Care-Arbeit und ihre TheoretikerInnen

Jürgen Roth, Gruppe ArbeiterInnenmacht, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 6

Im Folgenden setzen wir uns mit dem Begriff der Care-Arbeit auseinander. Wir untersuchen ihren Wandel seit den 1970er Jahren, seine Ursachen und Auswirkungen auf ihre bezahlten Formen wie auf die Arbeitsteilung innerhalb der Familien. Wir versuchen zu erklären, worin die Lohndifferenz zwischen Frau und Mann begründet liegt, und untersuchen das Programm der sog. Care Revolution.

Die Kritik sozialistischer Feministinnen am Care-Begriff führt uns zur Frage, ob sie das Verhältnis zwischen Lohnarbeit und unbezahlter Hausarbeit richtig einordnen und was sie mit anderen Strömungen des Feminismus verbindet. Wir versuchen nachzuweisen, dass die gesamte feministische Richtung im Unterschied zum Marxismus ein falsches, dualistisches Verständnis eint: Frauenunterdrückung und Klassengesellschaft werden als zwei verschiedene Verhältnisse betrachtet, die sich zwar gegenseitig durchkreuzen, letztlich jedoch eigene Ursachen haben und sich als voneinander geschiedene Widersprüche entwickeln. Schließlich werden wir auf die zentrale Bedeutung der Sozialisierung der Haus- und Reproduktionsarbeit für jedes Programm der Frauenbefreiung zurückkommen.

Zum Begriff der Care-Arbeit

Unter den Begriff Care-Arbeit fallen alle Tätigkeiten der Pflege, Erziehung und Bildung und Hausarbeit. Wo sie Erwerbsarbeit ist, wäre sie allgemein zu unterteilen in verschiedene Formen der Lohnarbeit (ungeschützte prekäre wie tariflich abgesicherte Voll- und Teilzeitarbeit) sowie selbstständige Arbeit (wie z. B. ganz allgemein in Kleingewerbe, KleinbäuerInnenschaft). Care-Erwerbsarbeit findet in staatlichen, kirchlichen und frei-gemeinnützigen sowie privaten Einrichtungen statt. Zu ihren unbezahlten Formen zählen z. B. Haus- und Sorgearbeit wie Erziehung, Pflege, Subsistenzarbeit, ehrenamtliche Arbeit. Sie findet in Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitsbereich, in Wohlfahrtsorganisationen, Vereinen und Verbänden, sog. Alternativprojekten sowie in Familien oder Lebensgemeinschaften zuhause statt.

Betont der Begriff Reproduktionsarbeit im marxistischen Sinn die Bedeutung der Haus- und Sorgearbeit in der LohnarbeiterInnenfamilie für das kapitalistische Prinzip der Profitmaximierung, richtet der seit den 1980er Jahren aufkommende Begriff Care-Arbeit den Blick sowohl auf die Gesamtheit der familiären Sorgearbeit als auch auf Erziehung und Pflege in Institutionen wie Kindergärten, Schulen, Altersheimen und Krankenhäusern.

Teiltransformation im Geschlechterverhältnis bei LohnarbeiterInnenfamilien

Die Entwicklung des Kapitalismus ging von Anbeginn mit einer zwiespältigen Dynamik der Einbeziehung proletarischer Frauen in die Lohnarbeit und einer gleichzeitigen Fixierung auf ihre Rolle als Hausfrau einher. So war die Entstehung des Fabriksystems nicht nur durch die extreme Ausbeutung männlicher Arbeitskraft, sondern auch durch eine Ausdehnung der Frauen- und Kinderarbeit geprägt. Die materielle Basis für die Reproduktion der Familie war in der Entstehungsphase der „großen Industrie“ kaum vorhanden. Diese änderte sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts infolge des Widerstandes und der Organisierung der ArbeiterInnenklasse. Zugleich wurde damit auch die Basis für die Etablierung und Reproduktion der bürgerlichen Kleinfamilie im Proletariat selbst geschaffen – einschließlich deren Idealisierung und Ideologisierung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, im sog. „langen Boom“, wächst nicht nur die ArbeiterInnenklasse selbst massiv, sondern auch die Anzahl der lohnabhängigen Frauen. Ende der 60er Jahre/Anfang der 70 Jahre war in der BRD etwa ein Drittel aller lohnabhängig Beschäftigten weiblich (rund 10 Millionen).

