Jona Everdeen/Urs Hecker, zuerst veröffentlicht in der Infomail 1292 der Gruppe Arbeiter:innenmacht, 15. September 2025, 8 Minuten Lesezeit
Seit Wochen finden in Indonesien Massenproteste statt, die seit der Ermordung des 21-jährigen Motorradtaxifahrers Affan Kurniawan durch einen Panzerwagen der Polizei am 28. August massiv zunahmen. Anfang kam es zu massiven Auseinandersetzungen mit paramilitärisch organisierten Eliteeinheiten der Polizei. Mindestens acht Menschen wurden dabei getötet, Hunderte verletzte, 20 gelten seither als „vermisst“ und mehr als 1.200 wurden verhaftet.
Die Arbeiter:innen und Jugendlichen Indonesien protestieren bereits seit Jahren immer wieder gegen das ausbeuterische, korrupte und autoritäre System. Doch nun kommt die angestaute Wut in einem Ausmaß zum Ausdruck, wie man es lange nicht gesehen hat. Aber warum gerade jetzt? Und wogegen genau kämpfen die Massen in Indonesien?
Auch wenn Indonesien mit über 280 Millionen Einwohner:innen das viertbevölkerungsreichste Land der Welt ist, hat es im Orchester der Weltpolitik sehr wenig zu melden und muss eindeutig als eine Halbkolonie gewertet werden. Entsprechend spielt die oligarchische Bourgeoisie, die wie in vielen Halbkolonien sehr eng mit Militär und Parteienlandschaft verflochten ist, eine doppelte Rolle als (häufig sehr brutale) Herrscherin über die Arbeiter:innen und Armen aber gleichzeitig Vasallin imperialistischer Mächte, die durch ihre ökonomische Überlegenheit Extraprofite aus dem Land ziehen.
Und wie viele diese Länder ist Indonesien besonders von der imperialistischen Krise betroffen. Diese führt in der Tendenz zu einem immer stärkeren Abzug von Kapital, begleitet und bedingt durch Blockbildung und neue Zollschranken. Diese Kapitalflucht bedeutet in ihrer Konsequenz auch eine Schwächung der nationalen Bourgeoisie, eine voranschreitende Deindustrialisierung und damit ein Schwinden der materiellen Grundlagen des bürgerlichen Regimes allgemein. Für die Arbeiter:innenklasse bedeutet sie Massenentlassungen, sinkende Löhne, weitere Verdrängung in den informellen Sektor und Beschäftigung weit unter der Qualifikation. Letzteres trifft dabei vor alle junge Arbeiter:innen, Student:innen, Frauen und Jugendliche.
Ein Höhepunkt findet diese durchs imperialistische Weltsystem hervorgerufene Entwicklung in sog. „failed States“ wie Somalia, in denen die Deindustrialisierung so weit vorangeschritten ist, dass sich die gesellschaftlichen Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat in Auflösung befinden und ein bürgerlicher Zentralstaat entsprechend schwer aufrechterhalten werden kann.
So weit ist es in Indonesien noch lange nicht gekommen, aber auch hier setzt sich seit der Asienkrise Ende der 1990er Jahre eine Tendenz zur Deindustrialisierung und Kapitalflucht immer weiter durch. Machte 2002 die Industrieproduktion noch 32 % des BIP aus, so waren es lt. Financial Times 2024 nur noch 19 %. Dies geht einher mit Massenentlassungen und einer Verarmung der Arbeiter:innenklasse. Allein zwischen Januar und April sind laut Gewerkschaften über 80.000 Arbeiter:innen entlassen worden. Schon 2023 arbeiteten knapp 60 % im informellen Sektor, Tendenz steigend. Bei wachsender Arbeitslosigkeit und Prekarisierung stiegen zugleich die Preise für Lebensmittel massiv, so dass auch die Mittelschichten und Teile des Kleinbürger:innentums immer mehr abrutschen.
Diese ökonomischen Entwicklungen legen in Indonesien, wie auch in anderen Halbkolonien, den Grundstein für einen immer autoritäreren und instabileren bürgerlichen Staat sowie für sozial-politische Revolten der Arbeiter:innen und Jugendlichen.
