Wessichauvinismus – Wie der Kapitalismus Deutschland geteilt hält

Plattenbaubild von Martin Abegglen CC BY-SA 2.0 via Flickr

Von Jona Everdeen, Oktober 2024

Die sogenannte „Wiedervereinigung“, das wohl relevanteste Ereignis der letzten 50 Jahre deutscher Geschichte, jährt sich nun zum 34. Mal. Doch während dieses Ereignis heute von SPD bis AfD als nationaler Feiertag zelebriert wird, ist Deutschland in Wahrheit noch immer zutiefst gespalten. Die Lebensbedingungen in Ostdeutschland sind noch immer wesentlich schlechter als in Westdeutschland. Wenn es nach den meisten Wessis geht, sind die Ursache dafür die Ostdeutschen selber, die immer nur jammern würden, anstatt dankbar dafür zu sein, dass ihnen der Westen die Freiheit gebracht hat. Doch was hat die BRD Ostdeutschland eigentlich gebracht und was ist die wahre Ursache für die anhaltende ökonomische Teilung des Landes?

Einheit und Freiheit? Annexion und Treuhand!

Wenn heute von der „Wiedervereinigung“ gesprochen wird, dann als eine Art nationalem Mythos. Deutschland sei endlich von den Wunden seiner Vergangenheit geheilt worden und die Deutschen hätten gemeinsam die „Tyrannei“ überwunden und seien endlich „wieder“ in Freiheit vereint.

Die Wahrheit sieht anders aus. Wenn einer seine Wunden geheilt hat, dann der deutsche Imperialismus, der sich nach dem Versagen der Bürokratie des degenerierten Arbeiter:innenstaates DDR dessen Territorium einverleiben konnte und nach der kapitalistischen Restauration in den Ostblock-Staaten wieder zur größten Macht Kontinentaleuropas wurde. Eine echte Einheit, im Sinne zum Beispiel einer neuen gemeinsamen Verfassung, fand dabei explizit nicht statt und die Lebensbedingungen des Großteils der Ostdeutschen wurden nicht besser, sondern wesentlich schlechter. Die historischen Errungenschaften der DDR wurden eingestampft, die Obdach- und Massenarbeitslosigkeit kehrte zurück, das Recht auf Abtreibung wurde ostdeutschen Frauen wieder aberkannt. Die Volkswirtschaft der DDR, zwar nicht unter Arbeiter:innen- sondern Bürokrat:innenkontrolle, aber dennoch dem Wertgesetz entzogen, wurde diesem wieder untergeordnet und dabei großflächig zerschlagen. Die Treuhandanstalt verscherbelte die ostdeutsche Industrie zu Spottpreisen. Viele westliche „Investor:innen“ stampften Fabriken bewusst ein, um zu verhindern, dass diese zu Konkurrenz werden könnten. In Folge dessen verloren Millionen Menschen ihre Jobs, eine ganze Generation versank in Perspektivlosigkeit und durch massiven Wegzug, vor allem in den Westen, wurden ganze Landstriche quasi entvölkert. Es ist keine Seltenheit, dass ostdeutsche Städte ein Drittel ihrer Einwohner:innenzahl verloren haben, und in manchen besonders hart betroffenen Orten wie Frankfurt/Oder oder Eisenhüttenstadt wurde massiv Wohnraum vernichtet, da es niemanden mehr gab, der dort hätte wohnen können. Auch wenn das Jahrzehnt des kompletten Verfalls inzwischen einige Zeit zurückliegt, hat sich die Situation seitdem nicht gebessert, sondern wenn dann auf einem niedrigen Level stabilisiert. Noch immer sind die Durchschnittslöhne in Ostdeutschland wesentlich geringer und die Arbeitslosigkeit und Armut nach den meisten Parametern wesentlich höher. Auch wenn man sich die Dichte von Firmensitzen sowie Millionär:innen ansieht, wird deutlich, dass nahezu die komplette deutsche Bourgeoisie in Westdeutschland residiert und die noch vorhandene ostdeutsche Produktion von dort verwaltet wird. Die deutsche Bourgeoisie ist weiterhin die westdeutsche Bourgeoisie. Das ostdeutsche Proletariat muss meistens zu mieseren Bedingungen und schlechteren Löhnen schuften als das westdeutsche. So sieht sie aus, die kapitalistische Einheit. 

Wird Ostdeutschland national unterdrückt?

In Folge von „Wiedervereinigung“ und Treuhand entwickelte das Verhältnis Ostdeutschlands zum Westen durchaus frappierende Ähnlichkeiten mit dem einer unterdrückten Nation. Wirtschaftlich war das Land komplett fremdbestimmt. Es wurde gezielt als Folge der Massenarbeitslosigkeit – durch Zerschlagung der alten Wirtschaft – ein massiver Niedriglohnsektor angesiedelt und die Ostdeutschen somit ökonomisch vom Westen überausgebeutet.