Die für die erste Phase des „Wirtschaftswunders“ typische Konstellation aus männlichem Lohnarbeiter/-angestellten und proletarischer „Nur“hausfrau wich schon in den 60er Jahren zunehmend dem „DoppelverdienerInnenhaushalt“, auch wenn erstere mit aller Vehemenz zum „Normalfall“ erklärt wurde. In den 70er und 80er Jahren stieg die weibliche Beschäftigung weiter. Die lohnabhängigen Frauen wurden mit der krisenhaften Entwicklung der 70er Jahre und mit dem Neoliberalismus nicht in die Rolle der „Nur“-Hausfrau zurückgedrängt, sondern vielmehr in die Doppellast aus mehr Hausarbeit und prekärer Beschäftigung.

Die Nachkriegsperiode beschleunigter Akkumulation geriet an ihr Ende und machte Platz für eine seither chronische, mehr oder weniger latente strukturelle Überakkumulationskrise. Darin liegt auch die entscheidende Ursache für eine Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung.

Die Feministin Silke Chorus hingegen sieht den Einzug der Frauen in die Erwerbsarbeit als direkte Folge von Teil-Transformationen im Geschlechterverhältnis (Care-Seiten in der politischen Ökonomie, in: DAS ARGUMENT 292, 53. Jg., Heft 3/2011, S. 396). Umgekehrt wird jedoch ein Schuh draus: Massenarbeitslosigkeit und sinkende Reallöhne führten dazu. Der Lohn des Proletariers deckte immer weniger die „historisch-moralische“ (Marx) Familienkomponente ab.

Da der Care-Bereich einer anderen Zeitökonomie als die Industrie unterliegt und aufgrund o. a. Besonderheiten weniger mittels Ersatz lebendiger Arbeitskraft durch konstantes Kapital (Maschinen) durchrationalisiert werden kann, folgt daraus zweierlei: erstens ein immer weiteres Auseinanderklaffen der Arbeitsproduktivitäten in beiden Sektoren, zweitens Rationalisierung in der Pflege durch steigende Arbeitsintensität, vermehrte Ausbeutung der Beschäftigten unter Einsatz von Akkordsystemen (Taylorismus): Minutentakte waren die Konsequenz aus Privatisierung und Einführung marktwirtschaftlicher Rentabilitätskriterien in öffentlichen und gemeinnützigen Institutionen (Fallpauschalen, DRGs).

Sozialtransfers (Pflegekassen) erleichterten das Aufblühen eines gewaltigen Pflegedienstleistungsmarkts. Öffentliche Gelder wurden in den Bereich geschaufelt, um ihn flottzumachen. Niedriglöhne, Qualitätsverlust und/oder Preissteigerung sind unter diesen Bedingungen der Produktion für Profit strukturelle Merkmale von Care-Dienstleistungen. Staatliche soziale Sparpolitik ist im „Postfordismus“ ebenso ein strukturelles Gebot, um dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken (Reallohnsenkung in Form der indirekten Löhne, Sozialleistungskürzungen), was wiederum zur Verlagerung von Sorgearbeit auf die Familien führt, also unbezahlt von Frauen verrichtete. Das Los der modernen Proletarierin: neben Erwerbstätigkeit in prekärem Job zu Niedriglohn und mit wachsendem Stress bekommt sie zum Dank auch wieder vermehrt die Sorge für die Familienangehörigen aufs Auge gedrückt. Sie muss zu einer Arbeitszeitmanagerin werden, um die zahlreichen Termine und Pflichten unter einen Hut zu kriegen: Als „19th nervous breakdown“ besangen die Rolling Stones dieses Syndrom.

Moderne Reproduktionsmodelle

Die Auswirkungen der kapitalistischen Strukturkrise seit den 1970er Jahren auf die Lohnarbeit von Frauen und Leistungen des „Sozialstaats“ finden ihr Pendant in Veränderungen innerhalb proletarischer Kleinfamilienhaushalte, der sog. Reproduktionsmodelle.

Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker unterscheidet deren vier. (http://www.denknetz-online.ch/IMG/pdf/Winker_Krise_sozialer_Reproduktion.pdf) Sie erweitert damit ihr eigenes aus: „Soziale Reproduktion in der Krise – Care Revolution als Perspektive“. (DAS ARGUMENT 292, S. 339 f.) Im Folgenden wollen wir die vier Modelle kurz skizzieren:

1. „Ökonomisiertes Reproduktionsmodell“

Dieses können sich nur wenige finanziell bessergestellte Erwerbstätige leisten: Meist hochqualifiziert und karriereorientiert, sind beide voll berufstätig, verzichten häufig auf Kinder und vermindern ihre Doppelbelastung durch Care-DienstbotInnen. Dies sind oft Migrantinnen, die zu Niedriglöhnen ohne Sozialversicherung arbeiten gehen. Ihre Niedriglöhne liegen noch unter denen o. a. erwerbstätiger Pflegekräfte in Kliniken, Heimen und ambulanten Diensten.

