Moria Interviews – TEIL 2 / 2: „Es war, als ob sie gar nicht existierten“

Interview mit Karl, der als freiwilliger Helfer auf der griechischen Insel Lesbos von Faschist_innen angegriffen wurde

Die Meldungen über die Corona-Pandemie überschlagen sich, während sich kaum jemand mehr für die schreckliche Situation an den europäischen Außengrenzen interessiert. Auf den griechischen Inseln dicht vor der Türkei bekommen die dort internierten Geflüchteten die Brutalität der Festung Europa besonders zu spüren. Insbesondere auf der medial bekanntgewordenen Hotspot-Insel Lesbos konnten sich im Windschatten einer rechten Regierung, die von der EU die nötigen Mittel für ihren grausamen Job als europäischer Türsteher bereitgestellt bekommt, faschistische Strukturen etablieren.

Wir haben mit dem Opfer eines faschistischen Angriffes gesprochen und ihm einige Fragen gestellt, um uns ein genaueres Bild von der Situation zu verschaffen. Unser Interviewpartner heißt Karl (Name von der Redaktion geändert), ist norwegischer Staatsbürger und arbeitet als freiwilliger Helfer und Fotograph auf der Insel.

Revo: Hey Karl, schön, dass du Zeit gefunden hast, um mit uns zu sprechen. Vielleicht kannst du uns erst einmal kurz berichten, wie es zu dem Angriff kam?

Karl: Der Angriff fand an einem späten Sonntagabend statt. Es war bereits dunkel. Ich war in Moria (Anmerkung der Redaktion: größtes Geflüchtetencamp auf den griechischen Inseln mit über 20 000 Bewohner_innen), um dort eine Fotoserie zu machen. Als ich im Camp hörte, dass alle Zufahrtsstraßen nach Moria von Faschist_innen blockiert wurden, sprang ich mit 4 Freund_innen mit Fluchthintergrund ins Auto, um schnell weg in die 8km entfernte Stadt Mytilini zu gelangen. Wir nahmen eine weniger befahrene Seitenstraße und hofften so unbemerkt fortkommen zu können. Doch nahe einer Tankstelle stellten sich uns ca. 100 schwarzgekleidete und maskierte Menschen in weg und sprangen vor mein Auto.

Revo: Und dann haben sie euch angegriffen?

Karl: Genau. Es ging alles ziemlich schnell und kam mir vor wie in einem Film. Wenn ich mich zurückerinnere, höre ich vor allem die Geräusche in meinen Ohren: das Klirren zerschlagener Autoscheiben und laute Schreie. Die Faschist_innen öffneten die Türen meines Autos, zogen uns heraus und drückten uns auf die Erde, begleitet von Tritten in die Seite. Während sie mich festhielten, nahmen sie mir meine Kamera ab und zerstachen einen Reifen meines Autos. Aufgrund der Maskierungen konnte ich keine Gesichter sehen aber ich erkannte, dass es sich um Frauen und Männer, alte und junge Menschen handelte. Mit der Kamera hatten sie vermutlich, was sie wollten, und ließen mich dann mit meinem kaputten Auto auf 3 Reifen mit einem lautstarken Schleifgeräusch von Metall auf Straße weiterfahren.

Revo: Und was passierte mit deinen Freund_innen?

Karl: Das konnte ich erst im Nachhinein herausfinden, da wir während des Angriffes sofort getrennt wurden. Es hat mich total fertig gemacht, nicht zu wissen, wie es ihnen geht und ich hatte sogar Angst, dass sie nicht mehr lebten. Ich habe sie dann später in Moria und einem anderen Camp wiedergetroffen und glücklicherweise konnten alle fliehen, sodass ihnen nichts Schwerwiegendes passiert ist. Einige hatten trotzdem Wunden von den Schlägen und Tritten der Faschist_innen und auch ihnen wurden die Handys gestohlen.

Revo: Bist du dann zur Polizei gegangen?

Karl: Ja aus versicherungstechnischen Gründen musste ich das tun. Ganze 6 Mal war ich auf der Polizeistation. Am Ende erhielt ich einen ziemlich ausführlichen Bericht vom ganzen Tathergang. Allerdings fehlte etwas ganz Entscheidendes: Meine nicht-europäischen Freund_innen wurden mit keiner Silbe erwähnt. Und das, obwohl ich der Polizei detaillierte Auskünfte über Namen und Ausweisnummern meiner Mitfahrer_innen gab. Es war, als ob sie gar nicht existierten.

Revo: Hat dich das überrascht?

Karl: Nein eigentlich nicht. Einige der Beamten schauten mich jedes Mal so an, als ob ich gerade 10 Menschen auf einmal getötet hätte. Sie scheinen alle zu hassen, die irgendetwas mit Geflüchteten oder NGOs zu tun haben. Ein Freund von mir, der ebenfalls von Faschist_innen angegriffen wurde, hat mir erzählt, dass er beobachten konnte, wie ein Polizeibeamter der ganzen Situation genüsslich zugeschaut hat.

Revo: Du hast also schon von mehreren solcher Angriffe gehört?

Karl: Ja, das ist mittlerweile zum Alltag auf der Insel geworden. Das öffentliche Leben für die Geflüchteten ist dadurch stark eingeschränkt und die Arbeit von NGOs und Freiwilligen quasi unmöglich. Viele NGOs haben ihre Mitarbeiter_innen bereits von der Insel abgezogen, was die Situation in den Camps noch unerträglicher macht. Noch am selben Abend wurden viele weitere Autos zerstört. Vor einigen Tagen sind Faschist_innen sogar ins Camp Moria eingedrungen, um dort Leute anzugreifen.

Revo: Hast du davon gehört, dass auch Neonazis aus Deutschland, von der sogenannten „Identitären Bewegung“ auf der Insel waren, um die lokalen Faschist_innen zu unterstützen?

Karl: Ja das ging hier durch alle Whatsgruppen, somit hatten wir Fotos von den Leuten. Die waren allerdings nicht lange hier und haben ziemlich schnell von Antifaschist_innen eins auf den Deckel bekommen. Als ich das zweite Mal auf der Polizeistation war, habe ich sie sogar dort gesehen, durch die Fotos wusste ich ja wie sie aussehen.

Revo: Mit dem Bild von weinenden Faschos finden wir noch einen positiven Abschluss für dieses ansonsten ziemlich traurige und schockierende Interview. Es scheint doch noch Widerstand von lokalen Antifaschist_innen, Internationals und vor allem von Geflüchteten zu geben, die sich gegen die faschistischen Angriffe organisieren und zu Wehr setzen. Wir wünschen ihnen viel Kraft und Erfolg in ihrem antifaschistischen Kampf. Dir Karl vielen Dank für das Interview und bleib gesund!

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