Um Elend und Massenverarmung im Osten zu erklären und davon abzulenken, wer der wahre Schuldige war – nämlich die imperialistische Bourgeoisie der BRD, die sich wie ein Geier auf die ehemalige DDR gestürzt hatte – wurden chauvinistische Erzählungen verbreitet. Die Ostdeutschen seien selber Schuld an ihrem Elend, da sie faul wären und nur meckern könnten, anstatt dankbar zu sein, dass der Westen ihnen Freiheit und Bananen gebracht hat und sich eifriger anzustrengen für das gemeinsame Land (aka dessen Bourgeoisie).

Solche chauvinistischen Erzählungen von Wessis stellen eine Diskriminierung gegenüber Ostdeutschen dar, die angeblich nicht in der Lage wären, gleichwertig wie Wessis zu arbeiten und denen es dadurch „ganz natürlich“ schlechter gehen müsse als diesen. Diese Ideologie weist große Ähnlichkeiten auf mit den rassistischen Ideologien, mit denen nationale und imperialistische Unterdrückung gerechtfertigt wird. So wie etwa der antigriechische Rassismus rund um das Jahr 2014. Damals erzählten Springer und Co., Griech:innen wären faul und könnten nicht mit Geld umgehen, weshalb sie selber, und nicht etwa der Wirtschaftskrieg der von Schäuble geführten Troika und die von diesem aufgezwungene neoliberale Politik oder zuvor bereits die ökonomische Benachteiligung der griechischen Wirtschaft innerhalb der EU, Schuld an ihrem Elend wären.

Die Benachteiligung Ostdeutschlands geht noch immer weiter und Wessis machen sich noch immer regelmäßig über Ostdeutsche verächtlich, zum Beispiel in Form des Märchens: Dem Westen ginge es heute ökonomisch schlechter, weil er den Osten hätte aufpäppeln müssen, obwohl der einzige Wendegewinner das westdeutsche Kapital war. Allerdings stellt das Ost-West-Verhältnis in Deutschland, heute noch weniger als in den 90er Jahren, keine strukturelle gesellschaftliche Unterdrückung dar. Besonders ausschlaggebend dafür ist, dass es keine wirkliche spezifische ostdeutsche Kultur oder Sprache gibt, bzw. die vorhandenen Elemente einer ostdeutschen Kultur nicht unterdrückt werden, sondern sich höchstens, eben im Sinne von Diskriminierung, über sie lustig gemacht wird. Auch sehen wir in diesem Verhältnis keine strukturelle juristische Benachteiligung des Ostens oder staatliche Willkür gegenüber diesem.

Diese vorhandene antiostdeutsche Diskriminierung sowie vor allem die reale ökonomische Benachteiligung und Überausbeutung der Menschen im Osten, deren ideologischer Ausdruck sie ist, müssen jedoch aufgezeigt und bekämpft werden. Dabei gilt es ebenso, den, auch im Zuge des aktuellen Aufstiegs der AfD, Wessichauvinismus innerhalb der (westdeutschen) Linken entschieden abzulehnen. 

„Ossis sind halt an Diktatur gewöhnt“ – Rechtsruck und „linker“ Wessichauvinismus

Es ist offenkundig, dass populistische wie rechtsradikale Kräfte es in Ostdeutschland in der Regel leichter haben als im Westen. Und insbesondere die jüngsten Wahlen, in denen die AfD in Thüringen mit Abstand stärkste und in Sachsen und Brandenburg nur knapp zweitstärkste Kraft geworden ist, zeigen dies nochmal deutlich. Um die Anfälligkeit Ostdeutscher für den Populismus zu verstehen, ist ein Blick auf die Geschichte zwingend nötig. So ist es nur folgerichtig, dass nach falschen Versprechungen der bürgerlichen Parteien (CDU und FDP) sowie Gleichgültigkeit und Mitverwaltung des Elendes der reformistischen (SPD und PDS/Linke), die Unzufriedenheit und „Politikverdrossenheit“ im Osten noch wesentlich höher ist als im Westen.

Aufgrund der Führungskrise der Arbeiter:innenbewegung, die hier in Form von offenem Verrat durch den Reformismus sowie durch kleinere und weniger etablierte Gewerkschaften noch gravierender sichtbar wird als im Westen, ist es leicht für Populist:innen, ob rechter Spielart wie die AfD oder linker wie das BSW, mit einfachen Scheinlösungen zu punkten. Vielen Menschen erscheint alles recht, was irgendwie anders scheint als das Elend der letzten 30 Jahre. So wird auch der Boden für rechtsradikale Kräfte befruchtet, wobei deren Entstehung noch tiefer zurückdatiert werden muss. Nämlich in die Zeit direkt nach der „Wiedervereinigung“, wo Kohls geschürter Nationalismus in Kombination mit Verelendung und Perspektivlosigkeit zahlreiche Jugendliche anfällig machte für die Propaganda vor allem aus dem Westen angereister Neonazi-Aktivist:innen. Dazu mehr in anderen Artikeln, wie dem über die Wendenacht in Zerbst aus dem letzten Jahr.