In deutschen Privathaushalten arbeiten 150.000 – 300.000 Frauen aus Osteuropa allein als Pflegekräfte. Die divergierenden Zahlen ergeben sich aus mehreren Quellen (Gewerbeanmeldungen, Steuererklärungen der sie anstellenden Haushalte). Laut Schätzung des polnischen Arbeitsamts sind 94 % der Betroffenen „illegal“ tätig. Sie zu organisieren, ist so gut wie unmöglich. Kontakt zu ihnen erfolgt oft nur über Beratungsstellen. Seit in Deutschland der Mindestlohn eingeführt wurde (2015), werden immer weniger Arbeit„nehmer“innen vermittelt, dafür mehr (Schein-)Selbstständige. Die Kriterien für eine Selbstständigkeit sind in Privathaushalten aber kaum zu erfüllen, angefangen bei der eigenen Zeiteinteilung. Doch die Hartz-Gesetze machen’s möglich – und die Pflegeversicherungen spielen mit. Das Pflegegeld für Angehörige liegt unter dem Existenzminimum, eine ambulante Vollversorgung bleibt auch für mittelständische Familien unbezahlbar. Diese Lücke schließt die Pflegeversicherung auf Kosten ausländischer Haushaltshilfen. Die im vorigen Abschnitt beschriebene Care-Lohnlücke wird in ihrem fall nach unten getoppt. Trifft diese „einheimische“, v. a. weibliche Arbeitskraft, schon heftig genug, richtet das rassistisch wirkende Wertgesetz auf dem Weltmarkt noch verheerenden Schaden an: ProletarierInnen aller Länder, vereinigt Euch – jetzt erst recht!

2. Paarzentriertes Reproduktionsmodell

Es umfasst ein männliches Normalarbeitsverhältnis, die 2. Person, meist eine Frau, geht einer Teilzeitbeschäftigung nach. Care-Arbeit wird nur für bestimmte Aufgaben und/oder vorübergehend an Hausangestellte vergeben, ihr Großteil aber primär von Frauen in Doppelbelastung erbracht. Dieses Modell ist verbreitet, da mit steigender Frauenerwerbstätigkeit nicht Normalarbeitsverhältnisse, sondern Teilzeit- und Minijobs zunahmen, unterscheidet es sich von der „fordistischen“ Kleinfamilie dadurch, dass die Absicherung bei Arbeitsplatzverlust, Scheidung und Krankheit schlechter ausfällt.

3. Prekäres Reproduktionsmodell

Zumindest eine Haushaltsperson ist nicht in der Lage, sich über Erwerbsarbeit eine Existenz sichernde Perspektive zu verschaffen, bleibt von einem Haupternährer abhängig, der allerdings ebenfalls keine Familie mit Kindern auf einem durchschnittlichen Lebensstandard unterhalten kann. Sorge- und Pflegearbeit kann nicht an bezahlte Dritte weitergegeben werden. Hier ist die Doppelbelastung enorm, weil meist die Frau die volle unbezahlte Reproduktionslast trägt und über prekäre Beschäftigung möglichst viel zum Familieneinkommen beizutragen versucht.

4. Subsistenz orientiertes Reproduktionsmodell

Hier finden sich jene wieder, die auf Grundsicherung angewiesen sind, weil sie wegen Reproduktionsverpflichtungen oder ihrer nicht nachgefragten Qualifikationen ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können.

Ungleicher Zugang zur Erwerbssphäre führt überwiegend zu nahezu unveränderter häuslicher Arbeitsteilung gegenüber der klassischen Lohnarbeitskleinfamilie, jedoch vermehrter Doppeltätigkeit. Das Ausmaß der häuslichen Pflichten hat zudem Auswirkungen auf die Chance, die eigene Arbeitskraft überhaupt verkaufen zu können. Dies ist die moderne doppelte Reproduktionsfalle für Frauen.

