Nach den Ereignissen, die eine unglaubliche Massenbewegung auf die Straße brachten und eine Welle weltweiter Solidarität ausgelöst haben, stellt sich die Frage, wie die Situation der Protestbewegung jetzt aussieht. Millionen von Menschen protestierten von Mai bis August auf den Straßen, um gegen die Bebauung des Gezi-Parks und letztendlich gegen die rigorose Politik der ultrakonservativen AKP und forderten den Rücktritt des Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan. Doch die Medien interessieren sich wenig für die Einschüchterungskampagne, die Erdogan jetzt gegen seine politischen Gegner fährt.
Aktivisten werden mit Prozessen bombardiert und für die Organisierung der Proteste, oder auch der bloßen Teilnahme, abgestraft. Die Anklage erfolgt wegen unerlaubter Teilnahme an Demonstrationen und unter dem Anti-Terrorparagraphen 3713, Verdacht auf Gründung terroristischer Vereinigung zum Sturz der Regierung, und kann lebenslange Haftstrafen nach sich ziehen. Journalisten, die regierungskritische Arbeit leisten, erhalten Todesdrohungen der Erdogan-Anhänger und werden aus dem Beruf gedrängt – trauriger Höhepunkt ist die weltweit größte Anzahl inhaftierter Journalisten in der Türkei. Wohnungen von StudentInnen werden gestürmt und durchsucht, Fußballfanclubs, die sich an den Protesten beteiligt hatten, mit Repression und Schikane überzogen. Festnahmen von AnwältInnen, BürgermeisterInnen, StraßenverkäuferInnen, politisch Organisierte, kurzum jeder, der es wagte, sich der Regierung in den Weg zu stellen, soll die Repression erfahren. Auch MitarbeiterInnen des Staates, wie etwa LehrerInnen, die zu den Protesten aufriefen oder ArchitektInnen, die an der Stadtplanung beteiligt waren und sich den Plänen der AKP widersetzten, bekamen die Macht der Partei zu spüren: Der Architekten- und Ingenieurskammer entzog man das Recht auf zukünftige Mitsprache beim Stadtbau und unliebsame Beamte wurden strafversetzt.
Im krassen Widerspruch dazu steht die Aufarbeitung der Gewalttaten seitens der Staatsorgane, wie der Polizei oder den Sondereinsatztruppen. Trotz 6 Toter DemonstrantInnen, 8000 Verletzter, der Versenkung ganzer Straßenviertel in Wolken von Tränengas, dem Einsatz von Chemikalien in Wasserwerfern und dem direkten, öffentlichen Einsatz hemmungsloser Gewalt auf den Straßen, kommt es nicht zu Prozessen oder Aufklärung der Verstöße, der Misshandlungen und Folter im Gewahrsam. Die Methoden der Polizei werden gedeckt, um weiterhin willfährige Marionetten zu haben, sollten die Proteste wieder an Intensität zunehmen.
Die Größenordnung der Bewegung hat mit aller Deutlichkeit gezeigt, wie viel vorher bedeckter Unmut gegen die Regierungspartei AKP besteht und, dass man nicht mehr bereit ist ihre gewerkschaftsfeindliche, rassistische und autoritäre Politik zu tragen. Die Partei hat es bewusst auf eine Spaltung der Bevölkerung abgesehen, treibt die Aufhebung der Säkularisierung voran und führt einen gezielten Kampf gegen Gewerkschaftsrechte und Tarifverträge.
Doch neben der Trennung des Landes in Anhänger Erdogans und dessen Gegner, bewirkte dieser Kurs auch einiges Positives. Den linken Kräften im Land war es nach langer Zeit möglich, sich wieder ihrer Stärke bewusst zu werden und Erfahrungen in der Organisierung einer Massenbewegung zu sammeln. Die direkte Zusammenarbeit zwischen Kurden und Türken schloss eine Lücke, welche für zukünftige Kämpfe entscheidend sein kann. Viele der beteiligten Personen und Gruppen besitzen nun eine stärkere Vernetzung als jemals zuvor. Gerade auch Jugendliche, welche einen Anteil von 43% der Bevölkerung ausmachen, zogen wertvolles Wissen aus der Organisierung und erfuhren direkt, wie unumgänglich militante Verteidigung einer Bewegung und des Stadtviertels ist und welche Strukturen dazu benötigt werden. Einen auffällig großen Anteil an den Protesten hatten Frauen, die besonders von den Angriffen der AKP betroffen sind. Sie sollen in die Rolle als Mutter der Familie gedrängt werden und man will ihnen gezielt die politische Mitsprache verweigern. Da diese Rückkehr zu antiquierten Gesellschaftsbildern für den Großteil der Frauen nicht hinnehmbar ist, waren sie in allen Teilen des Landes in den vordersten Reihen der Demonstrationen und Blockaden aktiv.