Bereits vor der Übernahme von Prabowo Subianto Djojohadikusumo, unter dessen Vorgänger Joko Widodo, zeichnete sich entsprechend ab, dass in der „drittgrößten Demokratie der Welt“ die Entwicklung in eine autoritäre, und damit verbunden vor allem neoliberale und gesellschaftspolitisch reaktionäre Richtung geht. So in etwa in Form des neuen Strafgesetzes, das „die Verbreitung kommunistischer Ideologie“ unter schwere Strafen stellt und auf Basis erzkonservativer Moralvorstellungen die Freiheit von Jugendlichen, Frauen und Queers beschneidet. Für mehr dazu lest gerne im damals erschienen Artikel: „Außerehelicher Sex und kommunistische Ideen verboten: „Wider die reaktionäre Gesetze in Indonesien! – REVOLUTION“ nach! Widodo griff auch die Lohnabhängigen direkt an mit dem sogenannten „Omnibus Law“ oder auch dem sog. „Gesetz zur Schaffung von Arbeitsplätzen“, dass die Rechte der Arbeiter:innen massiv aufweichte und somit die Ausbeutung durch Oligarchie und Imperialismus vereinfachte.
Widodos Nachfolger Prabowo wiederum wird sicher keine Kehrtwende hinlegen, das zeigt allein seine Biografie. So ist er nicht nur der Schwiegersohn des ehemaligen Diktators Suharto, sondern war auch einer seiner wichtigsten Offiziere im Militär und aktiv beteiligt an mehreren Kriegsverbrechen. Eine Vergangenheit, die er jedoch recht erfolgreich unter den Teppich kehren konnte. Auch wenn Prabowo sich nicht offen als Mann des Militärs präsentiert, zeigt seine Politik dies doch deutlich. So erließ er im März ein Gesetz, das dem Militär mehr Sitze im Parlament und somit mehr politische Mitsprache garantieren soll. Prabowo steht allerdings noch mehr für die Oligarchie des Landes, deren Teil er als Millionär ist, als für die blutige Vergangenheit der Militärdiktatur, in der insgesamt mehrere Millionen Menschen, v. a. Kommunist:innen und Angehörige nationaler Minderheiten, aber auch jede/r andere, der/die das Regime kritisierte, ermordet wurden.
In wenigen Ländern ist die Überschneidung von nationaler Bourgeoisie und Politikerkaste so groß wie in Indonesien. Alle acht 2024 im Parlament vertretene Parteien sprachen sich für Prabowo aus, die meisten sofort nach der Wahl im Februar 2024. Damit hat dieser nun eine so große Koalition, dass es gar keine parlamentarische Opposition mehr gibt. Das zeigt, dass offenbar alle Klüngel der Bourgeoisie ihn als den geeignetsten Mann sehen, ihre Interessen zu vertreten, und die Arbeiter:innen keine Kraft haben, die für sie in Opposition zum System gehen würde.
Kommen wir nun konkret zur aktuellen Situation. Während es die letzten Jahre immer wieder, teils auch heftigere Proteste gegeben hatte (gegen das Omnibus Law, gegen das neue Strafgesetz, gegen Kürzungen sowie schließlich auch die Amtseinführung des Ex-Generals Prabowo und seine neoliberalen und militärfreundlichen Gesetzesänderungen) kam es nun zu Protesten neuen Ausmaßes.
Auslöser dafür waren Erhöhungen der Sonderzahlungen für Parlamentsmitglieder. Insbesondere die geplante Wohnzulage für Politiker:innen, die monatlich zehnmal (!) so hoch sein sollte wie der Mindestlohn in der Hauptstadt Jakarta, sorgte für Empörung. Und wurde zum Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Hunderttausende gingen auf die Straße, an vorderster Front Studierende und Gewerkschaften. Die Wut ist besonders hoch, da noch zu Beginn des Jahres umfangreiche Sparmaßnahmen eingeführt worden waren, die besonders den Bau öffentlicher Infrastruktur, die Bildung und das Gesundheitssystems trafen. Das alles vor den oben dargestellten allgemeinen Tendenzen von Massenentlassungen, Lohnsenkungen und Verdrängung in den informellen Sektor.
Das Regime antwortete zunächst mit Gewalt. Die Polizei griff brutal gegen die Proteste durch, es gab zahlreiche Verletzte und Hunderte Verhaftungen. Doch es gelang ihr nicht, die Bewegung im Keim zu ersticken. Im Gegenteil: als eine Spezialeinheit der Polizei mit ihrem Panzerwagen den Motorradtaxifahrer Affan Kurniawan auf einer Demonstration zu Tode fuhr, feuerte das die Wut der Massen auf höherer Stufe an.