Die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen fördern jedoch vorrangig die Frauenerwerbsquote und die Geburtenrate v. a. bei Frauen aus der 1. Gruppe. Gut verdienende Eltern können für 12-14 Monate monatlich bis zu 1800 Euro Elterngeld kassieren, Hartz IV-EmpfängerInnen gehen leer aus. Das 2005 in Kraft getretene Tagesbetreuungsausbaugesetz sah bis August 2013 für ein Drittel der Kinder bis zum Alter von 3 Jahren einen Betreuungsplatz vor. Vorrang haben jedoch berufstätige Eltern. Das Kindeswohl spielt keine Rolle. Die seit 2009 gültige Unterhaltsreform forciert die Erwerbspflicht für Mütter von Kindern unter 3 Jahren nach einer Scheidung, alle unterhaltspflichtigen Kinder erhalten Vorrang vor dem Unterhalt für den/die PartnerIn. Das Steuerrecht diskriminiert geschiedene UnterhaltszahlerInnen zusätzlich.

Die Umverteilungsmaßnahmen der neoliberalen Wirtschaftspolitik bewirkten einen wachsenden Überschuss an Anlagemöglichkeiten suchendem Kapital, die es in der Produktionssphäre immer weniger findet (Fall der Profitrate). Staatliche Interventionen zur Absicherung des Finanz- und Währungssektors, um die Entwertung des zunehmend spekulativ dort angelegten Kapitals zu vermeiden, führten zu weiterer Staatsverschuldung und größerem Druck auf staatliche Sozialleistungen. In der BRD, die einen Teil ihrer Überakkumulation durch Handelsüberschüsse auf andere Länder überträgt, schlug die Finanzkrise hohe Wellen der Aufmerksamkeit – die soziale Reproduktionskrise im Land des Exportweltmeisters erntet nur Schweigen.

Lohnunterschiede nach Geschlechtern (Gender Pay Gap, GPG)

Unser Zwischenresümee aus dem bisher Gesagten lautet: die geschlechtliche Arbeitsteilung, die sich mit Entstehung von Klassen und Staaten zu einer bis zu deren Aufhebung nicht mehr umkehrbaren Unterdrückerrolle der Männer entwickelt hat, führt unter kapitalistischer Herrschaft zur relativen Entwertung der Frauenarbeit. So kassiert der Proletarier den Familienlohn, die weibliche Hausarbeit ist unbezahlt. Vermehrte weibliche Lohnarbeit ändert nichts am Verhältnis, außer dass der Mann jetzt keinen Familienlohn mehr heimbringt. Das Wertgesetz unterm Kapitalismus führt im Care-Bereich, wo überwiegend Frauen arbeiten, zu strukturellen Niedriglöhnen. Doch der Gender Pay Gap (GPG), die Lohndifferenz zwischen Frau und Mann, ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und betrifft keinesfalls nur diesen. Der unbereinigte GPG, die geschlechtsspezifische Lohnlücke, der prozentuale Unterschied zwischen den durchschnittlichen Bruttostundenverdiensten betrug in der BRD 2015 21 % (Frauen: 16,20 Euro, Männer: 20,59 Euro). Der bereinigte GPG betrug immerhin noch 7 %. Er rechnet den Faktor heraus, dass Frauen und Männer in unterschiedlich bezahlten Branchen tätig sind und bezieht sich auf vergleichbare Qualifikationen, Tätigkeiten und Erwerbsbiographien.

Die Gender Pension Gap (Rentenunterschiede), die geschlechtsspezifische Differenz bei den Altersbezügen, liegt laut Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichem Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) bei 53 %. Sie ist in Westdeutschland größer als im Osten. Berufstätige Frauen nehmen häufiger Auszeiten für die Kindererziehung oder Pflege von Angehörigen, arbeiten öfter in Teilzeit und werden im Schnitt schlechter bezahlt. Ausgleichsmechanismen in der gesetzlichen Rentenversicherung wie Anerkennung von Kindererziehungszeiten mildern diese Kluft etwas. Leistungen aus der privaten Altersvorsorge kassieren nur 2 % der Frauen (Männer: 5 %). Bei der betrieblichen Altersversorgung in der Privatwirtschaft liegen Frauen 60 % hinter den Männern zurück. Nur 7 % der Rentnerinnen haben hier überhaupt eigene Ansprüche. (VER.DI PUBLIK 1/2018, S. 10)

Gründe für den PGP sind: unterschiedliche Berufswahl; Frauen unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit familienbedingt häufiger und länger als Männer; der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt ist ein schwieriger Prozess; Frauen fehlen auf den höheren Stufen der Karriereleiter; geschlechtertypische Rollenbilder; individuelle, aber auch kollektive Lohnverhandlungen haben die traditionell schlechtere Bewertung typischer Frauenberufe bislang nicht nachhaltig überwinden können; Einfluss von Existenz und Höhe gesetzlicher Mindestlöhne; berufliche Bewertungs- und Klassifizierungssysteme; Unternehmensstrategien wie die immer weiter zunehmende Individualisierung von Entgeltbestandteilen. (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Fact Sheet: Der Gender Pay Gap und die Ursachen, 8.6.2016; DGB-Bundesfrauenausschussbeschluss, Positionspapier zur Entgeltdifferenz zwischen Frauen und Männern – Gender Pay Gap, 17.4.2008)

