedensverhandlungen“ mit der HDP verhindern wollte.
All das zeigt auch die Verlogenheit der offiziellen Begründung der Türkei für ihre Intervention in Syrien. Sie bekämpft auch jetzt nicht den IS, sondern dessen GegnerInnen. So machte die Generalkommandantur der Volksverteidigungseinheiten (YPG) am 26. Juli in einer Presseerklärung öffentlich, dass die türkische Panzer Stellungen der Frauen- und Volksverteidigungseinheiten (YPJ/YPG) und der Freien Syrischen Armee (FSA) im Dorf Zormikhar westlich von Kobanê beschossen und dabei vier Kämpfer der FSA und zahlreiche DorfbewohnerInnen verletzt haben.
Gestern Freund, heute Feind
Seit dem Abend des 26. Juli bombardieren türkische Kampfjets außerdem das Kandil-Gebirge im Nord-Irak, wo sich das Hauptquartier der kurdischen Guerilla befindet. Nicht nur Schutzräume und Trainingscamps wurden getroffen, sondern auch mehrere DorfbewohnerInnen. Dieser Einsatz dauerte mehr als 8 Stunden.
Aber kurdisch ist nicht gleich kurdisch. Die türkische Armee hat in der nordirakischen Regierung unter Barzani einen Verbündeten an ihrer Seite, der „im Kampf gegen den Terror immer auf [türkischer] Seite“ stünde. Mit militärischen Angriffen auf sein „Staatsgebiet“ scheint er also kein Problem zu haben, solange diese sich gegen „den Richtigen“, also den gemeinsamen politischen Feind richten. Auch wenn das Programm des Demokratischen Konföderalismus, der Personenkult um Abdullah „Apo“ Öcalan und die Idealisierung der Familie einen kleinbürgerlichen, diffus anarchistisch bis utopischen Charakter haben, so ist die PKK ein entschiedener Gegner der Kolonialisierung des Nahen Ostens und der nationalen Unterdrückung des kurdischen Volkes.
Wer es wagt, dieses System in Frage zu stellen oder gar mit Waffen zu bekämpfen, der bekommt nun den Zorn der türkischen Regierung zu spüren. Diese erhofft sich schon länger die Zustimmung der USA und der NATO, militärisch gegen die KurdInnen vorgehen zu dürfen, bisher wurde aber v.a. die PYD als möglicher Bündnispartner im Kampf gegen den IS gesehen, auch wenn die reale materielle Unterstützung praktisch verwehrt und selbst Solidaritätskampagnen für finanzielle Hilfe massiv behindert wurden.
Doch diese Politik scheint sich nun geändert zu haben. Während in Istanbul eine als Friedensmarsch von der HDP organisierte Demonstration verboten wurde und politische AktivistInnen verhaftet werden, droht in Rojava ein Zweifrontenkrieg. Denn die PYD hatte erklärt, dass sie es als Kriegserklärung verstünde, wenn die türkische Armee sie, die Helden im Kampf gegen den IS, angreifen würde. Die PKK vermutet eine Abmachung zwischen den USA und der Türkei, bei der sie den Angriff auf die KurdInnen billigen, wenn sie selbst endlich die Luftwaffenstützpunkte in der Türkei nutzen dürften. Angriffe auf die PKK und ihre Verbündeten gelten jetzt auch in der Sprache der US-Diplomaten als „Selbstverteidigung der Türkei“, zu der schließlich jedes NATO Mitglied ein Recht hätte.
Kampf an zwei Fronten
Aber auch die tatsächliche Selbstverteidigung der YPG/YPJ in Städten wie Sirrin, die vom IS bedroht ist, muss weitergehen. Der Schwenk der türkischen Regierung, dem IS die ohnehin nie öffentlich bestätigte Unterstützung aufzukündigen, schwächt die islamistischen Banden nicht von heute auf morgen.
Die KurdInnen in Rojava stehen unmittelbar vor der Bedrohung eines Zweifrontenkrieges, den sie kaum gewinnen können, wenn eine türkische Intervention von der NATO gedeckt wird. Die Türkei zieht massive Truppeneinheiten an den Grenzen zu den kurdischen Gebieten in Syrien und zum Nordirak zusammen und plant außerdem eine „Sicherheitszone“ in Syrien zu errichten. Damit wären die KurdInnen in Rojava von allen Seiten von starken Gegnern eingekreist – von der Türkei und vom IS.
Auch der kurdischen Bewegung in der Türkei droht eine Niederlage, wenn die Türkei ihre reaktionären Ziele durchsetzen kann oder wenn Rojava fallen würde. Der Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, ist nicht sparsam mit moralischen Vorwürfen gegen die AKP und er verweist zurecht darauf, dass sie einen Bürgerkrieg provoziert oder mindestens billigend in Kauf nimmt.
Es ist offenkundig, dass die türkische Regierung kein Interesse an einem „Friedensprozess“ hat und dessen Fortsetzung, wenn dieser mit einer politischen Stärkung von PKK/PYD und HDP einhergeht und sich dabei noch eine linke politisch Kraft etabliert, die die national unterdrückten kurdischen Massen mit der türkischen Linken und der ArbeiterInnenbewegung vereinen. Der Wahlsieg der HDP hat der AKP vor Augen geführt, dass sich diese in der nächsten Periode als eine politische Kraft stabilisieren könnte, die regelmäßig die undemokratische Hürde von 10 Prozent bei den Wahlen meistert und damit ein absolute Parlamentsmehrheit für die AKP auch zukünftig unmöglich machen würde.
