„Lesbos ist für uns ein Gefängnis!“Nach dem Brand im Lager Moria: Das vieler Geflüchteter hat sich trotz hehrer Versprechen weiter verschlechtert. Wir sprachen vor Ort mit Bahal über die aktuelle Situation auf der griechischen Insel Lesbos.
REVO: Die Lage auf der Insel ist nach dem Brand in Moria besorgniserregend. Aber kannst du zuerst erzählen, wie dein Leben auf der Insel bisher verlaufen ist, ehe wir über die aktuelle Situation sprechen?
Als ich damals mit meiner Familie auf einem Schlauchboot mit 35 weiteren Menschen von der Türkei auf die griechische Insel Lesbos gekommen bin, war ich 21 Jahre alt. Heute bin ich 25 und ich habe das Gefühl, den Großteil dieser Zeit allein mit Warten verbracht zu haben: Stundenlanges Warten in der Essensschlange auf eine Mahlzeit; Warten auf eine freie Toilette; Warten, dass wieder ein Monat vorbei ist, damit ich die rationierte Dusche benutzen darf; Warten, dass ich aus der Zelle entlassen werde, in die ich grundlos inhaftiert wurde; Warten, dass die Nacht vorbei geht, die mich vor Angst nicht schlafen lässt; Warten bis mein Asylantrag bearbeitet wird.
REVO: Wo hast du in dieser Zeit des Wartens gelebt?
Über mehrere Jahre hinweg haben meine Familie und ich in einem Zelt in „Moria“, dem größten Camp der Insel, gelebt. Neben mangelnder Nahrungsversorgung und schlechten Hygienebedingungen hatte ich dort als Frau zusätzliche Probleme. Sexuelle Gewalt ist nämlich Alltag im Camp: Ob durch nächtliche Überfalle oder in der Essensschlange. Ich habe mich nicht getraut, nachts auf die Toilette zu gehen.
REVO: Wo lebst du heute und hat sich deine Situation dort verändert?
Seit 3 Monaten wohnen meine Familie und ich im selbstorganisierten Camp „PIKPA“. Solidarische Inselbewohner und Geflüchtete haben das Camp vor einigen Jahren zusammen aufgebaut und für bis zu 100 Menschen dort einen Ort zum Leben geschaffen. Und mit „Ort zum Leben“ meine ich wirklich einen Ort, an dem ich mich halbwegs sicher fühle. Dieses Gefühl hatte ich, seitdem ich in Europa bin, noch nie. Ich konnte viel Kraft aus meiner neuen Lebenssituation schöpfen. „PIKPA“ bedeutet für mich, dass „Moria“ nicht alternativlos ist. Das Camp wurde speziell für besonders schutzbedürftige Menschen wie schwangere Frauen, Menschen mit Behinderung, Familien mit mehreren kleinen Kindern und Opfer von Folter errichtet.
REVO: Der griechische Migrationsminister Panagiotis Mitarakis hat vor Kurzem verkündet, „PIKPA“ bis zum 31.10.20 räumen zu wollen. Sein Ziel scheint es zu sein, jede menschlichere Alternative zu „Moria 2.0“ aus dem Weg zu räumen. Wie haben du und die anderen Bewohner_innen diese Ankündigung aufgenommen?
Ich würde sagen, dass ich seit einer Woche nur weine, aber dafür reichen meine Tränen nicht. Seitdem wir davon gehört haben, müssen wir nun auch hier in Angst und Verzweiflung leben. Unsere Sorge ist groß, dass wir nun auch im neu errichteten Camp „Moria 2.0“ untergebracht werden. Niemand sollte in diesem Gefängnis leben müssen und umso gefährlicher ist es dort für die Leute aus „PIKPA“, die eigentlich besonders schutzbedürftig sind.
REVO: Nachdem das ursprüngliche Massencamp „Moria“ im September dieses Jahres abgebrannt ist, haben die griechischen Behörden mit Hilfe der EU ein neues Camp („Moria 2.0“) auf einem ehemaligen Schießübungsplatz des Militärs errichtet. Über 10 000 Menschen wurden bereits dort untergebracht. Was weißt du über die Situation dort?
Im Gegensatz zum abgebrannten „Moria-Camp“ wurde das provisorische Zeltlager als eine geschlossene Einrichtung gebaut. Die Bewohner dürfen es nur mit schriftlicher Ausgangserlaubnis verlassen. Ihre Situation hat sich deshalb sogar noch verschlimmert. Die ärztliche Versorgung wurde bis auf ein Team, das für Corona-Tests zuständig ist, quasi eingestellt. Es herrscht ein großes Chaos und die griechische Polizei agiert sehr respektlos gegenüber den Bewohnern. Freunde von mir, die nun dort wohnen müssen, durften sich noch kein einziges Mal duschen. Hinzu kommt, dass es auch sehr wenige Toiletten gibt, was angesichts der Pandemie-Gefahr ein besonders großes Problem darstellt. Mittlerweile gibt es mehrere hundert Infizierte im neuen Camp.
REVO: Obwohl die EU und die griechische Regierung den Geflüchteten auf Lesbos nach dem Brand in „Moria“ versprochen haben, die Situation zu verbessern, haben sich eure Lebensbedingungen tatsächlich verschlechtert. Was würdest du den EU-Politiker_innen gerne sagen?
Ich würde mir wünschen, dass diese Leute mal einen einzigen Tag in „Moria 2.0“ verbringen. Vielleicht würde das ihre Meinung ändern. Die ganze Insel Lesbos ist für uns ein Gefängnis. Doch wir haben nichts verbrochen. Niemand hat es deshalb verdient, hier eingesperrt zu werden. Wir haben ein Recht auf Bildung, Arbeit, Sicherheit und ein Dach über dem Kopf. Für alle Geflüchteten auf den griechischen Inseln sollte es die Möglichkeit geben, sicher auf das Festland weiterreisen zu können!
Interview erschien zu erst in der Jungen Welt vom 7.10.2020, Online unter: https://www.jungewelt.de/artikel/387801.festung-europa-lesbos-ist-f%C3%BCr-uns-ein-gef%C3%A4ngnis.html