Programm der Care Revolution

Aus der Care-Debatte heraus entwickelte sich die Bewegung für eine Care Revolution. Gabriele Winker (Zur Krise sozialer Reproduktion…, a. a. O.) fordert: drastische Erwerbsarbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, Ergänzung der freiwillig geleisteten individuellen Reproduktionsarbeit mit einem deutlich ausgebauten Netz staatlich bzw. genossenschaftlich angebotener Dienstleistungen, höhere Entlohnung von Care-Diensten.

Die Aktionskonferenz Care Revolution vom 14.-16. März 2014 beschloss: Her mit dem guten Leben! Sorgearbeit aufwerten – eine Kultur der Fürsorglichkeit absichern! Zeit gewinnen! Wohnen ist Menschenrecht! Bildung ist ein Recht für alle Menschen – Bildung demokratisieren! Das gemeinsame Öffentliche stärken!

Diese Forderungen können wir in der Stoßrichtung allesamt unterstützen – jedoch nicht in allen Formulierungen. „Wohnen ist Menschenrecht“? Die Resolution verklärt die Wirklichkeit gleich doppelt: die bürgerlichen Grundrechte stellen sich selbst gern als Menschenrechte dar, waren aber in der Geschichte mit der US-Südstaatensklaverei vereinbar. Außerdem: das Recht kann nie höher als die Gesellschaftsordnung stehen, es ist nicht un-/übergeschichtlich. Im Kapitalismus kann das „Recht auf Wohnen“ nur heißen, eine kaufen oder mieten zu dürfen, kann das „Recht auf Arbeit“ nur darin bestehen, seine Arbeitskraft zu verkaufen, von dem/r TellerwäscherIn zum/r MillionärIn werden zu dürfen. Wenn Winker schreibt: „…für einen grundlegenden Perspektivenwechsel…Dabei geht es um nicht weniger als die Forderung, dass nicht Profitmaximierung, sondern die Verwirklichung menschlicher Lebensinteressen im Zentrum politischen Handelns stehen sollte“, so ist das allerdings eine revolutionäre Absichtserklärung. Doch weil sie gleichzeitig darüber schweigt, ob das System der Profitmaximierung namens Kapitalismus abgeschafft gehört und erst recht, wie das geschehen kann, ist das letztlich eine Vertröstung, nicht auf das Jenseits, sondern auf die zukünftige hoffentlich offenbarte Weisheit akademischer Care-Debatten. Das Programm ist Care-Reformismus, nicht Care-Revolution.

Von Abschaffung des Kapitalismus, von revolutionärer Zerschlagung der alten Staatsmacht, von Doppelmachtorganen, Aufbau kommunistischer Parteien, Diktatur des Proletariats – kurz, von all dem, was eine wirkliche Revolution ausmacht, schweigt unsere Theoretikerin, schweigt die Konferenz. Nicht einmal das Subjekt revolutionärer Umwälzung, die ArbeiterInnenklasse in all ihren Facetten, wird beim Namen genannt. Sollen es diffuse Vernetzungen, Workshops, wortreiche Resolutionen, schlaue Gender-Forschung ersetzen? Da, wo es wirklich um elementare Elemente von Arbeitsbedingungen im Care-Sektor geht wie z. B. der Tarifkampagne Entlastung, überlässt das Netzwerk Care Revolution der ver.di-Bürokratie das Heft des Handelns – kein Wort der Kritik wie in den diesbezüglichen Artikeln dieser Frauenzeitung, wenn überhaupt eines!

Streit um den Care-Begriff

Auch verschiedene sog. sozialistische FeministInnen beteiligten sich an der Care-Debatte.