Die Proteste legten jedoch auch einige Schwächen der Bewegung zu Tage. Viel zu wenig setzte man seine Kräfte auf die Organisierung des Streiks als politisches Druckmittel gegen die türkische Regierung und die EU. Zwar beteiligten sich teilweise über 200.000 TeilnehmerInnen an den wenigen durchgeführten, die Ausrufung des unbefristeten Generalstreiks wurde jedoch gescheut. Bei einer gewerkschaftlichen Organisierung von gerade einmal 10% zeigt sich aber, dass der Streik als Kampfmittel einen deutlichen Rückhalt in der Bevölkerung erfährt und gerade dessen Einsatz gezielt voran getrieben werden sollte, um die Proteste von einer reinen Straßenbewegung hin zu einer Bewegung in den Betrieben und Fabriken des Landes auszuweiten. Nur so kann der Protest in die Offensive gehe, gezielt größere Teile der Arbeiterschaft einbinden und den Staat an seiner Achillesferse treffen; sprich: Ihn, mittels Organisierung der eigenen Versorgung und dem Aufbau von Räten in den Betrieben, wirtschaftlich lahmzulegen.
Anfang September nahmen die Ereignisse in der Türkei wieder an Fahrt auf. Trotz der massiven Einschüchterung beteiligten sich erneut Tausende in verschiedenen Großstädten des Landes. Der Protest entzündete sich an den Plänen der Regierung, in Ankara eine Straße durch den Wald des Universitätsgeländes zu bauen und damit verbundenen Abholzungsmaßnahmen. Einen weiteren Grund stellte der Tod eines jungen Aktivisten in Antalya dar, der an den Folgen eines Kopfschusses mit einer Tränengasgranate starb. Die Beteiligung entspricht jedoch bei weitem nicht den Zahlen von Juni oder Juli. Trotz des unveränderten Vorgehens der AKP hat die Beteiligung der Bevölkerung an den Protesten nur noch einen Bruchteil ihrer anfänglichen Größe. Anfang 2014 stehen jedoch Wahlen an, welche die ungelösten Probleme und Konflikte in der Türkei mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder aufwerfen werden. Die Frage ist: wird die Regierung erneut einen derartigen Konfrontationskurs fahren?
Die Reaktion der AKP auf den Widerstand der Bevölkerung macht deutlich, dass von der Partei kein Einlenken zu erwarten ist. Die Presse wird als Mittel verwendet, Propaganda zu verbreiten und die Bevölkerung im Interesse der herrschenden Klasse gegen bestimmte Gruppen aufzuhetzen – als Reaktion auf die Gezi-Proteste ließ die AKP eine Propaganda-Armee von 6000 Mitgliedern aufstellen, welche speziell Einfluss auf die neuen Medien wie Facebook, Twitter, Youtube oder Instagram nehmen soll.
Es muss sich von der Vorstellung verabschiedet werden, durch Reformen oder Forderungen eine Änderung bewirken zu können, sei es in der Türkei wie auch in jedem anderen Land. Die jahrelange Toleranz der repressiven Politik Erdogans, das Anpreisen seiner Fortschrittlichkeit und das Ziel, diese Politik auch auf andere Länder der Region zu übertragen, zeigen, dass die führenden Nationen des Westens kein Interesse an einer demokratischen Entwicklung haben, sondern glasklar ihre Interessen vertreten sehen wollen – die Interessen des Kapitals. Selbst die heuchlerische Verurteilung des Vorgehens der türkischen Repressionsorgane sollte nur darüber hinweg täuschen, dass man sich einzig und allein Sorgen um die Stabilität des Landes als verlässlichen Partner machte. Wenn die Opposition gegen Erdogan wieder zunimmt und sie Erfolg haben will, wird man nicht um die Frage der taktischen Ausrichtung herum kommen. Wer die Regierung herausfordert, muss ein konkretes Alternativprogramm aufstellen können, statt sich in andauernden Demonstrationen und Protesten zu verlieren. Ohne die Ausarbeitung und Anwendung eines Programms, wird man nie über den Status einer bürgerlichen Protestbewegung
hinwegkommen und kann aller besten Falls die Abdankung eines Ministers erreichen, nicht aber an der Macht der Partei und ihrer Günstlinge rütteln.
Die Überwindung der Verhältnisse in der Türkei ist zwangsläufig mit der Überwindung des Kapitalismus verbunden. Mit einem reformistischen Programm ist nichts zu erreichen, es wird die Bewegung in den Mühlen des bürgerlichen Parlamentarismus untergehen lassen – Die Interessen der Arbeiterschaft sind unvereinbar mit den Interessen eines kapitalistischen Systems.
Ein Artikel von Baltasar Luchs, REVOLUTION Karlsruhe