Man sollte nicht vergessen, dass im Moment eigentlich noch eine Regierungsbildung angestrebt wird, denn seit der Wahl am 7. Juni hat die AKP ihre absolute Mehrheit verloren und ist auf eine Koalition angewiesen. Es ist sicher keine allzu falsche Vermutung, dass die AKP eine Regierungsbildung bewusst hinaus zögerte, um sich im momentanen Chaos als Stabilitätsfaktor zu präsentieren und bei Neuwahlen wieder die Alleinherrschaft zu erringen. Ein Schritt dazu könnte auch das Verbot der HDP als „terroristische Organisation“ sein.
Befreiungskampf
Doch die Stabilität einer bürgerlichen Partei, deren Herrschaft sich auf Angst und Staatsterror stützt, ist nicht unerschütterlich, wenn man an der richtigen Stelle zu sägen beginnt. Diese Stelle ist die kämpferische Organisierung der ArbeiterInnenklasse, der Bauernschaft, der städtischen Armut in der Türkei und in allen kurdischen Gebieten.
Der „Friedensprozess“ ist am Ende und kann auch nicht wiederbelebt werden. Die türkische Regierung will nicht Frieden, sondern Kapitulation der KurdInnen, wenn sie mit dem Krieg gegen die PKK bis zu deren „endgültiger Entwaffnung“ droht.
In dieser Situation ist die Solidarität mit dem kurdischen Volk – ob nun mit den KämpferInnen in Rojava, mit der PKK und ihren Stellungen im Nordirak oder der HDP in der Türkei – Pflicht aller InternationalistInnen, der gesamten ArbeiterInnenklasse Europas, aller Linken, ja aller DemokratInnen.
Der Schritt vorwärts in der Türkei wird freilich nicht in einer Rückkehr zur Guerilla-Strategie bestehen, sondern im Massenkampf der KurdInnen, in einem Sirhaldin, in Massenaktionen in den Städten der gesamten Türkei, in politischen Streiks gegen die Repression und in der Agitation für Soldatenkomitees in der Armee, die sich gegen den schmutzigen Krieg Erdogans stellen.
In Europa gilt es, eine Solidaritätsbewegung mit den politischen Gefangenen aufzubauen und deren sofortige Freilassung zu fordern und das Ende des Verbots der PKK u.a. linker Organisationen. Diese Bewegung muss sich zugleich gegen die Unterstützung der türkischen Intervention, wie gegen jede Intervention von NATO, USA und EU im Nahen Osten wenden.
Über alle Grenzen hinweg
Die Befreiung des kurdischen Volkes ist freilich unmöglich ohne eine politische Perspektive für den gesamten Nahen und Mittleren Osten.
Das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes (egal ob in Form eines eigenen Staates oder weitgehender Autonomie) kann nicht verwirklicht werden, ohne die Machtverhältnisse in mindestens vier Staaten, die das kurdische Territorium beanspruchen, und die imperialistische Vorherrschaft in Frage zu stellen. Außerdem könnte selbst ein kurdisches Staatsgebiet (z.B. Rojava) selbst unter „friedlichen“ Bedingungen wirtschaftlich nicht autark wirtschaften, sondern wäre auf Kooperation mit seinen Nachbarn angewiesen.
Die Grenzziehung in der Region, festgelegt im Vertrag von Lausanne, ist mittlerweile
selbst in Frage gestellt. Das trifft nicht nur auf den „Islamischen Staat“, Israel und den US-Imperialismus zu, sondern auch auf das Agieren der Türkei. Um ihre Ziele (Ausweitung des geo-strategischen Einflusses, Verhindern eines kurdischen, selbstverwalteten, de facto eigenstaatlichen Gebietes in Rojava) zu erreichen, kann sie an den bestehenden Grenzen nicht halt machen. Daher auch ihre Angriffe auf andere Staatsgebiete zur „Selbstverteidigung“.
Die kurdische Frage zeigt wie kaum eine andere, dass auch eine fortschrittliche, revolutionäre Veränderung nicht an bestehenden Staatsgrenzen halt machen kann. Die grenzübergreifende Solidarität aller fortschrittlichen Kräfte und v.a. der ArbeiterInnenbewegung ist ein Gebot der Stunde. Das trifft insbesondere auf die kurdische Bewegung und die verbliebenen Kräfte der syrischen demokratischen Revolution zu, die weiter gegen Assad, aber auch die Islamisten des IS kämpfen.
Dazu braucht es auch eine politische Organisation über die bestehenden nationalstaatlichen Grenzen hinweg, die mit der Perspektive des revolutionären Sturzes der reaktionären Regime und der Errichtung von Arbeiter- und Bauernregierungen ausgerüstet ist. Nur so ist eine Enteignung der großen Kapitalisten und die Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft, die Durchführung einer Agrarrevolution zugunsten der LandarbeiterInnen und Kleinbauern, die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes aller Völker, die Befreiung von imperialistischer Vorherrschaft, die Ersetzung des bürgerlichen Staats- und Repressionsapparates durch Räte und Milizen möglich. Die Vereinigten sozialistischen Staaten des Nahen Ostens müssen das Ziel sein, für das eine international koordinierte Partei kämpft.
Ein Artikel von Svenja Spunck, REVOLUTION Berlin