Ihre wohl bekannteste im deutschsprachigen Raum, Frigga Haug, sieht nicht ein, warum der Begriff der individuellen Reproduktion zugunsten von Care aufgegeben werden soll. Sie sieht im Einsatz dieses Wortes einen Schmelztiegel ganz unterschiedlicher Bedeutungen und in der Preisgabe formanalytischer Unterscheidungen zwischen bezahlter/unbezahlter, öffentlicher/privater Arbeit ein Untergehen der kapitalismuskritischen (Eingebundenheit der Dienstleistungen in Tauschbeziehungen) und der persönlichen Dienstbarkeit (Patriarchatskritik). (Das Care-Syndrom, in: DAS ARGUMENT 292, S. 358, 362)

Anna Hartmann wittert einen Zusammenhang zwischen aufkommender Care-Debatte, Verwischung des individuellen Reproduktionsbegriffs und neoliberalem Arbeitsmarkt: Die Gleichstellungspolitik mit ihrem spezifischen Gender-Verständnis trage dazu bei, indem sie v. a. eine formal-rechtliche Gleichstellung insbesondere eine Angleichung der weiblichen an die männliche Erwerbsquote meine. Damit werde Geschlechterungleichheit ihrer strukturellen Ursachen enthoben und erschiene als falsches, antiquiertes Rollenverständnis. (Wo bleibt die Hausarbeit?, a. a. O., S. 405)

Stephanie Heck: „Auf der einen Seite soll mit Fürsorge und der besonderen Lage von bezahlter Care-Arbeit das sichtbar gemacht werden, was mit dem frühen Reproduktionsbegriff nicht erfasst worden ist. Andererseits darf aber der Funktionszusammenhang von Care-Arbeit mit den Produktionsverhältnissen in der Analyse nicht fehlen, wenn deutlich gemacht werden soll, welche Bedeutung diese Arbeit für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion hat und ihre unzureichenden Bedingungen kritisiert werden sollen.“ (Von „Reproduktion“ zu „Care“, a. a. O., S. 411)

Almut Bachinger zieht den Schluss, dass nach Auslaufen der Debatte um Anerkennung der Hausarbeit in den 1980er Jahren das dekonstruktivistische Gender-Konzept das differenztheoretische Paradigma ab den 1990er Jahren abgelöst, verdrängt habe und die Frauenbewegung und –forschung sich von ökonomischer Analyse ab- und eher Identitätsfragen zuwandte. (Lohn für Hausarbeit reloaded; http://grundrisse.net/grundrisse37/Lohn_fuer_Hausarbeit.htm)

Diese Kritiken an der Rechtsentwicklung innerhalb des Feminismus, für die das liberale Gender-Konzept steht, sind korrekt, aber unzureichend.

Frauen, Familie und Feminismus

Warum unzureichend? Ihre Beschränktheiten bestehen nicht nur in bestenfalls Indifferenz zur falschen Forderung nach Lohn für Hausarbeit, sondern im ungenügend vermittelten Zusammenhang zwischen Klassengesellschaften, Familie und Hausarbeit.

Gabriele Winker schreibt, dass Produktions- und Reproduktionssphäre strukturell verschränkt und geschlechtlich konnotiert sind. (Soziale Reproduktion in der Krise – Care Revolution als Perspektive, in: DAS ARGUMENT 292, S. 334) Das ist zwar eine korrekte Beschreibung, aber keine Erklärung. Wie verschränkt und wer oder was konnotiert, bleibt rätselhaft. Die Antwort auf diese Frage macht aber den eigentlichen Knackpunkt einer materialistischen Analyse der Care-Arbeit aus sowie eines revolutionären Programms zur Überwindung des Kapitalismus und der mit ihm (wie jeder Klassengesellschaft) untrennbar verbundenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.

Diese Frage stellt sich auch die feministische Diskussion:

„Geht es um die kapitalistische Produktionsweise, die sich geschlechterspezifische Zuschreibungen zur Steigerung von Profit zunutze macht? Oder bezeichnen asymmetrische Geschlechterverhältnisse ein Ausbeutungsverhältnis, das der kapitalistischen Aneignung menschlicher und natürlicher Ressourcen per se zugrunde liegt?“ (Ruth Kager, Arbeit ohne Wert: Hausarbeitsdebatte und Gesellschaftskritik, S. 1, 3; http://theoriebuero.org/2211/arbeit-ohne-wert-hausarbeitsdebatte-und-gesellschaftskritik/)

Aber sie beantwortet sie z.B. in der sog. Bielefelder Schule (von Werlhof, Bennholdt-Thomsen, Mies) anders als der Marxismus: „Sexismus und Rassismus werden also nicht der kapitalistischen Problematik untergeordnet, sondern umgekehrt die kapitalistische Produktionsweise als solche in ihrer sexistischen und rassistischen Dimension analysiert.“ (Ebenda)

In der Bielefelder Schule z. B. werden Männer und Frauen der sog. „Dritten Welt“ zusammen mit den Frauen der „ersten“ zum eigentlich ausgebeuteten Subjekt, „Mehrwert“ hat ihr zufolge seine Basis nicht in der Ausbeutung der Lohnarbeit, sondern der globalen Subsistenzproduktion (einschließlich der Hausarbeit).