Nun wurden Polizeieinrichtungen und Fahrzeuge gezielt angegriffen, und zwar nicht nur wie bei vorherigen militanten Protesten hauptsächlich in der Hauptstadt, sondern übers ganze Land verteilt. Besonders stark eskalierten die Proteste in Makassar, in der Provinz Süsulawesi (Sulawesi: viertgrößte Insel des Inselstaates), wo ein Regierungsgebäude in Brand gesetzt wurde. Anderswo wurden Häuser besonders verhasster Politiker:innen der Regierungspartei gestürmt und geplündert. Auch die direkte Drohung mit einem Einsatz des Militärs, das bereits in Jakarta an mehreren Punkten zusammengezogen wurde, konnte die Proteste nicht stoppen. Prabowo sah sich schließlich gezwungen zurückzurudern, um seine eigene Macht zu erhalten. So kündigte er an, bestimmte Bezuschussungen für Politiker:innen (wobei er sehr unklar blieb, welche genau und in welchem Ausmaß) zu streichen, außerdem verurteilte er den Mord an Affan Kurniawan scharf und kündigte an, Untersuchungen einzuleiten.
Davon, dass er das ernst meint, ist jedoch sicher nicht auszugehen, was auch den indonesischen Arbeiter:innen und Jugendlichen klar zu sein scheint. So zeigten sie sich bislang unbeeindruckt und setzen die Proteste nach wie vor fort. Neben einer Auflösung des Parlaments und Neuwahlen stellen sie dabei auch explizit soziale Forderungen in den Mittelpunkt, darunter höhere Löhne und geringere Steuern für die armen Massen. Ähnlich wie in Kenia hat sich Wut über Korruption und Selbstbedienung einer eng mit der nationalen Bourgeoisie verzahnten Politiker:innenkaste zu einem Aufstand gegen das System weiterentwickelt, bei dem gewerkschaftlich organisierte Arbeiter:innen sowie Studierende an vorderster Front stehen.
Die Arbeiter:innen und Jugendlichen, die inzwischen die „Jolly Roger“-Fahne (Piratenflagge mit Totenkopf) aus One Piece (japanische Manga-Serie) zum inoffiziellen Symbol ihrer Bewegung gemacht haben, beweisen viel Mut. Allerdings wird er alleine nicht ausreichen, um eine bessere Zukunft erkämpfen zu können. In den letzten Jahren haben wir immer wieder extrem mutige und kämpferische Bewegungen in verschiedenen Teilen der Welt erlebt: ob in Lateinamerika, zum Beispiel Chile 2019, Kolumbien 2021 oder Peru 2023; Afrika, so in Kenia letztes Jahr und noch in diesem anhaltend sowie immer wieder aufflammend in verschiedenen Ländern über den gesamten Kontinent; in Europa mit der Massenbewegung in Serbien oder in Südasien, wo es sogar 2021 in Sri Lanka und letzten Sommer in Bangladesch gelang, korrupte Regierungen zu stürzen.
Doch genau wie bereits im Arabischen Frühling 10 Jahre zuvor, zeigte sich auch hier immer und immer wieder dasselbe Muster: Auch die größte Entschlossenheit und Stärke muss irgendwann zum Erliegen kommen, wenn die revolutionäre Führung fehlt, die in der Lage ist dieser Bewegung ein klares Programm zu geben und sie zum Kampf um die Macht zu bündeln.
Es ist die Aufgabe der fortschrittlichsten Arbeiter:innen und Jugendlichen in Indonesien, diese Führung aufzubauen: eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.
Dazu müssen sie ein Aktionsprogramm entwickeln das, basierend auf der Methode der Übergangsprogrammatik und der permanenten Revolution, die aktuelle Bewegung mit den Kämpfen um nationale Befreiung (z. B. in Westpapua), für Land und gegen sexistische Unterdrückung verbindet und den Weg zur Überwindung der imperialistischen Unterdrückung durch die revolutionäre Machteroberung der Arbeiter:innenklasse aufzeigt. Entscheidend ist es dabei, auch diesen Kampf mit dem um eine Revolution in ganz Südostasien und letztendlich der ganzen Welt zu verbinden.
Denn, wie oben aufgezeigt, rühren die sozialen und politischen Probleme Indonesiens aus dem imperialistischem Weltsystem und seiner Krise. Die Arbeiter:innen können in Indonesien und weltweit also nur dann endgültig siegen, wenn sie ihre Kämpfe zu einer weltweiten revolutionären Bewegung zusammenschweißen.
Dafür benötigen wir eine Weltpartei der Arbeiter:innenklasse, eine neue revolutionäre Internationale.