Doch die realen Gründe für die Stärke der Rechten in Ostdeutschland sieht man unter Linksliberalen in Köln, Stuttgart oder Charlottenburg nicht, bzw. will sie nicht sehen. Stattdessen eignet man sich den Wesenchauvinismus an, in seiner pseudoprogressiven Form. So wären das Problem die Ostdeutschen selber, die immer nur unzufrieden sein könnten und die Demokratie nicht zu schätzen wüssten, die ihnen der Westen gebracht habe. Anstatt dankbar für dieses „Geschenk“ zu sein, sehne man sich zurück nach einer klaren Hierarchie und Autorität, da man einfach keine Demokratie gelernt habe und deshalb die Diktatur bevorzuge. Auch ein klar antikommunistischer Charakter ist hier offenkundig. Die DDR-Bürokratie wird gleichgesetzt mit einer Rechtsdiktatur oder sogar dem Faschismus.

Es wundert wenig, dass die Grünen, in deren Reihen eine solche Haltung weit verbreitet ist, im Osten kaum ankommen und in Thüringen jüngst aus dem Landtag flogen. Würde man aber anerkennen, dass nicht die „dummen Ossis“ Schuld am Rechtsruck sind und man diesen nicht mit Chauvinismus bekämpfen kann, dann müssten sie sich ja mit einer realen Lösung der gesellschaftlichen Probleme, und dazu zwangsläufig gehörend auch der Benachteiligung des Ostens, beschäftigen. Das ist aber nicht kompatibel mit den Interessen der (west)deutschen Bourgeoisie.

Was eine echte Wiedervereinigung bedeutet hätte und wie wir sie heute noch erreichen können

Während die durch Nationalismus mystifizierte Übernahme Ostdeutschlands durch das westdeutsche Kapital und mit Stigmatisierung und Ressentiments kaschierte Überausbeutung und wirtschaftliche Unterentwicklung von diesem sicher kein Grund zum Feiern ist, wäre eine echte Wiedervereinigung durchaus möglich gewesen. So war die Bewegung gegen das bürokratische DDR-Regime unter Honeckers SED ursprünglich eine fortschrittliche. Kaum einer in der Bewegung wollte eine einfache Übernahme des Staates durch die BRD, erst recht nicht in ihrer dann geschehenen Form. Auch daher kommen die Enttäuschung und Politikverdrossenheit im Osten. Viele Menschen, die 1989 auf die Straße gingen und schließlich den Fall der Berliner Mauer erkämpften, wollten das System reformieren, nicht die DDR zerschlagen. Dass schließlich die imperialistische BRD mit Nationalismus und falschen Versprechen die Bewegung kapern konnte, liegt vor allem an deren fehlender Perspektive. Was stattdessen nötig gewesen wäre, wäre die Unterstützung der westdeutschen Arbeiter:innen für die ostdeutsche Bewegung. Die Zusammenführung eines Kampfes gegen die SED-Bürokratie, die schon lange zu einem Hindernis für den Sozialismus geworden war, und gegen den BRD-Imperialismus. Ein Kampf für die Errichtung eines vereinigten Deutschlands, nicht auf kapitalistischer Grundlage, sondern auf der von Arbeiter:innenräten, die die Planwirtschaft der DDR unter demokratische Kontrolle stellen und diese durch den Sturz der westdeutschen Bourgeoisie auf das ganze Land ausweiten!

Und für diese Perspektive ist es auch heute nicht zu spät! Der Kampf gegen Krise und Rechtsruck, in Ost wie West, muss geführt werden, mit der Perspektive einer vereinigten deutschen Räterepublik. Mit der Perspektive, das Versäumte nachzuholen, eine demokratische Planwirtschaft zu errichten und Rätedeutschland an Stelle der imperialistischen BRD zu setzen!

Nur mit dieser Perspektive ist es möglich, die ökonomische Benachteiligung Ostdeutschlands, und somit auch die Wurzel für den dort verbreiteten Populismus, zu brechen und eine Perspektive auf ein besseres Leben für alle aufzuzeigen! Für ein Deutschland, in dem die Macht weder Kapitalist:innen und ihr politisches Dienstpersonal noch lediglich auf ihre eigenen Privilegien bedachte Bürokrat:innen haben, sondern die Arbeiter:innen selber! In dem die Wirtschaft nicht der Diktatur des Marktes untertan ist und auch nicht der einer undurchsichtigen, undemokratischen und häufig absurden Planbehörde, sondern dem demokratischen Plan der Produzierenden selber!

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