Frigga Haug – eine sozialistische Feministin – spricht auch von den zwei grundlegenden Herrschaftsverhältnissen: Patriarchat als persönlicher Abhängigkeit von Frauen und Kapitalismus (ausbeuterische Tauschbeziehungen).

Sozialistische FeministInnen sind also auch nicht frei von einem Geschichtsbild, das dem des radikal-kleinbürgerlichen Feminismus ähnelt. Warum? Letztere setzen ein übergeschichtlich gleiches Patriarchat oder gar den „Machtwillen“ der Männer als Grund der Unterdrückung und diese als zentrales gesellschaftlichen Verhältnis. Der sozialistische Feminismus hingegen versucht mehr oder weniger eklektisch, zwei oder mehrere parallel laufende „zentrale“ Formen zu kombinieren, und setzt dabei letztlich ein Ausbeutungsverhältnis und seine grundlegende gesellschaftliche Dynamik mit einem Unterdrückungsverhältnis (Frauenunterdrückung, Rassismus) gleich.

In der „Deutschen Ideologie“, den „Feuerbachthesen“, dem „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, dem „Anti-Dühring“ und dem berühmten „Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie“, um nur die wichtigsten Werke zu nennen, legten Marx und Engels die Grundsteine für ihre Theorie des dialektisch-historischen Materialismus, eines Grundpfeilers des wissenschaftlichen Sozialismus.

Für MarxistInnen sind Familie, Patriarchat und Ökonomie historische Entwicklungen, die mit der Sesshaftigkeit ins Leben traten. Nachdem der Mann auch im Ackerbau „die Hosen anhatte“ (das war durchaus in dessen ersten Anfängen wie bei den Seneca-IrokesInnen nicht der Fall), herrschte er auch im Haus (altgriechisch: oikos). Daher stammt auch der Begriff Ökonomie. Familie bezeichnet die Gesamtheit alles dem Patriarchen, dem Hausvater; Ökonomiechef (fälschlich oft mit „Mann“ synonym gesetzt) untergebenen Hauswirtschaftspersonals, darunter seine Kinder und Fraue(en) sowie sonstige Angehörigen, das Gesinde oder die HaussklavInnen. Familie kommt von famulus (lat.: der Sklave). Diese wirtschaftlich-persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse umfassten also (Haus-)Sklaverei und damit die Keimzelle späterer „asiatisch“-despotischer Staats- wie antiker Kaufsklaverei, also der ersten Klassenbildungen in Gemeinschaft mit sozialer Unterdrückung der Frau und der Jugendlichen/Kinder.

Der Kapitalismus schafft den/die doppelt-freie/n LohnarbeiterIn: frei von persönlicher Unterwerfung und von Produktionsmittelbesitz. Erstmals seit Beginn der Klassenspaltung verliert das Haus (bei BürgerInnen wie ProletarierInnen) seine Rolle als Zentrum der Ökonomie, doch behält es die als Reproduktionszentrale der Arbeitskraft in der proletarischen Familie bei, was sich im Arbeitslohn als Haushaltslohn und der Hausarbeit ohne Tauschwert strukturell niederschlägt.

Der Kapitalismus überlässt sie getrost dem „Überlebenstrieb“ in den „eigenen“ vier Wänden. Sie ist Privatsache, kümmert die kapitalistischen UnternehmerInnen keinen Deut, Sie betrachten sie vielmehr wie eine „Naturbedingung“. Dieser auf die Spitze getriebene Gegensatz zwischen Produktion und Reproduktion kann erst aufgehoben werden mit der Abschaffung der Produktion für Profit, Produktion um der Produktion willen. Erst der Sturz des Kapitalismus, ureigenste geschichtliche Aufgabe der ausgebeuteten lohnarbeitenden Hauptklasse, die kein anderes gesellschaftliches Subjekt bewirken kann, schafft die Voraussetzung für eine kollektive Gesamtwirtschaft („Ökonomie“ im Wortsinn nicht mehr), die die Bedürfnisse des lebendigen Gesamtarbeitskörpers zum einzigen Zweck der Produktion geraten lässt. In einem wahrscheinlich über viele Generationen dauernden bewussten Prozess werden so auch die dem Kapitalismus, ja allen Klassengesellschaften vorhergehenden sozialen Unterdrückungsinstitutionen wie Familie abgeschafft.

Die dualistische Herangehensweise an Geschichte eint alle Strömungen des radikalen Feminismus, kleinbürgerlichen wie „sozialistischen“. Aus der Gegenüberstellung von Produktion und Reproduktion konstruiert er zwei oder mehr parallel laufende Unterdrückungs/Ausbeutungsverhältnisse. Daher erscheint ihm auch der Kampf um Frauenbefreiung als ein vom Klassenkampf getrennter, besonderer, ja wird im schlimmsten Fall diesem entgegengestellt.

Sozialisierung der Haus- und Reproduktionsarbeit

Unsere zusammenfassende Perspektive für die Probleme im Care-Sektor lautet: Sozialisierung! Sie hat erstens den Sturz des Kapitalismus zur Voraussetzung, ist also eine wirkliche Care Revolution, keine reformistische Verunstaltung dieses Begriffs. Zweitens umfasst sie aber auch die Abschaffung der Familie im Sinne ihrer allmählichen Ersetzung durch das Gesellschaftskollektiv, die freie Assoziation der ProduzentInnen zum Zweck der gesellschaftlichen Reproduktion und Sorge des menschlichen Individuums. Es reicht eben nicht, die auf Freiwilligkeit beruhende, individuell geleistete Reproduktionsarbeit zu ergänzen, sondern sie muss gänzlich als privates Residuum aufgehoben werden. Der in der bürgerlichen Produktionsweise auf die Spitze getriebene Zwiespalt zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit muss geschlossen werden. Die Familie schaffte nicht nur Unterdrückung, Versklavung, sondern auch die Segmentierung der Gesellschaft in unabhängig voneinander produzierende Produktionseinheiten (Ökonomie) und damit die Voraussetzungen für Privateigentum an Produktionsmitteln. Die Gesellschaft ist selbst nicht mehr als Ganzes Produktions- und Reproduktionseinheit wie in der Urhorde der Jäger- und SammlerInnen. Auch die proletarische Kleinfamilie ist segmentiert. Wie v. a. Frauen, Kinder, Jugendliche und Alte behandelt werden, ist nur in Extremfällen Sorge gesellschaftlicher Institutionen (Krankheit, Sucht, häusliche Gewalt, Vernachlässigung, Lernschwierigkeiten…). Die Aufhebung der Segmentierung ist also mehr als die rationellere Hausarbeit im Großmaßstab, ihre Verwandlung in eine öffentliche Industrie. Sie ist ein Öffentlichwerden des Privaten.

Drittens ist die Ersetzung der Familie deshalb eine allmähliche, weil sie Elemente der Fürsorge umfasst, die bisher auf Blutsverwandtschaft und individueller Partnerschaft beruhen. Diese zwischenmenschliche Nähe wird die zukünftige Gesellschaft nur nach und nach der Biologie entreißen können. Soziale statt biologischer Verwandtschaft bedeutet z. B., dass Kinder und Pflegebedürftige im Kommunismus mit gleicher Liebe und Hingabe wie im alten System von leiblichen Eltern bzw. Angehörigen wie „fremden“ Personen betreut werden. Die Liebe unter den Menschen wird eine kollektive sein, der Traum von der Vergeschwisterung aller Menschen ein realer.

Viertens ist der 1. Schritt auf dem Weg zur kompletten Sozialisierung die Verstaatlichung, noch nicht die freie Assoziation. Allerdings ist diese Voraussetzung für die wirkliche Aneignung von Commons, Gemeingütern. Im Kapitalismus ist der Staat Werkzeug einer Minderheit, der Kapitalistenklasse. Also sind seine Güter (noch) keine Commons, sondern Gemeingut unter ihrer Regie. Genossenschaftliche und kommunitäre Arbeits- und Lebensformen mögen ein Fenster in eine herrschaftsfreie, wirtschaftlich, ökologisch und sozial nachhaltige Gesellschaft sein (Gisela Notz, a. a. O., S. 94), herauszuspringen aus dem Gefängnis des Kapitalismus erlaubt diese freiwillige genossenschaftlich-kommunitäre Einrichtung deswegen noch lange nicht. Gute Adoptiveltern sind ebenso wenig ein Sprung aus der von Blutsverwandtschaft geprägten Elternschaft, noch immer nicht gesellschaftlich, sozial. Und die Hippielandkommune kann nicht die höchsten gesellschaftlichen Produktivkräfte (wie z. B. Ingenieurskunst, wissenschaftliche Forschung) verkörpern. Deren Sozialisierung kann nur auf dem Weg der Eroberung der Kommandospitzen der Wirtschaft in Gang gesetzt werden, durch die gewaltsame Ergreifung der Staatsmacht.

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